Dreiundzwanzigster Mai des Jahres 2000 und 4.
In der Bahn sitzend, mit Musik im Ohr, sah ich eine unglaublich schöne Frau an mir vorbei gleiten, die sich gegenüber meines Platzes niederließ. Beinahe fremdgesteuert blieb mir keine andere Wahl. Ich musste sie ansehen. Nahezu die gesamte Fahrt über. Irgendetwas machte sie wahnsinnig reizvoll, war es auch nur ihr himmlischer Anblick.
Wir näherten uns der Endstelle und der Augenblick, indem ich sie vielleicht nie wieder sehen würde, kam unweigerlich und mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges auf mich zu. Unsicher, wie ich mich verhalten sollte, schaltete ich meinen Mp3-Player aus und entfernte die In-Ear-Kopfhörer. Just in dem Moment, da meine Ohren frei waren, hallten die schmerzerfüllten, panischen Schreie von tausenden Frauen in meinem Gehirn wider. Ich zuckte zusammen, als hätte mir jemand einen Schlag in den Magen versetzt.
Ohne nachzudenken, war mir auf der Stelle klar, woher dieser Lärm stammen musste. Mit verzerrtem Gesicht, sah ich der Frau, die ich vorerst für einen Engel zu halten gewagt hatte, in die Augen und entdeckte den Tod.
Zwar verhallten die Schreie nach einer Sekunde, die sich wie die Ewigkeit anfühlte, doch der bittere Nachgeschmack von verbranntem Holz setzte sich in meinem Kopf fest. Bis zum heutigen Tag habe ich diesen widerwärtigen Beigeschmack, denke ich an sie.
Ich bekam nicht wirklich mit, an welcher Haltestelle sie mich verließ, aber ich war heilfroh, als sie weg war.
Danach verging viel Zeit und sie ließ sich nicht blicken. Dennoch wusste ich, dass ich sie wiedersehen würde. Mochte es auch Jahre dauern. Ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als diesen einen Moment, der sich in meinen Verstand eingeprägt hatte wie kein zweiter, zu vergessen. Leider blieb mir dieses Glück verwehrt.
Genau ein Jahr verging. Und tatsächlich war die Erinnerung an diesen Tag so gut wie verblasst.
Der Himmel Färbte sich im Grauen des Morgens rot. Ich erfreute mich an diesem Anblick und bedeutete nichts schlechtes in diese ansehnliche Naturerscheinung. Ein Fehler. Zwar verlief dieser Montag wie gewohnt, doch auf dem Nachhauseweg viel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich saß auf demselben Platz wie vor einem Jahr. Das Wetter war ähnlich trüb und es hatte den Anschein, nichts hatte sich verändert. Die Menschen um mich herum verschwanden in einem grau-schwarzen Schleier, der sich wie ein Ölteppich über das Meer der Massen ausbreitete und mein Herz förmlich zum Rasen brachte. Die Geräusche drangen wie durch einen Filter in mein Ohr. Ich zitterte am ganzen Körper und meine Gedanken fuhren sprichwörtlich Achterbahn. Mein Magen fühlte sich flau an und der Ort, an dem dieses beinahe gottesgleiche Wesen das letzte Mal den Zustieg zur Bahn fand, war soeben erreicht. Mein Herz schlug noch schneller und ich dachte: "Gleich wird es stehenbleiben...".
Ich sah hinter mich. Ich wartete auf sie. Sie kam nicht. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung fuhr die Tram zur Endhaltestelle, an der ich diese verließ.
Plötzlich stand sie da. In einem schwarzen Kleid, das, genau wie ihre wunderschönen langen Haare im Wind wehte. Wie paralysiert lief ich langsam in ihre Richtung, ohne zu merken, dass weder Wind aufgekommen war, noch dass der Himmel von dunklen Wolken verdeckt wurde. Und dennoch war sie in einen Kegel gleißenden Lichtes gehüllt. Wieder löschte mein Verstand die Umgebung aus. Diesmal jedoch, hörte ich keine Schreie. Es glich eher dem Gesang eines Kirchenchors.
Ich lief ihr jetzt schon seit knapp drei Minuten entgegen und noch immer hatte sich der Abstand zu ihr nicht verringert. Im Gegenteil: er wurde anscheinend umso größer, je schneller ich zu gehen versuchte.
Mit einem Mal verstummte der Chor, das Tageslicht erlosch und nur sie stand, wie auf einer Bühne, in einem Scheinwerferspot einige Meter entfernt vor mir. Mittlerweile rannte ich, war kurz vorm Verzweifeln und der Aufgabe nah, bis sie ebenfalls loszulaufen begann. Ihr Ziel schien ein Mann zu sein, der ihr mit dem Rücken zugewandt, vor den Schienen der Straßenbahn stand. Wie angewurzelt blieb ich stehen und konnte sehen, wie sie ihren bleichen, dünnen Arm nach ihm ausstreckte. Von links kam eine weitere Bahn und ich wusste augenblicklich, was sie beabsichtigte.
Seltsamerweise befand ich mich, trotz der körperlichen Anstrengung des Verfolgens von dieser Teufelsfrau, noch immer an jener Endstelle, an der ich sie nach meinem Ausstieg entdeckt hatte. Ungeachtet dessen, rannte ich jetzt auf den kleinen, dicklichen Mann im braunen Filzmantel zu. Ich war mir ziemlich sicher, ihn noch vor ihr erwischen zu können. Ihre Hand befand sich jetzt wenige Zentimeter von seinem Nacken entfernt, und ich rannte, als ginge es um mein eigenes Leben. Wenn ich den Mann nicht retten würde, dann stieße sie ihn direkt vor das ankommende Metallmonster.
Mit meinen letzten Kraftreserven sprintete ich auf ihn zu. Ich geriet ins Stolpern und schaffte es dennoch ihn wegzustoßen, bevor sie es konnte. Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf dem harten Beton und sah, wie Blut den kalten Stein entlangfloss. Mich erhebend suchte ich den Geretteten. Nichts. Wo war er?
Die Bahn kam kreischend zum Stehen und jetzt erst sah ich den bärtigen Mann im Filzmantel unter den riesigen Rädern der tonnenschweren Linie 15 liegen. Mir wurde schwindelig und schlecht. Ebenso wurde mir bewusst, dass die rote Flüssigkeit an meiner Kleidung nicht von mir und meinem Sturz stammte, sondern von dem Opfer der Frau, die wohl vom Teufel höchstpersönlich gesandt wurde. Ich schaute mich um und konnte sie nirgends sehen. Ich war mir sicher, den Toten vor ihr erreicht zu haben. Anscheinend irrte ich. Die Umgebung erschien wieder hell und freundlich, doch es lag eine gewisse Feindseeligkeit in der Luft. Nach erneutem Umschauen an der Endstelle, bemerkte ich die erschrockenen, ängstlichen und hasserfüllten Blicke der Leute auf mir ruhen.
Ich hatte bis zu diesem Moment noch nie erlebt, dass es um drei Uhr Nachmittags so still war. Kein Vogel sang, kein Auto fuhr und für diese eine Sekunde der absoluten Geräuschlosigkeit, wagte es niemand auch nur ein Wort zu sagen oder zu denken.
Als dieser schier ewige Augenblick sein Ende fand, fingen ein paar Schulkinder an zu weinen, ein älteres Ehepaar flüstere sich mit Schrecken in den Augen einige Worte zu, andere begannen lauthals zu schreien, wiederum andere standen noch immer regungslos da und durchbohrten mich mit ihren Blicken, bis mir klar wurde, was gerade passiert war. Ich hatte den Mann getötet. In guter Absicht - mit bösem Ausgang. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, während ich erneut rannte. In den Wald vor mir. Ich wusste nicht wohin ich rannte, doch war es das Beste, was ich hätte tun können...
Texte: Kevin Hänle \ OutlawMusika
Bildmaterialien: Kevin Hänle \ OutlawMusika
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2015
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