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...stirbt sie

...stirbt sie...

 

...fröstelt sie...

 

...beobachtet, wie ein bunt gefärbtes Eichenblatt in anmutigen, weit ausholenden Bewegungen zu Boden gleitet und dabei so sanft auf seinen bereits gefallenen Kameraden landet, dass es in ihrem Herzen zu brennen beginnt.

 

...schluchzt sie...

 

...spürt die Kälte, die durch jeden noch so kleinen Schlitz in ihrer dicken Winterumantelung dringt und fragt sich, ob es wohl jemals wieder warm werden könne.

 

...hört sie...

 

...registriert ein fernes Säuseln, das mit Sicherheit nicht vom eisigen Nordwind herrühren mochte.

 

...erwacht sie aus ihrer Lethargie...

 

...blickt um sich und sucht, an ihrem Verstand zweifelnd, nach der Quelle des Geräusches, das einem Kreischen sehr nahe kommt.

 

...von rechts...

 

...erhebt sich von den erfroren Brettern der Bank, sieht sich ein weiteres Mal um und läuft mit kleinen, von Väterchen Frost erlahmten Schritten über eine kaum befahrene Straße auf einen ansteigenden Waldweg zu.

 

Beim Passieren einer kleinen, morsch aussehenden Brücke verliert sie kurzzeitig um ein Haar das Gleichgewicht und schlingert mit den Armen, um der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen.

 

...atmet sie auf...

 

...folgt ihrem Gehör, sowie ihrem Gespür. Das hat sie schon immer getan und war stets gut beraten damit. Knapp zwanzig Minuten läuft sie schon. Die Wärme ist ihr entwichen, ihr Gesicht ist blass, ihre Lippen erstarren in einem tief dunklen Violett.

 

...stoppt sie...

 

...das Geräusch ein weiteres Mal, jedoch sehr viel lauter. Sie weiß jetzt, ihre Intuition hat sie noch nicht im Stich gelassen. Angestachelt durch diesen Moment des Erfolges, beschleunigt sie das Tempo drastisch und bemerkt nach zwei Stunden Laufen weder ihre eigene Müdigkeit, noch den einsetzenden Schneefall; noch nicht einmal die alles umgebende Dunkelheit, vor der sie sich normalerweise fürchtet. Sie läuft geradewegs in die dichten Untiefen des Waldes, ohne sich ihrer Situation auch nur im Geringsten bewusst zu sein.

 

...denkt sie...

 

...fragt sich, wieviel Zeit wohl vergangen sein mag, seit sie den unbefestigten Pfad betreten hatte, wo sie überhaupt sei und wie sie derartig fremdgesteuert hatte loslaufen können.

 

...erschaudert sie...

 

...lauscht mit einhundertprozentiger Aufmerksamkeit in den Lärm der Stille des Waldes. Sie hört nichts. Gerade als sie sich herumdreht und zurück zur Straße gehen will, knackt es im Gebüsch neben ihr. Sie sieht erschrocken zur Seite und hört eine Art Röcheln, das mit steigender Lautstärke auch die Frequenz erhöht. Die Angst drängt zusammen mit ihrem Blut durch jede Zelle ihres unterkühlten Körpers und breitet sich in einer heißen Explosion in ihrem Kopf aus, aus deren Impuls heraus sie auf eine von Finsternis verschlungene Wiese rennt, in der Hoffnung, des Unbekannten flüchtig werden zu können. Weder irgendetwas vor ihr oder hinter ihr, das sie als bekannte Gestalt erkennen kann. Dicke Schneeflocken schmelzen sofort beim Kontakt mit ihrem erhitzten Gesicht. Ihre Schritte, von den Flocken gedämpft, knarren nur wenige Zehntel Meter in die Nacht, wie sie wohl fremdartiger nicht hätte sein können.

 

...stürzt sie...

 

...Gehirn schockgefrostet. Das Wasser ist nicht gefroren. Ein Fluss. Doch sie kann sich kaum noch bewegen. Sie weiß, dass sie aufstehen muss. Wegrennen. Sie will ihre Mutter um Verzeihung bitten, bevor sie aus dem Leben scheidet.

Die trügerische Sicherheit einer überwältigenden Müdigkeit hält sie von einer Sekunde auf die andere gefangen. Sich wehren hat keinen Zweck, stellt sie fest und denkt an wärmere Zeiten, von denen sie jetzt weiß, dass sie kommen werden. Sie schließt die Augen und dann...

 

...schläft sie...

 

...träumt nicht.

 

...stirbt sie...

 

...bereut nicht.

Impressum

Texte: Kevin Hänle / OutlawMusika
Bildmaterialien: OutlawMusika
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2015

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