„Es war einmal vor nicht allzu langer Zeit an einem gar nicht mal so weit entfernten Ort, da verliebte sich ne Hündin an der Leine in eine Katze von der Straße.“
Acoustic Blues in Begleitung einer männlichen Stimme erfüllte in jener Nacht, da unsere Geschichte beginnt, die heruntergekommenen Straßen Ostberlins.
Ein junger Straßenmusiker im androgynen Look eines 70er Jahre Punkrockers lehnte gegen die brüchige Außenfassade eines Stripclubs namens Eve’s Garden. In seinen Händen hielt er eine schwarzrote Westerngitarre, eine Baby Taylor BT2, in die der Name Betsie eingraviert war. Seine Augen lagen verborgen hinter einer undurchsichtigen Sonnenbrille. Kaum jemand hatte Kitt – so nannte sich der Junge selbst – jemals ohne sein dunkles Accessoire gesehen.
„Die Katze aber wollte nichts davon wissen, versteht ihr?“, sagte Kitt in seinem gewohnten Sprechgesang zu der kleinen Menschentraube, die um ihn herum versammelt stand und seiner Darbietung lauschte.
„Warum?“, rief einer aus der Zuhörerschaft. „Ist sie schwul, oder was?“
Einige lachten. Für gewöhnlich hasste Kitt Zwischenrufe aus dem Publikum - diesen aber war er gewillt, zu verzeihen. Mit einem schiefen Grinsen wandte Kitt sich an einen dunkelhäutigen, durchtrainierten Kerl, der lässig auf der Treppe vor Eve’s Stripclub saß und an einer Zigarette zog. Seine Name war Moses „Moe“ Valentine. Moe war nicht nur der beste Stripper des Kiezes, sondern auch Kitts einzig wahrer Freund.
„Schwul, nicht schwul – ist doch egal! Die hing halt lieber rum, drehte Dinger und sang Lieder über Billy Boy und Bobby Blues und–"
„Miezen ohne Mieder?“, unterbrach ihn Moe grinsend.
Kitt, dem das gefiel, ging auf seiner Gitarre in ein improvisiertes Blues Solo über, das viele in der Menge zum Tanzen animierte. Ein heruntergekommener Mittdreißiger drängte sich währenddessen durch den Kreis der Zuhörerschaft, wobei er auf seinem Weg viele der Tanzenden aus Unachtsamkeit anrempelte und ein „Tschuldigung“ nach dem anderen nuschelte. Sein Name war Wiesel und jeder wusste, dass Wiesel nicht der Musik wegen hier war. Er war auf Schnitzeljagd nach Seelenfutter, wie er es selbst nannte. Und bei Kitt gab’s meistens ein klein wenig davon. Ohne den Straßenmusiker eines Blickes zu würdigen, ging Wiesel vor Kitts ausgebreitetem Gitarrenkoffer auf die Knie und wühlte sich mit seinen abgenagten, verdreckten Fingern durch den Inhalt. In einem versteckten Seitenfach schließlich fand er, wonach er so sehnsüchtig gesucht hatte: Dutzende CD-Hüllen mit Aufdruck Bobby Blues. Wiesel schnappte sich drei davon, kramte aus seiner Hosentasche ein zerknittertes Bündel Geldscheine hervor und ließ einen Fuffi in den Koffer fallen. Mit neuen Lebensgeistern erhob sich der gichtkranke Wiesel, applaudierte Kitt kurz übertrieben laut und den Takt missachtend zu, machte dann kehrt und verschwand wieder in der Nacht, um im angrenzenden, stillgelegten Industriegebiet seine süchtige Seele mit einer Prise Bobby Blues zu füttern.
Kitt bekam davon freilich wenig mit. In jenen Momenten, da die Musik durch seinen Geist und Körper floss, verschwamm die Außenwelt zu einem traumähnlichen Gebilde, an das er sich später nur selten erinnerte.
Eine der hier anschaffenden Prostituierten holte ihn mit einem ungeduldigen Zwischenruf zurück in die Realität. „Und was ist jetzt mit der Hündin?“, wollte sie wissen.
Es dauerte ein, zwei Augenblicke, ehe Kitt begriff, von welcher verdammten Hündin sie da faselte. Dann aber erinnerte er sich vage wieder an die Lyrics, die er vor seinem Solo spontan erdichtet hatte.
„Nun“, sagte Kitt, nach Worten suchend, „das arme Ding... das sehnte sich, ich weiß nicht wie, nach wahrer Lieb und Family!“
Ja, das fetzt! dachte er.
Doch es dauerte nicht lange, da folgte schon die nächste verbale Unterbrechung - diesmal von einer aufgetakelten Dicken, die wohl Teil einer Junggesellinnengruppe war, denn alle sieben trugen farbenfrohe Oberteile mit identischem Aufdruck („Hallo Welt, wir sind noch zu haben.“)
„Gibt’s ein Happy End?“, fragte die Dicke und stupste blöde grinsend eine ihrer Kolleginnen an.
„Bei der Katz?“, sagte Moe und sah arg zweifelnd zu Kitt.
Kitt ignorierte seinen Kumpel und richtete sich stattdessen an die Junggesellinnen: „Ein Happy End wollt ihr? Ne Hochzeit? Kinder?“
„Sie heiratet!“, sagte wieder die Dicke und deutete dabei begeistert auf die bald Vermählte neben sich, die als einzige ein weißes T-Shirt mit aufgedruckten Gitterstäben trug.
Kitt verbeugte sich tief vor ihr. „Mein aufrichtiges Beileid“, sagte er. Die Zuhörer lachten und Kitt, dem es jetzt so langsam reichte mit dem ganzen Zwischengerufe, ergriff lauthals das Wort, um die Session für heute zu beenden. „So dann, ein kleiner Vorgeschmack aufs künftige Glück: Die Hündin klammerte und flennte, ja sie heulte ganze Nächte, bis unsere Katz – die Faxen dicke – sie traktierte mit der Tatz. Und sie küssten und sie schlugen sich, verfluchten und zerstörten sich, und zeugten so – wie’s sich gehört – Missgeburt auf Missgeburt, die sie erst küssten, bald drauf schlugen. Ja, und wenn sie nicht geschieden sind, dann zanken sie noch heute!“
„Und die Moral von der Geschicht?“, fragte Moe.
„Ne Katze bleibt ne Katz“, sprach Kitt ins Mikrofon. Und an die Vermählte: „Daran ändert auch die Ehe nix. Olé!“
Ein letzter, harter Akkord, dann war die Mär beendet. Kitt verbeugte sich vor den Zuhörern. Mäßiger Applaus folgte, noch mäßigere Spenden. Die Menge löste sich bis auf Moe auf.
„Kitt, du verlorener Sohn.“
„Moses, Baby, schon Feierabend?“
Moe gesellte sich in seinen schicken Cowboystiefeln zu Kitt und reichte ihm eine seiner Zigaretten, die er ihm freundlicherweise auch gleich entzündete.
„Ich soll dir von Evie ausrichten, dass du woanders dealen sollst“, sagte Moe und warf einen angewiderten Blick auf Kitts Gitarrenkoffer. „Zuhälter und Bullen sind schlecht fürs Geschäft. Und du, mein Bester, ziehst leider beides an.“
„Wer dealt hier?“, sagte Kitt mit perfektionierter Unschuldsmiene. „Gilt ein bisschen Straßenkunst jetzt schon als Verbrechen?“
Ein weiterer Junkie schlurfte heran, legte wortlos einen Zwanziger in Kitts Koffer und verschwand mit einer Scheibe Bobby Blues.
„Meine neue Platte ist der Hit“, sagte Kitt und nahm einen genüsslichen Zug der Kippe.
„Hab ich gehört. Und der Zwerg wohl auch. Gerüchten nach ist der nicht gerade happy über deine – wie war das? – ach ja, Straßenkunst.“
„Die Zuhälter hier interessieren mich einen Dreck“, erwiderte Kitt nur und spuckte dabei vor seine Füße.
„Dumm nur, dass du sozusagen auf ihrer Bühne dein Bobby Blues vertickst“, sagte Moe und überblickte kurz den Straßenstrich, auf dem sie sich befanden und der mittlerweile zu einem zweiten Zuhause für sie geworden war.
„Das ist ne öffentliche Straße, oder?“, sagte Kitt und schleuderte seinen abgebrannten Zigarettenstummel genervt auf den kalten Asphalt. „Wenn der Wichser ein Problem hat, soll er kommen - den mach ich alle.“
Moe konnte sich bei der Vorstellung, dass sein schmächtiger Freund nicht die Saiten einer Gitarre, sondern die eigenen Fäuste zum Schwingen brachte, ein Grinsen nur schwer verkneifen. „Hast du seine Schlägertruppe vergessen?“
„Ach was! Die prügel ich grün und blau – so! Und so! Und dann HAAAA!“, sagte Kitt und teilte wilde, selbstvertonte Lufthiebe gegen imaginäre Feinde aus, bis ihn seine Raucherlunge hustend in die Knie zwang.
„Mein Gott“, sagte Moe kopfschüttelnd. „Wie wär’s, wenn du dir endlich mal einen anständigen Job zulegst?“
Kitt zündete sich eine neue Zigarette an und schwieg. Sein halbes Leben lang hatte er sich diese oder ähnlich gut gemeinte Worte von allen möglichen Autoritäten und Quälgeistern anhören müssen. Dass jetzt auch noch sein bester Freund mit der Leier anfing, setzte dem Ganzen die verdammte Krone auf. Dabei wusste Moses ganz genau, dass Kitt zeitweise tatsächlich versucht hatte, in der bürgerlichen Welt Fuß zu fassen. Drei abgebrochene Studienfächer, dutzende kurzweilige Jobs und ein völlig verkorkstes Praktikum in der Musikbranche sollten wohl Beweis genug für seine ehrlichen Bemühungen sein. Er war nunmal kein Dutzend- und Herdentier.
„Ich bin Künstler, Moe, kein Arbeitsklave“, sagte Kitt und überhörte Moes genervtes Seufzen. „Zu Goethes Zeiten hätten sich die Schirmherrn um mich und meine Rechnungen geprügelt, ja die hätten sich ein Bein nach dem anderen ausgerissen, um mich und meine Bets in ihrem Namen über den ganzen verdammten Globus schicken zu dürfen. Mein Dilemma ist, dass ich in einer verfluchten Dreckswelt lebe, die lieber in Kleingärten und Bausparer investiert als in wahre Kunst.“
Moe, der Reden wie diese von Kitt schon öfters mit anhören musste, zog nur seine schön geschminkten, mit Glitzerstaub versehenen Augenbrauen nach oben. „Dein Dilemma ist, dass du vor lauter Faulheit dein Talent am Strich vergeudest. Da, guck mal.“ Moe deutete auf ein riesiges Werbeplakat, das auf der anderen Straßenseite an einem baufälligen Pub angebracht war.
Kitt kniff die Augen zusammen und las die Aufschrift. New Talents Berlin. Eine lokale Talentshow für Sänger und Songwriter.
„Ich soll also einmal kurz meine scheiß Seele verkaufen?“
„Nein“, korrigierte ihn Moe und verpasste ihm einen freundschaftlichen Schlag gegen die Brust. „Du sollst einmal kurz deinen Arsch hochkriegen und was aus deiner verfluchten Kunst machen.“
Kitt sah ihn voller Argwohn an. Schließlich sagte er: „Die suchen aber keine wahren Musiker, die suchen irgendwelche Vorzeigemarionetten, die die immer gleichen Lieder für sie singen.“
„Na und?“, sagte Moe und zuckte mit den Schultern. „Dann geh einmal konform mit der Masse, kassier das Preisgeld ab und begleich damit ein paar deiner Schulden.“
Doch Kitt wollte davon nichts hören.
„Jetzt stell dir mal bitte vor, David Bowie oder Lou Reed hätten bei so einer Mainstream-Kacke mitgemacht... die wären keine Runde weitergekommen! Zwei der größten Musikikonen hätte man rausgeschmissen, nur weil irgend so ein Boygroup-Wichser zwei Oktaven höher singt.“
„Überleg’s dir“, sagte Moe und klopfte Kitt zum Abschied auf die Schulter. Seine Raucherpause war vorbei, er musste zurück an die Stange. „In zwei Wochen sind die Auditions!“, rief er ihm noch über die Schulter hinweg zu, ehe er die Treppen zum Stripclub erklomm.
„Hab ich schon!“, erwiderte Kitt sofort. „Willst du wissen, was ich von deiner glorreichen Idee halte?“ Kitt exte seine lauwarme Bierflasche und schleuderte sie dann mit aller Kraft der Fassade mit dem Plakat der Talent Show entgegen... traf aber stattdessen ein parkendes Auto, einen nagelneuen Audi RS7, dessen Hightech-Alarmanlage daraufhin lauthals losging.
„Fuck“, murmelte Kitt, kramte schnell seine Sachen zusammen und machte sich schleunigst auf den Weg zur nächsten Kneipe, um dort für eine Weile unterzutauchen und bei einigen White Russian die Nacht ausklingen zu lassen.
Ein lauter Ruf weckte unser Dornröschen: „Jessica! Aufstehen!“
Jessica Havlock öffnete langsam ihre verschlafenen Augen. Sie war ein unschuldiges Ding von achtzehn Jahren mit langen blonden Haaren und einem immerzu verträumten Ausdruck im Gesicht. Während ihre Mutter schon hektisch durch ihr Zimmer wuselte und die Jalousien aufzog, drückte Jessie das Kopfkissen fest gegen ihr Gesicht, um dem grellen Sonnenlicht, das durch ihr Fenstergitter schien, wenigstens noch für ein paar Momente zu entgehen. Sie versuchte sich an ihren Traum zu erinnern. Er handelte von einem ihr unbekannten Ort in Berlin – einem Ort, an dem schwarze Vögel sich massenweise versammelt hatten, um im Kreise der ihren jenem Zauber zu erliegen, dem auch Jessie im Wachsein hilflos ergeben war: Dem der Musik. Es waren auch Menschen dort gewesen – singende, tanzende junge Leute ihres Alters. Wie aus einer erhabenen Vogelperspektive hatte sie das Traumbild im Kopf – doch wo war sie? War sie nur eine unbeteiligte Zuschauerin gewesen?
„Jessica!“, sagte ihre Mutter ungeduldig und riss Jessie damit aus ihrer Gedankenwelt „Jetzt mach schon. Raus aus den Federn.“
Unter dem Kopfkissen nuschelte Jessie kaum verständliche Worte.
Ihre Mutter seufzte. „Ich weiß, dass du Ferien hast. Aber dein Vater könnte jeden Augenblick zurückkommen. Willst du ihn im Schlafanzug willkommen heißen?“
Jessie fuhr hoch. Ihr Vater! Heute! Wie konnte sie das nur vergessen!
Wenig später saß sie in einem Knie bedeckenden Sommerkleid vorm Wandspiegel, während ihr ihre Mutter das Haar zu einem raffinierten Zopf flocht. Jessie ließ es still über sich ergehen.
„Wie schön du bist – makellos“, sagte ihre Mutter und betrachtete Jessies Spiegelbild mit einem entrückten Blick. Jessie lächelte matt, wich dem begutachtenden Blick ihrer Mutter aus und streichelte stattdessen das Fell der getigerten, weißgrauen Katze, die es sich auf ihrem Schoß gemütlich gemacht hatte und nun zufrieden schnurrte. Nirgends auf der Welt gab es eine bravere Hauskatze als ihre Miss Muppets.
Eilige Fußschritte näherten sich vom Gang und einen Moment später stand Jessies kleine Schwester völlig außer Puste neben ihr. Sie war bereits frisiert und gekleidet und sah so frisch und putzmunter aus wie eh und je.
„Hast du die Kette gefunden, Sarah?“, fragte Frau Havlock ihre jüngste Tochter.
Die zwölfjährige Sarah nickte stolz und überreichte der Mutter eine fein gearbeitete Silberkette. Zusammen legten sie diese um Jessies schmalen Hals.
„Ist heute ein besonderer Anlass?“, fragte Jessie vorsichtig und betrachtete die schwere Kette um ihren Hals, die schon ihre Großmutter getragen hatte.
„Papa kommt aus dem Osten zurück“, sagte Sarah.
„Dem Nahen Osten, Spatz“, korrigierte sie die Mutter. „Und wer weiß, vielleicht hat er ja noch jemanden mitgebracht.“
„Was, wen?“, entfuhr es Jessie und sie richtete sich nervös auf.
Doch Mutter und Schwester ließen sie im Dunklen und kicherten nur verschwörerisch.
„Mama? Wenn Jessie heiratet, krieg ich dann ihren Reinheitsring?“, fragte Sarah in flehendem Ton.
„Heiraten?“, entwich es Jessie und sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss.
„Aber Sarah“, sagte die Mutter zum wiederholten Male, „du bekommst doch bald deinen eigenen. Bis zum großen Ball ist es nicht mehr lange hin.“
Jessie räusperte sich. „Heiraten?“, sagte sie nochmals mit mehr Nachdruck.
Draußen hörte man, wie ein Auto in die Einfahrt des Hauses fuhr.
„Meine Güte“, sagte die Mutter ganz fahrig. „Da sind sie ja schon!“
„Sie? Heiraten? Mam!!“, schrie Jessie inzwischen panisch und sprang auf, wobei sie ganz die schlafende Miss Muppets auf ihrem Schoß vergessen hatte, die jetzt am Boden landete und Jessie mit vorwurfsvollen Augen anfunkelte.
„Ich mag ihn zuerst sehen!“, hörte Jessie ihre kleine Schwester noch voll kindlicher Neugier sagen, ehe sie Hals über Kopf aus dem Zimmer stürmte. Ihre Mutter kontrollierte ein letztes Mal mit kritischem Blick Jessies Haar, richtete dann noch flüchtig ihr eigenes und huschte ebenfalls nach draußen.
Jessie stand wie festgefroren allein in ihrem Zimmer. Sie hörte, wie der Motor des Wagens ausgestellt wurde. Dann waren da Stimmen – männliche Stimmen. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Fenster und spähte durch den Vorhang heimlich nach draußen.
In der Einfahrt vor der Garage parkte im Freien der schwarze Mercedes SL200 ihres Vaters. Die Fahrertür öffnete sich. Kaum war Herr Havlock aus dem Fahrzeug gestiegen, da wurde er schon freudig von Sarah umarmt. Jessies Blick wanderte zur Beifahrertür, die gerade aufschwang. Ihr Herzschlag setzte kurz aus, als ein hochgewachsener, blonder Mann im Offiziersgewand der Bundeswehr nach draußen trat. Sofort wurde er von Frau Havlock freundlich in Empfang genommen und willkommen geheißen. Gerade als Jessie sich weiter vorbeugte, um einen besseren Blick auf den Neuankömmling zu werfen, schoss dessen Blick unerwartet hoch zu ihr. Reflexhaft sprang sie zurück, stolperte dabei über die eingerollte Miss Muppets und landete in ihrem schönen Kleid am Boden.
Familie Havlock war an diesem Abend im großen Esszimmer zum Dinner versammelt. Jessies Mutter deckte gerade den selbstgemachten Schweinebraten mit Kartoffelpüree und -knödeln auf, während der Vater von seiner christlichen Missionsreise in Syrien berichtete. Während die anderen gespannt seinen Worten über die dortige Verwüstung und Armut lauschten und an kritischen Stellen nachhakten, konnte sich Jessie nur schwer auf die Erzählung konzentrieren. Immerzu fiel ihr Blick scheu auf den Fremden, der ihr gegenüber saß. Er hieß Jakob Wojczik. In seinem grauen Dienstanzug mit Dienstgradabzeichen und der anthrazit farbenen Hose wirkte er auf Jessie wie ein moderner Ritter. Sein blondes Haar war in soldatischer Manier kurzgeschoren und betonte dadurch sein markant geschnittenes Gesicht. Jessie erwischte sich bei der Frage, wie er wohl unter seiner Uniform aussah. Durchtrainiert und muskulös stellte sie sich ihn vor. Er wirkte, als hätte sich sein Körper nicht im sicheren Ambiente eines Fitnessstudios, sondern auf den gefährlichen Schlachtfeldern dieser Welt geformt. Kein Muskel an seinem Körper war nutzlos und nur zur Schau – nein, diese Muskeln unter seinem Gewand hatten ihren Zweck einzig und allein im Kampf gegen den Feind.
„Hast du keinen Hunger?“, sagte Jakob und Jessie erschrak ein wenig, als sie bemerkte, dass die Frage ihr galt.
„Sie möchte kein Fleisch mehr essen“, antwortete Frau Havlock, wobei ihr die Enttäuschung darüber deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
„Deine Mutter hat den ganzen Nachmittag in der Küche verbracht“, schaltete sich ihr Vater ein. „Willst du nicht wenigstens einen Happen probieren?“
„Aber Robert, das muss sie doch nicht“, sagte ihre Mutter. „Es ist ihre Entscheidung, auch wenn ich sie nicht ganz verstehe. Liebling, weißt du nicht, was uns das Wort Gottes dazu lehrt?“
Ehe Jessie antworten konnte, sprudelten schon aus Sarah jene Worte hervor, die eins zu eins so in der Bibel stehen: „Alles, was sich regt und legt, das sei Eure Speise.“
„Da steht auch, dass nur die Schwachen kein Fleisch essen“, fügte ihr Bruder Lukas mit verständnislosem Blick auf Jessie hinzu. „Jesus war kein Vegetarier.“
Nein, Jesus war kein Vegetarier gewesen, dachte Jessie. Doch würde er heute leben, in einer Welt, die fühlende Lebewesen zu abertausenden in tierquälerische Mastbetriebe einpferchte, mit Unmengen an Antibiotika vollpumpte und dann hunderte Kilometer weit unter größtem Stress zum billigsten Schlachtbetrieb fuhr... Jessie war sich sicher: Jesus wäre auf der Stelle Vegetarier geworden. Doch sie schwieg und senkte den Blick. Schweigen war leichter als Protest zu üben. Außerdem ziemte es sich nicht, der eigenen Familie zu widersprechen.
Umso überraschter war sie, als Jakob einsprang und Partei für ihre Sache ergriff. „Das Wichtigste habt ihr beide aber vergessen“, sagte Jakob zu Lukas und Sarah. „In Römer 14 steht geschrieben, dass man nicht mit schlechtem Gewissen essen sollte und – was noch wichtiger ist – nicht über das Essverhalten anderer Menschen richten darf.“ Er griff zur Salatschüssel und wandte sich damit an Jessie: „Möchtest du?“
Auch wenn sie im Stillen dankbar für Jakobs Worte war, lehnte sie geknickt ab und nahm sich stattdessen opferbereit eine kleine Scheibe vom Braten. Sie hatte den enttäuschten Blick von ihrer Mutter noch deutlich im Gedächtnis. Und das letzte, was sie wollte, war, ihre Eltern in Gesellschaft anderer zu brüskieren.
„Jakob ist vor einem Jahr als einer der jüngsten Offiziere zum Hauptmann befördert worden“, sagte ihr Vater und Jessie bemerkte, dass diese Information vor allem ihr galt. „Er hat sich in zahlreichen Auslandseinsätzen bewährt und alle Prüfungen, die man ihm auferlegt hat, in Rekordzeit gemeistert.“ Havlock warf Jakob einen anerkennenden Blick zu, den dieser dankbar erwiderte.
„Spielst du Musik?“, fragte Jessie ohne ihn anzusehen.
„Als Kind hatte ich einmal Klavierstunden, aber mir fehlte wohl das Talent“, sagte Jakob entschuldigend. „Und du? Bist du musikalisch?“
Ehe Jessie den Mund aufmachen konnte, antwortete wieder die Mutter an ihrer Stelle: „Oh, und wie! Den ganzen Tag von früh bis spät dreht sich alles um Musik bei ihr. Und wie schön sie spielt! Harfe, Klavier, Geige - ach, und ihr Gesang!“
„Mam...“, nuschelte Jessie peinlich berührt.
„Vielleicht kannst du mir einmal etwas vorspielen?“, fragte Jakob und sah Jessie dabei mit seinen haselnussbraunen Augen interessiert an.
„Jessie will bei der diesjährigen Talent Show mitmachen“, plapperte Sarah los.
Jessie riss die Augen auf und schenkte ihrer kleinen Schwester einen Blick á Mensch, das solltest du doch nicht sagen!
„Davon höre ich ja zum ersten Mal“, sagte die Mutter sofort und sah ihre älteste Tochter ganz verblüfft an.
Jessie senkte den Blick und nahm sich rasch ein weiteres Stück vom Braten.
„Was ist das für eine Show?“, fragte Herr Havlock ruhig.
„Das ist nichts“, sagte Jessie, während sie an einem besonders zähen Stück Fleisch kaute. „Man kann dort vor Juroren und Publikum vorspielen. Und wenn man gut ist, kommt man eine Runde weiter. Der Gewinner der Show bekommt einen Plattenvertrag.“ Bei der Vorstellung glänzten Jessies Augen kurz auf.
Schnell schwand ihre Euphorie, denn ihr Vater sagte entschieden: „Ich möchte nicht, dass du dort mitmachst. Musik ist kein Konkurrenzkampf, sondern eine Gabe Gottes, mit der man seiner Familie in den eigenen vier Wänden Freude bereitet - Jesus zu Ehren, und nicht wie diese heutigen Popstars für Ruhm, Geld und Drogen.“
„Aber das weiß sie doch, nicht Schätzchen?“, sagte die Mutter, bemüht das lästige Thema vom Tisch fallen zu lassen.
Jessie schluckte das Stück des Braten mühevoll hinunter und nickte pflichtbewusst.
Währenddessen beugte sich Sarah über den Esstisch und deutete interessiert auf Jakobs rechte Hand, an dessen Ringfinger sich etwas goldenes befand.
„Ist das ein Reinheitsring?“, fragte Sarah mit großen Augen.
„Ja“, sagte Jakob lächelnd und zeigte ihn Sarah. „Wie deine beiden Geschwister habe ich ein Gelübde vor Gott und meinen Eltern abgelegt, bis zur Ehe rein zu bleiben. Ich habe ihn niemals abgelegt.“
„Nicht einmal im Kampf?“, fragte Lukas beeindruckt.
„Nicht einmal im Kampf“, erwiderte Jakob ernst.
„Unsere Sarah legt in einem Monat ihr Gelübde ab“, erklärte Herr Havlock. „Wir organisieren wie jedes Jahr den großen Reinheitsball.“ „Papa“, sagte Sarah. „Wenn Jakob und Jessie heiraten, dann braucht sie ihren Ring doch nicht mehr, oder?“
„Sarah!!“, schrie Jessie, während alle anderen über ihre Bemerkung nur ein Lachen übrig hatten. Jessie, rot vor Scham, stocherte in ihrem Essen herum. „Darf ich bitte aufstehen, Papa?“
„Iss erst auf, Kind.“
Lukas entdeckte derweil die Waffe in Jakobs Halterung. „Ist die echt?“
„Ja“, sagte Jakob, „das ist ein Colt M1911 von 1955, .45 Kaliber. Eigentlich ist der Besitz eigener Waffen strengstens verboten, doch mein Vater, ein Vizeadmiral der Marine, hat ihn mir vererbt. Er ist geladen und schussbereit, aber so wie ich gerade außer Dienst.“
Lukas Augen glühten. „Darf ich ihn mal anfassen?“
Jakob sah fragend zu Herrn Havlock. Dieser nickte zustimmend, woraufhin Jakob die Waffe aus der Halterung zog, verriegelte und dann Lukas über den Esstisch hin reichte. Der Teenager betrachtete sie wie ein kostbares Juwel von allen Seiten. „Wahnsinn! Hast du schon mal jemanden damit umgenietet?“
„Lukas!“, sagte die Mutter erschrocken. „Doch nicht beim Essen.“
„Schon gut, Frau Havlock“, sagte Jakob. Und an Lukas gewandt: „Vor drei Jahren, als ich in Afghanistan stationiert war, da wurde unser Konvoi von Terroristen angegriffen. Gottlose Menschen waren das, die sich selbst in die Luft sprengten. Ich musste einen von ihnen töten. Hätte ich damals nicht abgedrückt, säße ich heute Abend nicht bei euch.“
Großes Schweigen am Tisch. Jessie suchte Jakobs Blick, doch dieser war damit beschäftigt, den Colt wieder sicher in der Halterung zu verstauen.
„Wie war es?“, fragte Lukas mit morbider Neugier.
Doch Herr Havlock hatte genug gehört. „Das reicht, Luke“, sagte er. „Jakob hat im Namen Gottes unser christliches Vaterland verteidigt und wie ein Held seine Pflicht getan.
„Wenn ich mit der Schule fertig bin, geh ich auch zur Armee“, sagte Lukas Feuer und Flamme. „Oder ich werde wie Papa Pastor, reise um die ganze Welt und verbreite die Namen Gottes!“
Herr Havlock betrachtete seinen Sohn voll väterlichem Stolz. „Lukas erhält in zwei Wochen seinen Ritterschlag“, sagte Herr Havlock zu Jakob. „Wir fahren für die Initiation zu unserem Landhaus in Polen. Du bist herzlich eingeladen, uns zu begleiten.“
Doch ehe Jakob antworten konnte, überkam Jessie ein plötzlicher Hustanfall. Etwas steckte in ihrem Hals fest. Panisch griff sie sich an die Kehle, während die Familie sie perplex ansah. Jakob reagierte als Erstes, erkannte sofort die Gefahr, eilte um den Tisch herum, legte seine starken Arme um Jessies flachen Bauch und drückte kräftig zu. Einmal, zweimal, beim dritten Mal dann spuckte Jessie etwas aus – ein zähes Stück des Bratens, das in ihrer Luftröhre gesteckt hatte. Erleichtert holte sie Luft. Ihr Gesicht war feuerrot angelaufen und die Augen tränten. Jakobs Arme verweilten weiterhin um ihren Bauch. Langsam sah Jessie zu ihrem Retter auf und schenkte ihm ein erstes, scheues Lächeln, das ihren Eltern nicht entging.
Herr und Frau Havlock sahen sich über den Tisch hinweg zufrieden an und nickten einander übereinstimmend zu.
Business as usual war auch heute wieder das Motto für die üblichen Verdächtigen am Strich. Inmitten dieser sündigen Welt lehnte Kitt gegen einen Feuerwehrhydranten und wärmte sich mit einfachen Akkordabfolgen und Tonleitern auf seiner Gitarre auf. Ab und an kritzelte er ein paar Verse in einen Notizblock, von denen er die meisten jedoch gleich wieder frustriert durchstrich. Es war keine gute Nacht, das spürte er. Es war eine Nacht, die sich mühelos in die Schlange der anderen schlechten Nächte reihte, die ihm seit geraumer Zeit beschert schienen. Teufel, er hatte eine wahre Pechsträhne! Und diese unfruchtbaren Abende waren ein bitteres Zeugnis davon. Er hatte etwas verloren. Irgendetwas, das ihm nicht ganz bewusst war, das er früher aber einmal besessen hatte. Er konnte es auf Teufel komm raus nicht beim Namen nennen. Fast wäre er versucht gewesen, dieses seltsam fehlende Etwas schlicht als Hoffnung zu bezeichnen. Doch ein Junge wie er wuchs nicht mit so etwas nutzlosem wie Hoffnung oder Glaube auf. Er war schlau, er wusste, dass diese großen Worte lediglich Marketingzwecken galten – also der Religion oder dem Staat. Aber was sollte ein intelligentes Individuum, ein Steppenwölflein wie unser Kitt, mit einem so abstrakten Begriff wie Hoffnung anfangen?
Es war kurz vor zwölf, als auf der anderen Straßenseite ein Zwerg mit fies dreinblickender Leibgarde aus einem zwielichtigen Nachtclub namens Barberry auftauchte, um seinen obligatorischen Kontrollzug durch sein dunkles Königreich zu machen. Als der Zwerg Kitt erblickte, warf er ihm sogleich einen spöttischen Handkuss zu. In dem Moment wusste Kitt, dass er sich getäuscht hatte. Dies war nicht nur irgendeine schlechte Nacht, nein, es war eine richtig beschissene. Denn diese ein Meter kleine Gestalt war nicht irgendein Niemand. Es handelte sich bei dem Zwerg um den vorherrschenden Zuhälter und Drogenbaron dieses an Nutten und Junkies so reichen Stadtteils. Kitt war erleichtert, als der Zwerg mit seiner Entourage die nächstgelegene Kneipe betrat und aus seinem Blickfeld verschwand. Von den Wirten und Ladenbesitzern wusste Kitt, dass der Zwerg einen nicht gerade geringen Betrag für seine Schutzdienste einforderte.
Das unverkennbare Klick-Klack-Geräusch von hohen High Heels, die auf festem Boden aufschlugen, erreichte ihn.
„Na Kitty Cat, was macht dein Song?“
Eine Punknase, die hier anschaffen ging, setzte sich ungeniert vor Kitt im Schneidersitz auf den Boden. Sie hieß Paulina, aber alle nannten sie nur Paulinchen, weil sie noch keine achtzehn war. Kitt ignorierte sie. Nicht etwa, weil er Paulinchen nicht leiden konnte – im Gegenteil, von all den Nutten hier war sie ihm mit ihrer kindlichen Berliner Schnauze noch am liebsten. Er war heute einfach nicht in Stimmung für Konversation und menschlichen Kontakt.
„Es ist ein Lied, Paulinchen“, sagte Kitt knapp. „Mein Lied, um genau zu sein. Und nicht irgend so ein Dreck, den sich deine Generation ins Ohr knallt.“
„Mei, wir sind heute aber wieder charmant!“, sagte Paulina und tat so, als ob sie von Kitts grober Wortwahl ganz betroffen sei. „Bist du endlich fertig damit?“
„So gut wie“, brummte Kitt.
„Dass ich das noch erleben darf! Und, spielst du mir was vor? Oh bitte, bitte, bitte!“, quengelte sie wie das kleine Mädchen, das sie insgeheim noch war.
Kitt verzog missmutig das Gesicht.
„Nur das Intro“, drängte Paulina weiter, erhob sich und tänzelte schmeichelnd um ihn herum.
„Ich fang ohne an“, sagte Kitt unbeeindruckt.
„Dann den Refrain!“
„Refrains werden maßlos überbewertet.“
„Dann sing mir wenigstens ein paar Lyrics, ja? Nur eine Strophe. Komm
schon, nur ein kleiner Reim–“
„Seh ich vielleicht aus wie ein scheiß Dichter?“, platzte Kitt heraus.
Paulina hörte auf zu tanzen. Enttäuschung lag auf ihrem jugendlichen Gesicht. Enttäuschung und Realisation. „Du hast also mal wieder nichts“, sagte sie und zog eine betrübte Schnute. „Sag mal, was machst du eigentlich den ganzen, lieben Tag?“
„Ich suche“, antwortete Kitt. „Sonst noch was?“
„Du suchst und findest nichts.“
„Der Wille zählt–“
„– und die Faulheit siegt!“
Jetzt platzte Kitt endgültig der Kragen. All die angestaute Wut und Verzweiflung über seine momentane Lebenssituation richtete sich gegen dieses unschuldige Geschöpf. „Was weißt du ’n schon von den Qualen der Schöpfung?“, blaffte er Paulinchen an. „So ne Melodie in dir ist kein Freier, den du dir mal so nebenbei mit ein bisschen Tittenzeigen und Arschgewackel aus dem Auto angelst. Ne, das ist wie die Suche nach Erdöl und Gold zusammen. Und hat man mal ne Spur von ihr, dann muss man sie jagen wie eine Jungfer, die auf einem scheiß Drachen davonreitet! Wochen, Monate, manchmal Jahre! Ich hör sie, will sie packen und dingfest machen und dann – PUFF! – weg! Verschwunden! Nie da gewesen!“
Paulina sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung an.
„Ist ja ein tolles Märchen, das du dir da erzählst, Bruder Grimm“, sagte sie ihm und wuschelte mit ihrer Pfote durch sein zerzaustes Haar. „Vielleicht fehlt dir ja einfach die Muse?“
Gerade wollte Kitt ihr eine gehörige Antwort geben, als eine laute, angetrunkene Gruppe junger Männer sich ihnen näherte. Beide sahen sich um. Kitt verzog angeekelt das Gesicht aufgrund ihrer Uniformen. Bundeswehr, dachte Kitt gehässig und spuckte auf den Boden. Paulina aber gluckste freudig auf, checkte kurz ihr Spiegelbild im Seitenfenster eines parkenden Autos, verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern von Kitt und ging der Truppe hoffnungsvoll entgegen, wobei sie übertrieben mit ihrem Hintern wackelte.
Die Truppe aus jungen Offizieren und Anwärtern war auf dem Weg zum Stripclub. Sie waren zu viert. Und es gab einen Anlass für ihren heutigen Besuch.
„... sagt mir endlich, wo’s hingeht!“, sagte ein großer blonder Mann, der eine Augenbinde trug, die ihm die Sicht verdeckte.
„Ins Gelobte zu den Nutten“, johlte Heiko, der Größte und Dümmste von ihnen.
Max und Dieter lachten. Der mit der Augenbinde schwieg grimmig. Ganz offensichtlich war das alles gar nicht nach seinem Geschmack.
„Ach, komm schon, Jac! In Zeiten des Friedens dürfen sich auch Kriegshelden mal amüsieren“, sagte Dieter.
„Eben. Wenn nicht wir, wer dann?“, fügte Max gutgelaunt hinzu.
Heiko klopfte Jakob aufmunternd auf die Schultern. „Du willst doch vor der Hochzeit noch ein wenig Spaß haben, oder?“
„Sie hat noch nicht Ja gesagt“, sagte der gute Jakob zum vielleicht hundertsten Mal.
„Du hast den Alten in der Tasche, da spurt die Tochter auch bald“, sagte Max leichthin.
Heiko hob seine Bierflasche zum Toast. „Auf Striptease und Zigarren, sag ich!“
„Auf Striptease und Zigarren“, fielen die anderen beiden mit ein.
Paulina unterbrach die vier und räkelte sich posierend vor ihnen. Sie wirkte dabei aber nicht wie eine Frau, die sich ihrer Reize bewusst war – viel mehr ähnelte sie einem Kind, welches ihre weiblichen Rundungen noch nicht gewinnbringend einzusetzen wusste. „Na Jungs, Lust auf einen kleinen Inlandseinsatz?“, sagte sie und fuhr sich durch ihr kurzes Haar.
Dieter musterte sie kühl von oben bis unten. „Dreh dich mal“, sagte er in herrischem Ton.
Grinsend drehte Paulinchen eine Pirouette vor ihren Augen und stolperte dabei fast in ihren hohen High Heels.
Heiko und Max brachen bei ihrem Anblick in großes Gelächter aus. Dieters Miene aber blieb unbewegt. „Sehen wir aus, als ob wir für dich bezahlen müssten?“, sagte er ihr mitten ins Gesicht.
„Ja“, fiel Heiko mit ein. „So was wie du wird uns an allen Ecken der Welt nachgeschmissen.“
„Wenn wir ne Hure wollen, dann nehmen wir sie uns. Ohne Bezahlung“, sagte Max und klatschte Paulina zur Verdeutlichung seiner Worte unangemessen fest auf den Hintern. Ohne eine Entschuldigung ließen sie Paulinchen stehen.
„Arschlöcher!“, rief Paulina ihnen nach.
Die Soldaten johlten nur auf und schritten weiter gen Stripclub. Auf ihrem Weg passierten sie Kitt, der die Szene mitverfolgt hatte. Als sie schon fast an ihm vorüber waren, spielte Kitt einen harten Akkord und stimmte ein improvisiertes Liedchen an, das die Soldaten zum Stehenbleiben veranlasste.
„Es war einmal ein Soldat, zwei Soldat, vier Soldat!“, gröhlte Kitt wie ein Verrückter. „In Uniform und Gleichschritt spielten sie sich mächtig auf, um zu überspielen, was jede Nutte weit und breit!, zu aller Zeit!, immer schon wusste: Unter jeder Uniform steckt ein kleiner Woll-dat, der würd so gern und kann doch nicht, drum wurd er ja auch Soll-dat!“
Jakob, der inzwischen die Augenbinde entfernt hatte, baute sich vor Kitt auf und griff dessen Schlaghand, um ihn am Weiterspielen zu hindern.
Jakob war einen ganzen Kopf größer und fast doppelt so breit wie der schmächtige Kitt.
„Du bist ein ganz witziges Kerlchen, oder?“, sagte Jakob und sah auf Kitt herab.
„Dabei kennst du den Refrain noch gar nicht - zum Totlachen!“, sagte Kitt.
Beide funkelten sich an. Der eine grimmig, der andere mit schiefem Grinsen auf den Lippen.
„Das sind Kriegshelden, die du da beleidigst“, sagte Jakob und deutete auf seine Kollegen. „Männer, die in Afghanistan, Irak und Syrien ihr Leben im Kampf gegen den Feind aufs Spiel setzen, während du kleiner Schmarotzer dich von Vater Staat durchfüttern lässt und zum Dank respektlose Liedchen trällerst.“
Kitt gähnte herzhaft. „Das einzige, was mich noch weniger juckt als so ’n sinnloser Krieg, sind Marionetten wie du, die man danach aus Mangel an Witz zu Helden tauft.“
Jakob näherte sich ihm, bis seine Nase fast Kitts Stirn berührte.
„Entschuldige dich“, sagte er ruhig wie eine Gewitterwolke vor der Entladung.
Ein schlauerer Mensch als unser Kitt es war, hätte jetzt aus Selbsterhaltungstrieb und Überlebenswillen eine Entschuldigung heruntergeraspelt, zumindest aber die Schnauze gehalten beim Anblick des Hünen, der mit geballten Fäusten keine Nasenlänge von ihm entfernt stand. Kitts Grinsen aber wurde noch breiter. Lässig nahm er einen langen Zug seiner Zigarette und blies den ausgeatmeten Zigarettenrauch zur „Entschuldigung“ mitten in Jakobs Gesicht. Innerhalb einer Millisekunde packte Jakob Kitt am Kragen und presste ihn hart gegen die Mauer. In Jakobs Griff wirkte Kitt wie ein Schuljunge, dem es ans Pausenbrot ging.
Max, der wusste, dass sein ziviler Freund und beruflicher Kommandant schnell handgreiflich werden konnte, versuchte Jakob zu bremsen, ehe die Situation ausartete. „Komm schon, Jac“, sagte er ruhig. „Abschaum wie der da ist es nicht wert, dass wir Ärger kriegen.“
Kitt gefiel das. „Hör auf dein Herrchen“, sagte Kitt, dessen Füße kaum noch den Boden berührten. „Das hier ist ne Nummer zu groß für dich.“
Nur mit Mühe und Not konnten Heiko, Max und Dieter ihren Kameraden von Kitt trennen und mit sich schleppen.
„Das hat noch ein Nachspiel“, brüllte Jakob über seine Schulter hinweg zu Kitt. Sein Gesicht war ganz rot vor Zorn. Er war es nicht gewohnt, dass man sich ihm gegenüber respektlos verhielt.
„Du weißt ja, wo du mich findest, Kriegsheld“, entgegnete Kitt höhnisch.
Die beiden warfen sich einen letzten gehässigen Blick zu, ehe die Soldaten in Eves Stripclub verschwanden.
„Blöder Wichser“, murmelte Kitt und rotzte als Zeichen seiner Abscheu auf den Boden. Dann suchte sein Blick Paulina. Sie saß abseits auf einer Bank und massierte sich ihr geschlagenes Hinterteil. Kitt schlenderte zu ihr. Wie ein Liebhaber ging er vor ihr auf die Knie und zauberte aus seinem Ärmel ein fremdes Portemonnaie, auf dem das schwarze Kreuz der Bundeswehr aufgestickt war. Er entnahm daraus zwei von insgesamt vier Hunderteuroscheinen und reichte diese wie ein Ritter seiner Prinzessin.
„Für dich, mein Kind“, sagte Kitt feierlich.
Paulina nahm das Diebesgut mit ehrlicher Verblüffung entgegen.
„Für mich?“, sagte Paulina mit großen Augen. „Aber warum?“
Über den Rand seiner dunklen Brille sah er ihr ohne eine Spur von Spott in die kindlichen Augen. Dann sagte er ihr mit lieblicher Stimme: „Weil du zehnmal so viel wert bist wie so ein verfluchter Kriegsheld.“
Eve’s Garden erschien wie die Verwirklichung des biblischen Schöpfungsmythos - eine Art neonbeleuchteter Garten Eden. Die weiblichen Angestellten trugen aus Feigenblättern geflochtene Schürzen, während sich die männlichen in Fellröcke kleideten, um ihre Blöße zu bedecken. Novelle Vague’s Dance With Me rundete das Ganze musikalisch ab und verlieh dem ohnehin schon sündigen Ambiente eine Extranote an verspielter Verruchtheit.
Jakob saß mit seinen Kumpanen in erster Reihe vor der Bühne, auf der gerade der „Sündenfall“ aufgeführt wurde. Moe Valentine verkörperte dabei den Adam; Gin – ein junges Mädchen mit orangeroter Prinz Eisenherz Frisur – die Eva. Wie Jakob schnell merkte, handelte es sich dabei allerdings um eine sehr vage Interpretation des christlichen Urmythos, und er bezweifelte, dass auch nur ein einziger der Angestellten jemals eine Seite aus dem guten, alten Wort Gottes gelesen, geschweige denn sich mit seiner Rolle in ordentlicher Schauspielermanier im Vorfeld beschäftigt hatte. Und so tanzten Moe Adam und Gin Eva frei und schamlos um eine als Apfelbaum verzierte Strip Pole, bis alsbald eine dritte Figur – Satan im Schlangengewand – erschien. Dieser flüsterte Eva ins Ohr und überredete sie dazu, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Wie vor sechstausend Jahren so auch heute: In all ihrer Naivität gab sie den Verführungskünsten der Schlange nach, griff nach einem saftigen Apfel und kostete von der Süße der Frucht. Ein Donnergewitter aus einer alten Musikanlage erschütterte den Stripclub und ließ alle Beteiligten erschaudern. Dem bedrohlichem Lärm folgten leicht betuchte Engelskrieger – es sollten wohl Cherubim sein, Wächter des Himmelreichs. In einer furiosen, aggressiven und selbstverständlich äußerst freizügigen Tanzeinlage trieben diese Adam und Eva von der Bühne zurück in den dunklen Backstagebereich.
Die Zuschauer applaudierten. Geldscheine wanderten auf die Bühne. Jakob stand dem Ganzen aufgrund seines Glaubens sehr distanziert gegenüber. Doch weil ihm die Kleine, die die Eva verkörperte, gefiel, griff auch er wie seine drei betrunkenen Kameraden in die Tasche. Doch – surprise, surprise! – sein Geldbeutel fehlte.
In einer Nebengasse des Straßenstrichs, die zu den Lagerhallen der angrenzenden Industrieanlage führte, welche vor vielen Jahren einmal den Nordosten der Hauptstadt dominierte, saß Kitt mit Paulina und einigen anderen Punks vor einer heruntergekommenen Karaokebar namens Armer Ritter. Aus dem Innern drang eine verzehrte Version von Baby Hold Me Tight durch die eingeschlagenen Fenster nach draußen. Da sie alle Hausverbot hatten, versammelten sie sich öfters davor, tranken harte Schnäpse und schimpften auf das System (und die Besitzerin der Karaokebar). Dufte Typen waren das, fand Kitt. Auch wenn er ihre politische Gesinnung nicht teilte. Links wie rechts oder Mitte - das alles ging ihn nichts an. Staat und Politik scherten ihn einen Dreck.
Während die anderen in ihrem Rausch lauthals den Refrain zu Baby Hold Me Tight mitgröhlten, war Kitt ganz auf das fremde Portemonnaie in seinen Händen fokussiert. Neben Jakobs Ausweis fand er darin ein Kärtchen mit dem Veranstaltungsplan der Evangelikalen Gemeinde. Kitt wusste nichts von dieser Gemeinschaft, doch dem Anschein nach handelte es sich dabei um irgendeine religiöse Sekte. Kitt hielt von der Religion ebenso wenig wie von der Politik. Dabei war er als kleiner Junge gerne sonntags in die Kirche gepilgert. Es war ihm dabei nicht um den Gottesdienst an sich gegangen oder den Kontakt zu anderen Gläubigen, es waren damals vielmehr die Worte des Priesters gewesen, die Art und Weise wie dieser etwas eigenwillige Mensch seine Predigten hielt. Kitt hatte Pfarrer Fink für einen Poeten gehalten, einen verhinderten Dichter. Das war freilich, bevor Kitt den Ständer bemerkt hatte, den der Pfarrer ein jedes Mal hatte, wenn er die Kinder auf das ganze Prozedere der Kommunion vorbereitete. Kurz und gut, aus diesem und noch einigen weiteren Gründen mied Kitt die Heiligen Stätten Berlins und wollte nichts mehr mit irgendwelchen Gottesspinnern und deren perfider Weltanschauung zu tun haben.
Nachdem er sich der Scheine bedient hatte, wollte er den Geldbeutel schon in den nächsten Mülleimer werfen, da fiel sein Blick auf ein Foto, das hinter Jakobs Ausweis hervorlugte. Mit der Neugier eines Voyeurs zog er es hervor. Es war ein Bild, vermutlich erst vor Kurzem entstanden, das Kriegsheld Jakob zeigte, der im Garten einer schicken Vorstadtvilla neben einem schönen blonden Mädchen stand. Beide blickten etwas schüchtern in die Kamera, so als würden sie sich noch nicht lange kennen, aber auch in dem stillen Wissen, dass sich dies bald ändern würde.
Paulina nahm einen ausgiebigen Zug ihrer eben gedrehten Zigarette. Sie mochte das Zeug eigentlich nicht besonders, aber nach einer Nachtschicht mit arschigen Freiern kam ihr ein wenig Gras gelegen und dämpfte ihre miese Stimmung.
„Sag mal“, sagte sie und musterte Kitt liebevoll von der Seite. „Musst du dich eigentlich immer mit Jungs anlegen, die größer sind als du?“
Kitt betrachtete weiter das Bild von Jakob und dem Mädchen.
„An unserem Jakob Wojczik hier ist rein gar nichts groß“, sagte er. „Typen wie den kenne ich, die sind in Wahrheit so harmlos wie die Kinder, deren Eltern sie für Sold und Medaillen abknallen.“
„So?“, sagte Paulina und reichte Kitt den Stängel. „Und wovor fürchtet sich mein dunkler Prinz dann?“
„Ein hübscher Junge wie ich fürchtet sich nur vor den Vätern schöner Töchter. Und der Rache einer stolzen Frau. So eine bringt mich noch ins Grab. Aber bestimmt nicht so ein verdammter Kriegsheld.“
Ein plötzlicher Ausruf vom Fuß der Gasse ließ Kitt verstummen und aufsehen.
„Da ist er, Jac!“, schrie einer der Soldaten und deutete in Richtung der Karaokebar.
Kitt fluchte und packte schnell seine Sachen zusammen, während Jakob, Dieter, Max und Heiko mit hochgekrempelten Ärmeln kampfbereit auf ihn zu marschierten. Zu ihrer großen Verblüffung aber kamen sie nicht zu Kitt vor, denn die Punks sprangen auf und stellten sich schützend dazwischen.
„Ihr müsst dann wohl die Woll-daten sein?“, sagte Michel und strich sich durch seine rotgezackte Irokese.
„Noch ein Wort von dir, Penner, und ich polier dir deine hartzige Fresse“, sagte Dieter und baute sich vor Michel auf.
Die Punks aber ließen sich davon nicht einschüchtern. Im Gegenteil, alle sechs rückten noch einen Schritt vor.
„Warum verkriecht ihr euch nicht zurück in eure Kasernen?“, sagte Michel voller Abscheu. „Hier gibt’s keinen, der nicht mit Vergnügen auf eure Abzeichen und Verdienste pisst.“
Und schwuppdiwupp begann auch schon die Schlägerei zwischen den beiden ungleichen Parteien. Kitt indessen, der nie ein großes Interesse an körperlichem Kräftemessen gezeigt hatte, machte auch hier das einzig Vernünftige: Er schnallte sich Betsie auf den Rücken und ergriff heldenhaft die Flucht. Jakob verpasste einem der Punks eine Klatsche gegen den Kopf, schubste Paulinchen rüde beiseite und setzte Kitt nach.
Die Verfolgungsjagd führte durch die stillgelegte Industrieanlage. Überall staute sich Schutt, Geröll und Industriemüll an, der zum Teil von giftgrünem Moos überzogen und hinter wucherndem Unkraut versteckt war. Kitt rannte auf der Flucht vor Jakob durch ein schier endloses Labyrinth aus Aberdutzenden von morschen Holzpaletten, verrosteten Gabelstaplern und untauglichen Baggern, vorbei an Junkies, die sich in Containern was drückten und Prostituierten, die es ihren Freiern unterm Sternenhimmel kräftig besorgten. Auf Kitts Vorteil sich hier auszukennen, kamen zwei gravierende Nachteile: Die Gitarre auf dem Rücken und seine völlige Untrainiertheit. Man musste kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass die Karten für unseren jungen Helden schlecht standen. Es dauerte keine zwei Minuten, da hatte ihn der kampferprobte und durchtrainierte Jakob eingeholt. So mühelos wie ein überlegenes Raubtier die Gazelle erlegt, stürzte sich Jakob von hinten auf Kitt und brachte ihn zu Fall. Beim Aufprall landete Kitts Gitarre zwei Meter entfernt mit einem dumpfen Laut am Asphalt.
Mit der Kraft eines Löwen drückte Jakob Kitt zu Boden. Und weil Kitt sich mit einem unfairen Tritt in Jakobs Weichteile befreien wollte, fing er sich sogleich einen ordentlichen Kopfstoß ein.
„Wo ist mein Geldbeutel?“, spie Jakob hervor.
„Geldbeutel?“, sagte Kitt, die Unschuld in Person.
Jakob verpasste ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass Kitts Sonnenbrille in einer Pfütze landete. Weil Jakob ahnte, dass aus dem Mistkerl nichts rauszuholen war, durchwühlte er eigenhändig dessen Jacken- und Hosentaschen.
Er fand jedoch nichts.
Trotz blutender Nase grinste ihn Kitt höhnisch von unten an. „Jetzt zufrieden, Kriegsheld?“
Das brachte Kitt eine weitere Ohrfeige ein. Jakobs Blick fiel auf die Gitarre, die schimmernd am nassen Asphalt lag. Jakob sprang auf die Beine - doch Kitt, der seinen Plan erahnte, rappelte sich ebenfalls auf und stürzte sich von hinten auf Jakob. Unter Schreien landeten beide am Boden. Nach einem kleinen Handgemenge konnte sich Jakob mit einem Ellbogenschlag in Kitts Magen befreien, der ihn krümmend in die Knie zwang. Alles, was Kitt noch tun konnte, war hilflos dabei zuzugucken, wie Jakob seinen Stiefel demonstrativ hob und dann mit voller Wucht den Korpus seiner Gitarre eintrat.
Mit dem klagenden Laut abgerissener Saiten brach der Holzboden auf. Jakob spuckte vor Kitt auf den Boden und verschwand dann wortlos. Auf allen vieren kroch Kitt stöhnend zu den Überresten seiner geliebten Betsie. An der Stelle, an der einst ihr Name kunstvoll eingraviert war, klaffte nun ein unschönes Loch.
In dieser Nacht wütete ein heftiges Gewitter über Berlin. Es grollte stundenlang. An Dutzenden von Stellen schlug der Blitz ein und ein nicht enden wollender Regen peitschte die Häuser und Straßen bis zum Morgengrauen. Die meisten Menschen bekamen davon freilich wenig mit, befanden sie sich doch unter dem Schutzdach der eigenen vier Wände und schliefen in warmen Betten einen erholsamen Schlaf. Nur wenige Seelen befanden sich in dieser stürmischen Nacht noch auf Berlins Straßen. Einer davon war Kitt. Er schritt über den leeren Straßenstrich hinkend nach Hause. In seinen Händen hielt er wie ein Vater das sterbende Kind den Korpus seiner zerstörten Gitarre. Bittere, rachsüchtige Gedanken beherrschten Kitts ohnehin rachsüchtiges Gemüt. Selbstmitleid, tiefer Hass und ein verletzter Stolz waren Kitts treue Begleiter in jenen dunklen Stunden. Als er endlich seine kleine Erdgeschosswohnung in Neukölln erreichte, legte er Betsie behutsam auf die am Boden liegende Matratze. Das Licht einer Straßenlaterne schien schwach durch das einzige Fensterins Innere. Stumm starrte Kitt auf sein liebes Instrument. Das Instrument, das er als kleiner Junge einst mit dem Versprechen entgegengenommen hatte, für immer darauf Acht zu geben. Nun war auch dieses letzte seiner Versprechen unwiderruflich gebrochen. Vor Erschöpfung bettete er seinen Kopf auf den Korpus der Gitarre und küsste sanft ihren Hals.
Dann fiel ihm schlagartig etwas ein.
Mit seinen Fingern griff er ins Korpusinnere und fischte wenig später das gestohlene Portemonnaie heraus. Jakob hatte es aufgrund seiner Zerstörungswut nicht gefunden.
Im schwachen Licht betrachtete Kitt lange das Foto, das darin lag. Sein Blick richtete sich mehr und mehr auf das Mädchen, das an Jakobs Seite stand. Ein unschuldiges Ding, Daddy’s kleines Mädchen, eine Prinzessin hinter goldenen Stäben... kurz: Sie war das ideale Mittel zum Zweck für seine Rache an Jakob Wojczik.
Sonntag Morgen. Der schwarze Mercedes ihres Vaters stand mit laufendem Motor startbereit in der Einfahrt. Ein Hupen drang ins Innere des Hauses, wo Jessie sich gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester im Badezimmer für die Kirche zurechtmachte. Sie alle trugen traditionelle Sonntagskleider, die kaum Haut zeigten. Hektisch trieb Frau Havlock ihre beiden Töchter vom Hauseingang zum Auto, wobei Jessie am längsten brauchte, da sie noch ihre 36-saitige Harfe aus massivem Fichtenholz im Kofferraum des Wagens verstauen musste.
Von Berlin Grunewald aus ging es in den Westen der Hauptstadt. In schöner Ortsrandlage thronte dort die Evangelische Freikirche auf, vor welcher der Familienwagen der Havlocks unweit zum Stehen kam. Das Gebäude ähnelte vom Baustil in keiner Weise den alten gotischen oder barocken Kirchen aus dem Mittelalter, wie man sie für gewöhnlich in europäischen Ländern vorfindet. Es war ein quadratischer, hellgrauer Bau mit einem schlichten Turm, der fingerzeigend in den Himmel wies. Viel Glas und hohe Fenster erweckten den Eindruck von Zugänglichkeit und Zurschaustellung. Es war ein schlichtes architektonisches Bauwerk, das lediglich von einem riesigen Christuskreuz an der Außenfassade verziert war. Das Innere der Kirche bestand zum Großteil aus einem hochmodern ausgestatteten Saal, der heute wieder einmal mit Hunderten von Gläubigen aus dem ganzen Berliner Umland bis auf den letzten Platz gefüllt war. Ein Beamer projizierte sein Bild auf eine weiße Leinwand, auf die Stelle am Podium, wo sich in klassischen Kirchen normalerweise ein Altar mit eindrucksvollem Christusgemälde befand. Während Jakob neben Frau Havlock, Sarah und Lukas in erster Reihe Platz nahm, saß Jessie mit ihrer großen Harfe neben vier gleichaltrigen Mädchen aus dem Kirchenchor auf dem Podium. Es waren Jessies beste Freundinnen: Vanessa, Sophie, Lisa und Ann.
Herr Havlock trat zum Rednerpult.
„Liebe Gemeinde“, sagte er stolz wie ein Vater und Hohepriester zu den versammelten Glaubensbrüdern und -schwestern. „Welch ein Segen ist dem Mann eine gläubige Frau an der Seite, die den Anweisungen der Heiligen Schrift folgend, treu für ihn betet und ihren Platz der Unterordnung und Gehilfenschaft bewusst und willig einnimmt.“ Pastor Havlock machte eine bedeutungsvolle Pause, innerhalb derer er vor allem die jungen Frauen im Saal reihum musterte. Zuletzt fiel sein durchdringender Blick auf Jessie. „Jene aber verstößt gegen den Willen des Herrn, die sich dem Zeitgeist beugt und unter dem trügerischen Ideal der Emanzipation eigensüchtig nach diesseitiger Selbstverwirklichung trachtet. Ihr lieben Mädchen, sucht nicht die Bewunderung der Welt, sonst verliert ihr im Zuge dessen die Gnade Gottes und letzten Endes euch selbst. Denkt stattdessen immer daran, was in Tit 2,3-5 über eure wahre Bestimmung als Frau geschrieben steht: Liebt eure Männer und eure künftigen Kinder, seid besonnen, keusch, häuslich, gütig, und ordnet euch entgegen den falschen Forderungen der modernen Frauenbewegung euren Männern unter, damit das Wort Gottes nicht verlästert wird. Amen.“
Nachdem Havlock seine Predigt unter tosendem Applaus beendet hatte, spielte der Kirchenchor angeführt von Jessie ein christliches Lied zu Ehren Jesu Christi. Viele der Gläubigen erhoben sich dabei, richteten beide Arme gen Himmelsdecke und sangen den Anbetungstext voller Inbrunst mit. Einige brachen gar in Tränen aus, so nahe fühlten sie sich ihrem Erlöser in jenem Moment. Während Jessies Finger gekonnt über die Saiten ihrer Harfe strichen und dem Instrument warme Töne entlockten, suchte sie hie und da den Blickkontakt zu Jakob, der in die Hände klatschend neben ihrer Mutter stand und ebenfalls voll Freude mitsang. Als er Jessies Blick bemerkte, warf er ihr einen Handkuss zu und zwinkerte. Reflexhaft wich sie seinem Blick aus – noch waren sie nicht verheiratet. Es ziemte sich nicht, solche Liebesbeweise in der Öffentlichkeit auszutauschen. Jakob sollte es besser wissen, dachte sie.
In Wahrheit aber freute sie sich.
Ein kühler Luftzug erreichte sie. Jessie sah über die Köpfe der Gemeindemitglieder und durch ihre ausgestreckten Arme hindurch Richtung Ausgang. Dort erkannte sie für einen Moment lang eine dunkle, fremdartige männliche Silhouette mit abstehendem, wildem Haar, die unterm Eingangsportal stand.
Erst am späten Nachmittag, als die Sonne schon orangerote Züge angenommen hatte, war Familie Havlock nach Hause zurückgekehrt. Es war wie immer ein schöner Sonntag gewesen, den sie in Gemeinschaft mit Gleichgläubigen verbracht hatten. Nach dem Gottesdienst hatten sich die Erwachsenen noch zu Kuchen, Gebäck und Kaffee im Freien getroffen, während sich die Töchter und Söhne im Gemeindesaal wie gewöhnlich zur Bibelstunde versammelt hatten. Am heutigen Tag war Jessie die verantwortungsvolle Aufgabe der Gruppenleitung zugefallen. Zusammen hatten sie Stellen aus der Bibel gelesen, über Jesus Mut und Tatkraft geschwärmt und zum Abschluss noch bestimmt eine Stunde lang Loblieder an Gottes Herrlichkeit gesungen. Zuhause angekommen, hatten sie beim abendlichen Essen noch viel geredet und gelacht, ehe es für Jakob Zeit geworden war, zu gehen. Über Nacht bleiben ziemte sich für einen Gentleman ebenso wenig wie einsame Zweisamkeit mit der Angebeteten.
Auf der Veranda verabschiedete sich Jakob mit einem kräftigen Händedruck von Herrn Havlock und einer liebevollen Umarmung von Jessie. Dann stieg er in seinen Range Rover und fuhr davon. Für einen Moment noch verweilte Jessie auf der Veranda. Sie fröstelte leicht. Ehe sie ins Haus trat, fuhr sie nochmals herum. Sie fühlte sich beobachtet. Suchend fiel ihr Blick auf die andere Straßenseite – doch da war niemand. Ein kühler Windstoß wehte Blätter von einer alten Eiche. Jessie zog sich eilig zurück in die Sicherheit ihres Hauses.
Während Luke und Sarah schon zu Bett gegangen waren und ihre Mutter gerade das Geschirr abspülte, saß ihr Vater bei einem Gläschen guten Cognacs am Esstisch und lektorierte die in Auftrag gegebenen Texte für die diesjährige Ausgabe des ZEBAOTH – einem bibeltreuen Magazin für Christenmenschen, dessen Herausgeber er war.
Jessie trat leise ins Zimmer. Miss Muppets saß wie immer maunzend am Fensterbrett und schielte sehnsüchtig nach draußen.
„Miss Muppets mag wieder raus“, sagte Jessie.
„Miss Muppets ist eine Hauskatze“, sagte ihr Vater ohne aufzusehen, „die Welt da draußen ist nichts für sie.“
Jessie strich mit ihren Fingern durch Miss Muppets seidig glänzendes Fell. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Floh gehabt. Immer sah sie perfekt aus. Makellos. Nur ihre Augen blickten manchmal matt und leblos durch das Glas der Fensterscheibe.
Herr Havlock hielt in seiner Arbeit inne und betrachtete seine Tochter von hinten. Sie war noch immer schmächtig und hauchdünn und besaß bei weitem nicht so üppige Rundungen wie ihre Mutter, und doch lagen unter ihrem Nachtgewand verborgen unverkennbar die noch unberührten weiblichen Reize ihres Geschlechts. In jenem Augenblick, da er sie so am Fenster stehen sah, traf er eine Entscheidung. Es war an der Zeit.
„Setz dich zu mir, Kind“, sagte er und klopfte auf seine Schenkel.
Jessie gehorchte und nahm auf ihres Vaters Schoß Platz.
„Wie hat dir die heutige Predigt gefallen?“, sagte Havlock und fuhr mit seinen Fingern durch ihr Haar.
„Sie war sehr schön, Papa.“
„Das freut mich“, sagte ihr Vater. „Sag mal, wie lang magst du Jakob eigentlich noch zappeln lassen?“
Jessie lief rot an und versteifte sich. Sie zuckte nur mit den Schultern, ohne ihren Vater in die Augen zu sehen.
„Jakob ist ein stattlicher Mann, findest du nicht?“
„Ja“, sagte Jessie nach einer kleinen Pause.
„Es ist eine große Ehre für eine junge Frau von einem so gottesfürchtigen Gentleman wie Jakob auserwählt zu werden.“
Jessie erhob sich schweigend. Langsam schlenderte sie zum Klavierflügel, der in der Ecke des Wohnraums stand. Ihre Hände glitten über die Tasten des Instruments. Etwas lag ihr auf der Seele, das sah auch ihr Vater.
„Heute Abend ist die Talent Show“, sagte Jessie mit zittriger Stimme. Ihr Vater schwieg, und so fuhr sie fort. „Erinnerst du dich? Heute sind die ersten Auditions.“ Noch immer sprach ihr Vater kein Wort, doch Jessie spürte, wie sich eine erdrückende Stille im Raum ausbreitete, die von ihrem werten Vater ausging und sie bis ins Mark durchdrang.
„Würdest du... darf ich... ich meine...“, stotterte Jessie vor sich hin, während die Stille im Raum immer schwerer wurde.
Schließlich erhob sich Herr Havlock von seinem Stuhl, legte mit Bedacht seine Brille ab und ging mit festem Schritt zu ihr ans Klavier. Er ragte über ihr auf und sah auf sie hinab. Streng legte er ihr die Hand unters Kinn und zwang sie damit, ihm in die Augen zu sehen.
„Du wirst jetzt zu Bett gehen und den Herrn für deine egoistischen Worte und deine eigensüchtigen Gedanken um Verzeihung bitten.“
„Ja, Vater“, sagte Jessie. Ihr Herz raste, nie zuvor hatte sie solche Angst gehabt.
„Du wirst Jesus Christus versprechen, dass du nie wieder einen Gedanken daran vergeudest und dich fortan auf deine rechtmäßigen Pflichten als Frau konzentrierst.“
„Ja, Vater“, sagte Jessie und bemerkte, wie ihre Augen tränten.
„Und du wirst Gott versprechen, dass du im Falle eines Rückfalls“, Havlock drückte Jessies Kinn noch fester, „die erforderliche Strafe, die dir deine Eltern im Namen des Herrn auferlegen, demütig und reuevoll ertragen wirst.“
„Ja“, sagte Jessie, die vor lauter Schluchzen kaum noch sprechen konnte. „Es... es... tut mir... tut mir...“
„Schon gut, mein Kind“, sagte Herr Havlock, ließ ihr Kinn los und drückte seine Tochter mit väterlicher Herzlichkeit an sich. Jessie weinte lange an seiner Brust, ehe Mutter und Vater sie irgendwann ins Bett schickten, wo sich Jessie unter ihrer Wolldecke im Bett verkroch und noch stundenlang betete, ehe ihr die müden Augen zufielen und sie in einen unruhigen Schlummer mit dunklen Träumen fiel.
Kurz vor Mitternacht wurde sie plötzlich hellwach. Draußen bellte der Nachbarhund wie verrückt. Jessie griff zum Nachtkästchen, um sich einen Schluck Wasser zu nehmen. Sie hatte Kopfweh. Als sie sich an die Szene vor wenigen Stunden erinnerte, schämte sie sich in Grund und Boden für ihr Verhalten. Jetzt, da sie objektiv darüber nachdachte, musste sie ihrem Vater recht geben. Sie war selbstsüchtig gewesen. Es war nicht ihre Bestimmung als Frau, eine Karriere als Popmusikerin anzustreben. Sie sollte froh sein über das Geschenk, das Gott ihr mit Jakob gemacht hatte. Hatte sie als junges Mädchen nicht immer verzweifelt den Herrn um einen gütigen und stattlichen Mann angefleht? Einen Mann, der eines Tages kommen und im Einverständnis ihrer Eltern um ihre Hand anhalten würde? Nun, ihr Traumprinz war gekommen.
Draußen bellte weiter der Hund, so als witterte er einen Eindringling.
Jessie öffnete ihr Nachtkästchen und nahm einen Flyer der Talent Show hervor, den sie vor über einem Monat auf dem Heimweg von der Bibelstunde außerhalb der Kirche zerknüllt vorgefunden hatte. Sie erinnerte sich an jenen Moment. Damals war es ihr vorgekommen, als sollte sie diesen Flyer finden, ja als habe der Herr ihr damit eine Nachricht gesandt.
Das Hundegebell verstummte. Scheinbar hatte der Nachbar seinen Köter ins Haus verfrachtet.
Jessie schloss die Augen und lauschte. Draußen raschelte leise der Nachtwind durch die Baumkronen. Doch drinnen herrschte Ruhe. Alles schlief. Alles...
Später würde Jessie nicht mehr wissen, was sie an diesem schicksalshaften Abend geritten hatte, aus dem Bett zu springen, sich still und leise im Dunklen anzukleiden und mit dem Gesangbuch in Händen vom Zimmerfenster aus aufs Dach der Garage zu steigen, um von dort aus in die Einfahrt hinabzuklettern. Vielleicht war es der Teufel selbst gewesen, der in den Köter nebenan gefahren war, vielleicht aber – und das war die andere Seite – vielleicht hatte Gott ihr in jener Nacht einen mutigen Engel gesandt, der ihren Körper übernahm, ihn auf die Straßen trug und schnellen Schritts vom nächtlichen Heim fortjagte.
Freilich bemerkte sie in ihrer Aufgeregtheit nicht, dass sie von einer dunklen Gestalt auf Schritt und Tritt verfolgt wurde. Lediglich die abgebrannten Zigarettenstängel, die da zu Dutzenden hinter der Hecke des Familienhauses am schmutzigen Asphalt lagen, waren Zeugnis davon, dass sie schon den ganzen Abend über ausspioniert wurde.
Bei ihrem schnellen Schritt kam er ganz schön ins Schwitzen. Wohin sie zu dieser späten Tageszeit noch wollte, war Kitt ein Rätsel. Er folgte ihr mit leichtem Abstand zum S-Bahnhof Berlin-Grunewald. Hier im äußersten Westen Berlins war wirklich alles anders, dachte Kitt. Selbst um diese späte Stunde begegnete man kaum zwielichtigen Gestalten, die dir ans Geld oder an die Gurgel gingen. In Neukölln gehörte es zum guten Ton, dass einem bei einer nächtlichen Fahrt mindestens zwei hässliche Hundesöhne auf die Pelle rückten. Sie nahm die S7 Richtung Ahrensfelde und stieg nach etwa zwanzig Minuten Fahrt kurz vorm Alex in Mitte aus – ein Glück für Kitt, der damit gerade noch so einer Fahrkartenkontrolle entgehen konnte.
Weiter ging es über den Hackescher Markt, auf dem sich auch jetzt noch hunderte Menschenwesen zum nächtlichen Snack trafen. Kitt hasste es durch Berlins Mitte zu gehen und mied das Touristen- und Hipstergebiet für gewöhnlich. Auch heute wieder, als er all die verzogenen Kids und reichen Schnösel passierte, musste er an Ray Davis Song denken. Wo er auch hinsah, waren sie: Dedicated Follower of Fashion – der Modewelt verschriebene Götzendiener, die sich für besonders schöne Blumen hielten. Kitt fand, sie ähnelten weit mehr charakterlosen Gestaltwandlern, die ihr Äußeres ohne Zögern der vorherrschenden Umgebung anpassten. Naserümpfend ob all der Verlogenheit und Eitelkeit, die er auch heute wieder an diesem verkommenen Ort erblicken musste, passierte er die materialisierte Facebookgeneration, die Pokemon suchenden Blindgänger und all die künstlichen Orchideen, die ihren Calvin Klein und Mark Jacobs Duft in die Atmosphäre ausstießen. Kitt hoffte, die Kleine würde bald wieder aus diesem menschlich hässlichsten Teil der Hauptstadt verschwinden.
Doch Fehlanzeige.
Vor dem CHAMÄLEON Theater in den Hackeschen Höfen reihte sich das Mädchen in eine Schlange wartender Menschen ein. Sie schien ungemein nervös, sah sich des öfteren um und wirkte so, als wolle sie jeden Moment zurück ins traute Heim eilen. Kitt besah sich die anderen Menschen. Viele davon waren ordentlich aufgetakelt und einige davon trugen gar Musikinstrumente bei sich. Gitarren, Geigen, Mundharmonikas. Andere wiederum sangen oder summten Tonleitern vor sich hin. Komisch, dachte Kitt, soweit er wusste, war das Chamäleon eine Veranstaltungsstätte für zeitgenössische Zirkusproduktionen und kein...
Kitt fluchte laut, als er oberhalb des Eingangsbereichs ein Banner entdeckte, auf dem in orangeroten Lettern geschrieben stand:
„NEW TALENTS BERLIN – AUDITIONS HEUTE“
Manchmal meinte es das Schicksal wirklich übel mit ihm. Er hätte sie vorher ansprechen sollen, jetzt war es zu spät. Das Mädchen verschwand zusammen mit einer Meute anderer Künstler im Innern des Gebäudes. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend folgte er ihr und tauchte ein in die Mainstreamwelt des Entertainments.
Kitt drängte sich vorbei an anderen Wartenden, bis er knapp hinter dem Objekt seiner Begierde war, das vor der Anmelderezeption stand. Er war dem Mädchen so nahe, dass er den Duft ihrer Haare einatmen konnte. Kokos, dachte er und verzog angewidert das Gesicht. Kitt hasste Südfrüchte. Eine Sekretärin befestigte ein Schildchen mit der Nummer „665“ an ihrer violetten Bluse und schickte sie dann durch eine Kontrolle weiter in den Backstagebereich. Kitt wollte folgen, doch die Sekretärin rief ihn streng zurück.
„Halt, Freundchen. Backstage dürfen nur Teilnehmer.“
„Ich bin der Gitarrist“, sprudelte Kitt hervor. „Von... ihr.“
Die Frau sah ihn unbeeindruckt an und kramte ein neues Anmeldeformular hervor.
„Name?“
Der große Saal im historischen Jugendstil-Ambiente war in der heutigen Nacht bis auf den letzten Platz gefüllt. Vor dem Podium stand ein erhöhter Tisch, an dem vier Juroren mit bestem Blick auf die Bühne saßen. Über dem Jurorentisch hing eine Art 80er Jahre Discokugel mit dem Etikett Audience. Der Moderator des Abends war Jonathan, eine typische Berliner Szeneerscheinung. Er wandte sich ans Publikum.
„Es ist wieder so weit“, sagte Jonathan, nachdem sich der Applaus gelegt hatte. „Berlin öffnet die Pforten für seine versteckten Talente, um wie jedes Jahr aus diesem Talentpool an Songwritern, Sängern und Performern einen Künstler zu küren, der alle Eigenschaften eines S.T.A.R.S. vereint. Ohne großes Brimborium möchte ich euch die diesjährige Jury vorstellen.“
Alle Kameras im Saal richteten sich auf den Jurorentisch.
„Für die Kategorie Gesang & Vocals die Gewinnerin der letzten Staffel, Hunny B! Das Songwriting übernimmt unser Berliner Jung, MC Mik. Ein Ja oder Nein für Stage Presence & Performance gibt’s beim Meistervirtuosen Jürgen Petrov. Last but not least, ihr kennt ihn alle, einer der ganz großen im Musikbiz: Sam Folder für den Bereich Potential.“
Jonathan wartete, während die Juroren sich vom Publikum beklatschen ließen. Dann deutete er hinauf zur Discokugel. „Dann wäre da noch diese ominöse Kugel über den Köpfen unserer werten Jury. Wer heute ein Disco Fever entfacht, verdient sich ein Oh yeah! von unserem Publikum.“ Wieder wurde applaudiert.
„Und jetzt heißt es“, sagte Jonathan in großer Showmaster-Manier: „Vorhang auf und Manege frei für unsere Talents. Wer in mindestens zwei Kategorien punkten kann, ist automatisch eine Runde weiter!“
Backstage herrschte ein einziges Chaos. Produzenten und Organisatoren mit Clipboards und Headsets überwachten den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung. Tontechniker und -assistenten kümmerten sich um die Musikanlage für das Playback und statteten die wartenden Künstler mit Mikrofonen und Kabeln aus. Aus dem Hauptsaal ertönte von einer Teilnehmerin das klanglose Finale von Sias Chandelier. Mäßiger Applaus des Publikums folgte.
Jessie stand in vorderster Reihe direkt hinterm Vorhang und spähte durch einen Schlitz nach draußen auf die Bühne. Sie sah, wie vier rote Lichter am Jurorentisch aufleuchteten und die Discokugel oberhalb grau und dunkel blieb.
„Jacqueline“, sagte Jonathan und legte der Teilnehmerin tröstend einen Arm um die Schulter. „Du hast leider in keiner Kategorie gepunktet und konntest auch das Publikum nicht von dir und deinem Talent überzeugen. Tut mir Leid, aber das war’s für dich.“
Die sechszehnjährige Jacqueline kam mit Tränen in den Augen zurück in den Backstagebereich, wo sie sich in die Arme ihrer wartenden Eltern warf.
Jessie biss sich auf die Lippen. Sie verspürte jetzt mehr denn je den starken Drang, sich umzudrehen und davonzulaufen. Vielleicht hätte sie es sogar getan, wenn nicht einer der Produzenten sie in diesem Moment ausihren ängstlichen Gedanken gerissen hätte.
„Nummer 665“, sagte er und besah sich Jessies Schildchen, „du bist nach einer kleinen Pause als nächstes dran. Hier steht, du brauchst einen Flügel? Vielleicht noch ’n paar Federn?“
Der Produzent lachte über seinen eigenen Witz und bellte dann Anweisungen an seinen Assistenten.
Jessies Herz raste, als sie erneut durch den Vorhang nach draußen schielte. Es waren so viele Leute dort, so viele unbekannte Gesichter und keinerlei Vertraute. Und in zwei Minuten sollte sie da ganz alleine rausgehen und vor diesen fremden Menschen singen? Für einen grausigen Moment wurde ihr ganz schwarz vor Augen. Sie musste sich am Vorhang festkrallen, um nicht den Halt zu verlieren. Wie immer in solchen Situationen beschleunigte sich Jessies Atmung, bis sie fast zu hyperventilieren begann. Sie schloss die Augen, um sich zu beruhigen und faltete die zitternden Hände. Sie wollte, nein, sie musste beten. Nur Jesus Christus konnte ihr jetzt Beistand leisten...
„Sei bloß nicht zu lieb da draußen“, sagte eine männliche Stimme und riss sie aus ihrem stillen Gebet.
Bleich wie ein Gespenst fuhr Jessie herum. Da stand keine Handbreit von ihr entfernt ein etwa zwanzigjähriger, ganz in schwarz gekleideter Straßenjunge mit abstehendem, pechschwarzem Haar, undurchdringlicher Sonnenbrille und einer ramponierten, notdürftig mit Tape geflickten Gitarre auf dem Rücken. Er roch nach Zigarettenrauch, verschüttetem Schnaps und nassem Asphalt.
„Wie bitte?“, nuschelte Jessie mit großen Augen, unsicher, ob der Junge wirklich sie meinte.
Er wandte ihr sein Gesicht zu. Hinter den undurchdringlichen Gläsern seiner Brille spürte sie seinen Blick auf sich ruhen. „Wenn du die unbekannte Menge überzeugen willst“, sagte er und meinte das Publikum da draußen, „musst du sie mit Dreck und Flüchen bewerfen – das gibt ne Standing Ovation! Sei niedlich und nett und die Wichser spucken auf dich.“ Ohne Vorwarnung griff der Junge nach ihrer Bluse und zog die silberne Kette mit Jesuskreuz hervor, die um ihren Hals lag. „Oder sie kreuzigen dich“, fügte er schulterzuckend hinzu.
Jessie stand wie vom Donner gerührt da, während ihr der unbekannte Fremde näher war als je ein Mann zuvor.
„Verfluchte Scheißwelt, oder?“, sagte er und spuckte aus.
Jessie hatte keine Zeit für eine Erwiderung. Der Produzent packte sie am Arm und zog sie mit sich vom dunklen Backstagebereich...
„Showtime in drei... zwei... eins und go! Go!“
... auf die von Scheinwerferlicht getränkte Bühne.
Das künstliche Licht war so grell, dass Jessie die Augen zukneifen und sich eine Hand vors Gesicht halten musste. Unter freundlichem Applaus stolperte sie zum Mikrofon, das neben einem schönen schwarzen Klavierflügel stand. Auf der einsamen, großen Bühne fühlte sich Jessie noch kleiner und schreckhafter als sonst.
Sam Folder wandte sich an sie.
„Jessica Havlock“, sagte er in einem starken amerikanischen Akzent. „How old are you?“
„Ich bin sechs–, ich meine, achtzehn“, antwortete Jessie fahrig.
„Du siehst ein bisschen nervös aus, dear.“
„Ich dachte nicht, dass so viele Menschen hier sein würden“ sagte Jessie mit brüchiger Stimme.
„Breathtaking, isn’t it?“, sagte Folder, sah dabei aber sehr gelangweilt aus. „Hast du schon einmal vor eine audience performed?“
„Nur im Kirchenchor“, sagte Jessie über einige vereinzelte Lacher aus dem Publikum. „Aber ich habe noch nie allein vor Publikum gesungen.“
„Und was spielst du heute für uns? Eine Lied aus deine Gesangbuch?“
Jessies Finger klammerten sich um den schwarzen Einband ihres Gesangbuchs. Dann nickte sie und sprach: „Through My Father’s Eyes. Es ist ein Lied über die Liebe zu Jesus Christus.“
„Ha!“, stieß MC Mik lachend aus und deutete auf seine Kollegin neben sich. „Genau das richtige für unsere Hunny hier. Sie hat länger nicht mit Gott gesprochen.“
Hunny B schlug ihren Sitznachbarn und das Publikum brach in großes Lachen und Getöse aus. Jessie fühlte sich mit jeder Sekunde, die sie hier im Scheinwerferlicht verbrachte, kleiner und unwohler.
„Vergiss die beiden, Jessica“, sagte Folder mit seiner monotonen Stimme. „Es erfordert viel courage sich heute noch zu seinem Glauben zu bekennen. Well, the stage is yours, good luck!“
Jessie setzte sich mit dem Gesangbuch hinters Klavier. Währenddessen blödelten MC Mik und Hunny B weiter herum und steckten so das Publikum mit an. Keine guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Audition. Jessie atmete tief durch, ihre Finger schwebten über den Tasten des Klaviers. Langsam kehrte im Saal Ruhe ein. Aus den Augenwinkeln sah sie die dunkle Gestalt des Jungen. Täuschte sie sich oder nickte er ihr aufmunternd zu?
Wie auch immer, sie war bereit. Jetzt oder nie. Jetzt oder... der Vorhang raschelte. Gerade als ihre Finger die Tasten berührten und die ersten Akkorde formten, die sich schnell zur vertrauten Melodie verbanden, spürte sie einen kräftigen Händedruck auf ihrer Schulter. Vor Schreck verspielte sie sich. Ein falscher, noch dazu unsauber gespielter Akkord ließ die Melodie im Keim ersticken. Sie sah auf. Ihr Vater stand über ihr. Mit stillem Zorn hieß er sie aufzustehen. Das Publikum und die Juroren schienen mehr als verwundert.
„Es tut mir Leid“, flüsterte Jessie und sah nur ihres Vaters Augen.
„Komm jetzt“, flüsterte er mit eisiger Stimme.
Jessie erhob sich. Der Vater drängte sie unter den Buhrufen des Publikums von der Bühne zurück in den dunklen Backstagebereich.
„Wenn nur alle Kirchenlieder so kurz wären“, sagte Hunny nach einer kurzen Pause und sorgte dafür, dass das verdatterte Publikum wieder lachte.
Jessie indessen verließ zusammen mit ihrem Vater den Backstagebereich nach draußen. Ihr Kopf war gesenkt, ihre Augen ganz feucht; sie bemerkte nicht den Blick von Kitt, der ihr folgte. Gerade wollte dieser ihr nach, da packte ihn der Produzent am Arm und zerrte ihn trotz Widerstand eilig zum Vorhang...
„Moment mal, hey!“, sagte Kitt. „Das ist ein Missverständnis! Ich will ja gar nicht! Und überhaupt–“
Doch zu spät. Schon landete er gegen seinen Willen auf der Bühne. Für einen Moment spürte Kitt einen instinktiven Fluchtdrang in sich. Doch als er das warme Scheinwerferlicht auf seiner Haut spürte und das Publikum zu applaudieren begann, überlegte er es sich anders und schlenderte mit pochendem Herzen und ausdrucksloser Miene zum Mikrofon. Noch ehe der Applaus verstummt war, riss er das Wort an sich.
„Ja, setzt euch mal bitte!“, sagte Kitt über die Köpfe der Jury hinweg zum Publikum. „Schön, dass ihr alle gekommen seid. Sam. Mickey. Sorry, Meistergitarrist, deinen Namen hab ich leider vergessen. Ach, schau an! Da ist ja auch mein Lieblingsrotschopf, Hunny B. Sag, bist du mir noch böse wegen damals?“
„Kennen wir uns?“, sagte Hunny B, sichtlich vor den Kopf gestoßen.
Das Publikum lachte, die Juroren nicht.
MC Mik räusperte sich. „Hier steht, dein Name ist Kitt. Knight Rider Kitt?“
Ohne die Juroren groß zu beachten, stimmte Kitt die Saiten seiner Gitarren und sagte nebenbei: „Hey Mik, guess what? Ich hab deinen neuen Track vorhin im Radio gehört.“
„Und, wie hat er dir gefallen?“, fragte MC Mik und beugte sich interessiert nach vorne.
„Ungefähr so gut wie die anderen zehn Rip Offs von Bang A Gong.“ Das Publikum ließ ein spannungsgeiles Uhhhh von sich.
„Bist du nur hier, um rumzublödeln oder willst du auch was von dir geben?“, sagte Mik mit kühler Miene. Er hasste den Kandidaten jetzt schon. In jeder Staffel gab es einen wie diesen Kitt, der scheinbar nur der Attention wegen hier war.
„Keine Sorge, Mickey-Boy“, sagte Kitt. „Wir spielen was eigenes.“
„Ihr?“, fragte Hunny B blöde.
„Na, ich und meine Bets“, sagte Kitt und entlockte seiner Gitarre einen sanften Akkord. Und dann, ehe noch einer der Juroren etwas anmerken konnte, nahm Kitt seine Sonnenbrille ab und klemmte diese zur Überraschung aller als Kapodaster über den dritten Bund der Gitarre. Dann wandte er sich, ganz der Straßenkünstler, an sein Publikum. „Okay, Betsie ist so weit. Vergessen wir die Juroren und den ganzen Kommerz hier. Der Song ist allein für euch, die unbekannte Menge! Und er heißt Bobby Blues - oh yeah.“
Ohne Startzeichen seitens der überrumpelten Jury begann Kitt mit seinem üblichen bluesartigen Gitarrenspiel und Sprechgesang.
„This song’s about Bob. Y’all know Bob? My friend Bob?“
Die Frage galt ganz unmissverständlich dem Publikum. Und erst als dieses mit einem begeisterten No Antwort gab, setzte Kitt seinen Gesang fort:
„Then let me tell you something about him. Bob’s my best friend in the whole world. And everytime we meet, I get so damn high, I’m sometimes able to kiss God’s bloody thigh.“
Das Publikum lachte.
„Ya’ll know who Bob likes the most?“, sang Kitt und sah in die Gesichter seiner Zuhörerschaft. „The Ladies! But guess what?“
„What?“, kam es sofort aus den Reihen der Zuhörer.
„The Ladies don’t like Bob.“
Bedauerliche Ohhhs und Ahhhs folgten.
„Luckily, there’s one thing that makes Bob forget about his misery: Blues. And that my friends is why I call my good buddy Bobby Blues“, sagte Kitt und ging in den Refrain über. „Oh, Bobby, Bobby, Bobby Blue-uuuuhs! You ugly ass neurotic son of a Jew, don’t you know that Blues is dead? Oh, Bobby, Bobby, Bobby Blues: Blues is dead and so are you.“
Begeisterte Pfiffe und Ausrufe aus dem Publikum folgten Kitt, als dieser auf seiner Gitarre in ein akustisches Zwischenspiel überging.
Kalte Nachtluft war alles, was Jessie noch spürte, ehe ihr Vater sie grob ins Auto verfrachtete. Wenig später öffnete sich die Fahrertür und er setzte sich hinters Steuer. Es herrschte ein erdrückendes, spannungsgeladenes Schweigen. Jessies Nacken schmerzte von seinem festen Griff, doch das war ihr in dem Augenblick kaum bewusst. Sie sah auf ihre bleichen Finger, die vor wenigen Minuten noch in freudiger Erregung über der Klaviatur geschwebt hatten, bereit dem Fluss des Herzens musikalisch Ausdruck zu verleihen. Jetzt zitterten sie vor Angst und Kälte. Aus den Augenwinkeln heraus spürte sie den Blick ihres Vaters auf sich ruhen.
„Sieh mich an“, sagte er.
Mechanisch tat sie wie geheißen.
„Nicht jeder ist für die große Bühne gemacht“, sagte Herr Havlock ruhig. „Gott hat andere Pläne für dich, mein Kind.“
Aus dem Fenster des anfahrenden Autos warf Jessie einen letzten Blick
zurück auf das zunehmend kleiner werdende Theatergebäude. Wäre ihr Geist nicht ebenso verstockt gewesen wie ihr Mund, sie hätte innerlich ihren Träumen ein für alle Mal „Leb wohl“ gesagt. So blieb es bei Schweigen, innerlicher Leere und einem Gefühl von Taubheit.
Nicht jeder war für die große Bühne geschaffen, hörte sie die Worte wieder und wieder als Echo in ihrem Innern. Gott hat andere Pläne für mich, dachte sie, während eine Träne auf das Jesuskreuz fiel, das an ihrer Halskette baumelte.
Kitt badete sich im Beifall des klatschenden und pfeifenden Publikums. Für keinen anderen Teilnehmer bisher hatten sich so viele Menschen von ihren Sitzen erhoben. Nur die Juroren schienen wenig angetan. Als der Applaus sich endlich legte, übernahm Moderator Jonathan das Wort:
„Kommen wir zum Urteil der Jury. Sam, was sagst du als Produzent dieser Kommerzindustrie?“
Sam Folder musterte Kitt ohne großes Interesse. „It’s very simple, John. Wir suchen einen Superstar, keinen Straßenkünstler.“
Damit betätigte er einen Button vor sich am Tisch. Ein rotes Licht leuchtete für die Kategorie Potential auf. Kitt lagen tausend gemeine Worte auf der Zunge. Das Publikum schien auf seiner Seite, denn es buhte ob der Entscheidung.
Dann folgte nach und nach das Urteil der restlichen Jurymitglieder.
„Mir gefällt dein Style“, sagte Hunny B, „aber als Sängerin muss ich mich auf deinen Gesang konzentrieren. Und auch wenn ich echt total viel gelacht habe, reicht deine Stimme einfach nicht aus, um hier groß was zu reissen. So leid’s mir tut...“
Dem roten Licht für Gesang & Vocals folgten weitere Buhrufe und Pfiffe.
MC Miks Urteil für den Bereich Songwriting war schnell gefällt: „Bobby Blues ist nicht nur menschenverachtend, rassistisch und frauenfeindlich, sondern noch dazu Off-Beat.“
Drei rote Lichter leuchteten jetzt am Jurytisch.
„Schwierig“, sagte Jürgen Petrov und trippelte mit den Fingern auf dem Tisch. „Ja, du bist arrogant. Und nein, du bist nicht der beste Sänger und die Lyrics waren zu vulgär. Aber was du aus dieser kleinen, kaputten Einsteigergitarre rausgeholt hast, Respekt. Von daher...“
Ein grünes Licht leuchtete auf für die Kategorie Performance.
„Du hast ein Ja und drei Nein. Nur das Publikum kann dich jetzt noch retten“, sagte Jonathan und lenkte die gespannten Blicke aller Anwesenden im Saal auf die Discokugel über den Köpfen der Jury. Sekunden vergingen, nichts tat sich. Kitt hingegen zappelte auf der Stelle herum. Teufel, er wusste wirklich nicht, was er hier noch tat. Oder warum er die Nummer überhaupt durchgezogen hatte. Schon gar keine Lust hatte er, sich von irgendwelchen Mainstream-Wichsern und musikalischen Analphabeten bewerten zu lassen. Um seinen Stolz zu wahren und einer möglichen Ablehnung zu entgehen, sah er nur eine Möglichkeit.
„Scheiß auf euch“, sagte Kitt laut hörbar für alle ins Mikrofon, schulterte seine Gitarre und schritt erhobenen Hauptes davon. Entsetztes Gemurmel, vereinzeltes Gelächter und ein Gemisch aus Buhrufen und Beifall folgte ihm. Als er schon fast beim Vorhang angekommen war, kam es plötzlich zu einer Lichtexplosion.
Und so schaffte es unser Kitt wider Erwarten trotz allem – oder gerade wegen? – in die nächste Runde der New Talents Show. Dieser kleine Erfolg ließ ihn sein ursprüngliches Vorhaben vergessen. Für das Mädchen namens Jessie hieß es also: Aus den Augen, aus dem Sinn. Zumindest vorläufig.
Es war viel Zeit vergangen seit jenem unschönen Vorfall, über den man seither kein Wort mehr im Hause der Havlocks verloren hatte. Die ersten Tage wurde Jessica seitens ihrer Familie mit Schweigen gestraft. In vielerlei Hinsicht war diese Form von Isoliertheit schlimmer als offene Zurechtweisung und tadelnde Worte. Der Vater hatte sie in den letzten Tagen kaum angesehen, in den Augen der Mutter las sie nichts als Enttäuschung und Scham und ihr jüngerer Bruder gab sich gar nicht erst die Mühe, seine Geringschätzung Jessie gegenüber zu verbergen. Nur Sarah huschte abends manchmal zu ihr ins Zimmer und schlüpfte mit unter die Bettdecke, um ihr wenigstens körperliche Wärme zu schenken. Worte mit ihrer großen Schwester zu wechseln, war ihr von den Eltern strengstens untersagt worden. Jessie bezweifelte, dass ihre kleine Schwester die genauen Umstände kannte - doch niemals würde sie sich den Eltern widersetzen.
Die Gemeinde schien ebenfalls von Jessies Missetat informiert worden zu sein. Ihre Freundinnen aus dem Kirchenchor schwiegen in Gesellschaft anderer ebenso wie ihre Familie. Nur hinter vorgehaltener Hand, im Geheimen, wenn sie unter sich waren, sprachen sie sich aus und boten Jessie eine Gelegenheit, sich auszureden und auszuweinen. Doch Jessie konnte nicht mehr weinen. Seit jener Nacht war ihr Herz verstockt. Wohl lag es zum Teil an der Schuld, die sie selbst empfand und die ihr jetzt nach und nach bewusst wurde. Der andere Grund aber war der, dass man ihre geliebten Musikinstrumente und alle CDs und Hörkassetten an sich genommen und in den abgeschlossenen Kellerraum verfrachtet hatte. Das war für Jessie die eigentliche Strafe – nie zuvor musste sie so lange ohne Musik auskommen.
Immerhin gab es einen Lichtblick in diesen dunklen Stunden: Jakob hielt zu ihr. Auch wenn er sie in der ersten Woche nicht besuchen durfte, so kommunizierte er doch mithilfe von Briefen mit ihr. Nach jedem Arbeitstag fuhr er spät abends noch von der Julius-Leber-Kaserne im Ortsteil Wedding
aus nach Grunewald, um einen Brief an Jessie in den Postkasten zu werfen. Seine Botschaften waren von einer großen Sentimentalität, die man ihm nicht zugetraut hätte, wenn man ihn als Truppenleiter auf dem Übungsplatz oder beim Umgang mit rangniederen Kameraden in der Kaserne sah. Vor allem schätzte Jessie seine ehrlichen Liebesschwüre, die ausgiebigen Komplimente und die Unterstützung, die er ihr mit seinen geschriebenen Worten zusicherte. Einmal hatte er gar ein Gedicht an sie verfasst. Es war kein literarischer Hochgenuss und wäre in keiner Poesiesammlung veröffentlicht worden - und dennoch zauberten diese romantischen Verse das erste Lächeln seit langem auf ihre Lippen. Jessie glaubte seinen Worten, denn sie spürte die Liebe, die er für sie empfand, vor allem auch in den heimlichen Blicken, die er ihr im Gemeindezentrum zuwarf.
Nach zehn Tagen befand Herr Havlock, dass seine Tochter genug für ihre Sünden gesühnt und gebetet hatte. Er kam am Morgen des elften Tages zu ihr ins Zimmer, weckte sie sanft mit einem väterlichen Kuss auf die Stirn und sprach gemeinsam mit ihr das Morgengebet.
„Du hast Jesus Christus enttäuscht“, sagte er nach dem Gebet zu ihr, „doch Er hat dir vergeben. Jesus liebt dich, mein Kind.“
Tränen. So viele Tränen waren da aus ihren Augen geflossen! Nichts hatte sie sich sehnlicher gewünscht als die Vergebung ihrer Sünden.
„Darf ich...“, schluchzte Jessie. „Darf ich wieder... meine Instrumente?“
„Bald“, sagte der Vater. „Aber jetzt habe ich eine Überraschung für dich. Mach dich kurz zurecht, wisch dir den Schlaf aus den Augen und zieh dir was schönes an.“
Wenig später führte sie der Vater die große Treppe hinab in den Ess- und Wohnbereich. Die anderen Familienmitglieder warteten bereits auf sie. Alle trugen feierliche Sonntagskleidung.
Jessie stutzte kurz – es war ein gewöhnlicher Donnerstag.
Dann erkannte sie eine vierte Gestalt, die im dunkelblauen Samtanzug an die Wohnungstür lehnte. Der Vater führte sie zu Jakob, nickte diesem aufmunternd zu und gesellte sich dann zu seiner Frau und den Kindern in den Hintergrund.
„Jakob“, murmelte Jessie nervös, „warum trägst du deinen Anzug?“
Jakob lächelte und ging vor ihr auf die Knie.
Was er genau in jenem Moment gesagt hatte, wusste Jessie später nicht mehr. Ihr aussetzendes Herz, der stockende Atem, das Glück und die Wärme, die sie nach den einsamen Tagen so unerwartet empfing, waren fast zu viel des Guten. Sie glaubte, zu träumen, und doch war es Realität. Natürlich hatte sie Ja gesagt. Wie hätte sie ihn auch ablehnen können? Diesen schönen, stattlichen Prinzen, der so plötzlich in ihr Leben getreten war? Ein Kriegsheld, der nicht nur den Respekt der Gesellschaft, sondern mehr noch den ihres werten Vaters genoss und der in ihrer größten Schmach zu ihr gehalten hatte. Jessie weinte und lachte viel an dem Tag ihrer Verlobung. Fast hatte sie das, was ihr am meisten fehlte, vergessen.
Gott hat andere Pläne für dich, erinnerte sie sich an die Worte des Vaters. Sie war jetzt im Begriff, eine Frau zu werden, die Frau eines gottesfürchtigen Mannes, den ihr der Herrgott persönlich gesandt hatte. Was konnte sich eine Frau auf dieser Welt mehr wünschen als die Kinder eines solchen Mannes auszutragen und diese im Namen Gottes zu erziehen?
Das war ihr Schicksal, dachte sie sich fügend. Wie hatte sie nur glauben können, je etwas anderes zu wollen?
Und dennoch war da noch eine andere Stimme in ihr, die in leisen Tönen zu ihr sprach und sie um Vorsicht mahnte. Doch wann immer sie in Jakobs Gesellschaft war, erstickte sie diese Stimme im Keim und gab sich ganz ihrem Zukünftigen hin. Selbstverständlich nur mit Umarmungen und Schwüren. Denn Jakob war ein Mann Gottes – niemals hätte er vor der Hochzeit Unsittliches von ihr verlangt.
Mit ihren Freundinnen sprach sie oft darüber, wie es sein würde, nachdem sie sich das Jawort gegeben hätten. Sie konnte es kaum erwarten, endlich Jakobs Lippen zu berühren und den ersten Kuss ihres jungen Lebens zu empfangen. Und natürlich das, was danach folgen würde.
Doch vorher musste ihr Geliebter noch weg. Lukes Initiation zum Mann sollte im ländlichen Ferienhaus in Polen zelebriert werden. Jakob war einer von gewissenhaft auserwählten Männern Gottes, die Lukas in den Zirkel der Mannheit einweihen sollten. Jessie hingegen war es bestimmt, zu Hause zu bleiben. Einer musste sich schließlich um die Vorbereitungen für den großen Reinheitsball kümmern, der noch vor ihrer geplanten Hochzeit stattfinden würde und den ihre Familie seit nun sieben Jahren für alle Gemeindemitglieder im deutschsprachigen Raum organisierte.
Während ihre Familie schon aufbruchsbereit im Mercedes saß, verabschiedete sich Jessie auf der Veranda von ihrem Verlobten. In ihren Händen hielt sie die Hauskatze Miss Muppets.
„Und du kannst wirklich nicht mitkommen?“, flüsterte Jakob sehnlichst in Jessies Ohr.
„Einer muss sich um die Organisation kümmern. Der Ball ist schon in zwei Wochen“, sagte Jessie und umarmte ihn herzlich. „Es ist nur ein Wochenende.“
„Drei Tage ohne dich“, sagte Jakob schmerzhaft, ergriff ihre Hand und küsste ihren Ringfinger, an dem sich ein teurer Verlobungsring befand.
Eine einzelne Discokugel verbreitete ihr goldenes Licht in dem ansonsten schwach beleuchteten, bis zum Bersten vollen Nachtclub. Das Publikum spaltete sich in der Mitte wie das Meer einst vor Moses und alle Köpfe richteten sich zum nebelverhangenen Eingang. Aus dem wolkenartigen Dunst trat eine einzelne Gestalt: Kitt. Das Publikum kreischte und jubelte, während es für den jungen Adonis eine freie Passage zur erhöhten Bühne bildete, auf die er sich schwebend zubewegte.
Als er mit einem federleichtem Sprung den Bühnenboden erreichte, spielten die Instrumente hinter ihm wie durch eine unsichtbare Zauberhand geleitet von ganz alleine. Seiner Zuhörerschaft zu Liebe, die ihn mit hungrigen Blicken angaffte, vollführte Kitt eine Elvis-Pose nach der anderen. Die unbekannte Menge feierte ihn wie einen Rockstar und brach bei jedem seiner Moves in kreischende Begeisterungsstürme aus. Es kam mehr und mehr Bewegung in die Menge, bis die positive Stimmung schließlich kippte und einer ungestümen Aggression wich. Erste Groupies fetzten sich untereinander um die Gunst des Jünglings. Nur die Stärksten unter ihnen schafften es, die Bühne zu erklimmen.
Kitt wich ängstlich zurück. Plötzlich spürte er, wie seine Füße ins Leere traten. Durch ein Loch im Boden fiel er auf ein übergroßes, herzförmig geschnittenes Bett unterhalb der Bühne. Von allen Seiten und auf allen vieren drängten sich nackte, blutbeschmierte Jungfrauen und griechisch anmutende Jünglinge mit animalischem Blick auf ihn zu. Kitt konnte sich nicht bewegen, lag wie festgetackert auf der Matratze. Er warf seinen Kopf zurück und stieß einen stummen Schrei nach Hilfe aus. Doch da war es schon zu spät. Die nackten Körper fielen über ihn her und rissen ihm sprichwörtlich erst die Kleidung, dann die Haut mit raubtierhaften Zähnen vom Leib. Von weit her vernahm er ein konstantes Klopfen und Pochen...
Schweißgebadet erwachte Kitt auf seiner Matratze im Appartement. Just in diesem Moment flog die Wohnungstüre auf. Mit noch ganz benebeltem Blick schielte Kitt zum Eingang. Zwei schwere Typen mit Glatze und Kutte betraten seine Bude. Die Kerle sahen sich kurz im Zimmer um. Ihr Blick folgte den wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch die geschlossenen Jalousien ins Innere verirrt hatten, auf die am Boden liegende Matratze. Ehe Kitt einer Reaktion fähig war, hatten die beiden Skinheads die Matratze auch schon an je einer Seite gepackt und trugen diese nun zusammengeklappt mit dem darin zappelnden Kitt nach draußen.
Die Matratze landete am Boden im Innenhof, zu Füßen eines dritten Skinheads, der etwa eintausend Jahre alt war. Unter seiner Lederkutte trug er auf seinen verschrumpelten Armen heute nicht mehr identifizierbare Tattoos. Kitt erkannte ihn sofort. Es war sein verdammter Vermieter.
„Moin Willi“, sagte Kitt und rieb sich die Augen, in denen sich noch der Schlaf versteckte.
„Ja, Moin Moin“, sagte Willi im Hamburger Platt. „Und? Gut geschlafen? Süße Träume gehabt? Wo ist ’n die Miete?“
Kitt sah ihn verdutzt an. „Die Miete?“
„Von dem und vom letzten“, sagte Willi. „Die hätte ich gern, hab ich aber nicht.“
Kitt versuchte sich zu sammeln. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Willis Handlanger, Flocke und Torte, demonstrativ Möbel aus seiner Bude nach draußen in den Innenhof trugen. „Also, das war so, Willi“, sagte Kitt und versuchte den Hamburger Platt im Gespräch nachzuahmen. „Ich wollt se dir gestern noch bringen, ne? Die Miete, mein ich. Aber dann wurde ich überfallen und ausgeraubt!“
Zur Veranschaulichung deutete Kitt auf noch nicht ganz verheilte blaue Flecken und Schrammen in seinem blassen Gesicht.
„Ach?“, sagte Willi und betrachtete Kitt äußerst skeptisch. „Und wer war’s diesmal?“
„Wer wohl, Willi!“, rief Kitt aus. „So ’n Ausländer-Immigrant natürlich. So ’n Moslem-Araber-Schlachmichtot! Der zerrt mich in ne Gasse und hält mir ne Wumme an den Kopf. Was sollt ich machen, he? Ich sach noch zu ihm: Das ist nicht mein Geld, hab ich gesacht, das gehört meinem Vermieter, das gehört Willi. Aber die verstehn uns ja nicht. Ich hab mich geweigert, da hat er mich verprügelt – siehste? – und dann hat er mir das ganze Geld geklaut. Dein Geld, Willi, deins.“
Kitt verstummte und wartete auf Willis Reaktion. Auch Torte und Flocke hielten kurz interessiert inne beim Ausräumen von Kitts spärlichem Mobiliar.
Es dauerte einen Moment und Kitt war sich so gar nicht sicher, ob sein Nazi-Vermieter heute den Köder schlucken und mit all seinem blinden Hass anbeißen würde. Dann aber zuckte eine Vene an Willis Hals und Kitt wusste, dass er ihn im Sack hatte.
„Alles Verbrecher!“, spie Willi aus. „Ich sach seit Jahren, du: Das Pack muss raus, die Häfen zu. So und nicht anders!“
Kitt fiel sofort in den Ausruf mit ein. „So und nicht anders, ganz genau!“, sagte er wie ein Papagei.
„Aber wir!“, sagte Willi mit rot angelaufenem Gesicht. „Wir lassen se alle rein und sehn zu, wie se sich mit unseren Frauen vermischen! Alles Schmarotzer, du! Ne, das Land...“ Willi fasste sich ans schwache Herz. „... das Land...“ Sein Atem stockte. Willi griff in seine Jackentasche und zog eiligst ein Asthmagerät heraus und benutzte es ein-, zweimal. „... geht noch vor die Hunde.“
„Vor die Hunde, so sieht’s mal aus“, pflichtete Kitt bei. Sein Blick fiel auf Torte, der seinen neuen Flachbildfernseher in Händen trug. „Torte, Diggah! Komm schon, lass mir wenigstens den Flachbild. Das Teil hab ich mit meiner verdammten Seele erspart.“
Doch Torte glotzte ihn nur blöde an.
„Du bist ’n guter Junge, aber so geht’s nicht weiter“, sagte Willi mit neuem Atem.
„Willi“, sagte Kitt und rappelte sich mühsam auf. „Ich mach bei so ’ner verdammten Show mit, die lieben mich. Wenn ich das Ding erstma gewonnen hab und meine neue Platte am Markt erscheint, zahl ich dir die Miete auf ein Jahr im Voraus. Verdammtes Ehrenwort.“
„Ich scheiß auf deine Ehre, Bursche“, antwortete Willi barsch und schlug Kitt mit der Faust gegen die Brust. „Bis Montag will ich von dir einen ordentlichen Arbeitsvertrag mit Gehaltsnachweis sehn. Sonst kannst du wieder unter Brücken pennen und zusehen, dass ein anderer so dumm ist, dich aufzunehmen.“
Willi machte kehrt.
„Mensch, Willi!“, sagte Kitt und hinkte ihm mit eingeschlafenem Bein nach. „Jetzt mach doch mal halblang! Wir sind doch beides alte Seehasen–“
„Du hast drei Tage“, sagte Willi knapp und pfiff seinen beiden Gehilfen zu. Mit Kitts neuem TV in Händen verschwanden sie.
„Und was ist mit meinen verdammten Möbeln, he?“, rief Kitt ihnen nach. „Wer trägt die wieder rein? Flocke? Torte?“ Die Nazis verließen den Innenhof nach draußen zur Straße. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
„Drecks-Nazischweine!“, sagte Kitt und spuckte verärgert zu Boden. Er sah sich um. Matratze, Couch, Stehlampe und sein verdammtes Hundertkilo-Kirschbaumregal mit der großen Schallplattensammlung standen achtlos im Innenhof. Kitt hatte keine Ahnung, wie zum Teufel er all das Zeug wieder in die Wohnung kriegen sollte. Noch weniger wusste er, wie er innerhalb weniger Tage eine feste Stelle bekommen sollte. Halb Berlin hatte ihn auf der roten Liste und sein Lebenslauf hatte auch schon mal bessere Zeiten gesehen. Ein nasser Tropfen berührte seine Nasenspitze und Kitt hoffte, dass es nur verirrter Vogelkot war. Denn wenn es jetzt noch pissen sollte, dachte sich Kitt und sah herausfordernd in den Himmel, dann konnte Gott ihn mal kreuzweise.
Keine fünf Minuten später prasste es von oben herab. Kitt konnte gerade noch seine Schallplattensammlung in Sicherheit bringen, ehe er bis auf die Knochen durchnässt und fertig mit der Welt resigniert das Handtuch warf, sich in seiner leeren Bude verkroch, auf den staubbedeckten Boden warf und bittere Flüche an Gottes Herrlichkeit sandte. Matratze, Stehlampe und Couch indessen verblieben draußen im Regen.
„Du hast das ganze Haus allein für dich?“, sagte Vanessa mit großen Augen zu Jessie.
Sie befanden sich in der Kirche. Ein Dutzend jüngerer Mädchen im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren studierte unter Anleitung einer christlichen Tanzlehrerin die Choreografie für den Eröffnungstanz ein, während Jessie zusammen mit ihren Freundinnen – Vanessa, Sophie, Lisa und Ann – ein großes Banner bemalte und beschriftete, auf dem einmal „7. REINHEITSBALL“ stehen sollte.
„Nein“, antwortete Jessie auf Vanessas Frage. „Miss Muppets leistet mir Gesellschaft.“
Die Eingangstür öffnete sich und fiel sogleich wieder mit einem lauten Krachen ins Schloss. Die Freundinnen hielten inne und sahen sich um. Ein beleibter, bärtiger Mann mit blauem Overall, abgenutzter Fliegerbrille und einem riesigen Holzkreuz auf der Schulter schritt mitten über die Tanzfläche auf sie zu. Der etwa sechzigjährige Anton war der auf Probe eingestellte neue Hausmeister, der sich um sämtliche Reparaturen im Innern der Freikirche kümmern sollte.
„Havlocks Tochter!“, keuchte Anton und hielt Jessie das große Holzkreuz vor die Nase. „Wo geht’s zur Kreuzigung?“
„Meine Güte!“, stieß Jessie erschrocken aus. „Passen Sie doch auf. Das ist das Zeremoniekreuz für den Altar. Stellen Sie es bitte in die Ecke dort drüben, ja?“
Anton salutierte und humpelte davon – er hatte eine scheinbar chronische Gehbehinderung, die ihn den rechten Fuß nachziehen ließ.
Die Freundinnen sahen ihm belustigt nach.
„Komischer Kauz“, meinte Sophie nur. „Papa sagt, er war früher mal Priester.“
„Was? Anton?“, sagte Jessie und sah dem Alten nach, wie er sich gerade mit der freien Hand ungeniert am Hintern kratzte.
„Ja. Angeblich hat er Unwahrheiten über Jesus verbreitet“, sagte Ann im verschwörerischen Ton, „bis ihm die Kirche den Priestertitel entzog und–“
„Bla bla bla“, sagte Vanessa uninteressiert. „Wir sollten jetzt lieber unsere Party planen.“
„Party?“, sagten Lisa, Ann und Jessie unisono.
Vanessa beugte sich grinsend zu ihnen.
„Verlobte Jungfrau, leerstehendes Haus, gut gelaunte Freundinnen“, zählte sie an den Fingern ab. „Wisst ihr, worauf ich hinaus will?“
Jessie kannte ihre älteste Freundin nur zu gut. Das genügte, um zu erahnen, dass es sich dabei wohl um eine dumme Idee handeln würde. Die anderen schienen ähnliche Befürchtungen zu hegen.
„Im Gegensatz zu dir, Vanessa, tragen wir unsere Ringe noch“, sagte Lisa und meinte damit den Keuschheitsring an ihrem Finger.
„Ach, Lieschen. Ich bin jetzt seit fast einem Jahr verheiratet“, sagte Vanessa. „Und es ist toll, ja ehrlich! Aber eine Sache bereue ich meinen Eltern zuliebe versäumt zu haben.“ Sie beugte sich weiter nach vorn und sagte vertraulich: „Einen Junggesellinnenabschied.“
Die Mädchen sahen sie mit großen ahnungslosen Augen an.
„Stripper, hallo?“, sagte Vanessa und schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Ich spreche von nackten Jungs, die dich noch einmal so richtig auf die Probe stellen, bevor du dich für den Einen entscheidest.“
„Bist du verrückt?“, sagte Jessie entgeistert. „Mein Vater würde mich umbringen!“
„Oh, und wir hätten ihn so gerne als Ehrengast eingeladen“, entgegnete Vanessa sarkastisch. „Zu schade, dass er weit, weit weg in einem anderen Land ist.“
„Du bist unmöglich“, sagte Jessie und konnte doch nicht umhin, im Stillen beeindruckt zu sein ob ihrer wahnwitzigen, völlig utopischen Idee.
„Bist du nicht neugierig?“, fragte Vanessa und suchte Jessies Blick.
„Natürlich!“, entgegnete Jessie. „Aber ich habe es jetzt achtzehn Jahre ohne nackte Männerkörper und Küsse ausgehalten - was machen da schon weitere 22 Tage, zwei Stunden und sechzehn Minuten? Außerdem liebe ich meinen Jakob und will keinen anderen Mann je nackt sehen.“
„Ach? Und was war gestern?“, sagte Vanessa mit einem ironischen Grinsen auf den Lippen.
Jessie sah vom Banner auf, das sie gerade mit grüner Farbe bemalte. „Wag es nicht...“
Doch zu spät. Vanessa hatte sich schon aufgerichtet.
„Mein Körper sehnt sich nach dem seinen. Mein Geist sieht seine Vorzüge. Aber, ach!, weh!, warum nur hüllt sich meine Seele dann in Schweigen?“, sagte Vanessa, indem sie Jessie theatralisch nachahmte.
Jessie sprang auf. „Sie wartet noch auf Gottes Segen!“, sagte sie rot vor Scham. „Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss zurück zu meiner Miss Muppets.“
Während Jessie davonstürmte, richtete sich Vanessa unbeeindruckt an Sophie, Lisa und Ann. „Eine Bekannte von mir arbeitet im Stripclub. Wer hat Lust mich zu begleiten? Irgendwelche Freiwilligen?“
Die gemachte Wäsche hing zum Trocknen im Garten, der Boden war blank geschrubbt, die Fenster streifenfrei geputzt, alle Pflanzen mit ausreichend Wasser versorgt und das Katzenklo von Miss Muppets zum fünften Mal sauber gemacht. Immer wieder war ihr Blick während der häuslichen Tätigkeiten, die bald schon einen Großteil ihres künftigen Ehelebens ausmachen würden, zur verschlossenen Kellertür gewandert, hinter der ihre Instrumente im Dunkeln lagen. Ungespielt und vermutlich frierend. Manchmal ertappte sie sich auch dabei, wie sie ganz unbewusst zu Summen begann, eines ihrer Lieblingsstücke aus dem Gesangbuch etwa, dann aber, als ihr bewusst wurde, was sie da tat, verstummte sie. Es war eine schmerzhafte Erinnerung an ihr Kindsein und die damit verbundenen Träumereien, die sie doch mit dem Verlobungsversprechen abgelegt hatte.
Dennoch war ihr die ganze Zeit über unwohl bei dem Gedanken an ihre Instrumente. Im Keller war es feuchter als anderswo im Haus. Bestimmt hatten ihre Eltern nicht daran gedacht, Geige und Harfe einzupacken und so vor Nässe zu schützen. Was, schoss es Jessie plötzlich durch den Kopf, wenn es unten schimmelte? Wieder ruhten ihre Augen auf der Tür, die ins Erdreich führte. Selbst, wenn ihre Finger nie wieder über die Saiten ihrer Instrumente streifen würden – konnte sie es verantworten, dass die wertvollen Stücke unten vermoderten? Sie hatten schließlich viel Geld gekostet. Und hatte ihr Vater ihr als Kind nicht immer eingeimpft, auf teure Gegenstände Acht zu geben? Jessie biss sich auf die Lippen. Es war unvernünftig, nichts zu tun. Außerdem, und da hatte Vanessa ganz recht, waren ihre Eltern über fünfhundert Kilometer weit entfernt in einem anderen Land. Sie würden erst übermorgen zurückkehren.
Jessie schlich sich ins Elternschlafzimmer. Als Kind hatte sie oft, noch bis sie sieben oder acht Jahre alt war, des nachts bei ihren Eltern geschlafen. Nicht etwa, weil sie Angst hatte vor Bettmonstern oder dergleichen. Es lag einfach daran, dass sie sich in der Dunkelheit weniger einsam gefühlt hatte, wenn sie unter dem Schutzmantel ihrer Eltern lag. Obwohl sich der Raum seit ihrer Kindheit kaum verändert hatte, wirkte er nun doch irgendwie anders auf sie. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, im Zimmer ihrer Eltern rumzuschleichen und nach einem Schlüssel zu suchen, der ihr eigentlich verboten war. Beim Stöbern durch Schränke und Schubladen stieß sie auf alte Bilder von ihren Eltern. Das Hochzeitsbild des jungen Glücks, die Ernennung ihres Vaters zum Pastor der Evangelikalen Gemeinde, ihre Mutter, die zum ersten Mal schwanger war - mit gerade einmal 22 Jahren. Ihre Mutter war eine schöne Frau gewesen. Schlank, mit schimmerndem blonden Haar. Was war geschehen? dachte Jessie und fühlte sich sofort schuldig ob der Frage. Die Antwort lag außerdem auf der Hand. Ihre Mutter hatte geheiratet, drei Kinder bekommen und ihr Leben fortan dem Wort Gottes gewidmet.
Nun kamen auch die ersten Bilder von Jessie zum Vorschein. Ihre Geburt, natürlich Zuhause in der Badewanne, die Mutter, die sie an der Brust hielt und stillte, der Vater, der das schreiende Kind zum ersten Mal auf den Armen trug. Traurig lächelnd betrachtete Jessie das Baby, das sie selbst einmal gewesen war. Sie musste schmunzeln bei den Bildern ihrer frühen Kindheit. In den ersten drei Jahren waren ihr kaum Haare auf dem Kopf gewachsen - lediglich ein strohblonder Flaum. Mit vier dann hatte sie ihre erste Harfe in der Hand gehalten. Jessies Herz pochte, als sie ihr kindliches Ich betrachtete, das hinter einer viel zu großen Harfe saß und fasziniert und voller Konzentration und kindlicher Neugier mit den kleinen Fingern über die Saiten strich...
Wut verdrängte die Melancholie. Zorn stieg in ihr auf und ließ sie ihre Hände zu Fäusten ballen. Sie spürte plötzlich eine Welle von Hass, die sie überschwemmte und die sich gegen ihre Eltern richtete. Sie war eine Musikerin! Hier war der Beweis! Wie konnten ihre Eltern ihr nur das teuerste in der Welt wegnehmen? Sie sprang auf und stellte innerhalb kürzester Zeit das Zimmer ihrer Eltern auf den Kopf.
Nach zehn Minuten hatte sich das ordentliche Schlafzimmer in ein chaotisches Etwas verwandelt, dessen Anblick ihrer ordentlichen Mutter schier den Verstand geraubt hätte. Sämtliche Klamottenteile lagen achtlos über den ganzen Teppichboden verstreut, Schubladen waren aufgerissen und Möbel verrutscht. Jessie kümmerte sich nicht darum, denn sie hatte gefunden, wonach sie so bitterlich gesucht hatte. Unter der Vase am Fensterbrett hatte er gelegen. Ein unscheinbarer, silberner Schlüssel. Sie stapfte über das Chaos hinweg aus dem Zimmer, rannte die Treppen nach unten und steckte den Schlüssel zittrig ins Schloss. Klack!
Wenig später saß sie ganz allein im großen Haus auf einem Hocker vorm Fenster. Ihre 36-saitige-Harfe stand vor ihr. Gedankenverloren spielte Jessie darauf. Melodien aus ihrer Kindheit, Lieder aus dem Gesangbuch ihrer Eltern, aber auch improvisierte, ihrer momentanen Stimmung geschuldete Töne und Akkordabfolgen. Wie hatten ihre Finger, wie hatten Geist und Herz und Seele dieses Gefühl von musikalischer Schöpfung vermisst! Sie spielte noch lange, zwei, vielleicht sogar drei Stunden, bis draußen schon die Sonne auf Wiedersehen sagte und ihre Fingerspitzen sich ganz wund anfühlten.
Miss Muppets saß am Fensterbrett und sah maunzend nach draußen.
„Was sagst du, Miss Muppets?“, sagte Jessie und streichelte das plüschige Fell ihrer siebenjährigen Katze. „Du möchtest raus? Aber du bist eine Hauskatze, die Welt da draußen ist nichts für dich.“
Miss Muppets maunzte wieder, sah von Jessie zum Fenster nach draußen.
„Wie, du magst nur mal gucken? Ob nicht ein Kater auf dich wartet? Ach, Miss Muppets, Papa verbietet es, er meint es nur gut und will uns vor Ungeziefer und streunenden Hunden schützen.“
Wieder ein sehnsüchtiges Maunzen.
„Wie, du magst trotzdem? Aber was, wenn du dir Flöhe angelst? Es ist dir egal? Oh, mein tapferer Liebling!“, sagte Jessie und nahm die Hauskatze auf den Arm. „Eines Tages, das verspreche ich dir, wird sich eine Straßenkatze unsterblich in dich verlieben. Sie wird die Stäbe durchbrechen, dich entführen und dir die Welt da draußen zeigen...“
Nun sahen beide, Jessie und Miss Muppets, mit verträumten Ausdruck aus dem geschlossenen Fenster ins Freie.
Eve’s Stripclub befand sich zu dieser frühen Abendstunde in der Vorbereitung für die anstehende Nacht. Die Theke wurde geputzt, Getränke vorbereitet und auf der Stage eine neue Aufführung geprobt.
Kitt stand zusammen mit Moe in Eves Büro vor einem riesigen Mahagoni-Schreibtisch, hinter dem die Herrin des Hauses persönlich stand – oder treffend gesagt, saß. Denn Eve war seit vielen Jahren an den Rollstuhl gebunden. Niemand aber sollte den Fehler begehen und ihr Mitleid entgegenbringen. Eve war eine toughe Geschäftsfrau, die sich dem Anschein nach hauptsächlich von Lippenstift, Mascara und Zigarillos ernährte. Zwei Dobermänner saßen zu ihrer Rechten und Linken, eine Lederpeitsche befand sich zuckend in ihren Händen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie durch die Ränder ihrer roten Hornbrille über den Tisch hinweg auf Moe.
„Nein, nein, nein“, sagte sie in ungläubigem, ja entsetztem Ton. „Ist das dein Ernst, Moe? Hast du vergessen, was der Bursche damals für eine Nummer hier abgezogen hat?“
Kitt wollte zu seiner Verteidigung etwas sagen, doch Moe trat ihm gerade noch rechtzeitig auf die Füße und übernahm an seiner statt das Wort. „Das ist doch Jahre her, Evie. Aus dem Jungen ist ein Mann geworden.“
Eve war sich da nicht so sicher. Sie betrachtete Kitts Gesicht, das unter der Sonnenbrille blaue Flecke und Schrammen aufwies. So als wäre er vor kurzem erst in eine Schlägerei verwickelt gewesen. Was, wie wir wissen, ja auch zum Teil der Wahrheit entspricht.
„Was ist denn mit seinem Gesicht?“, wollte Eve von Moe wissen.
„Bergsteigen“, sagte Moe, der noch nie lügen konnte.
„Bergsteigen“, wiederholte Eve gekünstelt. „So so.“
„Vergiss die Kratzer einfach“, sagte Moe eilig. „Du musst ihn als Investition für die Zukunft ansehen. Der zieht dir ganz neue Kundschaft an.“
„Auf Junkies, Bullen, Zuhälter und Nutten kann ich verzichten“, sagte Eve trocken.
„Evie, jetzt guck ihn dir doch wenigstens mal an“, sagte Moe, packte Kitt wie ein junges Kätzchen am Nacken und rückte ihn wie ein Verkaufsobjekt ins Licht. Kitt rümpfte die Nase, schluckte seinen Unwillen darüber aber hinunter.
Eve besah sich ihn genauer.
„Er ist hübsch, ja, ein bisschen mager vielleicht“, gestand sie schließlich ein und nahm ihre Brille ab. „Aber das spielt keine Rolle. Er könnte Elyas- fuck-M’Barek sein und ich würde ihn trotzdem nicht einstellen. Er ist aufgeblasen, arrogant, unzuverlässig und sein Ruf ist fast so übel wie seine Manieren. Der würde wie damals nur meine Mädchen belästigen.“
„Die haben mich belästigt“, sagte Kitt.
Keiner beachtete ihn.
„Evie“, sagte Moe vertraulich und schob Kitt wieder hinter sich. „Wir beide wissen, dass du Frischfleisch brauchst. Vivi Virgin ist schwanger, Major Tom bald fertig mit der Uni und Pistolen Peter macht’s nach der Leistengeschichte im Frühjahr auch nicht mehr lange. Und was mich angeht...“ Moe hielt kurz inne und senkte seine Stimme. „Wenn das Kind einmal da ist, muss ich mir auch was anderes suchen. Befehl von oben.“
Kitt wurde plötzlich hellhörig. Er drängte sich wieder in den Vordergrund und sah Moe schräg von der Seite an.
„Kind?“, sagte Kitt und hoffte, er habe sich verhört.
Moe ignorierte ihn. Eve seufzte, denn Moe hatte leider recht, es würde in Zukunft Personalmangel geben.
„Kann er denn tanzen?“, fragte sie Moe.
„Tanzen?“, sagte Kitt und sah angewidert von Moe zu Eve.
„Natürlich kann er tanzen“, sagte Moe und warf Kitt einen warnenden Blick zu.
„Ich brauche aber jemanden, der auch tanzen will“, sagte Eve zweifelnd.
Plötzlich klickte es in Kitts Schädel. Darum also hatte es Moe in den letzten Wochen immer vermieden, mit ihm einen draufzumachen. „Oh verdammt, Julie ist doch nicht–“, wollte er von Moe wissen, doch der unterbrach ihn sofort:
„Mensch, jetzt halt doch mal die Schnauze!“
„Es ist also wahr?!“, schrie Kitt aus und spuckte reflexhaft auf Eves Perserteppich. „Gottverdammt, Moe, gottverdammt!“
„Wenn du nicht gleich die Fresse hältst...“
„Was dann!? Machst du mir dann auch ein scheiß Kind!?“
Es knallte laut. Moe und Kitt verstummten und sahen zu Eve, die sie mit erhobener Peitsche anfunkelte.
„Ich gratuliere, Moses“, sagte sie voller Hohn. „Du hast mir gerade fünf Minuten meines kostbaren Lebens gestohlen. Und jetzt schaff deinen Junkie-Kumpel hier raus. Der wird nie wieder für mich arbeiten – dafür leg ich meine Hand ins Feuer.“
„Aber Evie...“, sagte Moe.
Zum Zeichen, dass sie nun genug von diesem Affentheater hatte, schlug sie erneut mit ihrer Lederpeitsche kräftig zu Boden und verfehlte die beiden Männer nur um Haaresbreite. Moe verstummte und gab sich geschlagen. Er kannte seine Chefin - einem dritten Hieb würden sie nicht entgehen. Moe nickte Kitt zu und verließ mit ihm zusammen das Büro.
Zeitgleich betrat Vanessa mit Sophie und Ann im Schlepptau den Stripclub, der weiter in der Vorbereitung für den Abend steckte. Während Vanessa mit sicherem Schritt an den teils leicht betuchten Mitarbeitern gen Theke schritt und den ein oder anderen gar namentlich grüßte, verhielten sich Sophie und Ann zurückhaltender. Vanessa hatte sie überredet – wie sie das meist tat. Doch an einen so verruchten Ort wie diesen hatte sie ihre Freundinnen noch nie geschleppt.
An der Theke sprachen sie mit Gin, die gerade Sektgläser polierte.
„Hallo Ladies“, begrüßte Gin die jungen Mädchen und tauschte einen kumpelhaften Handschlag mit Vanessa aus. „Kann man euch helfen?“
Vanessa beugte sich über den Thekenrand zu ihrer Bekannten.
„Wir brauchen deine heißesten Jungs, Ginny“, sagte Vanessa und fügte augenzwinkernd hinzu: „Für einen kleinen Hausbesuch heute Abend.“
Sophie und Ann tauschten einen verängstigten Blick untereinander. Worauf hatten sie sich da nur eingelassen?
Gin reichte Vanessa einen Katalog mit den Strippern des Hauses. Begierig und voller Vorfreude blätterte Vanessa darin herum und begutachtete mit mädchenhafter Neugier die männlichen Modelle. Ann schluckte tief beim Anblick der nackten Körper und Sophie lief rot an vor Scham. Beide aber sahen nicht weg. Schließlich stieß Vanessa auf Bilder von einem schönen, dunkelhäutigen Prachtkerl. 1,90m groß, muskelbepackt, von Kopf bis Fuß glatt rasiert. Ja, Moe Valentine war das Objekt der Begierde für alle abenteuerlichen Singles, gelangweilten Hausfrauen und enttäuschten Ehefrauen.
„Uh la la“, stieß Vanessa aus und pustete sich eine Locke ihres kurzen Haares aus den Augen. „Ist der untenrum genauso stattlich?“
Ein hitziger Dialog ereignete sich im Korridor vor Eves Büro zwischen den beiden Freunden, Kitt und Moe. Scheinbar drehte sich alles um:
„Lieben, Heiraten, Schwanger“, sagte Kitt voller Abscheu. „Was ist das? Irgend so ein scheiß Albtraum? Moses, Baby, du bist gerade mal 24 und–“
„Ich bin 26“, korrigierte ihn Moe ungeduldig. „Und die letzten beiden Jahre mit ihr waren die besten meines Lebens.“
Kitt sah ihn verständnislos an. „Und was ist mit deinem Traum, he? Glaubst du echt, Julie lässt dich noch ans Schauspielern denken, wenn sie erstmal einen Ring am Finger und ’n Kind im Arm hat?“
„Ich hab seit Monaten keine Rolle mehr bekommen“, entgegnete Moe. „Und was ist mit dir überhaupt? Ein Liedermacher, der nicht singen kann? Sieh’s ein, man, wir sind nur Träumer.“
Kitt sah’s nicht ein. Überhaupt gar nicht. „Ich fass es nicht, dass du dein Talent einfach so wegwirfst. Und für was? Ein Reihenhaus? Kleingarten? Familie und Köter? Das ist nichts für Typen wie uns!“
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, jemand zu sein“, sagte Moses wie zu einem Schuljungen. „Ich weiß, wohin ich gehe, da ist ein Licht am Ende des Tunnels, verstehst du?“ Kitt verstand nicht. Moe seufzte und fuhr fort: „Ich sag ja nicht, dass ich 24/7 mit ’nem Mordsständer durch die Gegend renne, aber wenigstens werd ich regelmäßig flachgelegt.“
„Was für eine scheiß Metapher für ein unoriginelles Spießerleben! Moses, mein Freund, wenn du das durchziehst, dann wirst du einer dieser Was-Wäre-Wenn-Wichser, die unterfickt und überarbeitet mit einem Bier auf ihrer geleasten Couch verrotten und ihrem einstigen Traum nachheulen.“
„Mein Traum“, sagte Moe entschieden, „ist jetzt vier Monate alt. Und mit jedem Tag wird er ein bisschen größer.“
Kitt schüttelte schweigend sein Haupt. Er konnte es nicht fassen, dass sein langjähriger Kumpel, sein einstiger Seelenverwandter und kreativer Leidensbruder mit solch bürgerlichen Tönen um sich spuckte. Es war ein geradezu trauriger Anblick, so traurig, dass Kitt sogar seine dunkle Brille abnahm, um Moe seine enttäuschten Augen zu offenbaren.
„So ist das also?“, sagte Kitt nach einer kleinen Pause.
„So ist das“, antwortete Moe. „Manchmal muss man alte Träume begraben und Platz machen für neue.“
Kitt setzte die Brille wieder auf. „Sagt der Feigling und heiratet?“
Beide funkelten sich an. Zum Glück für ihre Freundschaft wurden sie just in diesem Moment von Gin unterbrochen.
„Mr. Valentine!“, sagte Gin in ihrer leicht spöttischen Art. „Sie haben Kundschaft. Ein paar bitches wollen Sie näher kennenlernen. Also schwingen Sie doch bitte ihren zuckersüßen Schokoarsch umgehend zur Theke.“
Moe nickte Kitt zu, machte kehrt und folgte der Aufforderung. Gin verabschiedete ihren besten Stripper mit einem ordentlichen Klaps auf den Hintern und wandte sich dann an den jungen Straßenmusiker.
„Hey, ich kenn dich“, sagte sie und musterte Kitt interessiert. „Du bist doch dieser eine Sänger, der nachts immer vor unserem Club rumhängt?“
Kitt verfiel in sein übliches Getue; er lehnte sich gegen die nächstbeste Wand, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und sagte mit gelangweilter Stimme: „Bin dir aufgefallen, ja?“
„Werd mal nicht arrogant. Die Nummer zieht bei mir nicht“, sagte Gin. Dann reichte sie ihm übertrieben ladylike ihre Hand und säuselte: „Gin.“
Kitt fiel in den kleinen Flirt mit ein, nahm ihre tätowierte Hand entgegen und küsste sie wie ein Gentleman. „Hallo Gin“, sagte er in tiefer Verbeugung. „Mein Name ist Rick und ich bin weit und breit der beste–“
Die aufkommende Romanze wurde von Eve unterbrochen, die von den Dobermännern gezogen auf ihrem Rollstuhl aus dem Büro fuhr.
„Ist der immer noch hier?!“, sagte Eve und kniff bei Kitts Anblick widerwillig die Augen zusammen.
„Ein Engel hat mich aufgehalten“, sagte Kitt und zwinkerte Gin zu.
„Der Engel macht sich jetzt wieder an die Arbeit“, sagte Eve streng.
„Wir sehn uns, Rick“, hauchte Gin und huschte den Korridor davon Richtung Theke.
Eve und Kitt funkelten sich schweigend an. Nur das Knurren der Dobermänner, die bei Kitts Anblick bedrohlich die Zähne fletschten, zerstörte die eisige Stille zwischen beiden.
Eve brach als Erstes das Schweigen.
„Du hast dich nie für damals entschuldigt...“, sagte sie. Es war eine Einladung, das Kriegsbeil zu begraben. Das merkte auch Kitt. Doch spürte er, dass es mehr noch eine Aufforderung war, eine Falle gewissermaßen, die ihn zu einer Entschuldigung köderte. Er hatte die Wahl: Unterwürfig vor ihr auf die Knie zu gehen und um Frieden zu winseln oder seinen Stolz zu bewahren. Kitt war ein Narzisst sondergleichen, von daher hatte er in Wahrheit nur theoretisch eine Wahl. In der Praxis aber sah es so aus, dass er sich keiner Schuld bewusst war.
„Du hast das Hausverbot nie aufgehoben“, konterte Kitt und reichte die Einladung zur Wiedergutmachung ungeöffnet zurück an ihren Geber.
Eve streichelte die Köpfe ihrer Dobermänner. „Aber ich habe dir Spray und Pepper vorgestellt, nicht wahr?“
Kitt verzog das Gesicht beim Anblick der Biester.
„Alte Hexe!“, stieß er in schmerzhafter Erinnerung aus und machte schnell kehrt, ehe Eve mit ihrer Peitsche nach ihm schlagen konnte.
An der Theke hing Vanessa ganz verliebt an Moes starkem Arm. Sophie und Ann sahen ihrer Freundin schweigend dabei zu, wie sie die Bedingungen für die Junggesellinnenfeier mit Gin aushandelte. Dem Anschein nach hatte sie Erfahrung damit.
„Wollt ihr Moe dann alleine buchen?“, fragte Gin.
„Moe ist süß“, sagte Vanessa, „aber ein Stripper reicht nicht. Das ist wie eine Ehe ohne Affäre.“
Gin und Vanessa lachten, während Moe Vanessas Nähe eindeutig als zu aufdringlich empfand. Zum Glück für ihn unterbrach ein plötzlich auftretender Lärm die Verhandlungen. Alle blickten sich um. Kitt flüchtete vom Korridor aus durch den gesamten Stripclub gen Ausgang. Eine zornige Eve war ihm mit ihren Hunden auf den Fersen und schwang die Peitsche nach ihm. Es klatschte hier und da, doch Kitt konnte ein jedes Mal mit mehr Glück als Geschick ausweichen.
Während seiner Flucht rief er Moe zu: „Grüß Julie von mir. Richt ihr mein Beileid aus!“
Vanessa löste sich von Moe und verfolgte Kitt interessiert mit ihren Augen. „Hey, du! Warte!“, sagte sie an den fliehenden Kitt gewandt.
Doch Kitt wartete nicht, sah sich nicht einmal um. Alles, was Vanessa von Kitt als Antwort erhielt, war ein schnauziges „Du kannst mich mal!“, ehe er am unvorbereiteten Türsteher vorbei durch den Ausgang nach draußen flutschte und einem letzten Hieb von Eve gerade noch so entging.
Erst jetzt bemerkte Eve, dass sich potentielle Kunden im Raum befanden. Sie ließ sich von ihren Dobermännern zum Tresen bringen.
„Ich bitte euch vielmals um Entschuldigung“, sagte Eve ganz außer Puste zu Vanessa, Ann und Sophie. „Der Bursche da ist–“
„Verdammt heiß!“, beendete Vanessa ihren Satz. „Den nehmen wir. Moe und den jungen James Dean. Aber nur im Doppelpack.“
Eves Geschäftsmaske sackte in sich zusammen. Der Gedanke, diesen ungezogenen Straßenjungen für sich arbeiten zu lassen, schlug ihr übel auf. Aber letzten Endes war sie eine Geschäftsfrau, durch und durch. Widerwillig stimmte sie also den genannten Bedingungen zu.
Nach dem vergeigten Vorstellungsgespräch bei Eve war Kitt wieder einmal zu dem Entschluss gelangt, dass ein Arbeitnehmerverhältnis nicht seinem Naturell entsprach. Er musste sein eigener Boss sein, so einfach war das. Unterwürfigkeit und Gefolgschaft waren nunmal nicht seine Stärken.
Um zumindest noch ein klein wenig Geld zusammenzukratzen, tat Kitt das, was er am besten konnte. Er spielte wie so häufig auf seiner abgenutzten Gitarre vor den üblichen Verdächtigen am Straßenstrich. Nach zwei Stunden hatte er knapp Hundert Euro eingenommen, wobei nur ein Bruchteil davon mit seiner Straßenkunst verdient war. Der Großteil stammte von irgendwelchen Junkies, die seiner Musik keinerlei Beachtung schenkten und lediglich eine Platte Bobby Blues aus seinem Gitarrenkoffer kramten.
Und jetzt war es aus. Und damit kam auch der Geldfluss zum Erliegen.
Eigentlich wollte er das bisschen Kohle nutzen, um bei seinem alten Lieferanten neuen Proviant für sein Bobby Blues zu besorgen. Doch seit der unschönen Sache mit dessen Freundin, über die erst Mal Gras wachsen sollte, hatte Kitt ihn nicht mehr aufgesucht. Teufel, was konnte er auch dafür, wenn die Braut sich total high auf seine Hose stürzte und ihn wie eine Nymphomanin bearbeitete. Leider war Soljewitsch genau zum falschen Zeitpunkt nach Hause gekommen, gerade als sein Weib auf Kitts... kurz gesagt, seit dem Vorfall war Soljewitsch nicht besonders gut auf ihn zu sprechen. Und die einst günstigen Konditionen waren dahin – der Preis hatte sich verdreifacht. Kitt fand Soljewitschs Getue lächerlich. Jeder wusste schließlich, dass seine Braut eine waschechte Nymphe war, die jede Nacht einen anderen Schwanz brauchte. Kitt hatte ihn einst vor ihr gewarnt. An solche Weiber durfte man sich als Kerl nicht binden. Doch der gute Soul war Hals über Kopf verliebt. Armer Irrer, dachte Kitt.
Kitt schulterte seine Gitarre, wies Wiesel ab, der mal wieder nicht genug haben konnte, und machte sich auf den Heimweg. Sein Smartphone vibrierte. Er kramte es im Gehen aus seiner Tasche und fluchte. Sieben ungelesene Nachrichten – allein heute. Wann würde Nadja endlich kapieren, dass es vorbei war? Wie lang musste er noch ihre Anrufe ignorieren, sich in seiner Wohnung verschanzen, wenn sie mal wieder wie eine Verrückte gegen die verschlossene Tür polterte und ihm erst gehässige Flüche, dann Liebesgeständnisse und dann wieder Flüche an den Kopf warf? Kitt hasste anhängliche Frauen. Schuld war er aber selber, denn er hatte es mal wieder versuchen müssen. Eine Beziehung. Dass das Ganze nur knapp drei Wochen für ihn ertragbar war, hatte er eigentlich vorher schon gewusst. Wie auch immer, sie hatten ein paar Mal miteinander geschlafen, sonst war da eigentlich nicht viel gewesen. Ein romantischer Ausflug in den Zoo, bei dem Kitt sich ins Affengehege übergeben hatte und drei vergessliche Kinobesuche mit schnulzigen Liebesfilmen hatten anscheinend ausgereicht, um die gute Nadja ganz verliebt in ihn zu machen.
Ohne auch nur eine von ihren sentimentalen Nachrichten zu lesen, löschte er alle auf einen Streich.
Als er wieder vom Handy aufsah, war er umzingelt von einer Meute fieser Typen, die alle doppelt so groß waren wie er. Mit Ausnahme eines etwa vierzigjährigen, hässlichen Zwerges, der vor ihm stand und bei seinem Anblick in seine kleinen verformten Händen klatschte. Während seine Leibgarde aus Schlägern und Bodyguards Kitt umzingelte, schritt der Zwerg vor ihm auf und ab.
Mit seiner piepsigen Stimme richtete er sich an den erstarrten Kitt.
„Erst raubt er meiner Nichte die Unschuld, dann bricht er ihr das arme Herz und schickt sie so gebrochen und beschmutzt zurück in die Arme ihres Vaters, meines Bruders“, sagte der Zwerg und machte eine kurze Pause, innerhalb derer er in seiner Brusttasche eine silberne Klinge hervorholte, die im Neonlicht bedrohlich aufblitzte. „Und als ob das alles noch nicht genug wäre, erdreistet er sich weiterhin Nacht für Nacht auf meinem Strich vor den Augen meiner Mädchen seinen gestreckten Mist unter dem Deckmantel eines Musikanten an meine Kundschaft zu verticken. Da stellt sich einem doch die Frage, ob wir es hier mit einem furchtlosen Draufgänger oder einem unverbesserlichen Narren zu tun haben.“
Der Zwerg verstummte, strich mit einem Tuch über das blank polierte Messer und sah dann zu Kitt auf, wobei er seine ungleichen Augenbrauen erwartungsvoll hob und scheinbar wirklich eine Antwort von Kitt erwartete.
Kitt schluckte. „Was war das Erste?“, fragte er unverbesserlich.
Ein Schläger verpasste ihm für diese Respektlosigkeit einen Schlag mitten auf die Nase. Ein anderer packte ihn am Nacken und zwang ihn auf die Knie – auf Augenhöhe mit dem Zwerg. Der Zwerg drückte ihm die Klinge so fest gegen die Kehle, dass sich ein rotes Rinnsal bildete.
„Wenn er sich noch einmal in meinem Revier beim Dealen erwischen lässt, spuckt sein Arsch Blut. Hat er das verstanden?“
„Er hat, er hat, bitte–“, keuchte Kitt starr vor Schreck.
„Braver Junge“, sagte der Zwerg und streichelte Kitts Haar mit seinen wulstigen Fingern. „Und wie schön er ist, oder Jungs?“
„Außerordentlich schön, Boss“, pflichtete ihm einer der Schläger bei.
„Kein Wunder, dass meine dumme Nichte sich von ihm verführen ließ. Ein so schöner Knabe“, sagte der Zwerg und fuhr über Kitts markante Gesichtszüge. „Man könnte fast sagen, zu schön.“
Das war das Stichwort für die Schläger...
Übel zugerichtet erreichte Kitt im Morgengrauen den Innenhof seiner Neuköllner-Erdgeschosswohnung. Sein eines Auge war dick geschwollen, die rechte Gesichtshälfte bläulich angelaufen und die Nase verkrümmt und blutend. Ja, die Dreckskerle hatten ganze Arbeit geleistet - die Message war angekommen. Kitt wollte sich nur noch auf seine Matratze fallen lassen und eintausend Jahre lang schlafen. Doch daraus sollte vorerst nichts werden, denn die Nacht hielt noch eine weitere unschöne Überraschung für ihn parat.
Eine dösende dürre Gestalt lehnte gegen die Außentür seiner Wohnung. Kitt erstarrte auf halbem Wege. Seine eigenen Schmerzen rückten in den Hintergrund, als er seinen vor Kälte schlotternden kleinen Bruder erblickte.
„Charlie?“, sagte Kitt ganz überrascht.
Natürlich hörte ihn Charlie nicht, denn sein Bruder war von Geburt an taubstumm. Dennoch richtete er sich auf, so als hätte er Kitts Anwesenheit gespürt. Mit müden Augen blinzelte er seinen großen Bruder an und formte mit seinen Händen Gebärden.
„Wo warst du die ganze Nacht?“, wollte Charlie wissen.
„Ich...“, sagte Kitt und trat ins Licht einer Laterne.
Charlie sprang auf. „Was ist mit deinem Gesicht?“
„Nichts“, sagte Kitt in Gebärdensprache, wobei er aus einer Angewohnheit heraus die Worte zusätzlich aussprach. „Was machst du denn hier?“
Charlie wich seinem Blick aus. „Kann ich heute bei dir schlafen?“
„Du weißt, das geht nicht – die haben’s verboten“, erklärte ihm Kitt vorsichtig. „Ist Zuhause alles in Ordnung?“
„Bin abgehauen“, sagte Charlie schulterzuckend.
Kitt sah ihn entgeistert an – das hatte gerade noch gefehlt.
„Du bist abgehauen“, wiederholte er ungläubig. „Na fantastisch, toll, großes Kino! Und, mal an deine arme Mutter gedacht?“
Charlies ausdrucksstarke Augen richteten sich auf Kitt. „Hast du?“
„Komm mir nicht so. Ich war immer das schwarze Schaf. Dich lieben sie.“
„Papa trinkt wieder. Seit seiner Degradierung liegt er nur noch besoffen auf der Couch rum, brüllt Mama an und schimpft und...“
Kitt ging auf seinen Bruder zu. „Zwei Jahre noch, Kleiner, dann hast du dein Abi in der Tasche und kannst gehen, wohin du willst“, sagte er. „Hey, du zitterst ja. Hast du getrunken? Hast du...“
Kitt hob Charlies Kinn und sah ihm tief in die blaugrünen Augen. Alarmiert von seinen stark verengten Pupillen schnappte er sich Charlies linken Arm und krempelte den Ärmel nach oben. Ein Einstichloch befand sich in seiner ansonsten makellosen Vene. Noch ehe Charlie sich aus Kitts Griff befreien und erklären konnte, hatte er sich von Kitt eine Ohrfeige gefangen.
„Hab ich dir nicht verboten, mit diesen Opfern abzuhängen?“, fragte Kitt, so zornig wie nie.
„Das sind meine Freunde!“, sagte Charlie und hielt sich die geschlagene Wange.
„Das sind Junkies, Charlie! Meth-süchtige Wichser, die sich einen Scheißdreck um dich scheren!“
„Die wissen mehr über Gott als der Papst – deine Worte, oder?“
„Gott ist tot. Willst du auch tot sein?“, sagte Kitt und sah Charlie herausfordernd in die Augen. „Dann häng ruhig weiter mit deinen kleinen Freunden ab. Aber ich sag dir eins: Was die suchen, findet man nicht auf ’m Trip.“
„Du musst es ja wissen.“
Beide funkelten sich still an. Kitt brach als Erstes den Blickkontakt. Ja, er wusste. Sein Zorn war plötzlich wie verflogen. Er fühlte sich auf einen Schlag so unglaublich müde und einfach nur leer. Die eigenen Schmerzen waren inzwischen ganz vergessen, das geronnene Blut, das an seinem Gesicht klebte, störte ihn kaum noch. Er verspürte nur noch eine große Traurigkeit beim Anblick seines kleinen Bruders.
„Charlie“, flüsterte Kitt und streckte seine Hand liebevoll nach ihm aus. „Ich...“
Doch Charlie wehrte ihn heftig ab und eilte davon.
Kitt wollte ihm nach, doch da durchfuhr ihn ein stechender Schmerz in der Magengegend, der ihn in sich zusammensacken ließ. Kitt hörte nur noch, wie das schwere Eingangstor zum Innenhof mit einem Knall ins Schloss fiel. Und dann war Charlie in der Nacht verschwunden.
Als Kitt endlich auf seiner Matratze angekommen war, noch bekleidet und ungewaschen, spürte er, wie seine Augen feucht wurden. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit rannen Tränen sein geprügeltes Gesicht hinab. Charlie war der Einzige in seinem Leben, der Kitt heilig war. Für ihn war sein kleiner Bruder ein Engel, ein herzensguter Mensch. Und jetzt wurde auch dieser letzte gute Junge auf Erden von den weltlichen Lastern eingeholt und beschmutzt.
Verfluchte Dreckswelt! dachte Kitt noch voller Groll, ehe er in einen unruhigen, trüben Schlaf fiel.
Moses war spät dran. Es war beinahe 21:00 Uhr. Ihr häuslicher Auftritt war für 22:00 Uhr eingeplant. Dass es heute extrem knapp wurde, lag an zwei Dingen. Zum einen musste er einen Umweg über Neukölln machen, um seinen Kollegen abzuholen. Zum anderen hatte er gerade einen saftigen Streit mit Julie hinter sich, der sich vom Bad aus über die Küche, durchs ganze Wohnzimmer hindurch auf den Flur hinaus, die Treppen ihres gemieteten Reihenhauses nach unten bis zu Moes parkendem BMW E21 in der Einfahrt gezogen und mit jedem Schritt an Dramatik dazugewonnen hatte. Was vor über zwei Stunden der eigentliche Ausgangspunkt für ihren Streit gewesen war, hatte Moe inzwischen ganz vergessen. Um ehrlich zu sein, wusste er gar nicht mehr, ob es überhaupt so etwas wie einen Ausgangspunkt gegeben hatte. Seine schwangere Freundin war wohl mit der Gesamtsituation unzufrieden. Dabei versprach ihr Moe seit Monaten, dass er mit dem Strippen aufhören und sich als Trainee für Versicherungen bewerben würde. Doch der Club steckte im Sommerhoch, was sollte er also Bitteschön tun? Sie erwarteten in wenigen Monaten ein Baby, für das Moses sorgen wollte, so wie es ihm sein erzkatholischer, afrikanischer Vater gelehrt hatte. Dass Julie selbst für sich sorgen konnte, war ihm bewusst. Immerhin verdiente sie als promovierte Juristin deutlich mehr als ein Stripper. Aber wenn es nach Moe ging, sollte eine Frau sich während der Schwangerschaft und in den ersten Jahren ganz der Erziehung des Nachwuchs widmen und ihren Job erstmal hintanstellen. Ein weiterer Streitpunkt des heutigen Abends.
Jedenfalls stand Moe nun arg verspätet in seinem Stripperoutfit vor der Treppe und blickte auf Julie hinab, die ihn vom Türrahmen aus schuldvoll betrachtete.
„Baby“, sagte Moe nach einem langen Schweigen. „Baby...“
„Baby, Baby, Baby“, äffte ihn Julie finster nach. „Seit Monaten hör ich nichts anderes als Baby, ich tu das, Baby, ich tu dies. Aber nie kommt was dabei raus. Na los, dann fahr doch zu deinen Schlampen, zieh dich aus, lass dich mit Champagner übergießen und von irgendwelchen notgeilen Tussis feiern. Du scheinst es ja nötig zu haben. Ein Kind scheint dir nicht Grund genug zu sein, deinen Lebensstil zu ändern.“
„Baby“, sagte Moe erneut und biss sich auf die Lippen. „Ich verspreche dir: Das ist das letzte Mal. Danach werde ich Eve sagen, dass ich raus bin.“
Julie stöhnte sarkastisch, na klar!
Moe warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Weitere fünf Minuten waren verstrichen.
„Baby“, sagte Moe und ging zum Abschied auf Julie zu, die im Schlafanzug unterm Türrahmen stand und die Arme verschränkte. „In vier Stunden bin ich zurück. Ich liebe–“
Doch Julie hatte genug gehört. Sie wich seinem Annäherungsversuch aus und klappte vor Wut schäumend seinen lächerlichen Feuerwehrhelm nach unten. Dann verschwand sie im Haus und verschloss die Tür hinter sich.
Moes roter BMW hielt vor einer Gasse nahe der Hermannstraße, die zu Kitts Wohnblock führte. Moe hupte – ein, zwei, drei verdammte Male. Er war viel zu spät dran. Er, der mit einer Bewertung von 97% Kundenzufriedenheit mit Abstand auf Platz eins unter den männlichen Strippern Berlins war, lag fast eine Stunde im Verzug. Dazu kam noch, dass er ohnehin nur halb bei der Sache war. Die Worte von Julie hallten noch immer durch seinen Geist. Er hörte Schritte. Na, endlich!, dachte Moe und blickte aus dem Seitenfenster. Doch was er da sah, schien ihm so gar nicht zu gefallen.
Draußen stand Kitt posierend vor seinem Wagen. Natürlich hatte er sich nicht an den vorgegebenen Dresscode gehalten. Stattdessen trug er eine Art Faschingskostüm bestehend aus schwarzer Lederhose, zwei überkreuzten Nietengürteln, dunkler Lederjacke mit weißem Plüschkragen und engen Lederhandschuhen. Dazu natürlich die obligatorische Sonnenbrille, sein abstehendes Haar, Dutzende blaue Flecken und Blutergüsse im Gesicht und – was Moe am meisten störte – ein etwa anderthalb Meter langes Schwert auf dem Rücken, das wie aus einem Videospiel wirkte.
Jessie war gerade dabei, die Harfe zurück in den Kellerraum zu verfrachten, als es an der Tür klingelte. Eingehüllt in ihren plauschigen Pyjama und mit Miss Muppets in den Armen, öffnete Jessie vorsichtig die Haustüre.
„Überraschuuuuuung!“, hallte es ihr entgegen, gefolgt von Lachern und Begrüßungsworten.
Es waren Jessies Freundinnen aus dem Kirchenchor und drei weitere, die Jessie nie zuvor gesehen hatte. Angeführt von Vanessa, standen sie schön aufgebrezelt und mit Geschenken, Getränken und Partyknabberzeugs ausgestattet auf der Veranda – ready to party!
Auf Berlins Straßen herrschte wie so oft schleppender Verkehr. Moes roter BMW stand in einer wartenden Autoschlange vor einer roten Ampel. Während Moe mit den Gedanken ganz wo anders war, machte sich Kitt über die Musikanlage her und suchte nach einem Song, der seiner Stimmung entsprach. Bei Jack Lewis and the Cufoff’s The Day Neil Young Died wurde er fündig. Er drehte die Lautstärke nach oben und sang die Lyrics unter lautem Fußgetrommel gröhlend mit. Als der Song in den Refrain überging, gab es kein Halten mehr. Kitt löste den Anschnallgürtel, öffnete das Schiebedach und beugte sich mit dem ganzen Oberkörper hinaus. Für die Augen aller Autofahrer legte er eine kleine aggressive Tanznummer ein. Moe hingegen beachtete ihn nicht, sah nur besorgt auf seine Armbanduhr, dachte an seine Wertung, verzog grimmig das Gesicht, dachte an Julie, wurde noch grimmiger und hupte, hupte, hupte, bis die scheiß Ampel endlich auf Grün umschaltete.
Im Wohn-/Essraum des großen Familienhauses versammelt, saßen Jessies Freundinnen um das Designersofa herum. In einer Good-Girls-Gone-Bad Manier schlürften sie Cocktails in rauen Mengen, redeten laut Querbeet und waren in ungewohnt ausgefallener Stimmung. Im Zentrum des Trubels stand freilich Vanessa, die mit ihren älteren Freundinnen am meisten trank und am lautesten feierte. Jessie und die anderen Mädchen aus dem Kirchenchor hingegen wirkten alles andere als in Feierlaune. Jessie nippte lediglich an ihrem heißen Tee, kraulte Miss Muppets Fell und hoffte sehnlichst, dass der Abend bald in Ruhe ausklingen würde und sie sich friedvoll in ihr bereits gemachtes Bett begeben konnte.
Moes Wagen stand vor einem Polizeiwagen am Seitenstreifen. Während ein männlicher Polizist Moe im Auto einen Strafzettel wegen erhöhter Geschwindigkeit ausstellte, tastete dessen attraktive Kollegin Kitt ab. Kitt lehnte unbekümmert gegen die Motorhaube und drehte sich während der Untersuchung eine Zigarette. Am Ende kam er mit einem blauen Auge (und der Privatnummer der Polizistin) recht glimpflich davon.
Als Moes roter BMW endlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Jessies Familienhaus in Berlin Grunewald zum Stehen kam, waren sie fast eineinhalb Stunden zu spät. Moe stellte hektisch den Motor ab, während sich Kitt in aller Ruhe eine weitere Zigarette drehte. Auf der Rückbank ragte sein XXL-Schwert hervor.
„Wir sind da“, sagte Moe und kontrollierte sein Erscheinungsbild im Rückspiegel. „Das Schwert bleibt im Wagen.“
„Kein Schwert, kein Kitt“, sagte Kitt und befeuchtete das Tabakblättchen. „Als ob dein Faschingsoutfit noch nicht peinlich genug wär.“
„Erstens ist das kein Faschingsoutfit, sondern mein altes Squall Leonhart Cosplay Kostüm, auf das die Weiber übrigens total abfahren“, sagte Kitt und beendete seine Zigarette. „Und zweitens, Moe, siehst du aus wie ein Clown. Wie ein richtiger scheiß Clown.“
„Hast du ne Ahnung!“, erwiderte Moe höhnisch. „Im Gegensatz zu dir verkörpere ich die Heldenfantasie der Damenwelt schlechthin: Einen lebensrettenden, mit Testosteron geballten Modern Day Jesus.“
Kitt lachte. „Wohl eher ’n Village People 2.0“, sagte er und betrachtete Moes aufgeklebten Schnauzbart und die Porno-Sonnenbrille, die er sich aufsetzte.
„Witzig. Aber im Gegensatz zu dir weiß ich, was die Frau von heute will. Einen–“
„– ordentlichen Schwanz, genau wie die vor tausend Jahren.“
„Schon mal was von Emanzipation gehört?“, fragte ihn Moe. „Die moderne Frau erwartet das volle Programm, die ultimative Show. Als Stripper heutzutage brauchst du Modelmaße, Waschbrettbauch und die Tanzkünste eines Gene Kelly.“
Unbeeindruckt antwortete Kitt: „Kitt tanzt aber nicht. Kitt holt seinen Penis raus und besorgt's vielleicht der ein oder anderen – aber mehr ist für ihn nicht drin. Er macht das hier heute nur, damit sein Drecks-Nazi-Vermieter nicht ständig mit seiner SS bei ihm anrückt.“
Wieder vibrierte Kitts Smartphone. Auf dem Display stand „Eingehender Anruf von Nadeschda ...“ über einem Schnappschuss von einer schönen schwarzhaarigen Frau von Mitte Zwanzig, die vor einem Autoskooter auf einem Rummelplatz posierte. Kitt drückte sie weg.
„Sag ihr wenigstens, dass es aus ist“, sagte Moe. „Frag mich nicht wieso, aber die Kleine liebt dich.“
„Ach?“, fuhr Kitt auf. „Hast du das von Julie? Wie wär’s, wenn du deiner Alten mal dezent verklickerst, dass sie sich aus meinen Beziehungen raushalten soll? Jeden meiner Ficks macht sie zu ihrer verdammten BFF.“
Moe hatte genug gehört. „Komm jetzt“, sagte er genervt.
Zusammen stiegen sie aus. Moe holte aus dem Kofferraum einen tragbaren Subwoofer und eine als Feuerlöscher getarnte Nebelmaschine. Kitt hingegen griff nach seinem Schwert auf der Rückbank, schnallte sich dieses wie eine Gitarre über und zündete sich eine Zigarette an.
„Was sind wir, Kitt?“, fragte Moe auf dem Weg zur Veranda.
„Ist das ne Fangfrage?“
„Ich hab meine Hand für dich ins Feuer gelegt und Eve und meiner Verlobten versprochen, dass heute alles glatt läuft. Das heißt“, sagte Moe und stoppte Kitt mitten auf dem Weg. „Tanzen, Ja. Flachlegen, Nein. Wir sind Stripper, keine Huren.“
Ein Hund heulte auf und begrüßte die Neuankömmlinge mit einem lauten Gebelle. Einem Gebelle, das Kitt seltsam vertraut vorkam. Zum ersten Mal sah er sich in der Gegend so richtig um. Sein Blick fiel vom Nachbarshund über eine große giftgrüne Hecke hin zu einer stattlichen Vorstadtvilla mit Turm.
„Oh fuck“, sagte Kitt und biss fast seine Zigarette durch. „Ich glaub, mich fickt Fortuna.“
Moe hielt stöhnend inne. „Sag mir bitte, bitte nicht, dass einer deiner zahllosen Ficks hier haust?“
„Besser“, sagte Kitt und erinnerte sich an das blonde Mädchen, das er vor zwei Wochen aus Rachsucht an ihrem Soldatenfreund gestalked hatte. Kitt wusste nicht, wohin das Ganze führen sollte, aber der Abend hatte so eben eine neue, interessante Dimension hinzugewonnen.
„Wie seh ich aus?“, fragte er Moe, als sie auf der Veranda angekommen waren. Moe betrachtete seinen Kollegen im Licht des Hauses. Tausend kritische Worte lagen ihm auf den Lippen. Am Ende beschränkte er sich darauf, Kitt sein Make-Up Etui zu reichen.
„Mach dich auf der Toilette etwas zurecht“, sagte Moe. „Wir sind spät dran. Ich leg schon mal los. Du steigst dann im zweiten Akt ein, Szene vier.“
Da Kitt das Drehbuch für ihren Auftritt nicht gelesen hatte, hatte er keinen blassen Schimmer, wovon Moe sprach. Dennoch nickte er pflichteifrig.
„Nervös?“, fragte Moe, während sie darauf warteten, dass sich die Türe öffnet.
Kitt schnaubte. „Ist ’n Affe nervös, wenn er auf einen scheiß Baum klettert?“
Doch Moe durchschaute ihn.
„Hier“, sagte er und reichte Kitt einen Flachmann. „Schluck das.“
Dann schwang die Türe auf. Vanessa und Sophie, beide sichtlich beschwipst, baten sie kichernd hinein. Moses warf sich in Pose. Kitt spuckte nochmals herzhaft aus, nahm einen letzten Zug seiner Zigarette und folgte dann widerwillig und mit finsterem Ausdruck auf dem Gesicht.
Schwacher Rauch aus der Nebelmaschine und Mark Ronson’s Uptown Funk aus dem Subwoofer verwandelten das christliche Heim von Jessie an diesem Abend in eine sündige Feieroase. Eine erwartungsvolle Atmosphäre lag in der Luft. Die Damen saßen ums Sofa versammelt und betrachteten gebannt Moes Striptease.
Moe Valentine war ganz in seinem Element. Heiß wie eine afrikanische Sommernacht begann er seine höchst komplexe, bis in alle Einzelheiten durchdachte Strip-Nummer, die schon viele gewöhnliche Haushalte für wenige Stunden zum Kochen gebracht hatte. Er tänzelte an den unerfahrenen Mädchen vorüber, riss in einer fließenden Bewegung seine Uniform auf und offenbarte ihnen zum Vorspiel, als ersten Appetithappen sozusagen, seinen dunklen, durchtrainierten Oberkörper, bei dessen Anblick schon so manche Hausfrau die bürgerliche Beherrschung verloren hatte.
Sein Zauber verfehlte auch heute nicht die gewohnte Wirkung: Die Mädchen waren baff. Nicht nur aufgrund von Moes herausragender Darbietung, sondern auch zum großen Teil deswegen, weil es für die meisten absolutes Neuland war, das sie heute betraten. Nur Jessie hielt die Augen weitgehend gesenkt und versteckte sich hinter ihren Freundinnen und einer heißen Tasse Tee, die sie sich schützend vors Gesicht hielt, bis:
„Wer von euch Süßen ist Jessie?“, fragte Moe mit seiner tiefen Stimme.
Die anderen Mädchen machten Platz vor Jessie. Und Moe fokussierte seinen Körper auf die zukünftige Braut. Zeit für Akt zwei, dachte er, und schielte mit einem Auge hoffnungsvoll Richtung Toilette.
Während im Wohn-/Essraum die Stripshow seines Kollegen in den zweiten Akt überging, stand Kitt mit nacktem Oberkörper vorm Spiegel im Badezimmer der Havlocks und betrachtete seine unmuskulöse, magere und blasse Erscheinung.
„Das ist cool“, sagte Kitt zu seinem Spiegelbild. „Du bist cool. Scheiße, du bist perfekt!“ Kitt nahm einen großen Schluck aus dem Flachmann. Als sie das Haus betreten hatten, war Kitt, ohne die im Wohnzimmer versammelten Frauen zu begrüßen, sofort auf die Toilette geflüchtet. Seit knapp zwanzig Minuten war er nun eingeschlossen in diesem weißen bürgerlichen Traum eines Familienbades. Er hatte gepisst, sich drei Zigaretten gegönnt, den Flachmann zur Hälfte geleert und sich sogar eine kleine Prise Bobby Blues gegönnt. Einen Notproviant, den er in seiner Matratze Zuhause versteckte und für unschöne Situationen wie diese aufbewahrte. Heute wollte nichts davon ihn so richtig beflügeln. Am liebsten hätte er sich aus dem runden Fenster gezwängt, das in die Freiheit führte – doch ein Gitter war davor angebracht. Weiß der Teufel, warum. Sein einziger Weg nach draußen führte durch den Wohnraum, der heute gleichzeitig seinen Arbeitsort darstellte. Er war von Eve auf Probe angestellt. Wenn heute alles glatt ging, erhielt er eine befristete Stelle als Stripper im Außeneinsatz – also für Hausbesuche und Gigs. Im Stripclub hatte er weiterhin Hausverbot und so sollte man Kitt nur über einen Katalog buchen können.
Kitt blinzelte durch das Schlüsselloch nach draußen. Nebel verdeckte ihm die Sicht. Aber die gedämpften Begeisterungsrufe und das weibliche Gegacker sagten ihm, dass Moes Stripshow voll einschlug und im Prinzip auch ohne ihn auskam. Wenn Moes Darbietung Vorspeise und Hauptgericht zugleich für die Weiber war, dann wären sie hoffentlich so übersättigt, dass sie das Dessert Kitt nur noch aus Lust verzehren würden, nicht aber aus Hunger. So dämlich dieser Gedankengang auch war, er schaffte es, Kitt Mut zuzusprechen und den inneren Schweinehund, der ihn im Bad festhielt, mit einem Tritt in die Klöten verstummen zu lassen.
Ein letzter Schluck aus dem Flachmann, dann zog er seine Hose samt Boxershorts nach unten, griff nach seinem Schwert und verließ die Toilette halbnackt - das heißt, mit angeknabbertem Zigarettenstängel, Sonnenbrille, weißen Tennissocken und seiner offenen Lederjacke mit Fellkragen.
Moe „schenkte“ Jessie zum Höhepunkt des zweiten Akts einen heißen Lapdance, den sie steif und blinzelnd über sich ergehen ließ. Alles, was Moes Traumkörper zu diesem Zeitpunkt der Routine an Klamotten noch aufzuweisen hatte, war der Feuerwehrhelm auf seinem glattrasierten Kopf und ein pinker Tanga, der seinen Knackarsch so richtig zur Geltung brachte. Die anderen Mädchen, allen voran Vanessa, feuerten Moe weiter an. Jessie schloss schützend ihre Augen.
In all der Aufregung bemerkte kaum jemand, dass Stripper No. 2 Unterkörperfrei aus der Toilette in den Wohnraum taumelte. Erst, als er um die Couch herumschlenderte, nahmen die ersten Mädchen Notiz von Kitt und warfen ihm interessierte Blicke zu. Man war so von Moe beeindruckt gewesen, dass man die Existenz des zweiten Strippers ganz vergessen hatte.
Kitt ignorierte Moes Striptease, würdigte die Mädchen keines Blickes und ging schnurstracks weiter zu einem abgedeckten und verriegelten Klavierflügel an der großen Fensterfront. Jetzt spürte er doch so langsam die Wirkung all dessen, was er heute eingeworfen hatte. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stellte er seinen Fuß auf dem Klavierhocker ab und stützte sich posierend auf sein Schwert. Wahrlich, es war ein Bild für die Götter: Kitt, die Statue, mit Gemächt zu den Damen.
Jetzt kam auch Moe zum Höhepunkt seiner Darbietung. Keine Handbreit von Jessies Gesicht entfernt, ließ er die letzte Hülle fallen. Reflexhaft öffnete Jessie ihre Augen. Sie sah etwas großes Schwarzes vor sich baumeln – gleichermaßen vor Schock und Scham wich ihr Blick an Moe vorbei hinüber zum Klavierflügel und fand dort die nackte Gestalt des zweiten Strippers. Natürlich erkannte sie ihn sofort. Der Schreck darüber war so groß, dass sie heftig zusammenzuckte und den brühend heißen Inhalt ihrer Teetasse über Moes Ihr-wisst-schon-was ergoss.
Ein langgezogener Schmerzensschrei folgte.
Zwei Notärzte schoben Moe auf einer Liege nach draußen. Vor der Einfahrt parkte auf dem gemähten Rasen der Krankenwagen. Kitt folgte; er war noch immer halbnackt, hatte aber so viel Anstand bewiesen, sich wenigstens seine Boxershorts überzuziehen. Er bemerkte, wie viele der Nachbarn in ihre Schlafanzüge gekleidet, aus Neugierde durch die Fenster nach draußen gafften. Manche waren gar so dreist, in ihren Morgenmänteln vor die Tür zu treten, um der nächtlichen Aufregung noch näher zu sein.
Die Notärzte verfrachteten Moe in dem Sanker und eilten dann zurück ins Familienhaus der Havlocks. Kitt blieb an der Seite seines Freundes. Moe hing an einer Infusion mit Schmerzmittel und ein weißes Handtuch verdeckte seinen Intimbereich. Alles in allem gab sein bester Kumpel eine ziemlich erbärmliche, groteske Gestalt ab. Zumal er noch immer seinen Feuerwehrhelm aufhatte und der aufgeklebte Schnauzer nur noch an einer Seite seiner Oberlippe festklebte.
Mit furchtstarren Augen sah Moses Kitt an. „Jetzt ist alles aus“, sagte er ganz nüchtern. „Ich hab’s in ihren Augen gelesen. Da stand’s rot auf weiß: Wir nehmen dir deinen Penis ab.“
„Keiner nimmt dir den Penis ab“, sagte Kitt in ruhigem Ton.
Moe betrachtete ihn mit einem Funken Hoffnung. „Ja? Versprochen?“
„Naja“, revidierte Kitt jetzt, da er unter die Decke schielte und einen Blick auf Klein Moses warf. „Ist schon ganz ordentlich geschwollen.“
„Oh, Gott, Vater im Himmel!“, sagte Moe mit kalter Gewissheit. „Die werden mir mein Glied amputieren – das ist das Ende.“ Seine Stimme überschlug sich fast bei diesem grausigen Gedanken. Theatralisch ergriff er Kitts Hand. „Du bist ein guter Freund, Kitt. Ich mach dir keinen Vorwurf.“
Kitt drückte ihm freundschaftlich die Hand. „Wird schon wieder. Schwanz hoch.“
„Nein“, sagte Moe. „Das wird nicht wieder. Ich weiß nicht, ob ich das überstehe. Und ob ich das überhaupt will. Was bin ich noch ohne meinen... wie soll ich Julie noch... oh, Julie...“ Moe verstummte und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen, die noch mit Glitzerstaub und Make-Up bedeckt waren.
Kitt wusste nicht, was er sagen sollte. Moses war ein super Typ, aber er hatte die nervige Angewohnheit, sich bei jeder Kleinigkeit, die sein Äußeres betraf, in Schreckensszenarien und großes Selbstmitleid hineinzusteigern.
„Versprich mir eins“, sagte Moe mit brüchiger Stimme, nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
„Klar, Kumpel, was auch immer.“
„Wenn ich nicht mehr bin - wenn ich nicht mehr kann“, begann Moe und blickte Kitt traurig von unten an. „Wirst du dich dann um Julies Bedürfnisse kümmern?“
„Alter!“, stieß Kitt aus, wobei sein Blick auf die Infusionstube fiel, die literweise Schmerzmittel in Moes Venen pumpte. „Wieviel von dem Dreckzeugs haben die dir eigentlich gespritzt? Ich hab den Arzt-Wichsern doch gesagt, dass du nichts verträgst.“
„Das is’ mein Ernst“, lallte Moe mit triefenden Augen, „versprichst du’s?“
Kitt sah ihn entgeistert an, dann zuckte er die Achseln.
„Von mir aus. Wenn du nicht mehr kannst, werd ich mich eben um Julie kümmern. Also sexuell und so. Jetzt zufrieden?“
Kitt konnte es nicht glauben, aber Moes Augen fielen tatsächlich dankbar zu. Die Ärzte kehrten zurück.
„Sie müssen jetzt aussteigen“, sagte die Notärztin zu Kitt. „Wir bringen ihn ins Krankenhaus.“
Kitt sprang von der Ladefläche des Krankenwagens auf den Rasen.
„Bring es zu Ende, Kitt“, sagte Moe noch mit letzter Kraft zu ihm, ehe sich die Türen schlossen und der Krankenwagen davonfuhr.
Kitt suchte in seiner Lederjacke nach einer bereits gedrehten Zigarette, fand glücklicherweise noch eine und entflammte diese. Genüsslich zog er daran, während hinter ihm die Mädchen das Haus verließen und sich in alle Himmelsrichtungen verteilten. Die Party war offensichtlich vorbei, der Abend gelaufen.
Kitt überlegte. Es zählte zu seinen nützlicheren Eigenschaften, dass er aus jeder verkorksten Situation einen Nutzen zu ziehen wusste. Dann erinnerte er sich daran, dass das gar nicht stimmte. Das war lediglich ein Zitat aus Der Pate und bezog sich auf das Wesen des Don, nicht aber das seine. In Wahrheit war es so, dass Kitt bei erstbester Gelegenheit türmte und sofort das Weite suchte, wenn etwas nicht nach seinem Gusto verlief. Aber heute sollte es anders werden, dachte er. Fortuna, das alte Miststück, hatte ihn hierher gebracht. Er erinnerte sich an diesen Dreckssoldaten, der seine geliebte Betsie mit seinem Plattfuß zertrümmert hatte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die alte Wut darüber entflammte von neuem in ihm. Nein, er war noch nicht fertig mit diesem Schwein. Der würde noch dafür büßen, dass er sich mit ihm angelegt hatte.
Kitt dankte der alten Schlampe Fortuna für diese unverhoffte Gelegenheit, warf seine Kippe unachtsam auf den Rasen und drehte sich zum Haus um, in dem das unschuldige Ding hauste, das bei seinem bloßen Anblick ganz die Beherrschung verloren hatte. Easy Game, dachte der Junge, kratzte sich für alle spionierenden Nachbarn nochmals kräftig am Hintern und sprang dann zurück auf die Veranda.
Es galt mal eben, eine Prinzessin zu verführen.
Schwacher Dunst stieg aus der Nebelmaschine, der weiße Designerteppich war getränkt mit Cocktailspritzern und übersät mit Chipsresten und anderem Knabberzeug. Mit rot angelaufenen Augen lag Jessie unter einer Wolldecke auf dem Sofa. Miss Muppets schmeichelte sich tröstend an ihren Hals und schnurrte ihrer Herrin aufmunternd ins Ohr. Doch Jessie konnte heute nichts mehr aufheitern. Sie lag da, eine Hand leblos vom Sofa baumelnd, die andere zitternd am Griff des Telefonhörers. Auch wenn ihre Freundinnen sie für verrückt erklärt hatten, Jessie spürte eine Verpflichtung, ihre Eltern über das, was heute vorgefallen war, zu informieren, ehe sie es von ganz alleine oder durch die Nachbarn erfuhren.
Doch es fiel ihr schwer. Sie hatte gerade erst ihre Strafe aufgrund der vorausgegangenen Verfehlungen abgebüßt. Wie würde ihr Vater nun reagieren? Würde er sie wieder mit Schweigen strafen? Diesmal sogar länger als zehn Tage? Würde sie ein monatelanges Hausarrest auferlegt bekommen? Bei dem Gedanken, was wohl mit ihren Instrumenten im Keller geschähe, setzte ihr Herzschlag einen Takt lang aus – würde sie diese überhaupt jemals wiedersehen?
Und dann war da noch Jakob. Nervös nestelte sie an ihrem Verlobungsring. Würde er seinen Antrag zurückziehen, wenn er von ihren Eskapaden erfuhr? Hätte Jessie nicht schon all ihren Tränenvorrat für heute aufgebraucht, es würden auf der Stelle neue fließen, denn ihr Magen zog sich schon wieder zusammen und eine Welle neuer Übelkeit überkam sie. Und das, obwohl ihr die Ärzte eben erst eine Magen-Darm-Tablette und noch eine zusätzliche für die Nacht gegeben hatten. Jessie hatte sie willenlos geschluckt. Ihr Körper war müde, wollte ruhen, doch ihr Geist war weiter wie aufgewühlt, ganz durcheinander, ein Sturm aus Schuldgefühlen, Gewissenskonflikten und großer Angst vor der elterlichen Strafe tobte in ihrem Innern und ließ sie keine Ruhe finden. Sie musste etwas tun. Gebetet hatte sie schon, doch hatte Jesus ihr nicht geantwortet. Sie wusste, was Er von ihr verlangte.
Sie griff mit ihrer tauben Hand zum Wahlfeld und gab die Handynummer ihrer Mutter ein. Gerade als sie die Anruftaste drücken wollte, klingelte es an der Haustür. Jessie schreckte hoch, der Hörer entglitt ihr und landete am Boden – was war sie doch für ein schreckhaftes Kind, dachte sie. Es klingelte erneut, doch Jessie kauerte sich nur tiefer unter die Decke, unfähig sich zu erheben. Sie hoffte, wer auch immer da draußen stand – ob Freund, ob Feind – er würde einfach verschwinden. Für einen Moment war alles still, dann ertönte erneut das Klingeln an der Tür, diesmal nicht einmal oder zweimal, sondern laut im Sturm.
Jessie huschte aus dem Bett, ging auf Zehenspitzen zur Haustür und blickte durch das Guckloch auf die Veranda. Zwei dunkle Brillengläser blickten ihr entgegen. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit – so weit die Sicherheitskette es zuließ.
Draußen stand der junge Stripper mit der Lederjacke, den Boxershorts und einer neuen Zigarette zwischen den Lippen.
Leicht fröstelnd, sah er sie an.
„Ja?“, sagte Jessie, scheu wie eine Maus vor der Katze.
„Ich hab keinen Schlüssel“, war alles, was er entgegnete.
Jessie verstand nicht. „Schlüssel?“
Er deutete auf einen roten BMW, der auf der anderen Straßenseite unter der alten Eiche parkte. „Ich kann nicht fahren. Die Karre gehört Moses. Du weißt schon, dem Bruder, dem du den Schwanz abgefackelt hast und so.“
Es schüttelte Jessie bei der bloßen Erinnerung daran. Unbewusst machte sie das Kreuzzeichen. „Das tut mir ja so schrecklich Leid“, sagte sie mit sich überschlagender Stimme. „Es war ein Versehen, ich wollte doch nicht...“
Zu ihrer Überraschung grinste der Junge nur und sagte salopp: „War ja nicht meiner.“ Er beugte sich zu ihr. „Fährst du mich heim? Ich muss Hermannstraße, Neukölln. Ist gleich um die Ecke.“
Das stimmte nicht ganz. Neukölln lag so ziemlich am anderen Ende Berlins von hier aus gesehen.
Jessie schüttelte leicht den Kopf und rieb ihre müden, leicht geschwollenen Augen.
„Ich habe keinen Führerschein“, sagte sie entschuldigend. „Und kein Auto.“
Der Junge spuckte auf die Veranda und stieß einen hässlichen Fluch aus. Jessie gefiel das nicht, doch sie schwieg und hoffte, die Situation würde sich von ganz alleine klären.
Er kratzte sich am Kopf. „Kann ich dann hier pennen?“
„Hier?“, sagte Jessie völlig perplex. „Bei mir?“
„Hier bei dir“, wiederholte Kitt und beugte sich weiter vor. „Meine Sachen sind noch auf ’m Klo. Außerdem hab ich echt keinen Bock bei der Kälte durch halb Berlin zu latschen. Ist gefährlich für einen hübschen Jungen“, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Jessie zögerte. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber der Gedanke, dass ein fremder Mann, noch dazu ein Stripper, den sie vor einer Stunde nackt gesehen hatte, bei ihr im Haus schlief, während sie ganz allein war... nun, das war für unsere junge Jessie ein furchterregender Gedanke. Doch als sie sah, dass er aufgrund der Nachtkälte in seiner spärlichen Bekleidung zu zittern begann, entriegelte sie zu ihrer eigenen Verblüffung die Kette und öffnete die Tür für ihn.
„Geht doch“, sagte Kitt und betrat ohne ein Dankeswort die gute Stube. Jessie führte ihn zum Sofa. Dort wischte sie über den Bezug und rückte die Kissen für ihn zurecht. Auch wenn sie ihn dabei nicht ansah, spürte sie doch seinen Blick auf sich ruhen.
„Du kannst auf der Couch schlafen, ist das okay?“, sagte sie und drehte sich kurz um. „Hier hast du noch eine Decke. Brauchst du sonst noch etwas?“
Jessie sah ihn unsicher an. Für einen Außenstehenden war offensichtlich, dass sie zum ersten Mal alleine mit einem Jungen war. Kitt interpretierte ihren Blick jedoch anders. Die Kleine-Mädchen-Flirt-Nummer, dachte er. Er wusste, was die Kleine unter ihrer mädchenhaften Schüchternheit in Wahrheit wollte. Also ging er schnurstracks auf sie zu, packte sie grob um die Hüfte und zog sie zu sich heran für einen Kuss.
Ehe ihre beiden Lippen sich berühren konnten, hatte Jessie ihm eine kräftige Ohrfeige verpasst.
„Spinnst du?!“, sagte sie, ganz aufgebracht und rot im Gesicht.
Kitt rieb sich die Backe und knirschte mit dem geschlagenen Kiefer. Wieso mussten ihn alle eigentlich immer auf die linke Gesichtshälfte hauen? So würden seine Schrammen und blauen Flecken nie verheilen.
Er bemerkte, dass das Mädchen ihn immer noch voller Anspannung betrachtete.
„Ich dachte, ich soll mit dir schlafen“, sagte er irgendwie entschuldigend.
„Wie bitte?“, sagte Jessie eine ganze Oktave höher.
„Ich dachte, ich soll mir dir schlafen“, wiederholte Kitt langsam. „Weil, naja... also Moses meinte, ich soll’s zu Ende bringen. Deswegen hast du uns doch gebucht, oder nicht?“
Jessie schüttelte entschieden den Kopf. Sie spürte, wie ihre Augen wieder feucht wurden. Gott, warum nur musste sie jedes Mal zu weinen anfangen, wenn sie in irgendeiner Weise aufgebracht oder verstört war. Das war so peinlich. Schnell senkte sie den Blick und murmelte: „Ich muss jetzt schlafen. Gute Nacht. Schlaf gut.“
Sie drehte sich um und wollte schnell die Treppen hinauf in ihr Zimmer flitzen.
Doch der junge Stripper sagte: „Jessie, oder? Das Mädchen, das von der Bühne rannte?“
Jessie stoppte mitten auf den Treppenstufen und sah zurück. „Du erinnerst dich?“, fragte sie verwundert.
Er nickte. „Du bist hübsch, wenn du weinst. Was war los? Hausarrest oder Lampenfieber?“
„Das war nicht meine Welt“, sagte Jessie ausweichend. „Und du? Bist du weitergekommen?“
Der Junge lehnte sich lässig gegen das Treppengeländer. „Was denkst du denn“, antwortete er wie selbstverständlich. Dann streckte er ihr seine Hand entgegen und sagte: „Kitt.“
Jessie ging zu ihm hinab und reichte ihm vorsichtig die ihre. „Ist das dein Strippername oder haben dich deine Eltern wirklich Kitt genannt?“
Kitt lachte. „Wer sagt was von Eltern? Störche haben mich auf die Welt gebracht.“
„Störche? In Berlin?“, sagte Jessie ganz verdattert.
„Störche in Berlin“, sagte Kitt und sah ihr mit einem seltsamen Ausdruck in die Augen.
„Sei mir nicht böse, Kitt, aber ich muss jetzt wirklich ins Bett gehen“, sagte Jessie.
„Und mich so unbefriedigt zurücklassen?“
Jessie blickte ihn verständnislos an. „Unbefriedigt?“
„Na wie wär’s mit ’nem kleinen Gutenachtkuss? Ich schlaf so schlecht ohne“, sagte er verführerisch und hielt ihr seine linke Backe entgegen. Jessie wich einen Schritt zurück.
„Ich bin verlobt.“
Er zog seine Backe zurück und verbeugte sich spöttisch. „Mein aufrichtiges Beileid“, sagte er mit geheucheltem Bedauern. „Aber wenigstens heiratest du ja einen echten Kriegshelden. So einer wächst nicht von selbst, den muss man züchten und züchtigen, hab ich recht?“
„Du kennst meinen Verlobten?“, fragte Jessie entsetzt.
„Flüchtig“, sagte Kitt nur. „Aber der gute Jacky-Boy ist mir sofort ans Herz gewachsen.“
Ohne ein weiteres Wort der Erklärung wandte sich Kitt von ihr ab und warf sich mitsamt seiner Klamotten auf das für ihn gemachte Sofa. Er kehrte Jessie den Rücken zu und warf sich die Decke über.
Jessie stand noch eine Weile so am Fuß der Treppe und blickte ganz verdutzt zur Couch. Sie wusste nicht, was sie aus den Worten dieses Kitt machen sollte. Sollte ihr Jakob wirklich ein Bekannter des jungen Strippers sein? Das passte einfach nicht, dachte sie kopfschüttelnd und eilte schleunigst die Treppen nach oben in ihr Zimmer.
Drinnen zögerte sie. Ja, sie sollte besser die Tür verriegeln. Gesagt, getan. Doch das reichte noch nicht aus. Sie schob außerdem ihren Garderobenstuhl vor dir Tür und klemmte ihn unter die Klinke. Als sie sich endlich halbwegs sicher fühlte, kroch sie in ihr Bett und kuschelte sich an die unzähligen Plüschtiere, die seit ihrer Kindheit dort jede Nacht auf sie warteten. Sie wollte noch ein Nachtgebet sprechen, doch kam sie nicht einmal mehr über den ersten Satz des Vaterunser hinaus. Die Medikamente entfalteten ihre volle Wirkung. Das letzte Bild, das in ihrem erschlafften Geist aufblitzte, ehe sie der Schlaf einholte, war das des jungen Strippers, der nackt vor ihrem Klavierflügel stand und sie einladend betrachtete.
Ein Hahn krähte auf. Der Fernseher im Wohnzimmer lief seit etwa vier Stunden nonstop und zeigte eine Tierdoku nach der anderen. Im Wohn-/Essbereich war ansonsten alles unverändert. Überall fand man Überreste der gestrigen Party, inklusive der Nebelmaschine und des Subwoofers.
Kitt war fertig angezogen – er trug das Cosplay Kostüm von gestern samt Schwert auf dem Rücken und befestigte gerade einen Notizzettel an der Haustüre. Darauf stand in krakeliger, kindlicher Schrift: Danke, dass ich die Nacht mit dir verbringen durfte. Das macht nochmals 300,- extra. Auf die Hand, Scheck ist nicht. Kuss, K.
Natürlich galt die Nachricht dem Mädchen, das sich da oben in ihrem Zimmer verbarrikadiert hatte. Kitt hatte mindestens fünf Minuten gegen die abgeriegelte Tür gehämmert und getreten, ohne eine Antwort von ihr zu erhalten. Am Ende hatte er fluchend aufgegeben, war die Treppen nach unten gestapft und hatte beim Versuch Kakao zu machen, die halbe Küche auf den Kopf gestellt. Für einen Moment hatte er überlegt, das Chaos zu beseitigen, doch dann hatte ihn eine Fernsehdoku über das Leben auf dem Bauernhof ganz in seinen Bann gezogen. Während er also alle viere von sich gestreckt rauchend auf der Couch flackte, hatte er sich ausgemalt, auf einem Bauernhof zu leben, fernab vom hektischen Treiben Berlins. Für wenige Momente war er ganz in der Vorstellung aufgegangen, dass er, Kitt, ein gewöhnlicher Bauer in einem Dorf war, Kühe, Pferde, Hunde, Katzen und weiß der Teufel was noch alles besaß. Er hatte sich bildlich vorgestellt, wie er im Stall ackerte, auf dem Feld über die Kühe wachte, auf einem wilden Hengst ausritt und seinen kleinen Bauernkindern sämtliche handwerkliche Dinge beibrachte, über die er dann natürlich Bescheid gewusst hätte.
Das alles war schön und gut und ganze zehn Minuten war er sich sicher gewesen, dass dies sein weiterer Lebensweg war. Raus aus Berlin und in die verdammte Pampa, einen alten, abgefuckten Hof kaufen, diesen mit seinen eigenen feinen Händen renovieren und mit allem möglichen Viehzeugs ausfüllen, seinen Lebtag lang ehrlich schuften und irgendwann als gebückter, alter Sack auf der eigenen Veranda im Schaukelstuhl sitzen, während seine Kindeskinder auf seinem Schoß tollen. Als er aber langsam wieder bei klarem Verstand angekommen war, hatte er all das sogleich verworfen. Das klang nach einer Heidenarbeit und er selbst war alles, nur kein Handwerker. Außerdem, was sollte er fernab einer Großstadt am Land tun? So ganz ohne Nutten, Drogen und andere Vergnügungen, die sein Leben bis dato bestimmt und seinen Charakter gezeichnet hatten.
Ne, hatte er gedacht, sollten andere Trottel auf ehrliche Weise ihren Lebtag lang ackern – er war ein Lebemann, der die City brauchte. Und die City ihn. Und falls er doch mal seine Meinung über seinen derzeitigen Lebensstil ändern sollte, so wäre ihm eine Marihuana-Plantage mit einem als Kuhstall getarnten Bordell sympathischer.
Kitts Blick fiel auf die fette Katze, die ihn schon den ganzen Morgen lang mit ihrem Rumgeschwänzel und Rumgemiaue auf den Sack ging. Sie saß mit ihrem schwabbelnden Leib am Fenstersims, schaute nach draußen und miaute so laut, dass Kitt große Lust empfand, sie mit seinem Schwert in zwei Hälften zu teilen.
„Was ist los, Miez?“, sagte Kitt und ging zu ihr ans Fenster. „Willst du raus, oder was?“
Wieder miaute das dicke Ding. Also packte Kitt die Hauskatze grob wie eine Katzenmutter am Nacken, öffnete die Haustür und schmiss das Fellknäuel nach draußen auf die Veranda.
„Dann hau bloß ab, du Biest!“, sagte Kitt. „Lass dich von allen Katzen der Stadt mal so richtig schön durchnehmen! Und komm ja nicht als Jungfer wieder.“
Doch die Katze saß nur bewegungslos da. Kitt fluchte und gab ihr einen sanften Fußtritt, der sie aus ihrer Erstarrung löste. Wie eine Verrückte schoss sie daraufhin los und verschwand über die Einfahrt ins unbekannte Freie. Kitt sah ihr nach, wie sie in die Hecke abtauchte. Inspiriert von ihrem Anblick, stimmte er ein kleines Liedchen von einem seiner liebsten Songwriter für sie an: „There she goes again. She’s out on the streets again. She’s down on her knees, my friend. But you know, she’ll never ask you please again... Oh, you better hit her!“
Ja, Lou Reed wusste, wovon er erzählte. Eines Tages würde Kitt in seine Fußstapfen treten und den Kids in seinen Liedern vom rauen Leben auf der Straße berichten. Er warf einen letzten Blick die Treppe nach oben, trat dann ebenfalls nach draußen auf die Veranda und schlug die Türe hinter sich zu, dass es nur so krachte. Sie würden sich bald wiedersehen, davon war er überzeugt, als er sich auf der Straße von Jessies Haus entfernte und zum S-Bahnhof ging. Er wollte Charlie in der alten Schule besuchen, in der Mittagspause ein wenig mit ihm abhängen und ihm nochmals eine Ansprache in Sachen Drogen und Freunde halten. Und dem alten Moe sollte er besser auch einen Besuch abstatten.
Gegen zwölf Uhr mittags erwachte Jessie langsam aus ihrem tiefen Schlaf. Es dauerte aber noch mindestens eine weitere halbe Stunde, bis sie ganz bei Bewusstsein war. Sie fühlte sich wie gerädert. Schuld daran war vermutlich die Schlaftablette, die sie gestern eingenommen hatte. Vielleicht auch der kleine Schluck Mojito, den Vanessa ihr aufgezwungen hatte. Heute wusste sie, dass sie weder das eine noch das andere vertrug. Mit ihrem Bündel aus Plüschtieren rollte sie auf den Teppichboden. Dort döste sie in ganz entstellter Haltung weitere fünf Minuten vor sich hin, ehe sie sich endlich aufrappeln konnte.
Erst als sie den Stuhl sah, der unter ihrer Türklinke klemmte, erinnerte sie sich an den jungen Stripper, den sie nach ihrer unfreiwilligen Party ins Haus gelassen hatte und – Jessie schluckte – bei sich übernachten ließ. Ob er noch da war? Es war immerhin kurz nach Mittag. Bestimmt hatte er als Mann Verpflichtungen und war längst über alle Berge. Doch sicher war sie sich da nicht. Er wirkte so anders als die Männer, die sie kannte. Anders als ihr Vater und Jakob, die Ehrgeiz und Tatkraft täglich früh aus den Federn scheuchten. Wie ein Rehkitz verharrte sie auf der Stelle und spitzte die Lauscher. Nein, sie hörte nichts. Vermutlich war er schon vor Stunden verschwunden. Warum hätte er auch bleiben sollen?
Auf Zehenspitzen schlich sie aus dem Zimmer und betrat angespannt den Wohnbereich. Der laufende Fernseher mahnte sie erneut zur Vorsicht. An der Tür klebte ein gelber Notizzettel. Sie stapfte über das gestrige Chaos hinweg und überflog die Nachricht. Doch erst als sie buchstäblich jedes Zimmer im Haus gewissenhaft überprüft hatte, wich ihre Anspannung. Endlich allein, dachte sie und atmete erleichtert aus. Sie würde das Chaos beseitigen, alle Spuren ihrer Junggesellinnenfeier verschwinden lassen und dann das Krankenhaus aufsuchen, in das der dunkelhäutige Stripper geliefert wurde. Sie würde sich bei diesem Moe Valentine entschuldigen, ihm ein Geschenk zur Wiedergutmachung überreichen und ein Gebet oder einen schönen Psalm mit Heilungsworten für ihn sprechen. Und wenn ihre Eltern dann zurückkämen, würde sie ihnen die Wahrheit sagen. Ganz sicher. Zumindest wahrscheinlich. Jedenfalls vielleicht.
Doch jetzt galt es erst einmal Miss Muppets zu versorgen und sich für den Tag zurecht zu machen.
„Miss Muppets!“, rief Jessie auf dem Weg in die Küche. Drinnen stoppte sie und sah sich schockiert um. „Meine Güte...“
Arbeitsfläche, Herdplatten und Küchenboden waren übersät mit einem braunen Pulver. Es sah aus, als hätte ein wildes Tier darin gewütet. Für einen Moment spürte sie einen bebenden Zorn in sich aufsteigen, der dem unverschämten Typen galt, der ihr nicht nur diese freche Nachricht hinterlassen, sondern – wie sie jetzt sehen musste – auch noch die halbe Küche versaut hatte, ohne den Anstand zu besitzen, seinen Dreck wieder aufzuräumen. Was war das nur für ein Mensch, dachte Jessie, haben ihm seine Eltern keine Manieren beigebracht?
Als sie zum Katzenfutter ging, rutschte sie beinahe auf dem verstreuten Kakaopulver aus. „Miss Muppets!“, schrie Jessie ungeduldig, während sie zwei Schalen mit feinstem Bio-Katzenfutter für sie zubereitete. Komisch, dachte Jessie, sonst war sie immer sofort da, wenn es etwas zu Fressen gab.
„Miss Muppets“ rufend ging sie durch das Haus und durchsuchte ein Zimmer nach dem anderen. Als sie auch im letzten Raum keine Spur von ihrer geliebten Katze fand, war sie kurz vor einer Panikattacke. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte und die Atemwege verengten. Jessie kannte die Vorzeichen und eilte mit tränenden Augen in ihr Zimmer, wo das Asthmagerät am Nachtkästchen lag. Sie nahm einen kräftigen Zug und dankte dem Herrn für die frische Luft in ihren Lungen.
Mit neuem Atem eilte sie im Morgenmantel nach draußen und rief in der Einfahrt und im Garten nach ihrer Katze. Nichts. Sie entfernte sich weiter vom Haus, eilte durch die gesamte Nachbarschaft, fragte mit ganz verstörter Stimme Nachbarn und passierende Autofahrer, ob sie nicht ihre Katze gesehen hätten. Nach zwei Stunden des ergebnislosen Suchens kehrte sie niedergeschlagen zurück ins Haus. Der Anrufbeantworter blinkte ebenso wie das Faxgerät daneben. Mit zitternden Händen ging sie auf das Gerät zu, hörte die Nachricht ihres Vaters ab und überlegte lange, ob sie ihre Eltern anrufen und ihnen alles – von der Feier, dem Unfall, der Übernachtung des Fremden und dem Verschwinden von Miss Muppets – beichten sollte.
Mutlos verschob sie die Entscheidung. Es war schon später Nachmittag. Wie ihr die Ärzte gestern mitgeteilt hatten, endeten die Besuchszeiten des St. Hedwig-Krankenhauses in einer knappen Stunde. Und sie hatte ihrem Gott doch versprochen, sich bei dem armen Stripper in aller Ausgiebigkeit zu entschuldigen und ihm in seinem Leid so gut es ging beizustehen.
Mit einem selbstgebundenen Blumenstrauß aus weißen Orchideen, gelben Narzissen und dezentem Bindegrün betrat Jessie den Eingangsbereich der St. Hedwig-Klinik. Sie trug ihr cremefarbenes Sommerkleid und eine unauffällige Lederhandtasche, in der sich ein Kuvert befand, das Jessie im Auftrag ihres Vaters dem Hausmeister der Evangelikalen Gemeinde übergeben sollte. Sie hatte keine Zeit zum Lesen des Dokuments gehabt – dennoch war ihr das Wort „Kündigung“ sofort ins Auge gesprungen, als sie das Papier aus dem Faxgerät entnommen und in ein weißes Kuvert gesteckt hatte. Den Grund für seine Entlassung kannte Jessie nicht. Vielleicht war es ja wirklich so wie ihre Freundinnen gesagt hatten, und dieser Anton hatte tatsächlich den Namen Jesu missbraucht. So gesehen wäre ihr Vater vollkommen im Recht und es wäre besser, diesen seltsamen, schrägen Kerl mit seinen seltsamen, schrägen Ansichten von den gläubigen Gemeindemitgliedern fernzuhalten. Dennoch war Jessie unwohl dabei, dass ausgerechnet ihr die Aufgabe zufiel, die bestimmt niederschmetternde Botschaft dem armen Mann zu übermitteln. Sie hasste es, Menschen zu enttäuschen oder zu kränken oder ihnen Leid zuzufügen.
Jessie schluckte schwer, als ihr an der Rezeption die Zimmernummer von Moe Valentine mitgeteilt wurde. Schweren Herzens betrat sie den Aufzug und ließ sich in das zweite Obergeschoss fahren. Als die Türe sich öffnete, atmete sie einmal tief durch, beschloss, was auch immer sich an diesem ungewissen Tag ereignen sollte, mit offenem Herzen und festem Glauben hinzunehmen. Dann trat sie aus dem Fahrstuhl und prallte sogleich mit jemandem zusammen. Worte der Entschuldigung lagen ihr schon auf den Lippen, doch als sie sah, mit wem sie da kollidiert war und dass dieser Jemand noch dazu blöde bei ihrem verdutzten Gesicht grinste, schluckte sie alle guten Worte schnell hinunter und sagte stattdessen in beschuldigender Weise: „Du!“
„Ich“, sagte Kitt und breitete die Arme aus. „Hast du mein Geld?“
Jessie ignorierte ihn und ging kühl an ihm vorbei. „Ich möchte zu Moe“, sagte sie kurz angebunden.
„Dann gehst du aber in die falsche Richtung“, sagte Kitt.
Jessie stoppte, Mist. Sie sah sich fragend nach Kitt um, der ihr mit einladender Geste bedeutete, ihm zu folgen. Er führte sie einen Flur entlang, vorbei an belegten Krankenbetten, geschäftigen Schwestern und Besuchern der Klinik.
Kitt schenkte ihr einen Blick von der Seite. „Siehst mitgenommen aus. Ist was?“
„Ach, nichts. Miss Mup–“, sagte Jessie und korrigierte sich sogleich. „Unsere Hauskatze ist verschwunden. Ich habe schon die ganze Nachbarschaft nach ihr abgesucht.“
„So ne fette Weiße?“
Jessie sah ihn mit neuer Hoffnung an und sagte: „Ja! Das ist Miss Muppets. Sie ist zwar nicht fett, aber... hast du sie gesehen?“
„Nö, keine Ahnung“, sagte Kitt und führte sie in einen abzweigenden Korridor, der zu den Stationszimmern führte. Eine Gruppe von Ärzten kam ihnen entgegen. Alle schenkten Kitt misstrauische Blicke. Er trug noch immer sein Cosplay Kostüm.
„Ich hasse Krankenhäuser“, sagte Kitt und rümpfte die Nase beim Anblick all des Leids und der Tristesse.
„Wie geht’s ihm denn?“, fragte Jessie vorsichtig.
„Wie’s ihm geht?“, wiederholte Kitt ungläubig. „Ziemlich beschissen würde ich sagen. Die werden ihm das Teil wohl abnehmen. Höchster Verbrennungsgrad, und so. Völlig irreparabel.“
Jessie stoppte entsetzt.
„Oh Gott... aber... das wollte ich doch nicht. Ich wollte doch nur...“
Kitt blieb ebenfalls stehen und berührte sie sanft an der Schulter. „Keiner macht dir einen Vorwurf, Süße. Du hast halt was gesehen, das dir gefallen hat, schätz ich?“
Jessie warf ihm einen bitterbösen Blick zu. „Das hättest du wohl gerne.“
„Was soll eigentlich das ganze Grünzeug da?“, sagte Kitt und deutete naserümpfend auf die Blumenpracht in Jessies Händen.
„Die sind für Moe“, sagte Jessie bestimmt.
„Tja“, entgegnete Kitt, „davon wächst sein Pimmel leider auch nicht nach.“
Sie blieben vor einer Tür zu einem der Krankenzimmer stehen. Jessie, die ahnte, dass es jetzt so weit war, wurde plötzlich sehr nervös und ängstlich. Sie wusste ja, dass es übel um ihn stand, doch dass es so schlimm war...
„Kannst du ihm die bitte geben?“, sagte sie zu Kitt und hielt ihm den Blumenstrauß entgegen. „Und sag ihm bitte, dass es mir unendlich Leid tut und dass ich jede Nacht – wirklich jede Nacht – für ihn beten werde.“
Kitt griff an den Blumen vorbei nach dem Kuvert, das aus ihrer Handtasche guckte. „Ist da Kohle drin?“
„Finger weg!!“, schrie Jessie, kurz davor, ihm eine zu kleben.
Die Krankenzimmertür flog auf. Eine schöne Brünette trat zu ihnen hinaus auf den Gang. Sie trug eine schicke Business Suite, die ihren Babybauchansatz kaschierte.
„Mensch, was ist das denn für ein Geschrei bei euch?“, sagte Julie. Ihr Blick fiel auf Jessies feuchte Augen. „Oh, Darling! Nicht doch. Hat er dich belästigt?“
„Quatsch, hab ich nicht“, sagte Kitt sofort. „Darf ich vorstellen? Jessie, das ist Julie – Moes Verlobte. Julie, das ist natürlich das Mäuschen, das unsern Kater kastriert hat.“
„Ich habe Blumen mitgebracht“, sagte Jessie ohne Julie anzusehen.
Julie wandte sich an Kitt. „Schätzelein, sei einmal ein braver Junge und bring Momo die Blumen, ja?“
„Wieso ich?“, blaffte Kitt.
„Weil ich ein Wörtchen mit der jungen Dame hier sprechen möchte. Allein.“
„Aber ich will da nicht rein! Der alte Pfaffe ist immer noch drin und hält Moes Hand. Und was zum Teufel soll er überhaupt mit so blöden Blumen? Bring sie ihm doch selber“, sagte Kitt und griff in seiner Jackentasche reflexhaft nach einer Zigarette.
Julie schnappte sich die Kippe und steckte sie demonstrativ in ihre Tasche. Kitt sah sie vorwurfsvoll an. Julie verschränkte streng die Arme und zog ihre Augenbrauen in stiller Forderung erwartungsvoll nach oben.
Kitt gab klein bei. „Von mir aus“, sagte er widerwillig, entriss Jessie die Blumen und knallte die Zimmertür hinter sich zu.
Nun da Jessie alleine mit Julie war, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. „Ich fühle mich so schrecklich deswegen. Du musst mich hassen... Gott, ich hasse mich ja selbst deswegen. Du hast jedes Recht der Welt, mich–“
Ehe Jessie zu Ende reden konnte, hielt Julie sie in inniger Umarmung. „Der Himmel hat dich geschickt“, sagte sie und drückte Jessie dankbar an sich. „Oh, versteh mich nicht falsch. Ich liebe meinen Momo und will ihm nichts Böses, aber das war schon lange überfällig.“
„Ihm den Penis abzunehmen?“, sagte Jessie verständnislos.
Julie sah sie schräg an. „Wie bitte?“
„Der Junge“, sagte Jessie hastig und lief rot an. „Also Kitt meinte, dass... also...“
Julie verstand sofort. „Du solltest nicht alles glauben, was er sagt. Am besten hörst du gar nicht erst hin. Momo wird morgen entlassen, aber du kennst ja die Männer! Bei jedem Wehwehchen, und besonders wenn’s um ihr vermeintlich bestes Stück geht, werden sie ganz theatralisch. Willst du mal was komisches sehen?“
Jessie fiel ein Stein vom Herzen. Still nickte sie, woraufhin Julie mit einem breiten Grinsen die Tür zum Krankenzimmer öffnete. Drinnen lag Moses ausgestreckt im Bett. Aber er war nicht alleine. Um ihn herum versammelt stand eine männliche Trauergemeinde, die ihm wie einem Sterbenden Beistand leistete. Ein katholischer Pfarrer hielt dabei seine Hand und murmelte ein herzzerreißendes Dankgebet an die Herrlichkeit Gottes, so als wäre Moses gerade so dem Tod entkommen. Die beiden Frauen mussten sich das Lachen verkneifen, so lächerlich wirkte die Szene der Männer auf sie. Jessies Blick fiel auf Kitt, der an einer Zigarette kauend abseits am Fenster saß.
Julie schloss die Türe; sie hatte Jessies Blick bemerkt.
„Verlieb dich nicht zu schnell in ihn – das gibt nur Ärger“, sagte sie. Und ehe Jessie protestieren konnte, fügte sie verständnisvoll hinzu: „Wir haben eine Schwäche für Rebellen. Wir glauben, wir könnten sie erziehen, ihnen die Wut nehmen und sie zum Besseren verändern.“ Julie seufzte. „Es ist unser Fluch. Am besten, du vergisst ihn.“
Jessie verließ das Krankenhaus erst am frühen Abend, nachdem sie mit Julie noch einen Milchshake im klinikinternen Café getrunken hatte. Eigentlich sollte sie längst wieder Zuhause sein, um das Haus zu säubern und nach ihrer Katze zu suchen – die Eltern würden morgen Nachmittag von ihrem Wochenendausflug zurückkehren. Doch sie hatte die Gesellschaft von Moes Freundin sehr genossen. Immer hatte sie sich eine ältere Schwester gewünscht, eine, von der sie lernen konnte und die ihr in schwierigen Lebenssituationen mit Liebe und Erfahrung zur Seite stand. Bei Julie hatte sie das Gefühl, endlich fündig geworden zu sein. Julie hatte ihr ihre Privatnummer gegeben und ihr angeboten, sie könne sich jederzeit bei ihr melden. Außerdem hatte sie Jessie nochmals ans Herz gelegt, Kitt zu meiden, da dieser – wie Julie behauptet hatte – ein Auge auf sie geworfen hätte.
Draußen angekommen stoppte Jessie überrascht. Vor einem Springbrunnen in der hiesigen Parkanlage posierte Kitt in seinem Cosplay Outfit vor einer Gruppe asiatischer Touristen, die begeistert Fotos von ihm schossen, während er mit seinem Schwert Lufthiebe für die Kamera austeilte. Diese untermalte er mit japanischen Kampfschreien, die er vermutlich aus irgendwelchen fernöstlichen Martial-Arts-Filmen aufgeschnappt hatte. Erst als Kitt Jessies Blick bemerkte, hielt er inne, verabschiedete sich mit einer finalen Pose von den Beifall klatschenden Touris und eilte Jessie nach, die schnellen Schrittes zum nächsten U- Bahnhof unterwegs war.
Als er sie eingeholt hatte, sagte er mit spöttischer Stimme: „Scheinst dich ja gut mit Jules zu verstehen. Nichts verbindet zwei Weiber mehr als das Leid ihrer Männer, was?“
Jessie ignorierte ihn, in der Hoffnung, er würde so das Interesse an ihr verlieren. Doch Fehlanzeige. Kitt zündete sich eine neue Zigarette an und hielt weiter Schritt mit ihr.
„Verfolgst du mich?“, sagte sie und kniff Augen und Nase ob des widerlichen Zigarettenrauchs zusammen, den der Wind mitten in ihr Gesicht wehte.
„Willst du das?“
„Bestimmt nicht.“
Kitt griff in seine Jackentasche und streckte ihr einladend etwas entgegen. Angewidert stellte sie fest, dass es sich dabei um einen hochglanzpolierten Flachmann handelte wie ihn die alten Säufer für gewöhnlich mit sich rumtrugen.
„Wir könnten einen draufmachen“, sagte er und hielt ihr das Edelstahlteil vors Gesicht.
„Danke“, sagte Jessie missbilligend, „ich bin beschäftigt.“
Kitt prostete ihr zu. „Ein Hoch auf die Geschäftigkeit!“ Er nahm einen ordentlich Schluck. „Wohin gehen wir eigentlich?“
„Wir gehen nirgendwohin“, sagte Jessie leicht genervt. „Ich muss jemandem einen Brief von meinem Papa geben.“
„Klingt ja megaspannend“, brachte Kitt unter einem herzhaften Gähnen hervor. „Und wo finden wir Herrn Jemand?“
Das war leider eine gute Frage. Denn Jessie wusste nichts genaues über den derzeitigen Wohnort von Anton. Ihr Vater hatte ihr keine Adresse hinterlegt und im Gemeindezentrum war er heute nicht eingeteilt. Ehrlich gesagt, wusste Jessie nicht viel über diesen Anton – nur, dass er ständig auf einem alten Fahrrad unterwegs war und neben seiner Tätigkeit als Hausmeister noch im Zirkus arbeitete.
„Irgendwo am Jahrmarkt“, sagte sie schließlich und klang alles andere als davon überzeugt.
Ihre Antwort veranlasste Kitt zum Stehenbleiben. „Am Jahrmarkt?“, fragte er, so als würde es sich dabei um etwas ganz Ekliges handeln.
„Vermutlich, ja“, sagte Jessie, überrascht über die Abneigung, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. „Magst du keine Jahrmärkte?“
Kitt rümpfte die Nase und spuckte kräftig aus. „Machst du Witze? Ich hasse sie.“
„Gut“, sagte Jessie schnippisch, „dann kannst du ja jetzt aufhören, mir nachzulaufen.“
„Ist doch bescheuert“, sagte Kitt und lief ihr nach. „Wenn ich schon für organisiertes Vergnügen blechen muss, dann doch lieber bei ’ner Nutte als ’nem Clown – oder wie siehst du das?“
Obwohl Jessie ihm auf ihrem weiteren Weg keinerlei Beachtung schenkte, verfolgte sie der Junge wie eine Klette zum Rummelplatz. Zu dieser frühen Abendstunde herrschte Prime Time am Jahrmarkt. Hunderte von Familien mit ihren Kindern jagten von Vergnügung zu Vergnügung, kreischten in schwindelerregenden Achterbahnfahrten, fuhren mit Autoskootern wie die Verrückten gegeneinander, kauften mit Helium befüllte Luftballons und schleppten erkämpfte Plüschtiere in allen möglichen Größen mit sich herum. Als Pärchen oder als Familie konnte man hier ohne Frage eine spaßige Zeit verbringen. Für Jessies Geschmack waren deutlich zu viele Menschen auf einem zu geringen Raum unterwegs. Ständig musste sie auf dem engen Gelände rennenden Kindern, aberwitzigen Clowns und siegessicheren Jugendgruppen ausweichen. Im Zickzack mühte sie sich durch das unübersichtliche Gewühl, immer Ausschau haltend nach einer Spur von Anton, der hier angeblich jedes Wochenende an einem der über hundert Stände als Nebenerwerb irgendwelchen Krimskrams verhökerte.
Kitt hingegen störte das Gedränge keineswegs. Ausgestattet mit einer Zuckerwatte in der einen Hand und einer brennenden Zigarette in der anderen, folgte er der herumirrenden Jessie über das Vergnügungsgelände. Ähnlich wie Jessie hielt auch er Ausschau nach jemandem, doch nicht um diesen Jemand zu finden, sondern ihm aus dem Weg zu gehen. Immer wieder ertappte er sich selbst dabei, wie er das blonde Mädchen von hinten musterte. Sein Blick wanderte interessiert von ihren nackten Schenkeln über die Hebung ihrer Pobacken hin zu ihrem im Wind wehenden blonden Haar, das immer wieder mal einen Blick auf ihr ebenmäßiges Gesicht zuließ. Kitt gab es nur ungern zu, aber ihm gefiel, was er sah.
Jessie hingegen tat, als bemerkte sie nichts davon. Insgeheim aber fühlte sie sich geschmeichelt. Doch als er zu ihr aufschloss und ihr einen Zug seiner Zigarette anbot, lehnte sie dankend ab. Kitt warf den abgebrannten Stängel zu Boden und versuchte in einer fließenden Bewegung den freigewordenen Arm um ihre Schultern zu legen. Reflexhaft duckte sich Jessie und wich seinem Annäherungsversuch aus. Mit Genugtuung hörte sie, wie er enttäuscht aufstöhnte, als sein Arm ins Leere wanderte. Zu guter Letzt bot er ihr etwas von seiner Zuckerwatte an. Jessie liebte Süßes, von daher war sie geneigt, davon zu kosten. Doch ob Absicht oder Versehen – gerade als sie ihre Zunge nach der süßen Wolke ausstreckte, stolperte Kitt, und die Zuckerwatte klatschte gegen ihr Gesicht. Jessie schimpfte und tobte, während sie sich das verklebte Gesicht mit etwas Spucke und einem Reinigungstuch aus ihrer Handtasche abwischte. Kitt aber nutzte – opportunistisch wie er war – schamlos ihre Unaufmerksamkeit aus und schleckte ihr mit seiner langen Zunge über die Wange. Empört stieß sie ihn von sich, konnte sich aber ein Lächeln nicht ganz verkneifen. Also versuchte es Kitt erneut, doch diesmal war sie vorbereitet. Sie hielt ihn auf Armeslänge von sich und als er gar zu stürmisch für sie wurde, schubste sie ihn entschieden von sich, machte kehrt und flüchtete spielerisch vor ihm durch die Menschenmenge über den Festplatz, wobei sie immer wieder vielsagende Blicke auf ihn zurückwarf.
Kitt verfolgte sie durch ein stillstehendes Karussell, über einen Autoskooter in Betrieb und vorbei an einer Kindergartengruppe mit farbenfrohen Luftballons, bis er sie schließlich im Getümmel aus den Augen verlor. Auf der Suche nach ihr drehte sich Kitt um die eigene Achse, doch nirgends war eine Spur von ihr. Sie war ihm entwischt, dachte er mit wölfischer Enttäuschung.
Jemand tippte ihn von hinten an der Schulter. Kitt fuhr herum. Da stand sie, mit ganz roten Backen und hinterm Rücken verschränkten Armen. Auf ihrem Gesicht lag ein fast kindliches Lächeln. Noch ganz außer Puste beugte sie sich zu ihm und kostete von seiner Zuckerwatte.
Die Magic Hour neigte sich langsam aber sicher dem Ende. Noch hielt sich die Sonne schwach überm Horizont und badete Berlin und seine Bewohner in ein wonniges, rotes Licht. Doch bald würde sie Platz machen für die anbahnende Dunkelheit. Dieses Wechselspiel zwischen Tag und Nacht, Licht und Finsternis, war immer ein besonderes Erlebnis für jene Seelen auf unserer Erde, die im geschäftigen Treiben der Welt den Blick für wahre Schönheit noch nicht verloren hatten.
Heute spürten unsere beiden Helden gleichermaßen, wie der Lärm der Welt zu dieser magischen Stunde einer ausgeglichenen Ruhe im Herzen wich. Jessie und Kitt standen vor einer erleuchteten Geisterbahn und schleckten abwechselnd vom Rest der Zuckerwatte. Jessie hatte ihre Verpflichtungen inzwischen ganz vergessen, so angenehm war ihr Kitts Gesellschaft in der letzten Stunde gewesen. Und Kitt, der normalerweise nichts von schnellen Achterbahnen und dergleichen hielt, hatte sich trotz großer Höhenangst zu einer gemeinsamen Fahrt mit dem Riesenrad bereit erklärt. Nach der fünfminütigen Höhentour war Kitt so unsicher auf den Beinen gewesen, dass er sich bei Jessie einhaken musste. Zum Ausklang hatten sie dann noch eine gemeinsame Runde über den Platz gedreht und bei traditionellen Kirmes-Spielen Dutzende Trostpreise eingeheimst.
Jetzt waren sie beide müde. Schweigend lehnten sie gegen ein Stahlgeländer und genossen das Treiben der Menschen um sich herum. Erst das unvermittelte Auftauchen eines etwa zehnjährigen Jungen in Jeansshorts und gestreiftem T-Shirt ließ sie aufsehen. Der Junge trug ein auffallend großes Plüschtier auf dem Rücken, das er sich wie einen Schulranzen umgebunden hatte.
„Hallo“, sagte der kleine Junge zu ihnen.
„Hey...“, entgegnete Kitt, wobei es mehr wie ein "Verzieh dich" klang.
„Können wir dir helfen?“, fragte Jessie und beugte sich zu ihm herab.
„Ich habe meinen Geldbeutel heute in der Schule verloren“, sagte der Junge und blickte betrübt zu Boden.
„Oh, du Armer!“, sagte Jessie mitfühlend.
„Tja, da können wir auch nichts machen“, sagte Kitt knapp. „Sonst noch was?“
Der kleine Junge nestelte an etwas herum, das er in seinen Händen verborgen hielt. „Guckt mal, ich hab eine Feder gefunden!“, sagte der Junge, so, als wäre es alles.
Jessie betrachtete die Feder fasziniert. Sie war schneeweiß und elegant gerundet, vielleicht hatte sie einmal einem Schwan gehört. Oder einem Weißstorch.
Kitt hingegen wirkte wenig interessiert. „Ganz toll“, sagte er gelangweilt.
Der Junge sah Kitt mit seinen hellblauen Augen durchdringend an. „Federn findet man selten“, sagte er voller Stolz. Und mit diesen Worten verließ sie der kleine Junge so unverhofft wie er gekommen war. Jessie sah ihm nach, und sah doch nur das übergroße Plüschtier auf seinem Rücken, das zunehmend kleiner wurde und schließlich ganz in der Menge untertauchte.
„So eines wollte ich schon immer“, sagte Jessie.
„Ist doch nur ein Kind“, erwiderte Kitt.
Jessie lachte. „Nicht das Kind! Das Plüschtier.“
„Soll ich dir eins schießen?“
„Ein Plüschtier?“
„Von mir aus auch ein Kind.“
Auch wenn es ganz offensichtlich als Scherz gemeint war, schüttelte Jessie ernst und energisch den Kopf.
„Ich weiß, dass es gegen Gottes Willen verstößt, aber ich möchte keine Kinder. Noch nicht. Meine Mutter“, sagte Jessie und hielt kurz inne, „sie war eine so schöne, talentierte Frau. Und dann heiratete sie und bekam mich und Luke und Sarah. Und jetzt...“ Sie verstummte. „Möchtest du einmal Kinder haben?“
„Ich bin Musiker, Baby“, sagte Kitt. „Meine Songs sind meine Kinder.“
Jessie sah ihn amüsiert an. „Hast du einen Liebling?“
„Sein Name ist Bobby, Bobby Blues. Ein aufgeweckter Bub – frech, verachtend, destruktiv. Die meisten können ihnen nicht besonders leiden, aber ich weiß, dass er es eigentlich gar nicht so übel mit der Welt meint.“
Tausend kleine Lichter von der Geisterbahn wanderten über Jessies Gesicht. Kitt sah sie ganz fasziniert an. Dann kam ihm eine Idee. Er berührte Jessie mit beiden Händen an den Seiten und drehte sie etwas hin und her, bis ihr Gesicht schön im Licht war.
„Was hast du vor?“, fragte Jessie und ließ ihn gewähren.
„Ich mach ein Bild von dir, jetzt halt mal still.“
„Aber ich bin nicht fotogen!“, protestierte sie schwach.
Kitt schenkte ihr ein Lächeln. „Engel kann man auch nicht fotografieren – die muss man malen! Leider hab ich nur das“, sagte Kitt bedauerlich und kramte sein zerkratztes Smartphone hervor. „Dreh dich etwas. Nein, andere Richtung. Kinn hoch. Gut. Jetzt sieh mich an.“
Jessie tat wie geheißen. „Wie sehe ich aus?“, fragte sie unsicher.
Kitt nahm seine Sonnenbrille ab, um sie besser zu betrachten. „Mädchen“, sagte er, „du bist die Sonne.“
Das entlockte der jungen Jessie ein wunderbares Lächeln, das Kitt mit einem Knipsen seines Handys festhielt.
„So hat mich noch niemand genannt“, sagte Jessie entzückt.
Beide sahen sich an.
Oh, this magic moment! It could last forever, forever till...
„Mich schon“, sagte plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihnen. Sie gehörte einer schönen schwarzhaarigen Frau, die Dutzende bunte Luftballons hinter sich herzog. Es war Nadeschda, eine Psychologiestudentin, die ihr Studium hier am Rummel als Luftballonverkäuferin finanzierte. „Hey Kitt.“
Für einen Moment stand Kitt wie vom Donner gerührt zwischen beiden Frauen. Mit vor der Brust verschränkten Armen funkelte Nadeschda ihn an. Dann machte Kitt auf dem Absatz kehrt und schoss davon. Nadeschda, die mit einer solchen Reaktion gerechnet hatte, setzte ihm sogleich nach.
Jessie aber blieb ahnungslos zurück und wusste nicht, wie ihr geschieht.
Kitts Fluchtversuch endete nach nicht einmal zweihundert Metern vor einer Schießbude, wo ordentlich mit Luftgewehren geballert wurde. Keuchend lehnte er sich gegen die Holzfassade – er hatte einfach zu viel von der Zuckerwatte genascht; seine überforderte Raucherlunge erledigte den Rest. Nadeschda fand ihn mühelos und baute sich vor ihm auf. Ihr Schatten wanderte über Kitts gebeugten Körper, der hustend nach Luft rang.
Wie aus der Pistole geschossen, fragte sie ihn: „Wer war das Mädchen? Kennst du sie?“
Kitt sah zu ihr auf. „Nie gesehen, ehrlich.“
Ihre Miene verfinsterte sich. „Seit drei Wochen versuche ich dich zu erreichen. Du gehst nicht an die Tür, reagierst nicht auf meine Anrufe... schläfst du mit ihr?“
Kitt griff in seiner Jackentasche nach der Zigarettenpackung, während er irgendwelche Worte vor sich hin murmelte: „Sie heißt Le–, Quatsch, Lola. Wir sind seit zwei Jahren ein Paar. Sie ist schwanger. Wir müssen heiraten. Ich wollt’s dir früher sagen, ehrlich, aber–“ Kitt unterbrach sich selbst. Die Packung war leer. „Du hast nicht zufällig ne Kippe für mich?“
Nadeschda blickte ihn mit einer Mischung aus Verletztheit und Zorn an. Doch da war auch etwas weiches in ihren Zügen, eine vage Hoffnung. „Hast du mich je geliebt?“, fragte sie ihn freiheraus.
Kitt schmiss die leere Zigarettenschachtel angenervt zu Boden. Teufel, wie er diese Frage hasste!
„Was habt ihr alle mit euerm Geliebe?“, sagte er etwas zu abwertend, wobei er sich selbst nicht gerade wie ein Ehrenmann vorkam. Und doch, sie hatte gefragt, also sollte sie auch eine ehrliche Antwort erhalten. „Nein, hab ich nicht. Hast du jetzt ne Kippe, oder nicht?“
Das saß. Einen Moment lang sah es ganz so aus, als würde ihm Nadeschda entweder eine kleben oder aber auf der Stelle in Tränen ausbrechen. Doch sie war eine starke Frau. Und stolz. Sie würde sich nicht vor diesem Dreckskerl in aller Öffentlichkeit in Verlegenheit bringen lassen. Sie schluckte beides – Trauer und Zorn – hinunter und kramte in ihrer Handtasche nach einer offenen Zigarettenschachtel, öffnete den Verschluss und schleuderte sie Kitt entgegen. Kitt versuchte sie im Flug zu fangen, griff jedoch ins Leere. Mit tiefer Befriedigung sah Nadeschda mit an, wie alle Stängel am dreckigen Boden landeten. Doch das hielt Kitt nicht davon ab, sich hinzuknien und eine nach der anderen aufzuklauben...
Nadeschda sah ihn von oben herab an. „Du bist erbärmlich“, sagte sie kühl und mit einer Spur von Belustigung. „Erbärmlich und kalt.“
„So?“, sagte Kitt nur und klaubte weiter die Zigaretten auf.
„Traurig ist nur, dass du dich deswegen auch noch für etwas Besseres hältst. Weil du im Gegensatz zu uns Normalsterblichen keinen Schmerz fühlst, kein Leid kennst. Aber dafür weißt du auch nicht, wie sich wahres Glück anfühlt.“
„Sonst noch was?“
Nadeschda lachte laut auf. „Du bist ein Feigling. Einer, der keine Liebe in sich trägt, der unfähig ist, etwas von sich zu geben.“
Tausend gehässige Worte lagen Kitt zur Erwiderung auf der Zunge. Am Ende sah er unberührt auf und fragte tonlos: „War’s das jetzt mit der Diagnose?“
Doch Nadeschda war noch lange nicht fertig mit ihm. Im Gegenteil, sie nahm jetzt erst so richtig Fahrt auf. „Gott, du hältst dich ja für so unwiderstehlich“, sagte sie voller Hohn. „Mit deiner blöden Brille, die du dauernd trägst. Aber du bist nicht Bowie oder Hendrix oder wie auch immer deine Helden heißen. In Wahrheit bist du sogar ziemlich hässlich. Das merkt man leider erst, wenn man mehr als eine Nacht mit dir verbringt. Andere Menschen blühen mit der Zeit auf – stell dir vor: Die geben etwas von sich! Du? Du gibst den Menschen nichts, noch nicht einmal deinen wahren Namen.“ Sie seufzte gespielt. „Du verwelkst.“
Kitt hatte inzwischen alle Zigaretten vom Boden aufgesammelt. Er steckte sich eine einigermaßen saubere davon zwischen die Lippen und erhob sich. „Betsie lieb ich“, sagte er mit kleinlauter Stimme.
Nadeschdas harte Züge erweichten sich etwas. Ja, dachte sie, wenn er wirklich emotional an etwas auf Erden hing, dann an seiner billigen Gitarre, die er wohl seit seiner Jugend besaß. „Was bist du doch für ein dummer, kleiner Junge?“, sagte sie fast mütterlich. „Und wie du wieder aussiehst...“
Nadeschda tat einen Schritt auf Kitt zu und strich mit ihren langen Fingernägeln über sein mit Zuckerresten verschmiertes Gesicht. Er ließ es geschehen. Und noch ehe er etwas einwenden konnte, beugte sie sich zu ihm und küsste ihn sehnsüchtig auf die Lippen. Die Zigarette fiel dabei zu Boden. Kitt erwiderte den Kuss, drückte sie fester an sich, bis:
„Lass es uns noch einmal versuchen, ja?“, sagte Nadeschda unter wilden Küssen. „Ich bin gut für dich... ich kann dir helfen... du brauchst mich. Ich liebe dich...“
Doch Kitt fühlte sich mehr als unwohl aufgrund ihrer Klammerei. Das war immer das Problem gewesen. Bereits bei ihrem ersten Date hatte sie unnötig viel an seinem Arm gehangen und ihm keinerlei Freiraum gelassen. Dann – nach ihrem ersten gemeinsamen Mal – hatte sie Kinderwünsche geäußert, gemeinsame Zukunftspläne geschmiedet und was von Zusammenziehen gesäuselt. Wie selbstverständlich hatte sie außerdem von ihm verlangt, dass er gleich am Morgen danach ihre Eltern beim Brunch kennenlernen und mit ihnen zusammen Urlaub auf ihrer absoluten Lieblingsinsel Rügen machen sollte. Kitt hasste Brunchs und Kitt hasste Rügen. All das, was ihn während ihrer kurzen gemeinsamen Zeit so sehr gestört hatte, spürte Kitt in dieser einen Umklammerung.
Er befreite sich aus ihrem bedürftigen Griff.
„Wir sind fertig, Nadja“, sagte er bestimmt, und fügte etwas milder noch ein "Sorry" hinzu.
Doch sie wollte es einfach nicht verstehen. Als er sich abwenden wollte, hielt sie ihn erneut am Handgelenk fest. Kitt musste fast handgreiflich werden, um sich von ihr loszureissen. Schließlich gab sie auf und er hatte endlich Gelegenheit, zu verschwinden. Mit Tränen in den dunklen Augen sah sie dem Kerl nach, der ihr die so lange aufgesparte Jungfräulichkeit geraubt hatte. In ihrer Verletztheit bemerkte sie nicht einmal, wie ihr einige der Luftballons entglitten und gen Nachthimmel davonflogen.
Wie dumm sie war! dachte Jessie, als sie sich wie ein verwundetes Kitz durch den dichten Strom der Menge Richtung Jahrmarktausgang drängte. Gott hatte ihr einen wunderbaren Ehemann geschickt, und kaum war dieser einmal aus der Stadt, gab sie sich dem erstbesten Grobian hin und ließ auch noch zu, dass dieser sie verletzte. Der Brief ihres Vaters an diesen Anton war ihr in diesem Moment ganz gleich. Sie wollte keine Sekunde länger an diesem gottlosen Ort verweilen, wo sich auch dieser... dieser... Jessie fiel nicht mal ein passendes Schimpfwort für diesen Kitt ein. Für eine kurze Zeit hatte sie geglaubt, er sei hinter seiner Fassade ein ordentlicher Junge, dem ihre Freundschaft gut getan hätte. Jetzt wusste sie, dass alles nur gespielt war! Er war ein Verführer, wie ihre Mutter sagen würde. Jemand, den sie aus Dutzenden Liebesromanen und Schurkengeschichten kannte. Einer, der nicht zu einer festen Bindung in der Lage war, da ihm der Glaube an Gott und die Liebe zum Leben fehlte. Er war unverkennbar einer dieser Menschen, die nur an sich selbst dachten. Und so einen hatte sie an sich herangelassen!
Jessie schämte sich in Grund und Boden für ihr naives Wesen.
Auf ihrem Weg zum Ausgang stieß sie gedankenversunken mit sämtlichen Menschen zusammen. Immer lauter wurde die Geräuschkulisse um sie herum. Da waren schreiende, weinende, jauchzende Kinder; brüllende, preisende, verärgerte Budenbesitzer; tausend Schüsse aus den Schießbuden, tausend kollidierende Autoskooter und eine Symphonie angsterfüllter Schreie aus den Geisterbahnen. Die Farben um sie herum wurden mit jedem Schritt intensiver, fingen bald an zu glühen und sich miteinander zu vermischen. Der Strom der Masse wurde mit jeder Sekunde schneller und abrupter – gleich einer Lawine, gegen die nichts und niemand sich wehren konnte. Jessie fasste sich schmerzhaft an die pochende Stirn. Alles um sie herum fing plötzlich an, sich zu drehen. Weiße Flocken erschienen vor ihrem Sichtfeld. Blind wie sie war, ließ sie sich durch fremde Hände weiter vorwärts drängen, bis sie schließlich mit einem furchterregenden Clown zusammenprallte und zu Boden taumelte. Das schauderhafte Lachen des Maskierten verfolgte sie noch, selbst als dieser lange schon verschwunden war. Unfähig sich zu bewegen, blieb sie kauernd am Boden sitzen und hielt sich die Arme schützend über den Kopf. Wie so oft in letzter Zeit beschleunigte sich ihr Atem, das Herz raste und sie spürte, wie eine Welle der Panik über sie hereinbrach.
Eine sanfte Berührung an der Schulter ließ sie durch die verschränkten Arme aufsehen. Über ihr stand Kitt als einziger Ruhepol in dem gesichtslosen Strom der Masse. Er hielt ihr seine ausgestreckte Hand entgegen.
Jessie zögerte.
„Was willst du von mir?“, fragte sie atemlos.
„Dich entführen“, sagte Kitt ohne eine Spur von Hohn.
Sie kniff die Augen zusammen. „Wohin?“
Kitt nahm die Brille ab und sah mit seinen dunkelbraunen Augen in die ihren. „In meine Welt.“
Jessie spürte, wie um sie herum langsam Ruhe einkehrte. Der Geräuschpegel sank, die Farbenwelt beruhigte sich und der Strom der Menschen verlangsamte. Auch ihre Atmung und ihr Herzschlag normalisierten sich wieder.
Jessie sah unsicher zu ihm auf. „Okay“, hörte sie sich selbst sagen.
„Sicher?“, fragte Kitt.
Jessie schüttelte den Kopf: „Nein.“
Dann ergriff sie seine Hand. Viele passierende Menschen warfen dem ungleichen Paar Blicke zu. Vor allem die Kinder deuteten ganz begeistert auf sie. In ihrer beiden Outfits wirkte es auf viele Umstehende wie eine märchenhafte Szene bei Hof, in der ein dunkler Ritter seiner gefallenen Prinzessin auf die Beine half.
Jessies Kopf schmerzte. Hinter ihren Augen pochte es dumpf. Die Aura einer sich anbahnenden Migräne lag wie ein trüber morgendlicher Nebel auf ihr. Zusammengesunken saß sie auf einem Barhocker vor dem Tresen und presste sich einen kühlen Waschlappen gegen die Stirn, den ihr der Barkeeper freundlicherweise gebracht hatte.
Lauter 70s Blues Rock aus einer 60er Jahre Jukebox erfüllte das Somnumbale, eine schlafwandlerische Musikkneipe nahe des Jahrmarkts, in die sie Kitt aus weiß Gott welchem Grund gefolgt war. Für Jessie wirkte die Schänke wie eine Zufluchtsstätte für verlorene Seelen – ein Nest für Trucker, Drogensüchtige und Lebenskünstler aller Art. Ein frei umherlaufender Straßenköter streifte im Vorübergehen ihr Kleidchen und wanderte dann auf der Suche nach Fressen weiter zum vollbesetzten Stammtisch. Dort markierte das Tier sein Revier an den Hosenbeinen der Gäste, die in ihrem Rausch glücklicherweise nichts davon mitbekamen.
Sie hörte Kitts Stimme und sah verschwommen sein Spiegelbild in der Reflexion einer Jack Daniels Flasche. Von der Toilette aus schritt er durch den engen Kneipenraum Richtung Theke und begrüßte großschnäuzig mehrere der trinkenden und qualmenden Stammgäste.
Kitt nahm neben ihr auf einem freien Barhocker Platz. Jessie lugte unter dem Waschlappen hervor und betrachtete ihn still von der Seite, wie er vergeblich die Aufmerksamkeit des geschäftigen Barkeepers suchte.
Weil ihr nichts anderes einfiel, sagte sie: „Ist... schön hier.“
Kitt grinste breit. „Willkommen in meiner Welt!“, sagte er prahlerisch. „Mach’s wie der Köter da und leg die Leine ab – jetzt wird gesteppt.“ Kitt wandte sich an den Barkeeper. „Cesare, alter Bär, hierher!“
Barkeeper Cesare, ein übellauniger südländischer Rocker im Rentenalter, knallte zwei grüne Bierdosen vor Kitt auf den Tresen.
„Kein Ärger heute, comprende?“, sagte Cesare mit seinem spanischen Akzent. Seine tiefen Augen funkelten Kitt drohend an.
„Wieso? Kriegst du wieder Besuch von den Lebensmittelwichsern?“, sagte Kitt und schob Jessie eine der Bierdosen zu.
„Mein Spitzel meint, ich wär die Woche wieder fällig. Also“, sagte Cesare lispelnd, „keine derben Lieder, kein Trashtalk und vor allem: keine Geschäfte, nada!“
Cesare schritt von dannen, um sich einem neuen Gast zu widmen, der am anderen Ende der Theke gerade Platz nahm. Kitt öffnete seine Dose. Jessie tat es ihm gleich. Sie stießen an und tranken. Kitt leerte in einem Zug fast die komplette Dose und stieß einen zufriedenen Rülpser aus. Jessie hingegen verzog das Gesicht ob des ungewohnten Alkohols. Dann lauschten sie schweigend Cat Stevens If you want to sing out, das als neuer Track aus der Jukebox tönte. Kitt wippte mit seinen Füßen zum Takt des Songs, während er eine Packung mit dreckigen Zigaretten überm Tresen entleerte und nach und nach jeden einzelnen der Stängel mit größter Sorgsamkeit reinigte. Jessie erwischte sich dabei, wie sie mehrmals Blicke auf Kitt warf und hoffte, er würde ihr die selbe Aufmerksamkeit widmen wie seinen blöden Zigaretten. Nervös strich sie über ihren Verlobungsring am Finger, nestelte gedankenverloren daran herum und nahm immer wieder kleine Schlucke aus der Bierdose zu sich. Langsam gewöhnte sie sich an den herben Geschmack.
Als Cat Stevens Song zu Ende ging, wandte sich Kitt wieder an sie. „Sorry wegen gestern“, sagte er beiläufig.
„Was, wieso denn?“, fragte Jessie sofort.
„Na, weil ich dich flachlegen wollte. Schon vergessen?“
Jessie biss ich auf die Lippen, hielt den Waschlappen vor Scham über ihre Augen und wünschte sich das Schweigen zurück. „Ist ja nichts passiert“, nuschelte sie kaum verständlich durch den Waschlappen hindurch.
„Bist noch Jungfrau, was?“
Der Waschlappen entglitt ihr und landete am Tresen.
„Wie bitte?“, sagte sie, schockiert darüber, dass dieser Fremde ihr eine solch persönliche Frage stellte.
Kitt zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Normalerweise fliegen die Weiber auf mich.“
„Du weißt doch, dass ich heiraten werde. In drei Wochen schon. Und außerdem, hier, sieh mal.“ Jessie streckte ihm ihre linke Hand entgegen und deutete auf einen Ring, der schon so etwas wie eine zweite Haut für sie geworden war. „Das ist mein Reinheitsring. Ich trage ihn seit ich zwölf bin.“
Kitt ergriff ohne weiteres Jessies Hand und besah sich den Ring genauer. Er war golden, mit fünf Kreuzen geschmückt und einer feinen Gravur versehen...
„Wahre Liebe wartet“, las Kitt. „Bist du in ’ner Sekte?“
Jessie entzog ihm ihre Hand. „Ha ha. Wir sind bibeltreue Christen, keine Sekte“, sagte sie streng. „Wir leben nach dem Wort Gottes.“
„Soll das heißen, ihr glaubt das ganze Zeug, was da so drinsteht?“
Voll religiöser Hingabe sagte Jessie: „Jedes Wort.“
Kitt lachte laut auf. „Verrückt! Und der Ring da...“
„... ist ein Symbol, das mich in schweren Zeiten an mein Versprechen erinnert.“
„Das da wäre?“
„Mich für meinen Zukünftigen aufzuheben“, sagte Jessie, und mit jedem Wort gewann ihre Stimme an Stärke, „enthaltsam zu bleiben und auf Gottes Segen zu warten.“
„Also doch ne Jungfer!“, sagte Kitt so laut, dass einige der anderen Gäste neugierig zu ihnen hinüberschauten. „Ich hab meine Unschuld verloren, da war ich gerade mal zehn.“ Stolz sah er sie an.
Da Jessie ihn mittlerweile etwas kannte, hielt sie das für eine glatte Lüge.
„Warum lügst du eigentlich ständig?“, fragte sie und war an einer ehrlichen Antwort ernsthaft interessiert.
Kitt zuckte nur die Schultern und steckte sich eine der Kippen zwischen die Lippen. „Reiner Opportunismus. Meiner Erfahrung nach kommen auf einen guten Lügner zehn Idioten, die an Einhörner und Märchenprinzen und all so ’n Scheiß glauben.“
„Ich glaube an Märchenprinzen“, sagte Jessie und nahm einen großen Schluck von dem Bier. „Schließlich hat Jesus mir meinen Traummann schon geschickt.“
„Ja ja, dein kleiner Jakobus ist ja nicht nur ein Heiliger, sondern auch ein echter Kriegsheld“, sagte Kitt spöttisch.
„Blödmann“, erwiderte Jessie nur. Eigentlich wollte sie ihn noch einmal fragen, woher er ihren Jakob kannte. Doch eine andere Frage drängte sich wie von selbst in den Vordergrund. „Wer war eigentlich die Luftballonverkäuferin vorhin? Eine deiner vielen Freundinnen?“
„Exfreundin“, sagte Kitt knapp und leerte seine Bierdose.
„Das sah aber nicht so aus.“
Kitt knallte die leere Dose auf den Tresen und zerdrückte sie. „Ist es vielleicht meine verdammte Schuld, wenn die nicht loslassen können?“, sagte er wütend. „Ich hab ihr von Anfang an das gesagt, was ich allen Weibern sag.“
„Und das wäre?“, fragte Jessie.
Kitt sah ihr fest in die Augen. „Irgendwann wirst du aufwachen und – PUFF! – weg bin ich. Und für Nadja hat’s heute Puff! gemacht, ja das gab ne schöne, dicke Wolke. Und siehe da, jetzt sitz ich hier bei dir.“
Jessie hatte ja geahnt, dass er nicht der Frommste war. Doch dass er so herzlos und eigensüchtig mit den Gefühlen anderer Menschen umging, verschlug ihr glatt die Sprache.
„Wow...“, sagte sie nur. „Wenn du so mit den Gefühlen eines Menschen spielst, dann... verzeih, aber dann bist du einfach grausam.“
Zu ihrer Verblüffung lachte Kitt kalt auf. Er hob seine leere Bierdose in die Luft und prostete ihr spottend zu: „Ich gratuliere, Jessie, du hast mich durchschaut. So schnell war noch keine. Ich bin grausam und schlecht, das ist mein Charakter, das ist er! Einen anderen hab ich leider nicht. Jetzt weißt du Bescheid. Wenn du gehen willst, dann geh.“ Kitts Blick fiel zum Korridor, der zu den Toiletten führte. Dort stand kein Geringerer als Wiesel. Seit zwei Minuten schon versuchte er über die Köpfe der Gäste hinweg Kitts Aufmerksamkeit zu erregen. Kitt fluchte innerlich und erhob sich dann. „Ich muss pissen“, sagte er ungeniert zu Jessie. „Geh nicht, okay?“
Und damit war er auch schon auf halbem Weg zur Toilette. Jessie sah ihm mit offenem Mund und offenen Fragen nach. Ein verwahrloster, gebückter Kerl mit knallgelbem Beanie und zerfurchtem Gesicht folgte Kitt verstohlen auf die Männertoilette.
Sie konnte nicht hierbleiben. Sie hätte längst Zuhause sein sollen. Was, wenn ihre Eltern versucht hatten, sie zu erreichen? Was, wenn Jakob ihr eine Nachricht hinterlassen hatte? Und Miss Muppets... das Chaos in der Wohnung... ja, es war höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Das war nicht ihre Welt. Dieser Kitt hatte einen schlechten Einfluss auf sie. Sie hätte auf Julies Worte hören und ihn meiden sollen. Stattdessen hatte sie sich auf ihn eingelassen, hatte den halben Tag mit ihm verbracht und war zum krönenden Abschluss in dieser räudigen Kneipe gelandet, in die garantiert niemand aus ihrer Gemeinde je einen Fuß gesetzt hätte. Nein, sie wollte jetzt nur noch nach Hause und Gott in aller Stille um Vergebung für ihre Sünden bitten und Ihm versprechen, sich ab morgen neu und gänzlich dem Gebot der Reinheit zu verschreiben.
Ungeschickt erhob sich Jessie von ihrem Hocker. Ihr Gleichgewichtssinn war etwas aus dem Ruder. Vermutlich lag es an dem teuflischen Getränk, das sie halb geleert hatte. Sie kraulte dem Straßenköter ein letztes Mal das zottelige, verdreckte Fell und wollte dann schleunigst die Kneipe verlassen. Doch ehe es dazu kam, fiel ihr Blick auf einen alten Mann mit grauem Bart und ähnlich zotteligem Haar wie der Köter. Besagter Mann saß am anderen Ende des Tresens und schlürfte an einem giftroten Cocktail mit Schirmchen. Er trug einen mitternachtsblauen Zaubererumhang mit goldenen Sternen und eine altmodische Fliegerbrille auf seinem Haupt. Genüsslich schnupfte er Tabak aus einer verrosteten Metalldose.
„Anton!“, sagte Jessie, ganz überrascht, ihn ausgerechnet hier zu anzutreffen. „Ich habe Sie schon überall gesucht.“
Sie ging leicht torkelnd zu Anton hinüber. Anton sah auf – schwarzes Tabakpulver klebte an seinem weißen Schnauzbart. Jessie räusperte sich und suchte in ihrer Tasche nach dem Kuvert. „Ich habe einen Brief für Sie. Von meinem Vater. Warten Sie – wo ist er denn? – ah ja, hier!“
Jessie reichte Anton das Kuvert, das sie den ganzen Tag lang mit sich herumgeschleppt hatte. Anton legte seine Schnupfdose beiseite, zog die Fliegerbrille über seine Augen und öffnete das Kuvert. Mit größtem Interesse las er den Brief, wobei er immer wieder ein Ja vor sich hin murmelte.
Ja, Ja, Ja, Ja, Ja, Ohhhh!
Dann las er laut den Schluss des Briefes: „Jesus sei mit Ihnen“ Er sah entzückt zu Jessie auf. „Wirklich nett. So lieb hat man mir selten gekündigt. Ein Hoch auf deinen Vater, einen wahrhaft gottesfürchtigen Mann!“ Anton hob seinen Cocktail in die Höhe und trank daraus.
Jessie war überrascht über seine Reaktion. „Es tut mir Leid“, sagte sie und fühlte tatsächlich ein Bedauern bei dem Gedanken, dass sie diesen schrulligen alten Greis heute wohl zum letzten Mal sah. „Was wollen Sie jetzt machen?“, fragte sie und setzte sich zu ihm.
„Ach“, sagte Anton und warf den Brief in den nächstbesten Mülleimer, „dies und das, vielleicht aber auch jenes.“
Jessie hatte das Gerücht gehört, dass Anton in seiner Jugend als Mienenarbeiter in einer Kolonie der ehemaligen Sowjetunion geschuftet hatte, ehe er nach der Grenzöffnung tausende von Meilen westlich getrampt war und schließlich in Berlin gelandet war.
„Als Sie damals nach Berlin kamen“, fragte Jessie vorsichtig. „Was wollten Sie da mal werden?“
Anton lachte gutmütig auf und griff wieder zu seiner Tabakdose.
„Kindchen“, sagte er mit großer Wärme in der Stimme, „du kommst doch nicht nach Berlin, um was zu werden. Du kommst nach Berlin, um endlich einmal zu sein!“
Jessie sah ihn mit großen Augen an. „Und was sind wir?“
Feierlich sagte Anton: „Huren und Heilige!“
„Und dazwischen?“
„Dazwischen pendeln wir unseren Lebtag lang wie die Verrückten.“
Jessie tippte nervös mit den Fingern auf dem Tresen. „Ich sollte jetzt gehen“, sagte sie.
Anton sah zu ihr hinüber. Das schimmernde Grün seiner wachen Augen leuchtete durch die Fliegerbrille hindurch. Er nickte in Richtung Toilette und sagte: „Und willst den Jungen da sitzen lassen? Geschähe ihm ganz recht, aber willst du das auch?“
„Das spielt keine Rolle“, sagte Jessie sofort. „Es ist Sünde, das zu tun, was man aus Eigensucht begehrt.“
Gutmütig und ohne die Spur von Spott lachte Anton auf – wie über einen geheimen Witz, den nur er verstand. Dann fragte er sie mit glucksender Stimme: „Spricht da dein Herz oder dein Vater?“
Jessie fühlte sich ertappt. „Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“
„Na, das Richtige“, sagte Anton, so als wäre es das Leichteste der Welt.
Doch da fing es schon an, für Jessie kompliziert zu werden. „Und was ist das Richtige?“, fragte sie.
„Woher soll ich denn das wissen, Kindchen? Da musst du schon dein Herz fragen.“
„Aber wir müssen das tun, was der Herr uns durch Sein Wort gebietet und nicht... nicht...“ Jessie verstummte.
Antons Falten verzogen sich unter seinem struppigen Vollbart zu einem warmen Lächeln. „Was der Herr dir gebietet und was dein Herz will, sind in Wahrheit eins“, sagte Anton mit der Stimme eines geduldigen Lehrmeisters. „Also vergiss mal für einen Moment deine ganzen festgeschriebenen Gebote. Ein Mensch, der unserm alten Christus wahrhaft nachfolgt, der braucht keine Gesetze. Und schon gar keine patriarchalische Kirche, die ihm vorschreibt, was er zu denken und zu tun hat.“
„Ich verstehe nicht...“, sagte Jessie, ganz durch den Wind.
„Nein?“, sagte Anton und beugte sich zu ihr. Mit lieblicher Stimme sprach er zu ihr: „Dann horch einmal nach Innen, Kindchen. Wenn du ganz still bist, wirst du da eine Stimme hören, eine Stimme, die schon dein ganzes Leben lang zu dir spricht. Wie ein heimlicher Verehrer wünscht sie sich von Herzen nichts mehr als einmal von dir erhört zu werden. Wem auch immer sie gehört, sie lehrt dich den Willen Gottes weit besser als alle Schriften dieser Welt.“
Jessie war ungemein gerührt von den Worten des alten Mannes. Gerne hätte sie ihn noch weiter reden hören, doch eine laute Stimme unterbrach sie.
„Anton, du schwafelnder Schweineprediger!“, sagte Kitt und knallte Anton seine Hände auf den Rücken. „Schon wieder am Märchen erzählen, was? Geben wir uns lieber wieder die Kante, du verdammter Russe!“
Wie ausgestorben wirkte der Jahrmarkt um diese späte Stunde. Lediglich vereinzelte Nachtstreuner, heimkehrende Partygänger, die ein oder anderen Straßentiere sowie friedlich schlummernde Obdachlose in unverschlossenen Buden wurden Zeugen einer Nacht, in der niemand frieren musste. Das Temperaturhoch der vergangenen Tage machte Berlin zu einem einzigen vergnügten Sommernachtstraum für das niemals schlafende Volk.
Einer dieser ewigen Traumwandler wankte über den Platz, vorbei an den geschlossenen Ständen und den teilbeleuchteten Attraktionen. Vergeblich versuchte er auf seinem trunkenen Wege eine Zigarette mit seinem Feuerzeug zu entzünden. In seinem alkoholisierten, narkotisierten Zustand bemerkte er nicht, dass er die Kippe falsch herum hielt.
Zeitgleich und nicht weit von ihm entfernt, balancierte eine zweite Nachtschwärmerin in der Unvorsicht ihrer Jugend über die Dächer der Buden und Stände. Zunächst mit Gottes Segen oder dem Glück des Betrunkenen, doch als sie vom Dach der Schießbude auf das des Fischverkäufers springen wollte, misslang es ihr gänzlich. Doch auch hier wich das Glück nicht von ihrer Seite – unsichtbare Engel hatten sie nämlich in ihrem ikarischen Flug gefangen und sanft über einem der Müllcontainer abgeworfen. Lachend wühlte sie sich frei und sprang unbeschadet aus dem Container zurück auf die Straße. Ihr Sommerkleidchen war verschmiert und verdreckt mit Essensresten aller Art. Es kümmerte sie nicht, denn heute Nacht war die glücklichste in ihrem bisherigen Leben.
Eine dritte Gestalt, ein Lebenskünstler ohnegleichen, um einiges breiter und älter und haariger als seine beiden Schüler, trat aus einem Salon ins Freie dieser sternenklaren Nacht. Glucksend und summend trat er in ihre Fußstapfen, schloss bald zu ihnen auf und passierte den Jungen, der im verzweifeltem Kampf mit seiner Zigarette stehen geblieben war. Sein langer Umhang schlürfte über den Boden. Im Gehen schnupfte er dunkles Pulver aus einer hölzernen Dose und dankte dem lieben Gott für dieses kleine Glück auf Erden mit einem frohen Lachen, das aufstieg in den dunklen
Himmel. Er ließ die beiden alleine zurück, denn in seiner Weisheit wusste er, dass dies keine Nacht für Greise, sondern eine Nacht für junge Liebende war. Und so tauchte er ab in die wohlige Dunkelheit, freute sich auf die warme Decke Zuhause und die sieben Straßenkätzchen, die bei ihm hausten.
Der Junge hatte es derweil geschafft. Glücklich wie ein Kind tänzelte er mit entflammter Zigarette über den leeren Festplatz, schlug Pirouetten und machte mutige Sprünge vorwärts, bis sich schließlich das Mädchen heimlich an ihn heranschlich und mit böser Absicht von hinten besprang. Kreischend fielen beide zu Boden; die Zigarette des Jungen landete dabei wenige Meter weiter am rauen Kopfsteinpflaster und erlosch. Der Junge blieb reglos liegen, doch das Mädchen, das erst gelacht hatte, sprang nun eiligst auf, hielt sich die Hand vor den Mund, schaffte es gerade noch so zu einer freistehenden Mauer am Rand und übergab sich dort lauthals. Als die Übelkeit vorüber war, wischte sie sich mit dem Handrücken über die unberührten, roten Lippen und torkelte zurück zum am Boden liegenden Jungen. Vergeblich versuchte sie ihn zu wecken, vergeblich auch ihr Vorhaben, den Jungen an den Händen greifend mit sich zu zerren. Doch wieder war ihr Glück beschienen, denn just in diesem Moment kam ihr eine Gruppe feierwütiger Studenten zu Hilfe. Ein jeder von ihnen packte den Jungen spaßeshalber an einer anderen Körperstelle.
Zusammen trugen sie den bewusstlosen Leib gleich einem Sarg in heiterer Prozession über ihren Köpfen dem tanzenden Schritt des Mädchens nach.
Später würden sich beide, das Mädchen und der Junge, nur noch in groben Zügen an diese magische Nacht erinnern. Sie würde nichts mehr wissen von der schützenden Gotteshand, die allzeit über ihr lag und jeden ihrer Fehltritte mit einem goldenen Netz abfing. Und er würde wieder vergessen haben, dass es Menschen auf dieser Welt gab, die für ihn da waren, wenn er schutzlos am Boden lag, und die ihn liebend auf ihren Händen zurück ins Leben trugen.
Der berühmt-berüchtigte Morgen danach. Für Jessie war er bisher etwas gewesen, das sie nur aus warnenden Erzählungen seitens ihrer Eltern und Lehrer über die Folgen des Alkoholmissbrauchs kannte. Heute erfuhr sie es am eigenen Leib.
Die Sonne stand hoch am Zenit. Heiße Lichtstrahlen krochen über die Dachziegel in den Innenhof und wanderten weiter auf Jessies Gesicht. Zögerlich folgte sie dem Ruf des Tages und öffnete ihre rot angelaufenen Augen. Sie warf ihre Hände schützend vors Gesicht und fühlte ein dumpfes Pochen im Kopf – ihr erster Kater, und was für einer! Sie blinzelte. Über ihr war ein freier blauer Himmel, lediglich eingerahmt durch die Konturen kahler Gebäudewände. Wo war sie nur? Sie versuchte sich zu orientieren. Sie lag auf einem löchrigen Sofa, das draußen in einem Innenhof gegen eine Außenmauer lehnte. Einem Sofa, das sie sich mit einem anderen teilte. Einem Jungen mit pechschwarzem, abstehendem Haar, der zusammen mit ihr unter einer einzelnen Decke lag. Sie selbst... trug nur ihren BH und ihr Unterhöschen. Als ihr die Lage vollends bewusst wurde, fuhr sie wie vom Blitz getroffen auf, wich schreckhaft zurück und plumpste vom weichen Sofa auf den steinharten Teerboden.
Wenig später saß Jessie in seinem abgedunkelten Appartement auf einer losen Matratze, die mitten im Zimmer lag. Sie trug seine Cosplay Jacke und eine enge schwarze Jeans, die Kitt hinter der Couch gefunden hatte und die ihr gut passte. Sie hatten ungefähr die gleiche Größe, und Kitt war ähnlich mager wie sie. Während sie das Geräusch der Toilettenspülung so laut vernahm, als befände sich das Bad ungetrennt im selben Raum, wanderte Jessies Blick fasziniert durch das Innere seiner kleinen Wohnung. Überall lagen ungebügelte Kleidungsstücke, offene CD-Hüllen, leere Coca Cola Flaschen, zerdrückte Bierdosen und unsortiertes Schreibkrams verstreut am Boden. Am Fensterbrett bemerkte sie mit stechendem Herzen einen ganz verdorrten Kaktus, dessen Übertopf vor abgebrannten Zigarettenstummeln überlief. Neben einem antiken Schallplattenspieler, der gerade ein Best Of von The Kinks abspielte, bemerkte sie ein Foto, auf dem Kitt, etwas jünger, neben einem schönen Jugendlichen stand. Dieser überragte Kitt beinahe um einen ganzen Kopf und hatte längeres Haar als er; beide aber besaßen ähnlich feine Gesichtszüge. Kitt hatte den Arm fürsorglich um den Jüngeren gelegt und lächelte stolz in die Kamera. Es war ein ungewohnter Anblick. Natürlich hatte sie ihm nicht abgekauft, dass ihn Störche auf die Welt gebracht hatten, dennoch fiel es ihr seltsam schwer zu akzeptieren, dass dieser Kitt trotz seiner gekünstelten Fassade ein ganz normaler junger Mensch zu sein schien.
Oberkörperfrei kehrte Kitt von der Toilette zurück. Aus der Miniküche im Flur hatte er ein Glas Wasser mitgenommen. Er reichte es Jessie und warf sich neben sie auf die Couch.
„Danke“, sagte Jessie und trank einen großen Schluck des kühlen Leitungswassers. Ihre Kehle war völlig ausgetrocknet gewesen. „Warum stehen eigentlich all deine Möbel da draußen?“
„Das hast du mich gestern schon gefragt“, sagte er, griff ohne Vorwarnung in Jessies Jackentasche und zog eine dunkelbraune Schnupftabakdose aus geräuchertem Eichenholz daraus hervor. „Ist ne lange Geschichte.“
„Hast du deine Miete nicht bezahlt?“
Ohne auf ihre Frage zu antworten, klopfte er aus der Dose den Rest des Schnupftabaks auf seinen Handrücken.
Jessie sah ihn an, als sei er verrückt. „Du willst das doch nicht schnupfen, oder?“
„Klar“, antwortete Kitt und schnupfte es sogleich durch sein rechtes Nasenloch. Die Hälfte des schwarzen Pulvers blieb dabei auf seiner Oberlippe und an der Nasenspitze kleben und zwang ihn kräftig zum Niesen. Ein-, zwei-, drei-, ganze viermal.
„Das ist total eklig, ehrlich jetzt“, sagte Jessie und wandte sich ab von ihm. Ihr war schleierhaft, wie er nach einer solch durchzechten Nacht, in der er alles mögliche konsumiert haben musste, am Morgen danach ohne Unterbrechung weitermachen konnte.
Mit tränenden Augen blinzelte Kitt sie an und sagte: „Gestern fandest du’s süß.“
Jessie bezweifelte das, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war. Um ehrlich zu sein, konnte sie sich kaum an etwas erinnern, das nach ihrer unverhofften Begegnung mit Anton passiert war. Sie wusste nur noch, dass sie auf einmal ein kleines Gläschen mit dunkler Flüssigkeit vor sich stehen hatte und den Inhalt auf Kitts Drängen hinuntergekippt hatte. Bei dem Gedanken daran schüttelte es sie.
Als Kitt erneut zur Tabakdose griff, berührte sie seine Hand, um ihn an seinem Vorhaben zu stoppen. „Bitte lass das. Mir ist schlecht, und das da“, sie meinte das Tabakpulver, „ist furchtbar eklig und bestimmt total ungesund.“
„Jeder hat ein Laster“, sagte Kitt schlicht.
„Ich nicht. Ich bin makellos“, sagte Jessie und zitierte damit unbewusst die Worte ihrer Mutter. Plötzlich fuhr sie auf. „Oh mein Gott! Haben wir... ich meine, haben wir, du weißt-schon-was getan?“
„Ne, du wolltest nicht“, sagte Kitt etwas gekränkt.
Vor Erleichterung sank sie zurück in die Kissen. „Oh Gott sei Dank! Ich kann mich wirklich an nichts von letzter Nacht erinnern...“
Kitt grinste fies. „Sei froh, du warst ne ganz schöne Schlampe.“
Jessie schlug ihm kräftig gegen die Schulter und Kitt sank theatralisch von der Matratze auf den Fußboden. Jessie beachtete sein Getue nicht, ihr Blick fiel stattdessen auf die ramponierte Gitarre, die unter Kissen verborgen neben der Matratze lag. Vorsichtig nahm sie das Instrument in ihre Hände und fühlte über den mit Tape geflickten, eingeschlagenen Korpus.
„Wie ist das passiert?“, fragte sie leise.
Als Kitt vom Boden aus zu ihr aufsah, war seine Miene mit einem Mal voller Zorn.
„Mit dem Stiefel“, sagte er bitter und trat demonstrativ mit seinem rechten Fuß in die Luft. „So hat er gemacht, der Lump!“
Die Vorstellung, etwas so schönes wie ein Musikinstrument gewaltsam zu zerstören, ließ sie erschaudern. Zwar war es „nur“ Holz, doch war es zum Zwecke geschaffen, Musik in die Welt zu tragen. Gab es einen edleren Gottesdienst als diesen?
„Wer würde so etwas tun?“, fragte sie ganz erschüttert.
Kitt kroch zurück auf die Matratze, nahm ihr die Gitarre sanft aus den Händen und legte sie wie ein Kind behutsam auf seinem Schoß ab. Zärtlich strich er über die Saiten seiner Betsie.
„Jemand, der keine Ahnung von Musik hat, schätz ich. Jemand, für den sie nur ’n lebloses Stück Holz war“, sagte Kitt mit stillem Hass. „Aber für mich ist sie alles. Bei meiner Ehre, dafür wird der Wichser noch bezahlen.“
Jessie strich ebenfalls über die Saiten der Gitarre. Sie waren viel bespielt worden, das sah und fühlte man sofort.
„Sie ist wunderschön“, sagte Jessie und betrachtete ganz verliebt das dunkle Holz.
Auch Kitts Augen ruhten darauf. „Sie ist meine Sonne.“
„Ich dachte, ich wäre deine Sonne?“, sagte Jessie unbedacht und schämte sich sogleich ihrer Worte.
Doch Kitt lächelte nur. „Ein Musiker braucht immer zwei davon“, sagte er zu ihr. „Eine als Muse und eine andere, auf der er spielen kann.“
Vielleicht war es der Alkohol, der noch in ihr wirkte, aber sie begegnete seinem Blick und sagte mit all ihrem Mut: „Und welche bin ich?“
Elektrisierende Stille.
Kitt beugte sich zu ihr, wollte sie küssen. Jessie aber wich reflexhaft aus. Sie durfte nicht so weit gehen, auch wenn ihre Lippen für einen Moment die seinen willkommen heißen wollten. Um sich von dem halbnackten Jungen neben sich abzulenken, richtete sie all ihre Konzentration auf das Instrument, das in seinem Schoß lag. Behutsam strich sie über die Saiten – ohne aber dem Instrument Töne zu entlocken. Das gehörte sich nicht. Schließlich war es sein Heiligtum und ohne Erlaubnis würde sie es niemals wagen.
Die Kinks Scheibe stoppte und es wurde mit einem Mal sehr still im Zimmer. Draußen hörte man die Stimmen von Umzughelfern, ferner den Lärm von der vielfrequentierten Hermannstraße.
„Kennst du Tracy Chapman?“, fragte Jessie schließlich.
Dumme Frage, dachte Kitt und entgegnete sarkastisch: „Kennst du Jesus Christus?“
Jessie lächelte. „Als Kind habe ich einmal heimlich von ihr ein Konzert im Fernsehen gesehen. Sie hatte Songs gespielt wie Fast Car'und Talkin bout a Revolution, die ich sehr mag.“ Jessies Lächeln wurde größer, als sie sich das Bild ihrer Heldin ins Gedächtnis rief. „Sie schien so frei zu sein, als sie ihre selbstgeschriebenen Lieder spielte. Da war keine Angst in ihren Augen, keine Nervosität in ihrer Stimme, sie schien völlig eins mit sich und der Welt und Gott.“ Jessie musste kurz innehalten, denn die Erinnerung längst vergessener Träume schlich sich erneut in ihr Bewusstsein. „Da wusste ich, dass ich auch einmal auf der großen Bühne stehen möchte und vor sämtlichen Menschen aller Religionen, Kulturen und Herkunftsländer meine eigenen kleinen Lieder spielen will.“
Kitt schwieg und lauschte gebannt ihrer Erzählung.
Sie fuhr fort: „Mein Vater – du hättest ihn sehen sollen, als er davon erfuhr. Er war so wütend wie nie zuvor.“
„Patriarchen stehen nicht so auf Mädchen mit freien Gedanken, was?“
Jessie zuckte mit den Schultern. „Er sagte, meine Bestimmung als Frau sei nicht auf der Bühne vor fremden Menschen, sondern im häuslichen Heim bei meiner Familie. Als Tochter, Ehefrau und Mutter – so wie es in der Bibel geschrieben steht.“
Jessie verstummte. Kitt spürte, dass sie gerade ganz woanders war, weit weg von hier und jetzt, tief in ihrer kindlichen Traumwelt. Er hätte sie dort schwelgen lassen können, doch er wollte, dass sie weiter erzählte. Also fragte er: „Aber du hast nicht locker gelassen, stimmt’s?“
Jessies Lächeln kehrte zurück. „Nein“, pflichtete sie ihm bei, „ich wollte unbedingt Gitarre spielen lernen! Irgendwann dann, ich glaube, ich war sieben oder acht, da boten mir meine Eltern stattdessen private Klavierstunden an und ermunterten mich im Kirchenchor zu spielen. Und ich weiß noch, dass ich wochenlang protestiert habe!“
„Meine kleine Rebellin“, sagte Kitt grinsend.
„Aber dann gab ich doch nach“, sagte Jessie und verlor ihren eben gewonnenen Elan wieder. „Ich nahm die Klavierstunden, lernte hunderte von christlichen Liedern und spiele seither im Chor unter den Augen meiner Eltern für unsere Gemeinde. Ich glaube, das war damals der größte Fehler meines Lebens, verstehst du?“
Jessie sah Kitt hoffnungsvoll an – nie zuvor hatte sie dies jemandem erzählt, nicht ihrer Mutter, nicht ihrer kleinen Schwester, keiner ihrer Freundinnen. Und nun saß sie vor einem Unbekannten, schüttete ihm ihr Herz aus und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er sie verstand.
Und Kitt verstand sie, verstand sie sogar sehr gut. „Es war dein erster Kompromiss. Der erste von vielen.“
„Ja“, hauchte Jessie, vor Dankbarkeit gerührt. „Das kleine Mädchen von damals hatte noch so etwas wie eine Wahl. Heute hole ich wie ein Hund Stöckchen und gebe auf Kommando Pfote.“
Kitt betrachtete sie ernst. Er spürte etwas tief in seinem Innern, das mit großer Kraft zur Oberfläche drängte. Und ehe er noch etwas dagegen tun konnte, sprudelten die Worte auch schon aus ihm heraus: „Da gibt es diese Melodie, die ich manchmal höre“, sagte er und seine Stimme überschlug sich fast. „Mein ganzes Leben lang schon such ich nach ihr, dieser verfluchten Melodie! Sie verfolgt mich, aber sie zeigt sich mir immer nur in kurzen Augenblicken, ganz kurz, wie durch einen Schleier. Sie ist so flüchtig wie ein Traum, an den du dich am Morgen danach nicht mehr erinnern kannst. Alles, was bleibt, ist eine Ahnung – eine Ahnung von was ganz Großem. Wegen ihr bin ich Musiker geworden, wegen ihr habe ich all die Entscheidungen getroffen, die mich jetzt und hier neben dir sitzen lassen. Und irgendwann schnapp ich sie mir und mach sie zu meinem Lied. Darauf kannst du wetten! Ich werd damit über Nacht zum Weltstar... die werden mich alle lieben.“
Ihre Finger berührten sich über den Saiten der Gitarre. Jessie suchte seinen Blick...
„Spielst du für mich?“, fragte sie flüsternd.
Kitt nickte. Er straffte seinen schlappen Körper etwas, und dann schwebten seine Finger auch schon über dem Korpus und ließen die Saiten erklingen. Sanfte Akkorde verbanden sich bald zu einer schmerzlich schönen Melodie. Alle Sorgen und alle Müdigkeit fielen von Jessie ab; ihre Augen erstrahlten ob dieser zarten, unerwarteten Töne, die dieser kaputte Junge seiner kaputten Gitarre entlockte. Doch zu ihrem Unmut wurde er bald schon langsamer, die Melodie begann zu bröckeln und sich zu verlieren. Mit einem hilfesuchenden Blick sah Kitt sie an und streckte ihr seine Backe fordernd entgegen. Es dauerte einen Moment, ehe sie verstand. Lächelnd beugte sie sich zu ihm vor und küsste ihn sanft auf seine linke Wange. Sofort spielte Kitt mit neuer Energie, rettete die Melodie vor ihrem Tod, ja steigerte sie in unbekannte Höhen, bis er nach kurzer Zeit wieder langsamer wurde, so langsam und leise, bis kaum noch eine Note, geschweige denn ein voller Akkord erklang. Wieder blickte er zu Jessie. Doch diesmal hielt er ihr nicht die Wange entgegen, sondern sah ihr straight ins Gesicht.
Jessie betrachtete seine zarten, schmalen Lippen. Wie ferngesteuert beugte sie sich zu ihm hinab und gab ihm einen klitzekleinen Kuss auf die Lippen. Kitt explodierte daraufhin in einem finalen Akkordfeuerwerk, das bestimmt zwei Minuten lang anhielt. Dann, am Höhepunkt des Stücks, brach er abrupt ab und fiel bewegungslos auf die Matratze zurück.
Jessie betrachtete ihn ganz entrückt. Obwohl er sich vor ihr wie ein Kind tot stellte, seine Zunge aus dem Mund hängen und die Glieder wie ein schlafender Hund baumeln ließ, sah er einfach wunderschön aus. Auf seine ganz eigene Art und Weise schien er trotz der dunklen Prellungen am Körper und der blauen Flecken, die sein blasses Gesicht zeichneten, einfach perfekt. Jessie strich mit ihrer Hand über sein morgendlich zerzaustes, wildes Haar. Dann beugte sie sich über ihn, küsste seine Stirn an der Stelle, wo sich eine kleine Narbe befand, küsste seine Nasenspitze, die noch immer etwas schwarz ob des Tabaks war, küsste sein Kinn, das noch bläulich geschwollen war, bis ihre Lippen schließlich die seinen fanden. Erst mit Zurückhaltung, bald mit unbändiger, jahrelang zurückgehaltener Leidenschaft.
Wie lange sie so miteinander knutschten, war unmöglich zu sagen. In Momenten größter Leidenschaft existiert die Zeit nur als bloße Randerscheinung, die keiner Beachtung wert ist. Doch irgendwann, vielleicht, als der Alkohol gänzlich aus ihrem Körper gewichen war und die Stimme der christlichen Erziehung wieder lauter wurde, stoppte sie erschrocken.
Obwohl er sie weiter an sich drückte, löste sie sich schweren Herzens von ihm und sprang auf. Sie wollte noch etwas sagen, eine Erklärung, ein Abschiedswort, doch da hatten sie ihre pflichtbewussten Füße schon aus seinem Appartement hinaus auf die viel bewanderte Hermannstraße geführt und drängten sie weiter zurück – immer in Richtung ihres Familienhauses.
Kitt lag wie erstarrt auf seiner Matratze, spürte seine bebenden Lippen, kostete ihren Geschmack im Munde nach und roch noch lange ihren süßen Duft, der wie ein wohliger Hauch auf ihm lag und ihn betörte.
„Hallelujah“, sagte er ganz erstaunt und öffnete seine Augen.
Ein panischer Blick auf die Küchenuhr sagte ihr, dass es bereits später Nachmittag war. An diesem Sonntag Abend wollten ihre Eltern zurückkehren. Doch so wie Jessie ihren Vater kannte, könnte jeden Augenblick der Familienwagen in der Einfahrt erscheinen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, klar Schiff zu machen und ein weiteres Mal um den Block zu ziehen und nach ihrer vermissten Katze zu suchen. Trotz Übelkeit, Ermüdungserscheinungen und Kopfschmerzen säuberte Jessie wie eine Verrückte den Wohnbereich, akribisch darauf bedacht, alle Indizien der Junggesellinnenfeier verschwinden zu lassen. Auf Knien schrubbte sie den Boden, säuberte den Teppich, polierte die Tische, Stühle und Armaturen - so als wolle sie sich nicht nur vom Schmutz im Hause, sondern auch von der angestauten Schuld im Herzen befreien.
So viele Gedanken und Bilder schossen ihr ungebeten durch den verwirrten Geist. Verdrängte Eindrücke ihrer ersten durchzechten Nacht, die jetzt ungeordnet zurück ins Bewusstsein drangen – etwa wie sie mit Anton und Kitt eine Art Trinkspiel begann, auf der Jukebox tanzte, Antons Schnupftabak probierte und sich an einer nach Fisch stinkenden Mauer übergab. Und immer wieder blitzte das Gesicht von Kitt in ihrem Geist auf. Mit großer Scham und noch größerer Schuld ertappte sie sich dabei, wie ihr beim Gedanken an ihren allerersten Kuss ganz heiß wurde...
Je mehr sie schrubbte und putzte und fegte, desto stärker drängten sich die unerwünschten Gedanken in ihr Bewusstsein. Ihr Putzwahn endete erst, als etwas unerwartet aus ihrer Jackentasche zu Boden fiel. Es war ein alter MP3- Player, den sie nie zuvor gesehen hatte. Erstaunt blickte sie an sich herab und stellte verwundert fest, dass sie ja noch immer Kitts Klamotten trug.
Oben in ihrem Zimmer schloss sie den Mp3-Player neugierig an Moes Subwoofer an. Und während Track 1 abgespielt wurde, betrachtete Jessie ihr Spiegelbild: Das offene Haar, ungekämmt und abstehend – so wild wie die Nacht, die hinter ihr lag. Dunkle, halbmondförmige Augenringe zeichneten ihre Lider. Und da war auch eine kleine Schramme auf der Stirn – aber Jessie wusste beim besten Willen nicht, woher diese stammte. War sie gestürzt? Hatte sie sich gerauft? Komisch, dachte sie und drehte sich vorm Spiegel um die eigene Achse. In Kitts Klamotten sah sie aus wie ein anderer Mensch und hatte mit der gewöhnlichen Jessie nicht mehr viel gemeinsam. Ein Außenstehender hätte sie wohl für zwei verschiedene Menschen gehalten, so groß war die Veränderung.
Jessie lächelte. Ihr gefiel, was sie sah.
Langsam bewegte sie sich zu den ungewohnten Tönen von David Bowies Rebel Rebel und betrachtete weiter ihr Spiegelbild mit einer neugierigen Distanz, so als sei dies nicht wirklich sie, sondern... ja, wer eigentlich? Ihre Bewegungen wurden vor ihrem eigenen Auge freier, sexier, die Tanzschritte größer, die Hemmungen kleiner.
So vertieft in die laute Musik und in ihren eigenen Tanz hörte sie nicht, wie draußen ein Wagen in die Einfahrt fuhr und vor der Garage zum Stehen kam. Es war natürlich der Mercedes ihres Vaters. Die hintere Tür sprang sofort auf und Sarah stieg mit einem prall gefüllten Korb selbstgepflückter Äpfel als Erstes aus. Ihr Bruder Lukas folgte etwas umständlich; er trug einen waschechten Ritterhelm mit hochgeklapptem Visier und dazu noch ein bronzenes Einhandschwert - beides Zeichen seiner Initiation vom Jungen zum Mann. Herr und Frau Havlock folgten als Letztes. Auf der Veranda stutzten sie verblüfft.
Eine zerlumpte und zerzauste Miss Muppets saß maunzend vor der Haustüre und bat um Einlass. Sarah nahm die Hauskatze sogleich auf den Arm. Ihr Fell war über und über bedeckt mit Disteln und kleinen, grünen Kugeln, die fest an ihr klebten. Herr Havlock tauschte einen besorgten Blick mit seiner Frau - was war hier geschehen? Als sie die Türe öffneten, drang abgedämpft durch die Zimmerdecke laute Musik zu ihnen. Alle sahen nach oben...
... nach oben, wo David Bowies Stimme weiter auf voller Lautstärke aus dem Subwoofer dröhnte:
„Rebel Rebel, your face is a mess!“
Jessie verwandelte ihr Zimmer mehr und mehr in eine Bühne, auf der sie wie ein Rockstar frei und ungezügelt herumwirbelte. Sie ließ ihre Mähne fliegen, warf die Arme um sich, bangte ihren Kopf zum Beat und sang lauthals das Ende des Refrains mit:
„Hot Tramp, I love you so!“
Mit ausgestreckten Armen und einem irren Lachen wirbelte sie so lange um die eigene Achse, bis sich alles um sie herum drehte und die gewohnte Umgebung unscharf wurde und fast gänzlich verschwamm. Wie frei sie sich fühlte! Und wie gut! Sie hätte Stunden, Tage, Wochen so weiter machen können...
Plötzlich verstummte die Musik. Jessie erschrak sich heftig ob der unerwarteten Stille. Noch ganz perplex wandte sie sich um und bemerkte schockiert, dass ihre Familie im Türrahmen stand und die Hand ihres Vaters am Subwoofer ruhte. Jessie wollte einen Schritt auf sie zu machen, doch der Nacheffekt der eben vollführten Spirale ließ sie das Gleichgewicht verlieren, stolpern und gegen den Wandspiegel prallen.
Durch die Kollision fiel das Holzkreuz mit Jesusfigur zu Boden.
Kitt schob Moses, der im Rollstuhl saß und eine Decke über seinem Intimbereich liegen hatte, mit gewagten, kindlichen Manövern über den Parkplatz des St. Hedwig-Krankenhauses. Dort wartete Julie schon in voller Bikermontur auf einem roten Motorrad mit Beiwagen, Modell Ural T.
Sie klappte das Visier ihres Helms hoch und zwinkerte Kitt und Moe zu: „Bereit, Jungs?“
Wenig später rauschte ihr Feuerstuhl über Berlins Straßen. Kitt saß mit seiner umgeschnallten Gitarre hinter Julie und klammerte sich überall fest, nur nicht an ihrem Babybauch. Anstelle eines Helms trug er eine schwarze Baumwollmütze mit weißer Fuck off Aufschrift. Moe lag wie ein Toter im Beiwagen und stöhnte theatralisch laut bei jedem Holperer der Straße.
Kitt war am heutigen Tag in ungewohnt guter Stimmung. Nachdem die Kleine aus seinem Appartement verschwunden war, hatte ihn aus dem Nichts die Muse gepackt und er hatte innerhalb von zwei Stunden einen neuen Song geschrieben – aus einem Guss, ohne Korrekturen oder Prokrastination, einfach frei raus, perfekt. Auf dem Weg zum Stripclub hatte er ihn ständig vor sich her gesummt und konnte es kaum erwarten, ihn das erste Mal vor Publikum zu spielen. Nachdem er sich von Eve das Geld für seinen Probearbeitstag abgeholt und einen befristeten Arbeitsvertrag unterzeichnet hatte, war er gleich zu Willi geeilt, der einen Block weiter in einer Maisonette-Wohnung hauste. Ein Nazi in einer verdammten Maisonette- Wohnung - das gibt's nur in Berlin! Nachdem Willi den Arbeitsvertrag mit Lupe genauestens untersucht und zur Absicherung noch Kitts neue Arbeitgeberin angerufen hatte, um nachzufragen, ob es hier auch mit rechten (!) Dinge zugehe, hatte er Kitt die verdammte Hand geschüttelt und ihm einen satten Aufschub um zwei Monate erteilt. Flocke und Torte hatten natürlich ganz schön blöd geguckt, als Kitt seinen Flachbild zurückverlangt und zu seiner eigenen Überraschung auf einen Wink von Willi auch bekommen hatte.
Kitt war in so guter Laune, dass er sich heute sogar ernsthaft Mühe gab, Julies Geplapper zu verfolgen.
„... dachte ja an Marlene. Das ist ein so eleganter, femininer, aber zugleich starker Name, findet ihr nicht?“, sagte sie und fügte, ohne eine Antwort von ihnen abzuwarten, selbstsicher hinzu: „Doch, doch.“
Kitt fand Marlene als Namen ungefähr genauso grässlich wie die anderen Vorschläge, die er sich seit Stunden anhören musste: Darunter waren so garstige Kindesnamen wie etwa Ronja, Sybille, Meryl, Lydia und Barbara.
Julie warf einen Blick auf ihren Verlobten. „Momo findet ja Alexa so schön, nicht Darling? Damit könnte sie dann direkt in Daddys Fußstapfen treten und an der Stange ihr Geld verdie–“
„Kannst du mich in Grunewald absetzen?“, unterbrach Kitt sie, dem plötzlich ein Gedanke gekommen war.
„Was willst du denn in Grunewald?“, fragte Julie skeptisch.
„Na, mein Mädchen besuchen.“
„Aber Nadja wohnt doch in Mitte“, sagte Julie überrascht, doch dann erinnerte sie sich an das Mädchen im Krankenhaus. „Du meinst deine Neue, oder? Das Blondchen?“
„Scheiße, ja! Das ist vielleicht ne Katze, oder?“, schrie Kitt über den Autolärm hinweg in Julies Ohr. „Eine richtige scheiß Katze ist das!“
„Charmant“, entgegnete Julie sarkastisch. „Sie ist übrigens verlobt.“
„Ja“, sagte Kitt nur, „scheint grad Mode zu sein. Früher hieß es noch 'Willst du mit mir gehn'?“
„Irgendwann erwischt’s dich auch.“
Kitt lachte laut. „Das bezweifle ich. Ich bin nämlich nicht so blöd wie unser Mogli hier“, sagte Kitt und klapste Moses auf die Schulter. „Ein Augenaufschlag und zwei Brüste locken mich nicht aus dem Paradies.“
Julie zog die Augenbrauen nach oben. „Also bleibst du für immer und ewig bei Papabär im Dschungel?“
Kitt nickte. „Darauf kannst du einen lassen. Also, was ist jetzt mit Grunewald?“
„Lass mich überlegen...“, sagte Julie und tat einen Moment lang so, als ob sie dies tatsächlich in Erwägung ziehe. „Nein.“
„Ist doch gleich um die scheiß Ecke!“, sagte Kitt und biss sich sogleich auf die Lippen, denn Julie hatte ihm verboten, in ihrer Gegenwart zu fluchen – es könnte ja das verdammte Baby negativ beeinflussen. Scheinbar wollte sie nicht, dass es allzu viel von Kitts marodem Charakter mitbekam. Das ließ auch seine Chancen, Patenonkel des Kindes zu werden, gegen Null sinken. Trotz eines Abkommens mit Moses, das vor einigen Jahren im Suff entstanden war.
„Um die Ecke?“, sagte Julie kopfschüttelnd. „Dein Freund hat Schmerzen und du willst, dass ich dich ans andere Ende der Stadt fahre, damit du einem unschuldigen Mädchen das Leben zerstören kannst? Schätzchen, weißt du, was ein Narzisst ist?“
„Schon mal gehört...“, murmelte Kitt.
„Dann zeig endlich mal Verantwortung in deinem Leben und denk über dich selbst hinaus. Das Mädchen wird heiraten, Himmel! Was willst du eigentlich von ihr?“
Was er von ihr wollte, würde sie sowieso nicht verstehen. Also sagte er vage: „Ich will ihr nur was geben und so.“
„Versprichst du mir, dass du sie nicht angräbst?“
„Hoch und heilig, bei meiner verdammten Ehre!“, schwor Kitt sofort.
„Kitt!“, sagte Julie und blickte sogleich voller Sorge auf ihren Bauch.
„Sorry. Ich schwöre feierlich, dass ich sie weder anmachen werde, noch ihr die Unschuld raube oder das Herz irgendwie breche.“
„Lügner“, sagte Moe mit geschlossenen Augen.
Kitt schenkte Moe einen bitterbösen Blick. Dann erinnerte er sich an etwas und musste laut lachen.
„Jules, weißt du, was ich dem Vater deines Kind da versprechen musste, als er dachte, dass man ihm den Schniedel stutzt?“
Auf einem Gehsteig mitten im Nirgendwo stand Kitt mit dem im abgekoppelten Beiwagen sich befindlichen Moe. Sie sahen Julie nach, die auf ihrem Motorrad davon sauste und die beiden Männer in der Berliner Pampa stehen ließ. Erziehungsmaßnahmen hatte sie es genannt. Sie sollten beide einmal bei einem langen Spaziergang durch die Stadt über ihre Sicht auf das andere Geschlecht nachdenken. Kitt hatte geflucht, bis ihm die scheiß Wörter ausgegangen waren. Doch es hatte alles nichts gebracht. Julie hatte ihm eine gescheuert und war dann auf und davon.
„Toll“, sagte Moe ironisch zu Kitt. „Gut gemacht. Kannst du nicht einmal deine verdammte Schnauze halten?“ Kitt zündete sich eine Zigarette an und schwieg. Moe seufzte. „Schieb mich bitte zur nächsten S-Bahn-Halte und dann lass mich verdammt nochmal in Frieden.“
Vorsichtig fragte Kitt: „Können wir vorher noch nach Grunewald?“
Jessie saß neben ihrer Mutter auf einer Holzbank im Garten, die nahe der mannshohen Hecke unter einer ausufernden Trauerweide stand und sie verschleierte. Um sie herum befand sich ein Meer aus Blumen, Sträuchern und Zierpflanzen aller Art. Jessies linke Wange war rot. Verdientermaßen rot, wie sie sich selbst eingestehen musste. Trotzdem war sie nach der Ohrfeige des Vaters mit tränennassem Gesicht in den Garten hinaus gerannt. Ihre Mutter war ihr gefolgt. Jetzt saßen sie schon über eine Stunde unter dem Schutzmantel der Weide und Jessie hatte ihr alles gebeichtet – nun gut, fast alles. Den Kuss hatte sie verschwiegen.
Frau Havlock hatte ihrer Tochter genau zugehört und sie ausreden lassen. Nun, da Jessie fertig war mit ihrer Beichte, ergriff sie das Wort. „Es war richtig von dir, mir das mitzuteilen“, sagte sie und berührte Jessie mitfühlend an der Schulter.
„Du bist mir also nicht böse?“, fragte Jessie und sah ängstlich zu ihr auf.
Ihre Mutter lächelte sanft, streckte ihre Hände nach Jessies wildem Haar aus und begann dieses langsam zu bändigen und zu flechten.
„Im Leben eines jeden Mädchens“, sagte sie, „gibt es diesen einen Jungen, der es auf die Probe stellt. Oh, sie sind schön, verführerisch, wild. Nur zu gerne würden wir ihnen unsere Blüte schenken.“
Jessie schloss ihre Augen. War es möglich, dass ihre Mutter sie tatsächlich verstand? Sie hatte Recht, mit dem was sie sagte. Kitt war schön, war verführerisch, war–
„Aber sie sind das Werkzeug des Teufels“, fuhr ihre Mutter vehement fort. „Sie kommen in schöner Verkleidung und mit süßen Worten, um dich vom Licht Gottes in die Schatten zu locken. Jetzt ist der Moment für dich gekommen, deine Liebe zu Gott unter Beweis zu stellen. Widerstehe diesen körperlichen Gelüsten, bete zu Jesus Christus, dann bleiben die Tricks des Teufels wirkungslos.“
Jessie nestelte an einer Blume herum, zog ihr eine Blüte nach der anderen aus.
„Es ist nur, ach, ich weiß auch nicht...“, sagte Jessie.
„Hat er dieses besondere Etwas? Das Funkeln in den Augen, den schelmischen Blick? Fühlst du Zuneigung, vielleicht sogar so etwas wie Verliebtheit?“
Jessie musste nicht lange darüber nachdenken. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, stärker, als sie es je für möglich gehalten hätte. Schwach nickte sie.
„Dann glaube mir, was ich jetzt zu dir sage, Jessica. Er ist es: der Verführer. Aber du musst mir in dieser Sache vertrauen. Das, was du jetzt für ihn empfindest, ist nichts als eine bloße Laune deines Körpers – heute alles, morgen schon nicht mehr. Wenn sie vorüber ist, weißt du, dass ich Recht hatte. Wahre Liebe gedeiht mit jedem Tag, sie ist ein Geschenk unseres Herrn und kein Nachgeben körperlicher Lust. Okay?“
Jessie nickte schwach, war jedoch in Gedanken woanders.
„Mam?“, sagte sie leise.
„Ja, mein Schatz?“
„Wer war es bei dir? Wer hat dich auf die Probe gestellt?“
„Ach, er war niemand, Schätzchen“, sagte ihre Mutter ausweichend. „Ich weiß kaum noch wie er aussah, und seinen Namen habe ich auch längst vergessen. Sieh mal, wer da kommt.“
Ihre Mutter deutete durch das herabhängende Blätterwerk zur Terrasse. Dort erschien Jakob und trat, als er Jessie und Frau Havlock sah, über den Rasen zu ihnen. Sein rechter Arm befand sich in einer Schlinge. Jessies Herz schlug schneller. Sie hatte Angst vor seiner Reaktion – wie viel wusste er von ihren Eskapaden? Doch als Jakob unter der Trauerweide hindurchging und Jessie erblickte, erhellte sich sein Gesicht und strahlte sie an. Jessie konnte nicht anders, als ebenfalls breit zu lächeln. Das war der Mann, dem sie sich versprochen hatte. Und er war schön und freundlich und ehrenhaft und erbarmungsvoll – er war ein Glücksfang, ein Geschenk Gottes. Sie sprang auf und warf sich ihm in die Arme, ehe er ihre Tränen bemerken konnte. Jakob war überrascht ob ihrer Reaktion, freute sich aber, küsste ihren Haarschopf und erwiderte die Umarmung herzlich. Jessie schwor sich noch in dieser einen Umarmung, keinen Gedanken mehr an den Verführer Kitt zu verschwenden. Sie war verlobt. Sie würde heiraten. Sie würde glücklich werden.
„Was ist denn mit deinem Arm passiert?“, fragte Jessie, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.
„Du wirst es nicht glauben: Ich bin vom Pferd gefallen“, sagte Jakob und lachte laut über sich selbst.
Frau Havlock legte eine Hand auf Jakobs Schulter. „Dein Verlobter ist zu bescheiden. Die Männer sagen, er habe sich während der Jagd vom Pferd aus auf ein Wild geschmissen und es mit seinen eigenen Händen erlegt.“
Jessie sah fragend zu ihm auf, „Ist das wahr?“
Jakob zuckte bescheiden wie er war nur mit den Schultern und sagte: „Ich hatte keine Munition mehr – es war trotzdem dumm.“
Frau Havlock tat etwas, das sonst eigentlich tabu war. Sie verabschiedete sich von den beiden und ließ sie alleine im Garten zurück.
„Möchtest du dich setzen?“, fragte Jakob, und Jessie nickte. Sie kuschelte sich an Jakobs starke Schulter und fuhr mit ihren Fingerspitzen zärtlich über die Schlinge.
„Tut es noch sehr weh?“, fragte sie liebevoll.
„Jetzt gerade? Nein.“ Jakob sah sie an, sie waren sich zum ersten Mal körperlich sehr nahe. „Du hast mir gefehlt.“
„Du mir auch“, sagte Jessie und meinte es vollkommen ernst. Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen und so umarmte sie Jakob abermals. Plötzlich riss sie vor Schreck die Augen auf. Durch eine Lücke in der Hecke, die den Garten von der Straße trennte, erblickte sie Kitts Gesicht, das sie seinerseits mit einem seltsamen Ausdruck anstarrte.
Hinter der Hecke schritt Kitt den Gehweg auf und ab, auf und ab, auf und...
Zwei Zigaretten steckten zwischen seinen Lippen, an denen er wie ein Nager kaute. Er konnte noch immer nicht fassen, was er soeben im Garten der Havlocks erblickt hatte. Wie sie in seinen garstigen Armen lag! Heute morgen noch hatte sie sich wie eine Ertrinkende auf ihn gestürzt, hatte sich nach ihm verzehrt, ihn förmlich wund geküsst – und jetzt? Kitt ignorierte Moe, der auf der anderen Straßenseite mühevoll und stöhnend vom abgekoppelten Beiwagen in seinen seit Tagen dort geparkten BMW zu klettern versuchte.
Endlich hörte er, wie die Haustüre sich öffnete. Jessie stahl sich geschwind aus der Einfahrt um die Hecke, wo Kitt seit über zehn Minuten auf sie wartete.
„Bist du verrückt?“, zischte sie sofort bei seinem Anblick. „Du kannst nicht einfach so hier auftauchen! Was, wenn dich jemand sieht?“
„Liebst du ihn?“, blaffte Kitt sie an und biss dabei versehentlich die Filter ab, sodass beide Zigarettenstängel am Asphalt landeten.
Jessie wich seinem Blick aus. „Liebe ist etwas, das erst mit Gottes Segen entstehen kann“, sagte sie wie aus dem Lehrbuch.
Kitt lachte und Jessie machte Schhhh und sah besorgt um die Hecke herum zum Hauseingang.
„Glaubst du das wirklich“, sagte Kitt mit kaum gedämpfter Stimme, „oder haben dir das deine werten Eltern eingetrichtert?“
„Was weißt du schon von Liebe! Für dich bin ich doch nur eine weitere, die schnell wieder verpufft.“
„Ja, mag sein“, sagte Kitt achselzuckend. „Und?“
Jessie sah ihn halb enttäuscht, halb beeindruckt ob seiner kalten Ehrlichkeit an. „Du bist ein wahrer Romantiker, oder?“
„Wenn’s um solche Dinge geht, weiß ich besser Bescheid als du oder dein Jakob. Und ich verrate dir jetzt mal was: Den Einen, von dem dir deine Eltern wahrscheinlich seit deiner Kindheit in romantischen Erzählungen berichten, der auf einem weißen Schimmel eines Tages daherkommt, dein von Jesus gesandter Märchenprinz, der dich aus der Höhle des bösen Drachen befreit – den gibt’s nicht und den hat’s nie gegeben!“
„Jesus hat ihn mir schon lange geschickt“, sagte Jessie und vergaß jetzt selbst die Stimme zu senken, so aufgebracht war sie. „Und im Gegensatz zu dir behandelt mich Jakob wie eine Prinzessin.“
Kitt sah sie mit seinen wie üblich spöttisch blickenden Augen durchdringend an.
„Wenn er dich wirklich wie eine Prinzessin behandelt, warum hast du dann deinen ersten Kuss an mich verschwendet?“, sagte er durchtrieben und beugte sich zu ihr vor. „Oder bereust du’s und willst ihn zurück?“
Kitt berührte sanft ihre Lippen, doch Jessie entzog sich ihm sogleich. „Hör auf“, sagte sie. „Ich war betrunken, ich war nicht ich selbst, ich–“
„Im Gegenteil!“, schrie Kitt. „Du bist endlich mal aus deinem kleinen Schlummer erwacht. Und das macht dir Angst. Aber weißt du was? So ist das eben anfangs mit der Freiheit.“
Ihre Augen blickten Kitt unverwandt an, doch ihre Stimme änderte sich – eine kühle Bestimmtheit lag jetzt darin, die selbst Kitt nicht entging. „Das heute war ein Fehler, und es wird nicht wieder vorkommen.“ Sie deutete durch die Hecke auf ihr Familienhaus. „Das ist meine Welt.“
Kitt konnte es nicht fassen. Dieses dumme, indoktrinierte, naive Mädchen!
„Und was ist das für ne Welt?“, fragte er so laut, dass selbst Moe, der inzwischen halb im BMW saß, zu ihnen rüber schielte. „Eine, in der du wie ’n Köter an der Leine hängst und nicht tun darfst, wonach deine Natur strebt? Das ist keine Welt, das ist ein Gefängnis! Und alles, was du durch deine kleine Heirat erreichst, ist vom einen ins andere zu hüpfen. Das Einzige, was sich ändern wird, ist, dass dein Daddy die Zügel an deinen Verlobten übergibt.“ Kitt hielt inne, denn er bemerkte, dass ihre Augen feucht wurden. Er verfluchte sich selbst für seine harten Worte, verfluchte sich, dass er dieses schöne Kind wiedermal zum Weinen brachte. Etwas sanfter fuhr er fort. „Jessie, sieh mich an.“ Sie tat es, und Kitt legte seine Hände behutsam um ihre Hüfte. „Du bist eine erwachsene Frau. Du entscheidest selbst über dein Leben. Manchmal wirst du dabei voll auf die Schnauze fallen und deine Entscheidungen bereuen, aber du wirst aus jeder einzelnen lernen und stärker werden – für alles, was man sich entscheidet, gibt es einen Grund.“
Behutsam zog er sie zu sich heran. Sie ließ es zu seiner eigenen Überraschung geschehen. Ihre Lippen waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt und die Anziehung dazwischen war unausweichlich stark. Als Kitt schon die Augen in freudiger Erwartung eines Kusses schloss, drang die laute Stimme von Jessies Vater von der Veranda des Hauses zu ihnen durch die Hecke: „Jessica! Wo steckst du?“
Jessie erschrak sich heftig. Für einen Moment hatte sie ganz vergessen, wo sie war und welche Lippen sie im Begriff war, zu küssen. Hastig befreite sie sich aus seiner Umklammerung. „Es tut mir Leid, Kitt. Wirklich. Unter anderen Umständen, aber...“ Rückwärts, ihn immer noch betrachtend, entfernte sie sich von ihm.
„Warte“, sagte Kitt und hasste die Brüchigkeit, die mit einem Mal in seiner Stimme lag.
„Ich kann nicht, bitte.“
Sie machte auf dem Absatz kehrt, wollte gerade aus dem Schutz der Hecke aufs Grundstück schreiten, da sagte Kitt etwas, das sie zum Stehenbleiben veranlasste: „Ich hab 'n Lied über dich geschrieben. Willst du’s hören?“
„Über mich?“, fragte sie verdutzt.
„Über dich“, sagte Kitt.
Jessie rang mit einer Entscheidung. Dann bedeutete sie Kitt, einen kurzen Moment zu warten. In Richtung ihres Hauses schrie sie: „Ich komme gleich, Papa!“ Dann schenkte sie ihre ganze Aufmerksamkeit Kitt.
„Darf ich es hören?“, fragte sie und fügte hinzu: „Leise?“
„Ja“, sagte Kitt. Er griff nach seiner Gitarre am Rücken, doch irgendetwas ließ ihn innehalten. Stattdessen wanderten seine Hände in einer fließenden Bewegung weiter in die Jackentasche. Enttäuscht stellte sie fest, dass er eine neue Zigarette daraus hervorzog. Während er sie anzündete, sagte er, ohne sie anzusehen: „Eigentlich ist es total langweilig.“ Jessie schwieg und er fuhr fort. „Es hat gerade mal zwei einfache Akkorde. Takt und Versmaß hab ich aus dem Gesangbuch deiner Eltern geklaut.“ Kitt nahm einen ersten kräftigen Zug seiner Kippe. „Um’s richtig zu spielen“, sagte er und stieß eine Rauchwolke aus, „muss man jede Saite vorher falsch stimmen.“
„Warum tust du das?“, sagte Jessie mit verletzter Stimme.
Doch Kitt fuhr unbeirrt fort. „Und die Lyrics erst! Auf den Punkt! Verse von großer Feigheit und Verblendung mit einer kleinen Prise ach so geliebter Opferhaltung. Willst du mal ne Zeile hören?“
Jessie warf ihm einen tief verletzten Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand um die Hecke. Kitt schleuderte ihr vor Wut schäumend sein Beanie nach, das sie knapp verfehlte und mit Aufschrift Fuck off nach oben am kurzgetrimmten Rasen landete.
Grimmig schritt er über die Straße auf den BMW zu. Er hatte erst drei, vier Züge seiner Zigarette inhaliert und doch schnippte er sie wütend weg. Sie schmeckte ihm gerade nicht. Moe saß inzwischen mehr schlecht als recht hinterm Steuer im Wagen.
„Und, Romeo?“, sagte er, als Kitt den Wagen erreichte. „Habt ihr euch beide vergiftet? Können wir jetzt endlich los?“
Zur Antwort knallte ihm Kitt die Fahrertür ins Gesicht.
Zwei Wochen waren seit der Hecken-Geschichte vergangen und Jessie hatte Kitt seither nicht wieder gesehen. Manchmal ertappte sie sich bei der Frage, was er wohl gerade tat. Und manchmal hoffte sie sogar, er würde nachts vor ihrem Haus mit einer Zigarette auf und ab gehen, sie durch die Hecke hindurch beobachten, ihr tagsüber folgen und eines unerwarteten Augenblicks plötzlich vor ihr auftauchen. Doch sie wusste, dass das nicht geschehen würde. Und damit bestätigte sich, was sie insgeheim schon lange wusste: Es hatte 'Puff!' für sie gemacht. Vermutlich hatte dieser schöne Junge längst eine andere in seine Schattenwelt entführt und mit ehrlichen Küssen und falschen Liebesschwüren betört.
In ihrem Haus war seitdem kein Wort mehr über ihre Verfehlungen gefallen – man versuchte die unschöne Sache totzuschweigen und zu verdrängen. Dennoch spürte sie noch immer den stillen Zorn ihres Vaters. Und das, obwohl Jessie in dieser Zeit die beste Tochter, Schwester, Freundin und Verlobte war, die man sich nur vorstellen konnte. Wie keine andere hatte sie sich an den Vorbereitungen zum anstehenden Reinheitsball beteiligt, hatte ihrer Schwester mit den Tanzschritten und der Auswahl ihres Kleides geholfen, war der Mutter beim Backen der unzähligen Torten und Kuchen zur Hand gegangen. Außerdem war sie täglich darum bemüht, Luke nun nicht mehr als ihren kleinen Bruder, sondern als Mann und Stellvertreter ihres Vaters zu behandeln. Ihrem Vater stand sie bei der notwendigen Bibelarbeit für die sonntäglichen Predigten ebenfalls zur Seite. Und was Jakob anging, so hatte sie ihn ständig zu sich eingeladen, etwa, wenn sie am Freitag Zuhause Spieleabend hielten, oder wenn Jessie den jüngeren Gemeindekindern aus der Bibel vorlas. Sie hatte ihn nicht nur ihren Freundinnen, sondern allen Gemeindemitgliedern als Zukünftigen persönlich vorgestellt. Außerdem war sie jeden zweiten Tag in der Kaserne erschienen, hatte Jakob ein selbstgekochtes Mittagessen gebracht und ihn auch abends vor Sonnenuntergang oft besucht – nur, um ihn dabei zu beobachten, wie er als kommandierender Ausbilder junge Rekruten im Kasernenhof mit Achtung heischender Stimme antrieb und das Letzte aus ihnen herausholte. Jakob war ein geborener Anführer, ein Alphatier, zu dem die jungen Soldaten respektvoll aufblickten. Oft war er knallhart und arg fordernd, doch nie, fand Jessie, war er ungerecht oder machte jemanden grundlos zur Schnecke. Eines Tages, dachte sie, würde er einen strengen, fordernden, aber immerzu fairen Vater für ihre gemeinsamen Kinder abgeben.
Jessie war froh, als sich diese anstrengenden zwei Wochen nun endlich dem ersehnten Höhepunkt näherten. Zum Vorabendgottesdienst des anstehenden Reinheitsballs war die Evangelische Freikirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Man hatte sogar zusätzliche Stühle anschaffen müssen, um einem jeden Mitglied eine Sitzgelegenheit bieten zu können. Passend zum morgigen Ball drehte sich die Predigt heute um ein Thema, das sich speziell an die heranwachsenden Töchter der Gemeinde richtete.
„... und wenn die Schlange euch wieder ins Ohr säuselt, dann seid standhafter als Eva es war und sagt entschieden: Nein!“, dröhnte die Stimme ihres Vaters durch den Gemeindesaal.
Und die Mädchen im Raum erwiderten laut: „Nein!“
„Und wenn gottlose Männer unanständige Dinge von euch verlangen, dann stellt euch schützend hinter euren Herrgott und sagt mit aller Kraft: Nein!“
Wieder erklang ein lautes „Nein!“ auf Seiten der Mädchen.
Pastor Havlock sah sich im Raum um und betrachtete jedes angesprochene Mädchen einzeln. „Denn wenn ihr nicht 'Nein' sagt, liebe Töchter, wenn ihr euren Begierden und Lüsten frönt, dann entfernt ihr euch von eurem Herrn und Heiland Jesus Christus, und es werden sich die Tore der Hölle unter euren Füßen öffnen und euch bis in alle Ewigkeit verschlingen! Ich frage euch: Wollt ihr das?“
Neben den angesprochenen Mädchen erhoben sich jetzt auch viele der älteren von ihren Plätzen, die ihren Reinheitsball bereits hinter sich hatten. Im Chor riefen sie gemeinsam ein vehementes, lautes „NEIN!“, das im Innern lange widerhallte. Obwohl Jessie ihre Schwester herzlich umarmt hatte und ebenfalls in den antwortenden Ruf der anderen mit eingefallen war, war sie am heutigen Tag doch nicht ganz bei der Sache. Sie schob es auf die Anstrengungen der vergangenen Tage. Doch als Jakob ihre Hand in die seine nahm, verdrängte sie all das, was seit Tagen in ihr im Verborgenen rumorte und zur Oberfläche drängte.
„Ich hole dich morgen gegen Mittag ab, dann fahren wir gemeinsam zum Ball“, flüsterte Jakob zärtlich in Jessies Ohr, als sie sich nach einem langen Tag an der Veranda voneinander verabschiedeten. Jessie drückte ihn sehnlich an sich und Jakob erwiderte ihre Zärtlichkeit mit einem abschließenden Handkuss. Es wurde inzwischen immer schwerer, sich von ihr zu trennen und die Nächte allein in seiner leblosen Junggesellenwohnung in Berlin-Charlottenburg zu verbringen. Er sehnte sich so sehr danach, ihr endlich nahe zu sein, ihren Körper zu fühlen, ihn zu erforschen und mit ihr in seinen Armen gemeinsam einzuschlafen – für den Rest seines Lebens. Ob es ihr genauso erging? Manchmal hatte Jakob das Gefühl, dass sie in seltenen Momenten, wenn er sich ihr ganz und innig hingab, ganz woanders war – an einem Ort, an dem er ihr nicht zu folgen vermochte. Jakob verdrängte seine Sorgen. Ihr Vater hatte ihn persönlich als Schwiegersohn auserwählt und sie selbst hatte ihm das Jawort gegeben. Das war alles, was zählte, dachte er tröstlich.
Jakob entfernte sich aus der Einfahrt und bog mit einem Lächeln auf den Lippen um die Hecke, wo sein Range Rover im Schein einer Straßenlaterne stand. Verdutzt stellte er fest, dass eine rauchende Gestalt auf der Motorhaube seines Wagens saß, eine Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, mit dunkler Sonnenbrille. Obwohl es einige Wochen her war, erkannte Jakob ihn sofort. Es war ganz eindeutig dieser dilettantische Straßenmusiker, der ihm das Portemonnaie geklaut hatte. Jakob ballte seine Fäuste und beschleunigte seine Schritte. Der Bursche aber schien die Ruhe selbst. Obwohl Jakob vor Zorn brodelte, lächelte der verdammte Kerl nur vergnügt bei seinem Anblick.
„Na“, sagte er, „ausgeschmust?“
„Runter von meinem Wagen.“ Jakobs Stimme war leise und eiskalt. Hätte ein Rekrut in der Kaserne ihn so erlebt, er hätte schnellstens das Weite gesucht. Doch nicht dieser Typ.
„Dacht ich mir doch, dass der Schlitten dir gehört“, sagte Kitt und drückte seinen abgebrannten Zigarettenstängel vor Jakobs Augen auf der Motorhaube aus. „Wie für Kriegshelden gemacht.“
Jakob musste sich förmlich dazu zwingen, die Beherrschung dieses Mal nicht zu verlieren und stattdessen Ruhe zu bewahren. „Was willst du, Parasit?“, sagte er ganz sachlich.
„Parasit?“, der Dreckskerl johlte wie ein toller Köter. „Du weißt ja gar nicht, wie recht du hast. Und jetzt rate doch mal, an wem ich gerade wie eine Zecke klebe?“ Jakob ging nicht darauf ein und schwieg, also fuhr Kitt fort. „Wie langweilig ihr Gottesanbeter seid.“
Kitt fischte aus seiner Jackentasche drei zerknitterte Fotos und schmiss sie vor Jakobs Füße. Falls dieser Bastard dachte, er würde vor ihm auf die Knie gehen und die Bilder aufsammeln, so hatte er sich ordentlich getäuscht. Der Wind drohte schon, die Bilder mit sich zu reißen, doch Jakob blieb regungslos.
Sarkastisch sagte Kitt: „Ich wäre auch so cool, wenn es um meine Verlobte geht.“
Jakob blinzelte nach unten. Ihm stockte der Atem, als er Jessica auf den Bildern erkannte. Sofort bückte er sich und sammelte sie auf. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er die Fotos nacheinander betrachtete. Das erste zeigte seine Verlobte auf einem Jahrmarkt vor einem erleuchteten Riesenrad; sie trug das weiße Sommerkleid, das Jakob so mochte, und lächelte mit ihrem zuckersüßen, unschuldigen Lächeln in die Kamera. Das zweite Bild war ein völliger Kontrast zum ersten. Es war ein Selfie von Jessie und... diesem Typen da. Es sah aus, als ob es in einer heruntergekommenen Kneipe entstanden war. Zusammen saßen die beiden auf einem alten Musikkasten. Jessies schönes Kleid war mit Cocktailspritzern befleckt und ihr Blick hatte nichts mehr von jener Unschuld des ersten Bildes – im Gegenteil, sie strahlte darauf etwas aus, das Jakob fast unheimlich war: Eine Art unsittlicher Verruchtheit, die er ihr niemals zugetraut hätte. Vielleicht aber, dachte er, ging dieses Teuflische auch von diesem Bastard aus, der über ihrem Nacken die Vampirfratze machte und dabei herausfordernd in die Kamera schielte, so als hätte er schon an jenem Abend gewusst, dass Jakob dieses Bild einmal zu Gesicht bekommen würde. Mit zitternden Händen und bangem Herzen besah er sich das letzte. Es war jenes Foto von Jakob und Jessie, das sich in seinem Geldbeutel befunden hatte, jenes ihm so heilige Bild, das in der ersten Woche ihres Kennenlernens im Garten entstanden war. Es war Jakob deswegen so heilig, weil er sich an jenem Tag Hals über Kopf in Jessie verliebt hatte.
Jetzt war das Bild zerknittert und hatte einen tiefen Riss.
„Dreh es um“, hörte er wie von ganz weit weg die Stimme des Straßenjungen.
Ganz benommen tat er wie geheißen. Auf der Rückseite ihres gemeinsamen Bildes war ein fettes, mit Edding aufgemaltes Fragezeichen.
„Keine Ahnung, wie du das eingefädelt hast“, sagte Jakob cooler als er war, „aber Jessica würde sich niemals so erniedrigen.“
Zu Jakobs wachsendem Zorn grinste der Junge fies. „So ein Lächeln“, er meinte das erste Bild, „schenkst du nicht irgendwem. Aber keine Sorge, Jac, noch hält dein Mäuschen die Stellung. Aber nur weil ich traditionelle Werte vertrete. Die verlangen nämlich von mir, dass ich mir erst den Segen des Verlobten hole, bevor ich ihr die Unschuld raube.“
Jetzt geschah es doch. All die angestaute Wut auf diesen Dreckskerl suchte sich ein Ventil. Mit einem Satz war Jakob bei Kitt, packte ihn am Kragen, schleuderte ihn wie einen Reissack auf den nassen Asphalt und drückte ihn fest zu Boden.
„Willst du dich echt nochmal mit mir anlegen?“, zischte Jakob. „Hat dir das letzte Mal nicht gereicht?“
Kühl sah Kitt zu ihm auf. „Seitdem hat sich einiges geändert – dein Mädchen ist nämlich dabei, die Seiten zu wechseln.“
„Was willst du?“, fragte Jakob.
„Nur was mir zusteht. Eintausend–“
„Schläge? Kannst du haben.“
„Euro“, sagte Kitt humorlos. „Und nochmals tausend für meine kaputte Gitarre.“
„Soll das ein Witz sein?“
Kitt befreite sich aus seinem Griff und rappelte sich auf. Wie für eine Katze, die der Maus in ihren Tatzen überdrüssig war, war das Spiel für ihn vorbei – jetzt ging’s ans Eigentliche.
„Zweitausend auf die Hand und du siehst mich nie wieder. Ich lass dein Mädl an der Leine. Sie wird weiter nach eurer männlichen Pfeife tanzen, dich heiraten und dir irgendwann viele kleine Kriegshelden schenken.“ Kitts Stimme bekam einen drohenden Unterton. „Gib mir nur einen verdammten Cent weniger und ich erzähl ihr, wo du dich nachts nach Feierabend mit deinen Kameraden so rumtreibst. Sie wird aufwachen und mit mir durchbrennen. Du weißt ja, wie die jungen Dinger sind.“ Kitt streckte Jakob feierlich seine Hand entgegen. „Komm schon, Jac, gib dir einen Ruck und schlag ein.“
Jakob starrte ihn voller Hass an. Nie hatte ihn jemand so respektlos und forsch behandelt. Und nie hatte er selbst einen anderen Menschen so innig gehasst und einen grausamen Tod gewünscht. Trotzdem schlug er ein. Zu Kitts Unmut aber ließ Jakob seine Hand nicht los, sondern drückte im Gegenteil noch fester zu, bis Kitts Fingerknochen schon knirschten und sich sein Grinsen in eine stille Leidensmaske verwandelte. Mit der anderen Hand griff Jakob unvermittelt in seinen langen Mantel und zog seinen Colt M1911 hervor. Noch immer mit festem Händedruck richtete er den Lauf der Waffe gegen Kitts Brust – da wo bei normalen Menschen das Herz saß.
„Weißt du, was das ist?“, fragte Jakob leise.
„Ne Wumme, würd ich sagen“, presste Kitt zwischen seinen Zähnen hervor.
„Sein Name ist Frank“, fuhr Jakob drohend fort. „Ein Ungläubiger musste schon dran glauben, weil er sich mit uns angelegt hat.“ Jakob entriegelte zu Kitts Entsetzen die Waffe. „Du bekommst dein Geld. Nach der Hochzeit. Aber wenn ich dich noch einmal mit meiner Verlobten erwische, dann...“
Jakob bohrte den Lauf der Waffe tiefer in Kitts Brust, bis dieser vor Schmerz aufstöhnte. Dann endlich ließ er Kitts Hand los, verstaute die Waffe zurück in seiner Manteltasche, stieg ohne ein weiteres Wort in seinen Range Rover und fuhr davon.
Kitt sah ihm nach, während er sich die taub gewordene Hand massierte. Der Kriegsheld war durchtriebener als gedacht. Er sollte es nicht übertreiben. Andererseits war er schon schlimmeren Scheißkerlen gegenüber gestanden; und der Anblick einer auf ihn gerichteten Waffe war ihm auch nicht ganz unvertraut.
Kitt warf einen letzten Blick auf die imposante Vorstadtvilla. In Jessies Zimmer brannte noch Licht. Er sah eine schmale Silhouette dahinter, die im Zimmer stand und sich die Haare kämmte. Ja, er war ein Mistkerl, aber sie war nicht viel besser. Fast hätte er den Fehler gemacht, sich wieder auf ein Weibsbild einzulassen. Mit Gefühlen und allem, was dazu gehörte. Ha, dachte Kitt, er sollte ihr danken, dass es soweit gar nicht erst gekommen war und sie sich für Major Tom entschieden hatte. So konnte er in aller Ruhe Rache nehmen, nebenbei noch Geld verdienen und sich eine Verliebtheit, die seiner Erfahrung nach immer mit einem gebrochenen Herzen endete, ersparen. Im Grunde also eine Win-Win-Win Situation.
Kitt spuckte kräftig zu Boden und nahm Abschied von Jessie, ihrer gemeinsamen Zeit und den Zärtlichkeiten an jenem Sonntag Morgen vor zwei Wochen, die für wenige Augenblicke die Barriere zwischen ihren beiden so unterschiedlichen Welten eingerissen hatten. Für einen Wolf wie ihn gab es genügend Rehe in Berlin, ja die ganze verdammte Stadt war ein einziges Wildgehege prachtvollster Rehlein, die nur darauf warteten, gerissen, verdaut und wieder ausgespuckt zu werden. Was kümmerte ihn also dieses Eine? Zum Teufel mit ihr, dachte Kitt, und verschwand in der vertrauten Dunkelheit einer nasskalten Herbstnacht.
Der große Tag war gekommen – zumindest für Jessies kleine Schwester. In einem pinken Kleidchen und mit hochgesteckter Frisur samt perlenbesetztem Diadem stolzierte Sarah die Treppe hinab in den Wohnraum, wo ihre Familie sie mit Glückwünschen und Umarmungen empfing. Sie alle waren dem heutigen Anlass entsprechend festlich gekleidet. Die Männer – Herr Havlock, Lukas und Jakob – trugen schwarze, maßgeschneiderte Smokings; Frau Havlock hatte sich nach langem Hin und Her für ihr bodenlanges, weinrotes Abendkleid entschieden, während Jessies Wahl auf ein ärmelloses Cocktailkleid aus dunkelblauem Chiffon gefallen war, das ihr goldenes Haar besonders gut zur Geltung brachte. Sie alle hatten viel Arbeit und Zeit investiert, um diesen wichtigen Tag für die dreizehnjährige Sarah zu etwas ganz Besonderem zu machen. Ihre Eltern hatten den Reinheitsball vor sieben Jahren zum ersten Mal organisiert, weil sie der festen Überzeugung waren, dass jedes Mädchen ihrer Gemeinde sich einmal im Leben wie eine wahre Prinzessin fühlen sollte – aber mehr noch ging es darum, den Mädchen ein Gefühl von Geborgenheit und Wertschätzung zu vermitteln, sodass sie mit gestärktem Glauben ihren weiteren Lebensweg beschreiten konnten. Jessies Erinnerungen an ihren Reinheitsball gehörten zu den wichtigsten in ihrem jungen Leben. Aus diesem Grund hatte sie sich dieses Jahr so sehr bei der Organisation des Balls ins Zeug gelegt. Sie wollte, dass ihre Schwester einen ebenso schönen Tag erlebte wie sie damals.
„Meine Prinzessin!“, stieß Herr Havlock entzückt bei Sarahs Anblick aus und umarmte sie mit väterlicher Herzlichkeit. „Wie schön du bist.“
„Fahren wir jetzt endlich, Papa?“, fragte Sarah ganz ungeduldig vor Vorfreude. Seit Tagen sprach sie von nichts anderem als dem Ball, dem Gelübde, dem Tanz und natürlich ihrem Ring, den sie heute bekommen würde.
„Wir fahren“, sagte ihr Vater. Er wandte sich an den Rest der Familie. „Kommt.“
Jessica wollte eben ihrer Mutter und ihrem Bruder folgen, als der Vater sagte: „Jessica, du fährst mit Jakob.“
Keine Minute später waren sie aus dem Haus, während Jessie noch auf Jakob wartete, der sich auf der Toilette frisch machen wollte. Als er zu ihr zurückkam, zeichnete sich ein schwaches Lächeln auf seinem müden Gesicht ab. Jessie erwiderte es zaghaft – sie war verunsichert ob seiner Distanziertheit heute. Er wirkte, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugemacht; doch als Jessie ihn danach fragte, redete er sich nichtssagend heraus. Die dunklen Augenringe und sichtbaren Bartstoppel in seinem Gesicht aber sprachen Bände.
Jessie räusperte sich. „Du bist so ruhig heute. Gefall ich dir nicht?“ Sie drehte sich um die eigene Achse, um ihrem Verlobten so vielleicht ein Kompliment zu entlocken.
Jakob rieb sich die Augen, dann lächelte er angestrengt. „Du siehst umwerfend aus.“
Jessie ging ernst auf ihn zu und drückte sich an ihn. „Magst du mich nicht mehr heiraten?“, fragte sie und offenbarte ihm damit ihre stille Sorge.
„Was?“, stieß Jakob überrascht aus. „Nein! Ich meine, ja, natürlich möchte ich dich heiraten. Das ist es nicht... es ist wahrscheinlich gar nichts, aber...“
„Du bist süß, wenn du so grübelst“, sagte Jessie neckend. „Du siehst dann aus wie ein großer, grübelnder Bär.“
Sanft strich sie mit ihren Fingerspitzen über seinen struppigen Dreitagebart, den sie so zum ersten Mal an ihm sah. Es fühlte sich interessant an. So rau, so anders und männlich. Und ehe sie wusste, was sie tat, hatte sie sich schon auf die Zehenspitzen gestellt und sanft seine Wange geküsst. Ihre Lippen wanderten weiter, gierig darauf, die seinen zu kosten.
Doch Jakob wich ihr aus und zog sich zurück. „Unser Gelübde“, sagte er nur.
Jessie sah ihn gekränkt an. „Magst du nicht?“
„Es wäre falsch.“
„Nicht einmal probieren?“, säuselte sie und schmiegte sich liebkosend an ihn.
„Hör auf, Jessie... Jessie, bitte...“, sagte Jakob wieder und wieder unter ihren gehauchten Küssen. Irgendwann war es zu viel für ihn. „Es reicht!“ Jakob wandte sich ab von ihr und sah nachdenklich aus dem Wohnzimmerfenster nach draußen.
Jessie stand verunsichert hinter ihm und legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
Jakob fuhr zu ihr herum. „Hast du ihn auch geküsst?“
Erschrocken sah Jessie auf. „Wie bitte?“
„Diesen Straßenmusiker.“
„Ich kenne keinen Straßenmusiker“, sagte Jessie wie aus der Pistole geschossen.
Doch Jakob blieb unbeirrt. „Du hast dich mit ihm getroffen. Ich verzeihe dir, wir heiraten trotzdem. Ich möchte nur wissen, warum.“
„Ich weiß wirklich nicht–“, stotterte Jessie.
„Jetzt sag mir endlich die Wahrheit, verdammt!“, sagte Jakob mit donnernder Stimme. Als er die Furcht in ihren Augen bemerkte, ließ er die zur Faust geballten Hände wieder sinken und sagte etwas sanfter: „Verzeih mir. Ich wollte nicht schreien. Nein, hab keine Angst vor mir.“ Jakob nahm Jessie in seine starken Arme. Sie wirkte ganz verstört und zitterte am ganzen Leib. „Ist ja gut, alles ist gut. Er hat dich ausgenutzt, nicht wahr? Aber mach dir keine Sorgen, Liebling, er wird dich nicht wieder belästigen – dafür habe ich gesorgt.“
„Hast du... hast du...“, sagte Jessie und konnte kaum sprechen, „... hast du ihm... wehgetan?“
Jakob spürte, wie sich sein Magen krampfhaft zusammenzog und sich ein Gefühl von eisiger Benommenheit im ganzen Körper ausbreitete. Die Zeit stand still in jenem Moment, da er begriff, dass alles, was dieser Kerl ihm gestern an den Hals geworfen hatte, stimmte. Und jetzt wusste er auch über die Gefühle seiner Verlobten Bescheid.
„Ich habe ihm klargemacht, dass du nicht zur Verfügung stehst“, sagte Jakob schließlich und klang dabei so bestimmt und unnachgiebig wie Jessies Vater.
Jessie löste sich von ihm. Langsam fand sie ihre Stimme wieder.
„Zur Verfügung?“ Sie sah ihn erschüttert an. „Was bin ich denn für dich? Ein Objekt, das man in seine kleine Schatulle sperrt?“
„Nein, so war das nicht gemeint. Ich habe mich falsch ausgedrückt.“ Doch zu spät. Jessie war schon auf halbem Wege nach draußen. „Hey! Wohin willst du?“, rief Jakob ihr nach.
Vor Wut schäumend, stoppte sie. „Ich gehe, wohin ich will, Jakob Wojczik! Du hast mir nichts zu verbieten. Noch nicht.“
Jakob war vor ihr bei der Tür und versperrte ihr den Weg nach draußen. Mit seinen 1,88m und 90kg Körpergewicht war er für die schmächtige Jessie ein nahezu unüberwindbares Hindernis.
„Willst du zu ihm?“, fragte er mit eisiger Stimme.
„Das geht dich nichts an!“, schrie Jessie ihn an und spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.
„Doch, das tut es!“, schrie Jakob zurück und packte sie am Handgelenk. „Du bleibst bei mir! Wir fahren jetzt zum Ball, keine Widerrede.“
„Ich gehe“, sagte Jessie trotzig, erstaunt über die Bestimmtheit in ihren Worten.
Jakob baute sich vor ihr auf. „Das verbiete ich.“
„Du verbietest es?“ Trotz ihrer Nervosität und Angst, entfuhr Jessie ein lautes Lachen. Er hatte recht gehabt, dachte sie, Kitt hatte mit allem recht gehabt. Von einem Gefängnis ins nächste, hatte er ihr gesagt. Ihr Lachen erstarb und als sie ihren Verlobten erneut ansah, hatte sich etwas in ihren Augen verändert. Eine Härte lag plötzlich darin.
„Wir sehen uns am Ball“, sagte sie kühl, befreite sich aus seinem Griff und schritt an ihm vorbei. Halb rechnete sie damit, dass er sie gewaltsam aufhalten, vielleicht sogar schlagen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Jakob stand wie festgefroren auf der Stelle und sah ihr nach, wie sie verschwand.
Ihre Augen, dachte er bestürzt, sie waren ohne Liebe für mich.
Jessie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Erst überlegte sie, eine ihrer Freundinnen aufzusuchen, um sich den Kummer von der Seele zu reden. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass diese sicherlich schon mit ihren Familien auf dem Weg zur Kirche waren. In ihrer Verzweiflung erwog sie sogar für einen Moment, nach Neukölln zu fahren, ehe sie auch den Gedanken schnell wieder verwarf. Kitt würde sich nicht für ihre Tränen erwärmen, im Gegenteil, wahrscheinlich würde er sie voll besserwisserischer Häme von sich weisen.
Einsam und verlassen steuerte sie eine halbe Stunde später an den einen Ort, der ihr als letztes in Erinnerung gerufen wurde: Das Somnumbale am Jahrmarkt. Selbst um diese frühe Uhrzeit waren viele Stühle und Tische mit Stammgästen und anderen einsamen Gestalten besetzt. Die Jukebox spielte R.E.M.’s Losing My Religion. Sämtliche Blicke folgten ihr, als sie die Musikkneipe in ihrem auffallenden Abendkleid betrat. Am Tresen erkannte sie zu ihrer großen Erleichterung eine vertraute Person unter all den Fremden, die einen exotischen Cocktail vor sich stehen hatte und wie immer Tabak aus einer Dose schnupfte.
„Solltest du nicht am Ball sein?“, sagte Anton, als Jessie neben ihm auf einem freien Barhocker Platz nahm.
Jessie zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Darf ich dich etwas fragen? Etwas persönliches?“ Anton grunzte nur. Jessie hielt das für ein Ja. „Glaubst du an Gott?“
„An wen?“, fragte Anton, während er sich ein Häufchen Tabak genehmigte.
„An Gott, den Herrn“, sagte Jessie wie selbstverständlich.
Mit geschwärzter Nase sah er ihr ins Gesicht. „Ach, den Gott meinst du. Gott, der Herr“, sagte Anton und lachte hustend. „Das klingt aber sehr altmodisch, findest du nicht? Weißt du, ich hab’s nicht so mit Göttern, die einem in die Wiege gelegt werden. Nein... Gott ist nicht vererbbar. Man muss ihn immer wieder aufs Neue finden – jeder für sich allein.“ Anton musterte Jessie eindringlich. „Wo drückt’s, Kindchen?“
„Ach, ich weiß auch nicht“, sagte Jessie und betrachtete ganz betrübt die beiden Ringe, die fest auf ihren Fingern saßen. „Ich fühle mich so schuldig. Ich habe mein Versprechen gegenüber Gott und meinen Eltern gebrochen.“ Sie schwieg.
Anton sah sie mitfühlend von der Seite an. „Weißt du, ich kenne da einen Mann, vielleicht hast du von ihm gehört, der wurde nicht auf die Erde geschickt, um über uns zu richten, sondern uns aufzurichten. Also Kopf hoch, Mädchen, so schlimm kann’s schließlich nicht sein.“
Doch das war es, dachte Jessie, was weißt du schon, alter Mann! Du bist vogelfrei, kannst tun und lassen, was du willst. Ich aber habe Verpflichtungen, Familie und einen Glauben.
„Ich habe gesündigt, Anton“, sagte sie leise. „In Gedanken, Worten und Taten. Jetzt bin ich eine unreine, befleckte Sünderin, die den Heiligen Geist mit ihrer Unzucht betrübt und...“ Jessie versagte die Stimme vor Scham.
„Reichst du mir die mal bitte?“, sagte Anton und deutete auf die Salzstangen am Tresen. Jessie gab sie ihm. Während Anton fröhlich vor sich hinknabberte, sprach er mit vollem Mund weiter zu Jessie: „Früher empfand ich mich wie du als wiedergeborener Christ. Die Bibel war das unfehlbare Wort Gottes, daran gab’s überhaupt keinen Zweifel. Und wie dein Vater predigte ich es Jahrzehnte lang meiner Gemeinde. Wort für Wort.“
Also war es tatsächlich wahr, dachte Jessie, Anton war einmal ein Priester gewesen. Genau wie ihr Vater.
„Was ist passiert?“, fragte sie neugierig und vergaß einen Moment lang ihre eigenen Sorgen.
„Eine gute Frage, ja.“ Anton stopfte sich den Mund mit den restlichen Salzstangen voll, kaute heftig und schluckte alle auf einmal hinunter. Dann fuhr er fort: „Seit meiner Zeit in der Bibelschule hatte ich immer wieder diesen einen Traum. Eine mannsgroße giftige Schlange kam darin vor, die sich vor mir aufbäumte und mich zurück in ein dunkles Verlies drängen wollte. Sie öffnete ihr Maul und sagte, wenn ich nicht freiwillig ginge, würde sie Gewalt anwenden. Immer, wenn sie zubiss, erwachte ich schweißgebadet und mit schrecklich rasendem Herzen. Zwanzig lange Jahre. Und dann, eines Nachts, als die sprechende Schlange mir wiedermal den Weg versperrte und lispelnd drohte, mir wehzutun – da kam mir aus heiterem Himmel ein Gedanke. Und weißt du, was ich dann tat?“ Anton lächelte bei der Erinnerung. „Ich richtete mich auf und lachte ihr ohne Furcht ins Gesicht! Vor meinen Augen wurde sie kleiner und kleiner und verwandelte sich schließlich in einen goldenen Schlüssel. Ich ging im Traum eine Wendeltreppe nach oben, steckte den Schlüssel in ein rostiges Schloss und trat durch die Kerkertür ins Freie – vor mir breitete sich ein atemberaubendes Panorama aus! Ich war auf dem Gipfel eines Berges, der beinahe den Himmel küsste. Vor mir stand eine in Leinen gekleidete Gestalt, die mich mit ausgestreckten Armen lächelnd in Empfang nahm. Ganz überwältigt von Seinem Anblick, sank ich vor Jesus auf die Knie. Und weißt du, was Er da tat? Er lachte! Ich höre es noch heute, dieses Lachen der Ewigkeit. Jesus half mir auf und fragte mich mit glucksender, scherzhafter Stimme, wo ich denn so lange gewesen sei.“ Anton schloss einen Moment lang seine Augen, um sich das Bild Jesu Christi zu vergegenwärtigen. Lächelnd fuhr er fort: „Im selben Jahr noch legte ich mein Amt nieder und trat aus der bibeltreuen Gemeinde aus.“
Jessie saß wie gebannt auf ihrem Hocker und betrachtete den alten, heruntergekommenen Greis neben sich, den ihre Freundinnen als gottlosen Spinner bezeichneten, den ihr Vater aufgrund seiner Lebens- und Glaubensansichten gefeuert hatte und der hier am Rummelplatz in einem der brüchigen Stände Nacht für Nacht schlief. Wie glücklich er schien, wie vergnügt und zufrieden mit sich und der Welt! Trotz seines hohen Alters ähnelte er bei genauem Betrachten mehr einem Kind als einem Erwachsenen. Anton summte vor sich hin, glücklich mit seiner kleinenTabakdose und dem Geschmack der Salzstangen. Und seine Erzählung, der Traum...
„Was war das für ein Gedanke, der die Schlange vertrieb?“, fragte Jessie leise.
„Oh, ein ebenso banaler wie genialer“, sagte Anton schlicht und sah ihr in die Augen. „Schlangen können nicht sprechen.“
Verblüfft erwiderte sie seinen Blick. „Schlangen können nicht sprechen?“ Das war alles?, dachte sie ernüchtert.
Anton nickte eifrig und wiederholte seine Worte langsam: „Schlangen können nicht sprechen.“
Jessie war zugegebenermaßen enttäuscht. Sie hatte mit einer Art Erleuchtung gerechnet, doch nicht mit so etwas selbstverständlichem. „Aber Anton“, sagte sie bedrückt, „das weiß doch jedes Kind, dass Schlangen nicht... ich meine, das ist doch...“ Die Stimme versagte ihr, denn plötzlich dämmerte es ihr. Es war wie ein Blitzschlag, der sie von oben bis unten durchfuhr.
„Oh“, sagte sie nur und fühlte sich von einem Moment auf den anderen ganz leer.
Und während Anton gutmütig lachte und bei Barkeeper Cesare seine Rechnung bezahlte, ratterte es in Jessies Kopf. Erinnerungen aus ihrer Kindheit drangen ungefiltert in ihr Bewusstsein. Besonders eine überragte all die anderen...
Jessie war gerade einmal fünf Jahre alt. Sie lag in ihrem kleinen Bettchen, während ihr die Eltern zum ersten Mal mit ganz ernsten Gesichtern aus der Bibel vorlasen. Das erste Buch Mose. Die Schöpfungsgeschichte. Mit bedeutungsschwerer Stimme berichtete ihr der Vater vom Sündenfall Evas. Die kleine Jessie lauschte gebannt, doch als es hieß, Eva sei von einer Schlange verführt worden, unterbrach sie ihren Vater mit kindlicher Schläue. „Aber Papa“, sagte sie. „So ein Quatsch! Tiere können doch gar nicht sprechen.“ Ihr Vater, der noch nie Unterbrechungen geschätzt hatte, wurde auf einen Schlag sehr ernst. Wie ein Geschichtsprofessor sagte er ihr mit einer Hand auf der Bibel, dass alles, was darin stand, das persönliche Wort Gottes war und somit der absoluten Wahrheit entsprach. Und wenn Gott sagte, dass eine Schlange sprach, dann war dem so. Punkt. Sei es, weil Satan in ihren Leib geschlüpft war oder aus sonst einem anderen Grund. Das brauche sie nicht weiter zu kümmern.
Als Anton sich neben ihr erhob, klopfte er ihr freundschaftlich auf die Schulter.
„Anton“, sagte Jessie mit entfernter Stimme. „Wie sah Jesus in deinem Traum aus?“
Anton überlegte einen Moment. „Wie jemand, der genau weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein.“
„Meinst du, Er kann mir vergeben?“
„Ach, Kindchen, weißt du’s nicht? Er hat dir schon längst alles vergeben. Wie auch immer du dich entscheidest“, sagte Anton und fügte augenzwinkernd hinzu: „Oder für wen.“
Mit diesen Worten verließ er die Musikkneipe und ließ Jessie mit all ihren wiedergefundenen Kindheitserinnerungen zurück. Erst, als plötzlich ein riesengroßes Cosplay Schwert vor ihr am Tresen landete, wurde sie in die Realität zurückversetzt. Cesare sah auf sie herab. „Bring das deinem Kerl. Und wenn du schon dabei bist, schick ihn mir gleich mal rüber. Sein taubstummer Bruder liegt mit einer Nadel auf meiner Toilette.“
„Sein Bruder? Er hat Geschwister?“, sagte Jessie verblüfft.
„Nur den einen. Charlie. Hör mal, ich mag’s nicht besonders, wenn hier gedrückt wird. Normalerweise ruf ich da sofort die Bullen. Aber der Junge war immer freundlich zu mir – ganz im Gegensatz zu seinem großen Bruder.“
Fünfzehn Minuten später stand Jessie vor Kitts Appartement. Ihr Herz raste bei dem vertrauten Anblick des Sofas, das noch immer unverrückt im Innenhof stand – jenes Sofa, auf dem sie eines trunkenen Morgens neben einem schönen Jungen erwacht war. Sie hätte nicht gedacht, dass sie nochmals an den Ort ihrer Sünde zurückkehren würde. Doch jetzt war sie hier und rief sich streng in Erinnerung, dass sie nicht seinetwegen gekommen war. Es ging um seinen kleinen Bruder, diesen Charlie, der sich in einem hilfsbedürftigen Zustand auf der Toilette des Somnumbale eingesperrt hatte. Sie würde Kitt Bescheid geben und dann schleunigst zum Ball eilen.
Nervös klopfte Jessie gegen die Wohnungstür. Sie hörte leise Schritte im Innern und wenig später öffnete sich auch schon die Türe. Ein halbnacktes Mädchen blinzelte nach draußen. Sie trug Baseball Cap, Hotpants und Hardrock Tank Top. Doch am auffälligsten an ihr waren die Haare; sie hatte eine knallige, fuchsrote Prinz-Eisenherz-Frisur.
„Was geht?“, fragte Gin und gähnte ungeniert.
Es dauerte einen Moment, ehe Jessie aus ihrem Schockzustand erwachte. Dann sagte sie mit entfernter Stimme: „Ist... Kitt da?“
Die junge Stripperin blickte über ihre Schulter in Richtung Küchenflur.
„Er schüttelt den Kopf“, sagte sie zu Jessie. „Schätze, das heißt 'Nein'. Sorry, Süße.“
Gin wollte die Türe schon wieder schließen, doch so leicht ließ sich Jessie nicht abwimmeln. „Kitt!“, rief sie an Gin vorbei ins Wohnungsinnere.
Jemand stöhnte darin genervt auf. Wenig später erschien Kitt vor ihr. Er legte besitzergreifend einen Arm um Gins Hüfte und Gin erwiderte seine Nähe, indem sie verspielt an seinem Ohrläppchen knabberte.
„Lass das“, sagte Kitt zu Gin. Dann wandte er sich an Jessie. „Oh, was machst du denn hier?“, äffte er sie nach. „Du kannst doch nicht einfach so hier auftauchen! Was, wenn dich jemand sieht?“
Jessie ignorierte seine Spöttelei. „Wir müssen reden.“ Sie warf einen Blick auf das Strippermädchen und fügte rasch hinzu: „Allein.“
„Aber wir sind allein. Gin wollte gerade gehen.“ Kitt wandte sich beiläufig an Gin und sagte: „Husch, husch.“
„Arschloch“, erwiderte Gin und zog sich ihre rot-weiße Lonsdale Baseball Jacke über. Bevor sie das Appartement verlassen konnte, hielt Kitt sie nochmals fest.
„Und?“, hauchte er ihr ins Ohr, so als wäre Jessie nicht da. „Hab ich zu viel versprochen? War gut, oder?“
Grinsend erwiderte Gin: „Kann nicht klagen... Rick.“
Gin zwinkerte ihm schelmisch zu und Kitt gab ihr zum Abschied einen Klaps auf den Hintern.
Jessie wandte sich erst an Kitt, als Gin außer Sichtweite war.
„Deine Neue?“, fragte sie ihn leise.
„Nur ne weitere“, erwiderte Kitt mit schleppender, gelangweilter Stimme. Ehe Jessie sich zurückhalten konnte, fragte sie mit gekränkter Stimme:
„Hast du sie auch geküsst?“
Sie bemerkte Kitts verdutzten Blick ob ihrer Frage. Dann schüttelte er den Kopf und lachte hämisch. „Oh, du gutes, unschuldiges Kind!“, sagte er mit feuchten Augen. Dann ging er in die Knie und hob seine Betsie auf. „Wenn du mich jetzt entschuldigst. Die unbekannte Menge wartet auf ihr Idol.“
Kitt schnallte sich die ramponierte Gitarre auf den Rücken, schob Jessie achtlos beiseite und knallte die Türe hinter sich zu. Ohne ein weiteres Wort entfernte er sich von ihr, doch...
„Es geht um deinen Bruder“, sagte sie mit brüchiger Stimme.
Wie angewurzelt blieb Kitt stehen. Er drehte sich um 180 Grad und sah sie mit einem Ausdruck größter Verwunderung an. „Charlie?“, fragte er mit sorgenbeladener Stimme.
Jessie nickte.
Jessie wusste nicht, was sie geritten hatte, Kitt zu begleiten. Vielleicht war es ihre christliche Erziehung, das Wort Jesu Christi, das vor allem eines predigte: Nächstenliebe. Vielleicht aber war es auch etwas gänzlich anderes. Für einen Moment hatte sie nämlich geglaubt, Kitts wahres Gesicht unter der ansonsten souverän-kühlen Maske zu erblicken. Kein Spott lag in seinem Blick, kein schelmisches Wort auf seinen Lippen und nichts möchtegernmäßiges war da in seinem Getue, als sie schweigend zusammen in Cesares Musikkneipe zurückkehrten und Charlie aus der verdreckten, graffitibeschmierten Toilettenkabine befreiten.
Zusammen schafften sie es irgendwie ihn zurück zu Kitts Appartement zu schaffen. Dort legten sie ihn behutsam auf der Matratze ab. Charlie war blass und schweißgebadet. Die erhöhte Körpertemperatur und die unnatürlich erweiterten Pupillen, die seine ansonsten blaugrünen Augen zu riesigen schwarzen Tellern deformierten, verrieten Kitt sofort, dass Charlie auf Crystal war. Seine Baggy war feucht und roch nach Urin. Alles in allem befand er sich in einem bemitleidenswerten Zustand.
„Er zittert“, sagte Jessie leise, als sie über seine abgemagerten Arme strich.
„Im Schrank sind Decken“, sagte Kitt.
Während Jessie in Kitts unaufgeräumtem Kleiderschrank nach einer Decke suchte, zog Kitt mit zusammengekniffener Nase seinem Bruder die vollgepisste Jeans aus. Seine Handgriffe erfolgten mit fast chirurgischer Präzision und Ruhe. Doch in seinem Inneren ratterte es gewaltig. Der geistesabwesende Anblick seines taubstummen Bruders verkrampfte ihm schier den Magen und verstockte sein Herz. War Charlies Absturz seine Schuld? Wie oft hatte er mich so gesehen, wie ich ihn jetzt? dachte Kitt schamvoll. Wie oft hat mir die Mutter die vollgepissten Jeans ausziehen müssen, als ich in seinem Alter war? Wie oft... Du verdammter Idiot, sagte Kitt in Gedanken zu sich selbst, denn in diesem Augenblick spürte er überdeutlich die ganze Schande, die er selbst über seine Familie gebracht hatte.
Schwach öffneten sich Charlies schwarze Augen.
„Und, stolz auf dich?“, sagte Kitt in fuchtelnden Gebärden, während er wie üblich laut dazu die Worte aussprach. „War das dumm genug, ja? Bist du jetzt ein Rebell, he? Sieh mich an, wenn ich mit dir rede! Hast du vor lauter Drücken deine Manieren verlernt?!“ Aus blinder Verzweiflung heraus rüttelte er unsanft an Charlies wehrlosem Körper.
Kitt spürte eine sanfte Berührung an seiner Schulter, die ihn innehalten ließ. „Lass ihn“, sagte Jessie in beruhigendem Ton. „Jetzt ist nicht die Zeit für Vorwürfe und Erklärungen.“
Kitt schüttelte ihre Hand von seiner Schulter und erwiderte grob: „Halt dich da raus! Du hast doch keine Ahnung...“
Jessie biss sich auf die Lippen, schluckte die Kränkung hinunter und legte die gefundene Wolldecke aus Kitts Schrank auf Charlies kalten Leib. Sanft streichelte sie über seine Wangen und fühlte die Temperatur an seiner Stirn.
„Er hat Fieber“, murmelte sie besorgt.
„Ach was, der ist nur drauf“, antwortete Kitt mürrisch.
„Aber er glüht förmlich!“, protestierte Jessie. „Sollten wir ihn nicht ins Krankenhaus bringen?“
Kitt schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Sein Vater würde--" Kitt stoppte. „Er braucht nur Schlaf... viel Schlaf, Wasser und Ruhe.“
Mit neugewonnener Ruhe wandte sich Kitt abermals an seinen kleinen Bruder. „Warum?“ Keine Antwort. Leer und ausdruckslos blickten Charlies dunkle Augen und reflektierten Kitts Antlitz. „Warum?“, wiederholte Kitt mit mehr Nachdruck. „Hab ich dir nicht gesagt, dass du die Finger von dem Scheißzeug lassen sollst?“
Schwach hob Charlie seine feingliedrigen Hände und formte damit langsame Gebärden. Jessie konnte sie nicht deuten und sah stattdessen in Kitts Gesicht, das sämtliche Farbe verlor.
„Von der Schule geschmissen?“, sprach Kitt wie zu sich selbst. Er spürte die Angst des kleinen Bruders vor der elterlichen Bestrafung. „Ich rede morgen mit deinem Vater“, sagte Kitt schließlich und versuchte sich an einem zuversichtlichen alles-wird-gut-Lächeln, das ihm alle Kraft abverlangte.
Charlie sah ihm mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen an und formte eine einzige kraftvolle Gebärde mit fragendem Ausdruck. Lächelnd formte Kitt dieselbe und sprach leise: „Versprochen.“ Dann fügte er hinzu: „Jetzt schlaf dich aus. Und denk immer dran: Morgen sieht’s besser aus als heute.“
Vor Müdigkeit schlossen sich Charlies Augen. Kitt streichelte über sein langes, wellenförmiges Haar, beugte sich dann über den schlafenden Körper seines Bruders und küsste ihn auf die glühende Stirn.
Jessie sah schweigend zu.
Kitt warf einen letzten Blick auf den schlafenden Charlie, dann schloss er die Türe hinter sich. Er hatte seine Gitarre geschultert und war aufbruchbereit.
„Ich muss jetzt auch gehen“, sagte Jessie. Es waren ihre ersten Worte seit fünf Minuten. „Du weißt schon, zurück in mein Gefängnis.“
Kitt nickte unmerklich. Dann sagte er ganz leise und ohne sie anzusehen: „Danke.“
Jessie berührte ihn zum Abschied sanft an der Schulter. Dann drehte sie sich um...
Doch Kitt hielt sie fest. „Geh nicht“, sagte er mit brüchiger Stimme und verbarg sein Gesicht vor ihr.
„Aber ich muss“, sagte Jessie. „Ich bin schon zu lange auf der Flucht.“
„Du gehörst in meine Welt, Jessie. Du gehörst zu mir, nicht zu denen. Komm mit mir, ja? Nicht umsehen, nicht nachdenken, einfach mitkommen.“
Erst jetzt wandte Kitt ihr sein Gesicht zu. Unterm Rand seiner undurchdringlichen, schwarzen Brille fand eine einzelne Träne ihren Weg ans Licht.
Der Produzent der Talent Show – ein geschäftiger, überarbeiteter Österreicher – eilte mit Kitt im Gefolge durch den Backstagebereich Richtung Bühne. Sie passierten sämtliche übende Teilnehmer, die es bis in Runde zwei der New Talents Show geschafft hatten. Jessie folgte in leichtem Abstand. Sie war aufgrund von Kitts Bitten hier, doch es war ein seltsames Gefühl für sie, an den Ort zurückzukehren, an dem sie ihre Träume begraben hatte.
Sie hörte, wie der Produzent während des Weges mit Kitt schimpfte: „... wenn du nicht zu den Proben kommen willst, schön! Deine Sache, dein Nachteil. Aber“, jetzt stoppte er kurz und drückte Kitt seinen Zeigefinger gegen die Brust, „wenn du deinen Auftritt um eine ganze Stunde verpasst, dann wirft das die gesamte Organisation durcheinander. Und ohne Ordnung haben wir nichts, dann herrscht hier Anarchie!“
Sie kamen beim Vorhang bei der Bühne an. Von draußen war das unruhige Geschnatter des Publikums zu hören, das gierig auf den nächsten Kandidaten wartete. Der Produzent tauschte sich mit einem der Organisatoren der Show aus. Auf einen Wink von ihm wurde Kitt von einem Assistenten verkabelt. Jessie stand etwas abseits und sah durch einen Schlitz im Vorhang nach draußen. Sofort überkam sie ein Gefühl von Schwindel beim Gedanken an ihren verpatzten Auftritt vor wenigen Wochen.
Der Organisator warf einen entsetzten Blick auf Kitts Gitarre, die noch immer keinen Deut besser aussah als bei seiner Audition. Noch immer hielt eine Rolle Tape die aufgesplitterte Gitarre mehr schlecht als recht zusammen. An Höchstperformance war hier gar nicht zu denken. Jemand aus der Ausstattungsabteilung brachte Kitt eine niegelnagelneue Takamine EF 341 SC Bruce Springsteen. Kitt nahm sie kurz in die Hände, spielte einen einzigen C-Akkord und gab sie mit unzufriedener Miene und den Worten „zu clean“ zurück an den Überbringer. Der Ausstattungsleiter schritt kopfschüttelnd von dannen.
Der Produzent sprach letzte Anweisungen durch ein Walkie-Talkie, als Kitt plötzlich etwas einfiel: „Ich brauch ein Klavier auf der Bühne“, sagte er zum Produzenten, der ihn daraufhin ansah, als sei er verrückt.
„Herrgott nochmal! Und das fällt dir jetzt ein?!“, schimpfte er. „Typen wie du sind der Grund, warum ich dieses Business so langsam satt habe.“ Er stieß einen lauten Fluch aus, wandte sich von Kitt ab und gab dessen Wunsch zornig weiter an die Ausstattungsabteilung.
Jessie sah ihn mit einem unguten Gefühl in der Magengegend an. „Du spielst Klavier?“, fragte sie.
„Ich? Nein.“ Kitt wandte sich ihr zu. „Aber du.“ Noch ehe Jessie ein Wort des Protests ausstoßen konnte, stand er schon vor ihr und sah ihr tief in die Augen. „Wir gehen zusammen auf die Bühne. Du hinterm Flügel, ich auf meiner Bets. Ich fang an, du begleitest mich. Alles klar soweit?“
Nichts war klar! dachte Jessie entsetzt und spürte, wie ihr Puls auf 180 sprang. „Warte“, sagte sie stotternd, „ohne Noten?“
Kitt grinste sie irre an. „Keine Noten, kein Gesangbuch. Heute wartet eiskaltes Wasser auf dich. Und du wirst mit einem Salto kopfüber reinspringen.“
„Aber ich kann das nicht!“, protestierte sie flehentlich und wünschte sich, sie wäre jetzt am Ball ihrer Familie und nicht hier bei ihm.
Kitt packte sie grob bei den Schultern und drückte ihren Körper sanft aber bestimmt gegen die Soundanlage. „Du kannst und du wirst“, sagte er ohne einen Funken Gnade. „Keine Angst, Jessie, ich führe dich. Vertraust du mir?“ Sie schüttelte den Kopf. Kitt lachte. „Schlaues Mädchen. Trotzdem gehst du jetzt mit mir da raus und spielst dir die Seele aus dem Leib, klar? Und denk nicht mal an einen neuen Fluchtversuch.“
Jessie biss sich nervös auf die Lippen. „Ich hab Angst.“
„Vor einem unbekannten Publikum?“ Kitt lachte, dann deutete er durch den Vorhang nach draußen auf Juroren und Publikum. „Liebes“, sagte er eindringlich, „was kümmern uns die! Wir machen das nicht wegen denen da, wir machen es nur wegen uns selbst. Weil wir verdammt nochmal dazu geboren wurden.“
„Aber–“
„Egal!“
Auf der Bühne draußen wandte sich Moderator Jonathan mit einem Mikrofon in den Händen an Publikum, Juroren und Kameras. Das Haus war wie schon bei der ersten Audition rappelvoll. Sam Folder, Hunny B, MC Mik und Jürgen Petrov saßen wie gewohnt auf dem erhöhten Podest – mit bestem Blick auf die Kandidaten.
„Als nächstes kämpft ein New Talent aus Berlin-Neukölln um drei grüne Lichter“, sagte Jonathan für alle hörbar. Das Geschnatter des Publikums erstarb. „Beim letzten Mal hat er für einiges an Furore gesorgt. Er nennt sich selbst Kitt und hat sich, wie’s aussieht, weibliche Verstärkung mitgebracht. Ich glaube nicht, dass das erlaubt-- hey!“
Kitt hatte mit Jessie während seiner Anmoderation vorzeitig die Bühne betreten, Jonathan beiseite geschoben und ihm das Mikrofon aus der Hand geschnappt.
„Unser Lied...“, brüllte Kitt so laut ins Mik, dass es im ganzen Saal widerhallte. „... heißt 'Auf Zehenspitzen durch das Leben' und es handelt von einem Mädchen, das Angst davor hat, sie selbst zu werden.“
Jessie, die bereits hinterm Klavierflügel Platz genommen hatte, blickte nervös zu Kitt. Der nahm wie üblich seine Sonnenbrille ab und klemmte sie als Capo über den zweiten Bund der Gitarre. Jessie bemerkte am Rande, wie viele im Publikum sensationsgeil zu ihren Smartphones und Tablets griffen. Keine Sekunde später glitten Kitts geübte Finger über die Saiten seiner Gitarre. Das Intro bestand aus ruhigem, melodischem Fingerpicking. Es war eine Melodie, die Jessie nie zuvor gehört hatte und die ihr dennoch furchtbar vertraut war, so wie ein Geruch etwa, den man unerwartet aufschnappt und der einen in die Kindheit zurückversetzt.
Nach wenigen Sekunden nickte Kitt ihr zu. Wie durch eine fremde Hand geführt, fielen Jessies Finger auf die Tasten und erweckten das Klavier zum Leben. Anfangs spielte sie mit ängstlicher Vorsicht, konzentrierte sich nicht wie sonst üblich auf das Notenblatt vor sich - denn da war ja keines -, sondern lediglich auf den Jungen mit der ramponierten Gitarre. Er gab Ton und Takt an; und sie folgte ihm blind mit kleinen Schritten, leisen Tönen und in leichtem Abstand. Sie schloss die Augen, spürte die Melodie, wusste instinktiv, wohin sie führen würde. Bald schon verfolgte sie ihn nicht mehr, sondern war gleichauf mit ihm, wagte sogar eine kleine tanzende Drehung, einen entzückten Sprung in die Luft, ein leichtes Vorwärtspreschen. Und nun war es Kitt, der ihr auf der Gitarre folgen musste, um sie wieder einzufangen. Es war ein Spiel zwischen Gitarre und Klavier, das fast eine Minute anhielt. Und obwohl kein gesprochenes Wort fiel, wirkte das Publikum nicht gelangweilt. Im Gegenteil, es spürte, dass dort auf der Bühne etwas vor sich ging, das auf musikalischer Ebene unvorhersehbar war, für das trainierte wie untrainierte Ohr gleichermaßen – so wie der Anblick von zwei unbeaufsichtigten Kindern, die frei und voller Lebensgeister über einen Spielplatz tänzelten und sämtliche Gerätschaften nach Lust und Laune ausprobierten. Jessie und Kitt sahen sich während ihres Spiels kein einziges Mal an – wozu auch? Auf der Ebene des Gehörs und mit Hilfe der Musik erkannten sie einander weit mehr als mit dem wachen Auge. Jessie spürte irgendwann, dass Kitt genug vom Spiel hatte. Also kam sie auf ihn zu und nahm ihn musikalisch bei der Hand. Nahtlos ergänzten sich beide Stimmen auf wundersame Weise und verbanden sich zu einem harmonischen, instrumentellen Duett. Kitt trat vor das Mikrofon und begann seinen Sprechgesang:
„Zwei Kurze und ’n Roter, ja, das ist die Dosis für den Tag, der niemals enden mag. Doch auf jedes Licht folgt Dunkelheit, oh glücklich, wer den Tag verbringt mit Sonnenstunden und dem Gruß zu Welt, oh glücklich, wer die Nacht erhellt.“ Sein Gesang wurde tiefer. „Doch du zählst nur die finstre Stund, selbst am hellsten Tage ist die Nacht dein Bund. Das Leben ist dir ein Trauerspiel und jede Szene birgt 'ne Träne zu viel. Doch Mädchen, weine nicht, denn hör nur der Chor, wie die Engel lachen selbst in taubes Ohr.“ Kitts Stimme wandelte sich erneut; der weiche Sprechgesang bekam einen rockigen, kratzigen Unterton, mit dem er den Refrain sang: „Drum schrei doch mal! Sei nur einmal laut und mach Lärm und Radau! Scheiß auf Etikette und dein gut christlich Haus, trink den Sekt aus der Flasche, kotz ihn mitten auf die Straße vor die Füße deiner Nachbarn auf den Hund, der niemals bellt! Folg dem Schrei deiner Seele, denn: Niemand kann dich hören, keiner sieht dir nach, du schleichst auf Zehenspitzen durch dein Leben durch die Welt – du machst nie einen Mucks und keiner kann sehen... nein, keiner sieht... wie schön du eigentlich bist.“
Für einen intensiven Moment lang herrschte eine im ganzen Saal spürbare Spannung zwischen den beiden Musikern – so als würde die Zeit still stehen und nur sie beide existieren. Dann gingen sie zusammen in ein improvisiertes Intermezzo über – ein Zwischenspiel, bei dem sie sich so nahe kamen, so in ihrer eigenen Welt waren, dass alles um sie herum wie in einem Traum verschwamm.
Oh, the stars they shine so bright tonight!, dachte Kitt, als er unter einem abendlichen Sternenhimmel mit Jessie durch den Görlitzer Park spazierte. Grillen zirpten in Dauerschleife im Gebüsch. Eine erste Laterne ging über ihren Köpfen an und erhellte den Weg, der vor ihnen lag. Kitt trank einen Riesenschluck aus einer Weinpulle, die er sich aus dem erstbesten Späti gegönnt hatte. Er bot Jessie einen Schluck an, doch sie winkte stumm ab. Seit sie die Talent Show verlassen hatten, hatte sie größtenteils geschwiegen. Jetzt fing sie auch noch das Schluchzen an.
Kitt stöhnte. „Sag mal, heulst du?“
Sie verdeckte ihre Augen. „Nein... Ja... keine Ahnung.“
„Aber wir haben den Laden gerockt, Baby“, sagte Kitt und grinste beim Gedanken an die Standing Ovations des Publikums.
"Aber du wurdest meinetwegen disqualifiziert...", sagte Jessie leise und warf ihm einen vorsichtigen Seitenblick zu.
"Na und? Zum Teufel mit den Juroren und diesem ganzen verlogenen Showformat. Die unbekannte Menge hat uns gefeiert - das ist alles, was zählt!", erwiderte Kitt und hob die Flasche triumphierend gen Himmel.
Wieder lehnte Jessie die Flasche ab.
„Das gerade“, sagte sie ganz ernst, „das war alles – alles! – was ich mir je erträumt habe.“
Die Antwort ließ Kitt noch blöder gucken. Ihm war zum Feiern zumute und sie druckste rum als sei ein geliebter Freund gestorben.
„Ja, und warum bist du dann traurig?“, fragte er verdutzt.
„Weil ich frei war, Dummkopf“, sagte Jessie und schnäuzte sich. „Für einen Moment lang war ich ganz ich selbst, verstehst du?“
„Ja“, sagte Kitt und verstand. „Dank mir bist du abgehoben. Ich hab dich befreit, ich war’s!“
„Oh, wie außerordentlich bescheiden von dir!“, sagte Jessie, wobei sie sich ein Lächeln nicht ganz verkneifen konnte. Was war er doch für ein unverbesserlicher Großkotz!
Und sein Getue ging noch weiter: „Du hast es nicht bemerkt, aber ich habe dich gelenkt wie ein Kind seinen Drachen.“
Jessie musste lachen. „Du Lügner! In Wahrheit habe ich dich auf mir getragen“, sagte sie und Kitt war froh, dass ihre Trauer vorüber war.
Doch falsch gedacht. Nachdem ihr Lachen verklungen war, sah er schon wieder erste Sorgenfalte auf ihrem hübschen Gesicht. Kitt stöhnte auf. Jessie wandte sich wieder ganz ernst an ihn.
„Kitt“, sagte sie und blieb im Dunkeln stehen. „Das war der glücklichste Moment in meinem Leben. Ich werde ihn niemals vergessen. Danke.“
„Warum dann die verdammte Trauermiene?“, sagte Kitt. „Ehrlich, ihr Weiber mit eurer ständigen Gefühlsduselei...“
Jessie sah zu Boden. „Ich muss jetzt wieder in meine Welt. Du weißt schon, zurück zu Tonleitern und Gesangbüchern...“
„Und Lieder spielen, die andere für dich aussuchen?“, ergänzte Kitt ihre Worte. „Na, das will ich sehen.“
Mit einem so verblüfften, dümmlich fragenden Ausdruck im Gesicht hatte sie ihn noch nie betrachtet.
„Na ich schätz“, sagte Kitt und stupste ihre Nase, „ich komm mit.“
„Was?! Nein! Spinnst du jetzt völlig?“, protestierte sie. „Du kannst nicht mit, das geht nicht. Es ist ein Ball–“
„Ich liebe Bälle!“
„Meine Eltern, mein Verlobter, Himmel, mein ganzes Leben ist da versammelt!“
„Bestens. Mehr Schlagfläche für den Hammer.“
Jessie schien es schier die Sprache zu verschlagen. Dennoch sagte sie: „Das ist keiner deiner dummen Sprüche? Du meinst das wirklich ernst?“
Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, wischte sich über den weinbenetzten Mund und sagte: „Sieht ganz so aus.“
Jessie trat ängstlich und unsicher auf der Stelle. Dann sah sie etwas am Boden, bückte sich schwerfällig in ihrem Kleid und pflückte ein Gänseblümchen. Wie Goethes Gretchen zupfte sie einem inneren Impuls folgend die Blüttenblätter ab.
Kitt sah ihr belustigt dabei zu. „Was soll das jetzt wieder?“
Jessie ignorierte ihn. Das würde er eh nicht verstehen, dachte sie. Leise murmelte sie vor sich hin, während sie ein Blatt nach dem anderen abriss. „... er liebt mich... liebt mich nicht... liebt mich... liebt mich nicht... liebt mich...“ Sie rupfte das letzte Blatt aus und sah enttäuscht zu Kitt auf. „Er liebt mich nicht.“
Kitt, der genug von diesen Spielereien hatte, entriss ihr das nun blütenlose Blümchen und schleuderte es zurück in die Büsche.
„Er liebt dich“, sagte Kitt.
„Ach, hör auf!“, sagte Jessie und wandte sich schlecht gelaunt ab.
„Ich dachte, das wolltest du hören?“, sagte Kitt verständnislos.
Jessie schüttelte den Kopf.
„Was dann?“, hakte Kitt nach, ehrlich interessiert daran, was zum Teufel er nun schon wieder falsch gemacht hatte.
Sie sah ihn herausfordernd an und antwortete: „Etwas Wahres. Bist du dazu in der Lage?“
Kitt überlegte – war er?
„Mit zehn Jahren hab ich meine Unschuld verlor–“, setzte er an, doch Jessie unterbrach ihn sogleich mit genervter Stimme:
„Die Wahrheit!“
„Schön“, sagte Kitt schulterzuckend. „Ich hab meinen Vater gekillt. Jetzt zufrieden?“
„Ach, dann lass es doch!“, sagte Jessie enttäuscht, aber keineswegs überrascht.
Sie hatte genug von seinen dummen Lügen und wollte einen Moment lang nichts lieber, als ihn stehen zu lassen und davon zu stürmen. Doch daraus wurde nichts. Kitt hielt sie fest und zog sie zu sich heran. Jessie wehrte sich, doch er klammerte sich nur noch fester an sie und ließ ihr keine Chance zur Flucht. Als Jessie schließlich nachgab und sich wieder zu beruhigen schien, nahm Kitt seine Sonnenbrille ab, sah ihr tief in die Augen und sprach mit belegter Stimme:
„Als ich zehn Jahre alt war, habe ich meine Eltern getötet.“
Mondlicht drang durch die Jalousien in unser Kinderzimmer. Ich seh' den Teppichboden mit der aufgemalten Rennbahn so deutlich vor mir, als wären seither keine zwölf Jahre, sondern nur wenige Stunden vergangen. Charlie und ich waren in unserer Kindheit verrückt nach schnellen Autos und lauten Motoren. Man, wie viele Stunden wir auf Knien in unserm Zimmer verbracht haben und uns mit unseren Modellautos Rennen lieferten! Damals besaß ich meine Betsie noch nicht und für Musik hatte ich wenig übrig. Erst nach dieser Nacht, erst, als etwas in mir gebrochen wurde, sprudelten auf einmal Töne und Melodien aus mir.
Na, wie auch immer, es war die Nacht vom 4. auf den 5. Juli. Charlie war hundemüde, weil er wie jeden Donnerstag die Hälfte des Tages in so 'ner Spezialklinik verbracht hatte. Damals glaubten die Ärzte noch, Charlie könne eines Tages vielleicht wieder richtig hören und so. Erst nachdem die OP an seiner Gehörmuschel in die Hose ging, mussten sich unsere Eltern wohl oder übel eingestehen, dass sie für immer einen taubstummen, 'behinderten' Sohn haben würden.
Aber jetzt zur eigentlichen Sache. In dieser Nacht konnte ich nicht pennen. Ich war zu aufgewühlt. Papa hatte mir erst vor Kurzem versprochen, dass ich bald zusammen mit ihm in einem Panzer über ein Übungsgelände fahren dürfte. Für 'nen Zehnjährigen, der noch nichts von der Grausamkeit und Sinnlosigkeit eines jeden verdammten Krieges wusste, war das ein abenteuerlicher Gedanke. Außerdem habe ich meinen Alten damals verehrt, weißt du? Ich meine, come on: Ein General der Armee! Was glaubst du, wie viel Respekt und Schiss wir vor dem Typen hatten! Besonders, wenn er nach 'nem wochenlangen Auslandseinsatz in seiner aufgetakelten, mit tausenden von Abzeichen versehenen Uniform nach Hause kam. Was für ein Kerl, dachten wir irgendwie stolz und ängstlich zugleich. Auch wenn wir beide mehr nach unserer lieben Mom kamen, wollten wir doch unbedingt unseren Paps stolz machen. Charlie wollte Rennfahrer werden, ich Pilot bei der Bundeswehr. Das hättest du nicht gedacht, was? Fast wär' auch aus mir ein verdammter Kriegsheld geworden haha!
Aber egal. Also: Zur damaligen Zeit war mein Vater viel Zuhause. Er hatte sich nämlich in Afghanistan einen Bombensplitter im Oberschenkel eingefangen und sollte sich laut Doc auskurieren. Das hielt unseren Alten aber nicht davon ab, täglich in die verdammte Kaserne zu fahren, junge Rekruten zur Schnecke zu machen und sich mit seinen Veteranenspezis auf 'ein Bierchen' zu treffen. Er kam immer später nach Hause, selten vor elf. Manchmal auch erst spät im Morgengrauen. Dann wurde es meistens laut und so. Charlie, der verdammte Glückspilz, bekam davon natürlich nix mit. Aber ich konnte in solchen Nächten kein Auge zumachen. Ich mein, ich war der einzige Zehnjährige mit Augenringen und immer-blassem Gesicht. Die Kids in der Schule verspotteten mich immer als Vamp und die Lehrer wollten wissen, was bei mir Zuhause abgeht. Aber ich sagte denen nie was. Lag zum einen daran, weil ich selbst nicht wusste, was da geschah. Na, und zum anderen, weil ich ahnte, dass ich meinen Eltern damit bestimmt Schwierigkeiten eingebrockt hätte. Also hielt ich den Mund. Monatelang.
Naja, in dieser 'speziellen' Nacht, wenn du so magst, war er mal wieder besonders laut. Da konnte ich mir das verfluchte Kopfkissen noch so sehr gegen die Ohren pressen – half null, nada, ich bekam alles mit. In solchen Nächten beneidete ich meinen kleinen Bruder wegen seiner Taubheit. 'Was für ein Geschenk!', dachte ich und flehte Gott an, er möge mir doch bitte auch die Ohren stopfen. Aber der war damals schon nicht auf meiner Seite. Und so musste ich mir das ganze Rumgeschreie durch die dünnen Wände eben wieder mal mit anhören. Kaum zu glauben eigentlich, dass der Kerl, der da draußen wie 'n Wilder rumschrie, der selbe war, der mich auf dem Foto am Nachtkästchen väterlich auf den Schultern trug. Vermutlich wollte ich damals einfach nicht einsehen, dass er noch 'ne andere Seite hat.
Naja, irgendwann wurde mir das Geschrei dann doch zu laut. Also tat ich was, wozu ich vorher nie den Mumm hatte. Ich sprang aus dem Bett und schlich mich in meinem lächerlichen Schlafanzug mit aufgedrückten gelben Enten und so aus dem Kinderzimmer. Als ich draußen war, hörte ich sofort seine tobende Stimme in voller Lautstärke. Immer wieder fielen die Worte:
'Hure!',
'Schlampe!',
'Miststück!'
Auch wenn ich keinen Plan hatte, was die Worte genau bedeuteten, wusste ich doch, dass es nicht gerade nett war, seine Frau so zu nennen. Wie in Trance schlich ich mich die Treppen runter zur Küche. Sie bemerkten mich nicht und so sah ich mir das Schauspiel an. Mit der Unschuld des Kindes, wenn du so willst. Mein Vater stand mit seiner Soldatenuniform samt Kappe und so in der Küche und brüllte mit rotem Schädel auf meine wehrlose Mam ein, die im Schlafanzug vorm Herd stand und ihm das verpasste Abendessen aufwärmte. Damals hatte ich keine Ahnung, dass der Alk an seinem aufgedunsenen, beinahe viehischen Gesicht Schuld war. Auf mich wirkte er wie ein Monster aus 'nem Horrorfilm! Bei jedem Schimpfwort, das aus seinem Maul kam, zuckte meine arme Mam zusammen. Sie war eine zierliche Frau, weißt Du? Immer wirkte sie nervös, leicht verletzbar und auch kränklich. Die Ärzte hatten ihr um die tausend Kuraufenthalte und Therapien verschrieben, für die sie aber nie die Zeit gefunden hatte. Ich frage mich, ob es was gebracht hätte, ich meine, ob sie in dieser Nacht vielleicht nicht gar so sehr gezittert hätte. Gott, du hättest sie sehen sollen! Sie konnte den verdammten Kochlöffel kaum halten, so sehr war sie am Zittern und schluchzen. Und die Worte meines alten Herrn
('Hure!',
'Schlampe!',
'Blöde Sau!')
prügelten ohne Gnade weiter auf sie ein. Und ich stand da, stand da wie ein vom Blitz getroffener und suchte in meinem kleinen Kopf nach einem Grund, 'ner Antwort auf die Frage, warum Papa Mama so schikanierte. War's meine Schuld? Hatte ich vielleicht irgendwas falsch gemacht? Fiel ich ihnen zur Last? Ich konnte mir einfach keinen Reim daraus machen... Gott sei Dank konnte meine Mam den Kochlöffel nicht mehr lange halten. Als er klirrend am Küchenboden aufschlug, erwachte ich aus meiner Erstarrung und rannte wie ein Verrückter zurück in unser Zimmer, verkroch mich unter meiner Decke, hielt mir die Ohren zu und flennte wie ein kleines Mädchen.
Keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis sich die Tür öffnete und sich jemand auf meinen Bettrand setzte. Am Schluchzen erkannte ich, dass es meine geprügelte Mam war. Ich musste jetzt stark und tapfer sein. Also wischte ich mir die Tränen fort und kroch unter meiner Decke hervor. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also berührte ich sie einfach nur sanft an der Schulter. Sie zuckte zusammen. Na, und dann brach sie zusammen und heulte, heulte, heulte, während sie ihr feuchtes Gesicht gegen meine Schulter lehnte. Ich war so überfordert mit der ganzen Situation, dass ich immer nur 'Psch' machte.
Psch, Psch, Psch.
Ich streichelte ihr Haar.
Psch, Psch, Psch.
Unter Tränen sagte sie: „I-c-hhh h-h-hasse ihn“
Psch, Psch, Psch.
„W-w-wünschte, er... er... wäre tot.“
Psch, Psch...
Das letzte 'Psch' blieb mir in der Kehle stecken und ich spürte, wie etwas in meinem Innern verstockte. Etwas in meiner Brust verhärtete sich zu einem kalten Klumpen. Sie schluchzte weiter, aber ich war auf einmal ganz ruhig, ganz... ich weiß auch nicht. Kälte überkam mich, aber ich bekam keine Gänsehaut oder so, denn ich hatte es irgendwie geschafft, sie in meinem Herzen zu verschließen und nicht mehr nach draußen zu lassen. Dann war da schwere Schritte von draußen. 'Nen Moment später schwang die Tür auf und ich sah den hässlichen roten Schädel meines alten Herrn, der schnaufend ins Innere guckte. Sein Blick fiel von Charlie, der schlief, auf uns. Meine Mam war so am Ende, dass sie das natürlich nicht mitbekam. Aber ich sah ihn. In der einen Hand hielt er 'ne Whiskyflasche und in der anderen... seine Knarre. Ruhig und eiskalt wie ein sibirische Winternacht sah ich ihm straight ins Gesicht, in die Augen des Scheißkerls, der für die seelische Vergewaltigung meiner armen Mam verantwortlich war. Ich glaube, er wollte zu uns, vielleicht um sich zu entschuldigen oder um uns... egal. Was auch immer. Jedenfalls stoppte er mitten im Zimmer. Irgendwas an meinem Ausdruck schien ihn daran zu hindern. Er konnte nicht, konnte nicht...
Sie saßen auf der Parkbank. Alles schwieg, selbst die Grillen. Kitt war verstummt und Jessie wagte nicht, ihn zum Weiterreden zu drängen. Sie spürte, dass eine alte Wunde in ihm aufgeplatzt war. Sein Blick war weit in die Ferne gerichtet. Irgendwann dann bewegten sich seine Lippen wieder. Und obwohl er nur sehr leise sprach, konnte Jessie alles genau verstehen:
„In dem Moment hab ich ihn getötet, Jessie“, sprach Kitt mit glasigen Augen. „Meinen eigenen Vater habe ich in diesem Moment gedanklich zu Tode geprügelt, mit meinen kleinen Händen erwürgt und erdrosselt, ihm die Kehle aufgeschlitzt, vergiftet und erschossen. Alles zugleich. Und dann habe ich zu Ma gesagt: Jetzt wird alles gut, er wird dir nicht mehr wehtun.“ Kitt hielt kurz inne, schielte verloren in die Dunkelheit. „Oder hab ich das nur geträumt?“ Er zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was danach geschah. Da ist ein klaffendes Loch in meiner Erinnerung - der schlimmste Hangover meines Lebens. Am nächsten Morgen kam ich wieder zu mir. Die Morgensonne brannte mir in den Augen. Charlies Bett war leer. Ich war ganz allein im Zimmer. Die Welt sah irgendwie anders aus - dunkler, intensiver, keine Ahnung. Im Spiegel sah ich einen kleinen Jungen mit kitschigem Entenschlafanzug und dunklen Augenringen. So theatralisch das jetzt klingt, ich wusste nicht, wer zum Teufel das sein sollte! Ohne mich anzuziehen, schlürfte ich durch die Treppen runter in die Küche. Ich erwartete ein Blutbad. Stattdessen wurde ich Zeuge einer Bilderbuch-Szene. Alles schien in bester familiärer Ordnung... so als sei die Nacht zuvor nichts geschehen. War das alles nur ein Albtraum? Nein. Schwach erkannte ich die Spuren der gestrigen Gewalt. Charlie schaufelte vergnügt Müsli in sich. Und neben ihm... neben ihm... da saß ein Mann in Uniform. Ich zuckte fast zusammen, als er seine Klaue von Hand hob – doch er streichelte damit nur Charlies Haar. Mein Blick fiel auf Mama. Summend machte sie Omelettes. Von den nächtlichen Tränen zeugten nur noch ihre angeschwollenen, roten Lider. Doch als sie dem Mann da das Frühstück servierte, da lächelte sie ihm vergebend zu. Und er... er erwiderte ihr Lächeln, etwas verlegen und schuldbewusst, aber er lächelte, lächelte! Und sie... sie gab ihm einen Kuss auf die Backe und sagte ihm... sagte ihm, er solle vorsichtig bei seinem Dienst sein.“ Kitt hielt inne und ballte die Fäuste, als er sich an das Bild erinnerte. Das ach-so harmonische Bild! dachte er und lachte kalt. „Weißt du, was ich da tat?“ Jessie schüttelte den Kopf. „Willst du’s wissen?“ Sie nickte. „Ich hab' meine Mutter, die Frau, für die ich die Nacht zuvor zum Mörder wurde, auch umgebracht. Und den kleinen Jungen mit seinen hässlichen gelben Entlein gleich mit. Ich hab sie alle aus meinem Leben ausradiert. Nur Charlie nicht. Er war als einziger unschuldig... er...“
Kitt verstummte plötzlich, hatte keine Worte mehr.
„Ich weiß nicht, was ich...“, sagte Jessie nach einer Weile.
Kitt lächelte entrückt. „Du wolltest was Wahres hören, oder? Selber Schuld. Da hast du’s.“
Dann räusperte er sich, setzte seine Sonnenbrille wieder auf und sprang von der Bank auf, so als wolle er keine Sekunde länger am Ort seiner Offenbarung verweilen. „Also, wollen wir jetzt endlich los oder willst du noch mehr Storys aus meinem abgefuckten Leben hören?“
Jessie wischte sich über die Augen. Erst jetzt spürte sie die Tränen, die während seiner Erzählung aus ihren Augenhöhlen geflossen waren. Sie ergriff seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. Ohne groß darüber nachzudenken, griff sie zur Weinflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Den hatte sie nach Kitts Erzählung und dem, was nun folgen würde, auch bitter nötig.
Ein farbenfrohes Banner mit der Aufschrift „7. REINHEITSBALL“ hing am heutigen Tag über dem marmornen Eingangstor der Evangelischen Freikirche. Der Hauptsaal der Gemeinde war gefüllt mit zahlreichen Tischen und Stühlen, an denen Familien in Abendgarderobe nacheinander Platz nahmen. Alles war sehr festlich und mondän und wirkte vom Stil her wie eine kleinere Ausgabe des Wiener Opernballs. Auf der erhöhten Bühne, auf der Herr Havlock für gewöhnlich den sonntäglichen Gottesdienst moderierte, saß heute der (nur) vierköpfige Kirchenchor. Vanessa, Sophie, Lisa und Ann spielten mit Geigen, Klavier und Cello ein klassisches christliches Stück, das zum Anlass passte. Ein Stuhl war unbesetzt.
Sarah kniete mit anderen jungfräulichen Mädchen ihres Alters, die ebenfalls pinke Kleidchen trugen, vor einem Altar mit riesigem Holzkreuz nieder. Die Mädchen legten dort weiße Tulpen als Zeichen ihrer Reinheit ab. Zwei Zweihandschwerter davor bildeten eine Art metaphorische Pforte, durch welche die Mädchen wie in einer Prozession schreiten mussten.
Pastor Havlock, zusammen mit seiner Frau Gastgeber des heutigen Abends, schüttelte auf seinem Weg zum Rednerpult zahlreiche Hände anderer Familienväter. Jakob und Lukas waren dabei stets an seiner Seite. Havlock machte gute Miene zum bösen Spiel. Denn obwohl ihn etwas sehr bekümmerte, ja geradezu erzürnte, ließ er die Maske des großzügigen Gastgebers nicht ein einziges Mal fallen. Innerlich aber fragte er sich, wo in aller Welt seine Tochter steckt und wann sie endlich käme. Jakob war wider Erwarten ohne sie erschienen. Er hatte erzählt, Jessica würde jeden Moment nachkommen. Sie wollte sich nur noch kurz ausruhen. Das war vor über vier Stunden gewesen. Immer wieder blickten sowohl Vater als auch Verlobter verstohlen zum Eingang des Saals. Freilich war ihre Sicht aufgrund der zahlreich erschienenen Gästen oftmals bedeckt. Und so entging es beiden dann auch, als Jessie zusammen mit Kitt am Saaleingang erschien, der von zwei kräftigen Türstehern flankiert wurde, die dem ungleichen Pärchen skeptische Blicke zuwarfen. Kitt war als einziger der Gäste nicht festlich gekleidet. Im Gegenteil, in seinen abgetragenen dunklen Klamotten, der obligatorischen Sonnenbrille und dem abstehenden, wilden Haar wirkte er wie ein Fremdkörper in einer ansonsten homogenen Masse. Viele abwertende Blicke passierender Krawatten- und Kleiderträger fielen auf ihn.
„Willkommen in meiner Welt!“, sagte Jessie und ließ den Blick durch den Saal schweifen.
„Ach, du Scheiße!“, sagte Kitt bei dem pompösen Anblick der Kirche. „Keine zehn Blowjobs kriegen mich da rein.“
Jessie beugte sich zu ihm. „Wie wär’s dann mit zwanzig?“, säuselte sie ihm ins Ohr.
„Du bist ja betrunken“, erwiderte Kitt, „völlig dicht.“
Jessie warf die Arme um ihn. „Na, und? Goethe war dichter. Außerdem hast du mich angefleht, dich mitzunehmen. Nun, hier sind wir.“
„Da wusste ich auch noch nicht, dass du in einer Sekte bist.“
Jessie blickte ihn belustigt an. „Oh“, sagte sie schelmisch, „hat mein kleiner Teufel etwa Angst auf dem Scheiterhaufen zu landen?“
Verblüfft über ihre Wandlung fragte er: „Wer bist du?“ Anscheinend genügten vier Schluck billigen Fusels, um aus dem gläubigen Mädchen eine waschechte femme fatale zu machen.
„Deine heutige Begleitung“, antwortete Jessie seelenvergnügt. „Und jetzt sei einmal ein Gentleman und geleite deine Dame zur Bar. Die Show geht nämlich gleich los und mir brennt die Kehle.“
Jessie griff nach Kitts Arm und torkelte mit ihm im Schlepptau zu einer provisorisch errichteten Bar, die etwas abseits vom Gedränge in einer Ecke des Saals aufgebaut war. Auf ihrem Weg dorthin rempelten sie aus Unachtsamkeit mehrere Gäste an.
Währenddessen trat Pastor Havlock hinters Rednerpult. Zu seiner Rechten und Linken standen Jakob und Lukas. Musik und Gespräche verstummten, als Havlock gegen das Mikrofon klopfte.
„Willkommen, liebe Brüder und Schwestern. Willkommen zum siebten Vater-Tochter-Reinheitsball!“, sagte er und wartete, bis der Applaus der Anwesenden abflachte. Dann fuhr er fort: „Wenn ich mich im Saal umsehe und die vielen neuen Gesichter sehe, die von überall her heute Abend zu uns gekommen sind, dann weiß ich eines: Jesus Christus, unser Herr und Heiland, ist groß!“ Eine neue Welle des Applauses. „Wir Väter“, sagte Havlock und richtete seinen Blick auf die Familienväter im Saale, „sind heute in Seinem Namen versammelt, um unseren Töchtern vor Seinem wachenden Auge ein feierliches Gelöbnis abzulegen. Väter, erhebt euch.“
Großes Stühlerücken im Festsaal – die Väter erhoben sich an ihren jeweiligen Tischen. Vor einem Jeden lag ausgebreitet am Tisch ein aufwendig verziertes Pergament, aus dem die Väter nun das Gelübde vor ihren Töchtern lasen:
„Ich schwöre im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sprachen etwa dreißig erwachsene Männer im Chor, „dass ich meine Tochter vor allen weltlichen Gefahren und irdischen Lastern beschütze. Ich schwöre, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um die Reinheit meiner geliebten Tochter zu bewahren, bis dass der Herr ihr einen würdigen Ehemann schickt, in dessen Hände ich sie unbefleckt und rein übergebe. Ich schwöre weiterhin als Mann, Ehemann und Hoher Vater meine Tochter und meine Familie zuhause anzuleiten und ihnen das Wort Gottes zu predigen, nach welchem wir bis in alle Ewigkeit leben und wirken. Amen.“
Daraufhin unterschrieben die Väter mit ihren Namen auf den Pergamenten. Die Mädchen bestätigten dies mit ihrer Unterschrift und dem Versprechen an ihren Vater, von diesem Tag an bis zum Tag ihrer kirchlichen Eheschließung sexuell enthaltsam zu leben. Doch damit war es noch nicht getan. Dem Beispiel des Gastgebers folgend, kniete ein jeder Vater vor seinem Mädchen nieder.
„Du bist wunderschön, Sarah“, sagte Herr Havlock zu seiner jüngsten Tochter. Andere Väter sprachen die exakt gleichen zeremoniellen Worte zu ihren Töchtern, während sie ihnen wie Ehemänner die Keuschheitsringe feierlich übergaben. Vor Glück und Stolz weinten viele der Töchter, und selbst der härteste Vater war gerührt bei diesem feierlichen Prozedere. Dann umarmten sich die Väter und Töchter für einen innigen, langen Moment, der von vielerlei Tränen und gemurmelten Liebesbekundungen begleitet wurde.
Ein christliches Lied vom Chor sagte ihnen, dass es nun Zeit war für den gemeinsamen Tanz. Die Väter nahmen ihre Töchter bei der Hand und führten sie mit sich zur Tanzfläche vor der Bühne. Dort tanzten sie den Walzer als symbolischen Akt des eben geschlossenen Bündnisses. Ihre Familien und Freunde schlossen um sie herum einen schützenden Kreis. Sie hielten sich an den Händen und sangen voller Inbrunst das Hohelied an ihren Herrn.
Abseits an der Bar saßen Jessie und Kitt einsam und distanziert vom Rest und beobachteten das Geschehen auf der Tanzfläche. Kitt fühlte sich sichtbar unwohl und machte sich auf seinem Hocker so klein und unauffällig wie nur irgendwie möglich. Glücklicherweise befanden sich große griechische Säulen vor ihnen, die die Sicht auf die Bar von der Bühne aus verdeckten. Außerdem lag der Fokus der Anwesenden gerade sowieso auf dem Tanz der Väter und Töchter. Auch Jessie beobachtete die Szene mit melancholischem Blick. Wie schön sie tanzten, dachte sie beim Anblick ihres Vater und ihrer Schwester. Und wie stolz und elegant ihre kleine Schwester mit einem Mal wirkte. Sie war erst dreizehn, aber jetzt da sie so erhaben mit ihrem Vater tanzte, konnte man meinen, sie wäre bereits erwachsen und bereit zur Heirat. Und sie schien glücklich. Glücklich wie ich damals, dachte Jessie und erinnerte sich an ihren Reinheitsball.
„Vor sieben Jahren war ich an ihrer Stelle“, sagte Jessie leise, ohne den Blick von Sarah und ihrem Vater zu lösen. „Mein Vater erschien mir damals wie der König der Welt. Und als er vor mir niederkniete, mir tief in die Augen sah und sagte, dass ich wunderschön sei, da habe ich geweint und Jesus angefleht, er möge mir eines Tages einen Ehemann schicken, der genauso ehrenhaft und stattlich ist wie mein Vater.“ Jessie verstummte. Ihr Blick fiel auf Jakob, der zusammen mit ihrer Mutter und Lukas Teil des Kreises um die Tanzenden war. „Ob Sarah jetzt genauso empfindet?“
Jessie griff zur Sektflasche, die Kitt vom Tresen stibitzt hatte, und nahm einen großen Schluck.
Kitt sah sie nervös an. „Ich glaube, du hattest genug.“
Jessie ignorierte das und sagte stattdessen: „Du bist schuld, dass ich mich nicht für sie freuen kann.“
„Schockierend“, erwiderte Kitt sarkastisch. Er war es gewohnt, dass die Mädchen ihn für all ihre Stürze aus dem Himmelsreich verantwortlich machten. Dennoch versetzte es ihm einen kleinen Stich, dass Jessie ebenfalls so dachte.
„Dank dir“, sagte sie weiter, „sehe ich nicht mehr die makellose Schönheit des Ganzen, sondern nur noch die maroden Stäbe dahinter. Die Kleider erscheinen mir zu lang und von fremder Hand genäht, die Väter zu steif und nicht mehr so groß, wie ich sie in Erinnerung hatte. Hinter jeder ihrer Gesten höre ich den Nachhall eines Peitschenhiebs. Und wie stickig es hier drin ist!“ Jessie atmete schwer. „Ich bekomme kaum Luft! Es ist so eng!“
Kitt ergriff Jessies Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sie von ihren destruktiven Gedanken zu befreien. „Mädchen“, sagte er eindringlich, „sieh mich an. Du bist betrunken, völlig benebelt--“
„Im Gegenteil“, protestierte Jessie und löste sich von ihm. „Alles ist auf einmal so klar! Ich sehe, was ich all die Jahre über verdrängt habe.“ Ihr kam eine Idee. Eine wahnsinnig aufregende Idee! „Lass uns tanzen.“
Kitt zuckte zusammen, so als habe man ihm einen Stromschlag verpasst. „Kitt tanzt nicht“, antwortete er reflexhaft.
„Nein?“, sagte Jessie mit einer verruchten Miene, die Kitt so gar nicht gefiel. Sie seufzte. „Hmmn, dann muss ich wohl für ihn tanzen.“
Ehe Kitt protestieren konnte, war Jessie schon vom Barstuhl gehüpft. Sie schmiegte sich dicht an seinen vor Nervosität angespannten Körper und ließ ihre Hüfte sinnlich kreisen. In verführerischer Pose räkelte sie sich vor ihm. Kitt fragte sich, wo zum Teufel sie diese erotischen Bewegungen her hatte. Alarmiert stellte er fest, dass erste Blicke aus dem Kreis der Gemeindemitglieder zu ihnen wanderten. Ehe das Ganze eskalierte, versuchte Kitt sie zu bremsen. Doch für Jessie gab es kein Zurück mehr. Sie hatte sich ganz Kitt zugewandt, legte einen Finger auf seine Lippen und setzte ihren amateurhaften Lapdance unbekümmert für ihn fort.
„Das reicht jetzt“, sagte Kitt mit aller Härte, die ein Mann in einer solchen Situation aufzubringen vermochte. „Du bist keine Hure.“
Doch sie säuselte verliebt (oder betrunken) in sein Ohr: „Ich bin alles, was du willst, Kitt. Alles. Sag, was soll ich sein?“
Da musste Kitt nicht lange überlegen. „Ein braves Mädchen.“
Jessie lachte heiter, doch Aufhören kam nicht in Frage. Zum einen, weil sie es genoss – wahrhaft genoss! – sie hatte eine rebellische Freude an ihrem kleinen Auftritt. Und zum anderen, weil sie Kitts Erregung trotz seiner widersprüchlichen Worte deutlich spürte. Ihre Lippen wanderten zu seinem Hals und liebkosten seinen Nacken mit gehauchten Küssen. Kitt schloss die Augen, so sehr genoss er ihre Nähe. Doch etwas in ihm sagte laut, dass das falsch war. Fürchterlich falsch. Sein Inneres war ein Schlachtfeld, auf dem zwei altbekannte Feinde mal wieder gegeneinander Krieg führten. Es kämpfte der Geist gegen den Körper, der Kopf gegen den Schwanz - einzig die Seele enthielt sich des gewohnten Zwistes und hatte nur einen beschämten Blick übrig für das unsinnige Blutvergießen zu ihren Füßen.
Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit siegte die Vernunft.
Kitt schob Jessie schweren Herzens von sich. Doch die ließ sich so leicht nicht an ihrem Vorhaben hindern. Denn auch in ihrem Herzen hatte es einen Kampf und einen Sieger gegeben. Und dieses etwas, was in ihr triumphiert hatte, wollte nur eines: Den Jungen vor sich. In ihren Augen entdeckte Kitt den rohen Glanz animalischer Wildheit. In dem Moment wusste er, dass die Karten für ihn schlecht standen. Dennoch wehrte er sich, versuchte es jedenfalls. Es kam zum Kampf zwischen den Geschlechtern. Erst spielerisch, bald vehementer. Und während sie so miteinander rangen und kämpften und Kitt vergeblich versuchte, sie irgendwie zu beruhigen, geschah das unvermeidbare Missgeschick.
In ihren hohen Schuhen stolperte Jessie und taumelte rückwärts gegen einen voll bedeckten Esstisch. In einem verzweifelten Versuch sich an der Tischdecke festzukrallen, warf sie die gesamte Tischdeko unter höllischem Lärm mit sich zu Boden.
Der Vater-Tochter-Tanz stockte, der Kreis der Familien löste sich und die christliche Musik brach ab. Alles blickte zur Unfallstelle. Nur wenige sahen noch, wie ein dunkler Schatten vom Hauptsaal in einen abzweigenden Korridor flüchtete.
In einem leeren Nebenraum, der Pastor Havlock normalerweise als Arbeitsraum und Umkleide diente, übergab sich Jessie unter den Blicken ihrer erzürnten Eltern lauthals am Boden. Ihr Sturz hatte eine Art Kettenreaktion in ihrem Körper ausgelöst – vorher hatte sie sich gefühlt wie Wonder Woman, nun kam sie sich vor wie ein kotzender Shrek. An ihrem schönen, teuren Kleid, das die Mutter extra für sie maßgeschneidert hatte, klebten Essensreste, Erbrochenes und Flecken aller Art. Die Euphorie des heute Erlebten war einer nüchternen Realität gewichen.
Herr und Frau Havlock hatten die Festgesellschaft alleine gelassen. Man hatte die Situation mit einer Lüge gemeistert, derer sich der Vater nur im äußersten Notfall bediente. Jessie leide derzeit unter einer starken Migräne - deswegen sei sie auch erst später gekommen. Dann hatte man der bedürftigen Jessie aufgeholfen und sie zügig weggeführt.
„Bist du zufrieden mit dir?“, fragte der Vater und seine Stimme bebte vor Zorn. „Bist du stolz auf dich?“ Jessie wollte antworten, doch ein erneuter Brechanfall hinderte sie daran. Der Vater fuhr erbarmungslos fort: „Du hast nicht nur mich als Gastgeber blamiert, sondern noch dazu deiner kleinen Schwester den großen Tag verdorben.“
Eilende Männerschritte waren vom Gang aus hörbar; keine Sekunde später wurde auch schon die Tür aufgerissen und Jakob erschien, nachdem er im Auftrag von Jessies Vater die Veranstaltung zum nächsten organisatorischen Punkt, dem Tanz der Familien, übergeleitet hatte.
„Wie geht’s ihr?“, fragte Jakob sofort und kniete neben Jessica nieder. Er konnte ihr Gesicht unter der wilden Haarmähne kaum erkennen.
„Sturzbetrunken“, sagte der Vater beschämt. „Es tut mir Leid, dass du das mit ansehen musst, Jakob. Ich weiß wirklich nicht, was in letzter Zeit mit ihr los ist.“
Während Herr Havlock tatsächlich ratlos schien, hatten sowohl Jakob als auch Frau Havlock einen dunklen Verdacht.
Auf der Suche nach einem Ausgang aus diesem Labyrinth von moderner Kirche stolperte Kitt in die Männertoilette. Er fluchte leise, denn zwei vom Sicherheitspersonal standen urinierend vorm Pissoir. Kitt überlegte einen Moment. Es wäre auffällig gewesen, sofort die Flucht zu ergreifen. Außerdem hatten die beiden scheinbar nichts von dem Vorfall draußen mitbekommen. Es gab keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Er hatte nichts getan. Außerdem musste er selber mal. Also gesellte sich Kitt zwischen die beiden, um sich ebenfalls zu erleichtern. Doch nach ein paar peinlichen Sekunden, in denen sich nichts tat, sah ihn der eine belustigt von der Seite an und sagte: „Kannst wohl nicht, wenn einer dabei ist?“
Sein Kollege lachte. Dann wandte auch er kurz den Kopf, als er sich die Hose zuknöpfte. Bei Kitts Anblick gefror ihm das Lachen.
Kitt verfluchte das Mistweib Fortuna mal wieder, denn natürlich – wie hätte es bei seinem momentanen Lauf auch anders sein können? – war es nicht irgendeine 0815-Sicherheitskraft, sondern einer von Jakobs Bundeswehrkameraden.
Zum Glück für Kitt brauchte der überraschte Dieter einen Moment lang, bis er Kitts Gesicht einordnen konnte. Als es ihm dann gelang, hatte Kitt sein bestes Stück schon wieder eingezogen und auf dem Absatz kehrt gemacht.
Kitt stürmte aus der Herrentoilette. Keine Sekunde später folgten Dieter und sein Kollege (mit geöffnetem Schlitz) und eilten Kitt hinterher.
„Hey du! Stehenbleiben!“, rief ihm Dieter nach, doch Kitt dachte gar nicht daran. So schnell ihn seine zwei untrainierten Beine trugen, verschwand er zurück in den Hauptsaal und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.
Dort wurde mittlerweile wieder bei klassischer Musik getanzt. Kitt stolperte durch die Tischreihen hindurch und entschied sich – ohne lange zu fackeln – für den kürzesten Weg nach draußen: In Luftlinie mitten über die vollbesetzte Tanzfläche, wobei er auf seiner Flucht vor dem mittlerweile fünfköpfigen Sicherheitspersonal mit sämtlichen Vater-Tochter-Gespannen zusammenprallte. Als die Gäste den Trubel bemerkten, brachen Tanz und Musik erneut ab. Die Väter stellten sich schützend vor der unbekannten Gefahr vor ihre Töchter.
Kitt sah sich um: Sicherheitsleute in allen Himmelsrichtungen. Man hatte ihn sauber eingegrenzt und es gab keinen Ausweg. Was jetzt? Da bemerkte er ein dickes, ängstliches Mädchen, das wie ein verlorenes Schäfchen etwas abseits von ihrem Vater stand. In einem schnellen Satz vorwärts schnappte er sich das jugendliche Ding und nahm sie sich zur Geisel. Natürlich hatte er keine Knarre bei sich und auch kein Messer – schließlich war unser Kitt kein Mann der Gewalt. So hielt er sie lediglich als Schutzschild zwischen sich und die Verfolger.
„Keinen verdammten Schritt näher, ihr Wichser!“, brüllte Kitt. „Keine Bewegung oder... oder...“ Dann kam ihm eine Idee. „Oder ich küsse sie!“
Zu seinem Überraschen hörte er ein entsetztes Aufstöhnen unter der Festgesellschaft; die Sicherheitsleute blieben tatsächlich stehen. Ein großer, korpulenter Mann mit grauem Spitzbart und Monokel aber trat langsam vor. Da dieser kurz vor einer Herzattacke stand, vermutete Kitt, dass es sich dabei um den verdammten Vater des Mädchens handelte.
„Jasminchen!“, rief er theatralisch.
„Papa, Hilfe“, antwortete das dicke Mädchen in Kitts Armen.
Jetzt mischte sich auch Dieter wieder ein. „Sei nicht bescheuert, Junge“, sagte er zu Kitt, „es gibt keinen Weg für dich hier raus. Lass das Mädel gehen - wird’s bald?!“
Doch Kitt dachte gar nicht daran, seine fette Chance auf Freiheit so ohne weiteres gehen zu lassen. „Keine Bewegung hab ich gesagt“, zürnte Kitt drohend, als er merkte, dass das Sicherheitspersonal sich ihm mit Babyschritten von allen Seiten näherte. „Glaubt ihr, ich mach Witze? Ich raub ihr ihren ersten Kuss! Sie erhält den... den Kuss des Teufels, jaha!“
Kitt beugte sich für alle sichtbar wie ein blutgeiler Vampir über das Mädchen und täuschte mehr einen Biss als einen Kuss an.
„Nein, nicht!!“, schrie der Vater. „Ich gebe dir alles! Nur beflecke mein Täubchen nicht!“
Kitt deutete auf Dieter und Komparsen. „Sag den Wichsern da, sie sollen mich gehen lassen.“
Jasminchens Vater wandte sich verzweifelt an Dieter. „Ich bitte Sie– meine Tochter!“
Doch erst als Kitt wie eine Schlange seine Zunge ausfuhr und gefährlich nahe gegen Jasminchens Wange streckte, wichen die Sicherheitsleute unter Dieters Kommando langsam zurück.
„Wir lassen dich frei“, sagte dieser kompromissbereit. „Draußen wirst du sie gehen lassen, verstanden?“
Kitt nickte. Was dachten diese Spinner eigentlich? Dass er sich in eine Monsterfledermaus verwandeln und das dicke Mädchen als Trophäe mit nach Hause schleppen würde? Kitt war froh, wenn er sie wieder los war. Zweimal war sie ihm schon mit ihren Elefantenfüßen auf den rechten Zeh gestiegen.
Es bildete sich auf Dieters Befehl hin eine Lücke in der Menge, die zum Ausgang führte. Über hundert feindselige Augenpaare waren auf unseren Kitt gerichtet, als dieser mit Jasminchen als Schild – jederzeit kussbereit – Schritt für Schritt Richtung Ausgang pilgerte. Doch weil Fortuna eine Schlampe sondergleichen war und Kitts einwandfreie Pläne immer wieder aufs Neue vereiteln musste, geschah auch heute wieder ein schicksalhaftes Missgeschick: Kitt fühlte noch wie er beim Rückwärtsgehen über den Saum eines Kleides schritt. Dann rutschte er auch schon aus und fiel rücklings mit seiner Geisel zu Boden. Kitt stöhnte laut auf, als das Walross Jasminchen mit ihrem Hundertkilo-Wanst auf seinen schmächtigen Leib aufprallte. Überraschenderweise war sie schnell wie eine Katze wieder auf den Beinen und nutzte sofort ihre Chance, um in die Arme ihres Vaters zu fliehen.
Die eine Hälfte der Sicherheitsleute versperrte eiligst die Ausgänge, die anderen drei stürzten sich auf ihn. Kitt wich dem ersten aus, dann dem zweiten. Dem dritten entging er gerade noch so, indem er auf einen mit Essen bedeckten Tisch vor sich hüpfte. Auf der anderen Seite sprang er wieder hinunter und bahnte sich seinen Weg durch die Tischreihen, stieß eine der Mütter achtlos beiseite, schlug gefühlte fünfzig Pirouetten und floh auf diese Weise im Zickzack kreuz und quer durch den Festsaal. Vermutlich hätte er den schweren Türstehern und dem pumpenden Sicherheitspersonal aufgrund seiner Flinkheit entkommen können. Doch zu seinem Unglück hatten inzwischen auch die Väter Gefallen an der Verfolgung des Feindbilds gefunden.
Drei Dutzend Verfolger waren hinter Kitt her, als er aus Not heraus den Altar erreichte. Dort schnappte er sich aus lauter Verzweiflung eines der beiden zeremoniellen Langschwerter. Mit beiden Händen haltend, schwang er das schwere Eisen wild vor sich durch die Luft.
„So wendet sich das Schicksal!“, schrie er. „Weg mit euch, ihr Fanatiker! Ihr seid ja krank! Verpisst euch oder ich hau euch die verdammten Köpfe ab! So! Und so!“
Kitt teilte lauthals mehrere Lufthiebe aus, um sich die Verfolger auf Abstand zu halten. Ein schmächtiger Körper schlich sich derweil unbemerkt von hinten an den Altar und schnappte sich wagemutig das zweite Schwert. Gerade noch so konnte Kitt den hinterhältigen Schlag parieren. Es war ein pickliger Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, der da auf ihn losging.
„Jessies kleiner Bruder?“, rätselte Kitt.
„Nimm nie mehr den Namen meiner Schwester in den Mund“, antwortete Lukas und fügte im Stimmbruch hinzu: „Du Ungläubiger!“
Kitt musste trotz seiner aussichtslosen Lage laut lachen. „Junge, ich hatte schon mehr von deiner Schwester im Mund als nur ihren Namen.“
Luke schlug nach ihm, Kitt parierte.
Was nun folgte, liebe Leser, war ein Schwertkampf, so erbärmlich schwach und enttäuschend, das wir dessen Beschreibung nicht weiter in die Länge ziehen, sondern auf ein verdauliches Mindestmaß zurechtstutzen wollen. Denn keiner der beiden Kontrahenten – so sehr man sich einen erbitterten Kampf auch ersehnt hätte – war auch nur im Entferntesten in der Lage, die riesigen und zudem unhandlichen Zweihandschwerter mit verletzender Kraft zu hieben, geschweige denn einen Treffer zu landen. Keiner konnte überhaupt einen richtigen Schlag austeilen und so gab es in diesem ritterlichen Zweikampf keinen Sieger, sondern nur einen Verlierer. Und der hieß Kitt. Hustend und keuchend brach er zusammen. Lukas stellte ihn mit zittrig erhobenem Schwert.
„Gnade, Gnade!“, winselte Kitt auf Knien vor dem pickligen Teenager. „Ich ergebe mich, du hast gewonnen, ich geb auf.“
Kitt ließ das Schwert als Zeichen seines guten Willens zu Boden fallen und hob die Hände wie ein gestellter Verbrecher in die Höhe.
Natürlich war der Bengel dumm genug, darauf hereinzufallen. Lukas senkte siegessicher sein Schwert. Genau darauf hatte Kitt gewartet: Sofort sprang er auf, noch ehe einer der anderen Verfolger ihn hätte fassen können, und warf sich mit voller Wucht gegen das riesige Holzkreuz auf dem Altar – es neigte sich gefährlich über den Köpfen seiner Verfolger und krachte splitternd zu Boden.
Voll ausgeschüttetem Adrenalin lachte Kitt schadenfroh auf, drehte sich um zur glorreichen Flucht und...
... rannte mitten in die Arme von Jasminchens altem Herrn. Ein kolossaler Faustschlag direkt auf die vorbelastete Nase brachte Kitt in schönem Bogen zu Fall.
Jessies Übelkeit hatte sich etwas gelegt. Jetzt fühlte sie sich nur noch vollkommen ausgelaugt und müde. Der Kopf schmerzte, ihr Hals kratzte und alle Glieder waren schlapp wie bei einer Grippe. Alles, was sie jetzt wollte, war ein kuscheliges Bett, indem sie sich auskurieren konnte. In ihrem bemitleidenswerten Zustand bemerkte sie nicht einmal, dass Jakob neben ihr kniete und das blonde Haar behutsam aus ihrem Gesicht strich.
Auch Herr Havlock hatte sich inzwischen wieder etwas beruhigt. „Jakob“, sagte er, „sei so gut und bring sie nach Hause. Sie wird das Haus bis zur Hochzeit nicht mehr verlassen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Wir werden dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“ Er meinte jedes Wort vollkommen ernst. Was auch immer es brauchte, um diesen Dämon aus ihr zu treiben, der seit Wochen in seiner ältesten Tochter tobte – er würde ihn persönlich mit Gottes Gnade und Jesus’ Hilfe zurück in die Hölle verbannen. Zur Not mit den altbewährten Mitteln der vom heidnischen Volk so sehr missverstandenen Teufelsaustreibung.
Jakob versuchte derweil seiner Verlobten auf die Beine zu helfen, doch die wehrte sich störrisch. Denn trotz ihrer Niedergeschlagenheit war ein Teil von ihr noch bei wachem Verstand. Und dieser flüsterte ihr zu: Wenn du jetzt nachgibst, wirst du deine heute gewonnenen Lebensgeister verlieren, wirst das göttliche Geschenk der Musik in dir verkümmern lassen und dein schlagendes Herz zurück in einen unendlich tiefen Schlummer schicken. All das wollte sie nach den heutigen Errungenschaften freilich nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich vollkommen lebendig und wertgeschätzt gefühlt. Nein, dachte dieser letzte Rest an Standhaftigkeit in ihr, du musst 'Nein' sagen.
Doch so gern sie mit Überzeugung gesprochen hätte, kamen die Worte doch nur stotternd und matt aus ihrem Mund. „Ich gehe nicht mehr zurück, nein, nie wieder, nein, nein“, nuschelte Jessie und wischte sich über die aufgerissenen, trockenen Lippen. „Ich bin eine Künstlerin und... keine Marionette. Und ich werde nicht heiraten.“
Sie spürte Jakobs besorgten Blick, ohne ihn zu erwidern. Es war die Wahrheit und sie hätte sie viel früher aussprechen müssen, doch manchmal brauchte es Abstürze wie diesen, um sich von trügerischen Illusionen zu befreien.
Frau Havlock aber ergriff sofort das Wort. „Das meint sie nicht so, Jakob, keine Sorge. Sie liebt dich doch! Das ist nur der Alkohol, der da aus ihr spricht.“ Sie wandte sich an Jessie. „Schätzchen“, sagte sie sorgenschwer, „wir werden dich von diesem Dämon befreien, der Besitz von dir ergriffen hat.“
Jessie lachte auf. „Das ist kein Dämon! Das bin ich! Das ist mein wahres Ich. Jetzt und hier – voller Makel und Fehler, aber ohne Leine. Ich gehe nicht mehr zurück in euer kleines Gefängnis.“
Ihr Vater sah sie mit verschränkten Armen an. Mit seiner eisigsten Stimme sagte er: „So dankst du uns also deine Erziehung?“
„Welche Erziehung denn bitte?“, stieß Jessie vor Wut schäumend hervor. Es platzten alle Dämme in ihr und sie fuhr immer lauter werdend fort: „Die Erziehung, die auf dem lächerlichen Konstrukt aufbaut, dass Schlangen sprechen können? Oder die, die mir eintrichtert, dass mein Geschlecht sündig und schwach ist und aus der Rippe eines Mannes hervorgeht? Eure schöne Erziehung“, sagte sie voller Häme, „nach der die Welt in sechs Tagen erschaffen wurde, Jungfrauen Kinder gebären und anders denkende Menschen an einen Ort namens Hölle kommen?“ Sie konnte nicht anders als laut zu lachen. Doch es war kein glückliches Lachen, das da aus ihrer Kehle drang – es war ein halbes Weinen, gepaart mit tiefer Verbitterung und Verachtung gegen sich selbst. Weil sie naiv genug gewesen war und ihr bisheriges Leben auf Erden hinter Stäben und an einer Leine mit Maulkorb achtzehn Jahre lang still hingenommen hatte. „Gott, wie konnte ich nur so dumm sein...“ Jessie stieß einen lauten Schrei aus, der direkt aus ihrer Seele zu kommen schien und der all den verpassten Erfahrungen nachtrauerte, die sie hätte erleben können, den falschen, selbst getroffenen Entscheidungen, aus denen sie hätte lernen und wachsen können. Von nun an, sagte dieser Schrei, der im Nebenraum von den Decken und Wänden widerhallte, bestimmen nicht mehr religiöse Gebote über mein Leben, sondern einzig und allein die Schwingungen der Musik.
Nachdem der Schrei im Raum verklungen war, sagte sie trocken ins Gesicht ihres Vaters: „Wäre Jesus heute Abend hier, er würde sich in Grund und Boden schämen für das, was wir aus seiner wunderbaren Heilslehre gemacht haben. Eine oberflächliche Zierde, nichts weiter–“
Frau Havlock brachte ihre Tochter mit einer kräftigen Ohrfeige zum Schweigen. Ihr Gesicht war rot angelaufen vor Scham und Zorn über das, was ihre älteste Tochter gerade von sich gegeben hatte. „So habe ich dich nicht erzogen“, sagte sie bitter. „Ich weiß nicht, ob du... aber das da bist nicht du. Das ist nicht meine Tochter.“
Erschüttert hielt sich Jessie die pochende Wange und sah in das ansonsten weiche und freundliche Gesicht ihrer Mutter. „Mam?“, fragte Jessie mit piepsiger Stimme und spürte Tränen in sich aufsteigen.
Jakob stellte sich schützend zwischen Jessie und ihre Eltern. „Wir sollten uns jetzt alle einmal beruhigen“, sagte er und klang dabei wie ein Streitschlichter auf dem Schulhof. „Jessica ist nicht sie selbst. Morgen wird sie ihre Worte bereuen. Und wir sind ebenfalls zornig und aufgebracht und sagen Dinge, die unseren Gott erzürnen.“ Er wandte sich an Jessies Vater. „Ich bringe sie jetzt nach Hause, wenn das in Ordnung ist? Herr Havlock? Robert?“
Herr Havlock nickte schwach. Gebückt stand er da und wirkte so alt und gebrechlich wie nie. Niemals, so war seine lebenslange Auffassung gewesen, würde sich der Teufel unter seinen wachen Augen in seine Familie einschleichen können. Sie standen unter Gottes Schutz, waren Seine Auserwählten, die Er liebte und schützte vor den Angriffen des Satans. Und nun war er dem Wesen des Satans gegenübergestanden, hatte ihn in den Augen seiner geliebten Tochter entdecken müssen, hatte ihn Worte, die direkt aus der Hölle kamen, aus den einst unschuldigen Lippen seines Mädchens sprechen hören. Und er hatte die teuflische Aura gespürt, die da von seiner ältesten Tochter ausging, hatte sie gespürt und war ihr hilflos ausgeliefert gewesen. Das Kreuz um seinen Hals und die Hilferufe im Geiste an Gott hatten dieser dunklen Aura nichts entgegenzubringen. Doch jetzt, als er seine Tochter voll Kummer betrachtete, stellte er fest, dass der Teufel sie wieder verlassen hatte. Jetzt war sie wieder das kleine Mädchen, das zu Boden schielte und ihre geschlagene Backe hielt. Die Ohrfeige ihrer Mutter hatte sie mit einem Schlag allen Mutes beraubt.
Willenlos ließ sich Jessie von Jakob auf die Beine helfen und stützen. Alle Kraft war aus ihr gewichen. Sollte kommen, was wollte, es war ihr in diesem Moment ganz gleich.
Da klopfte es von außen gegen die Tür. Man hatte ganz vergessen, dass man sich ja in der Kirche befand, und dass keine fünfzig Meter weiter ein großer Festball mit hunderten von Gästen stattfand.
Jakobs Kamerad Dieter trat zögerlich ein.
„Herr Havlock“, sagte er. „Es gab ein Problem. Ein uneingeladener Störenfried hat den Altar entweiht, eine der Töchter bedroht und das teure Holzkreuz zerstört.“
„Das Holzkreuz zerstört?“, wiederholte Herr Havlock ungläubig und nicht ganz bei der Sache. „Wer?“
Dieter machte Platz. Zwei weitere Sicherheitsmänner traten ein. Sie hielten eine dritte männliche Gestalt zwischen sich, die sich die blutende Nase hielt. Seine Sonnenbrille hatte tiefe Risse und hing nur noch an einem Ohr und der gebrochenen Nase.
„Du!“, stieß Jakob bei Kitts Anblick hervor. „Wie kannst du’s wagen, hier aufzutauchen?“
Und Jessie, die geglaubt hatte, dass Kitt sie verlassen hatte und längst über alle Berge verschwunden war, betrachtete ihn mit einem Funken Hoffnung in den Augen. „Kitt“, sagte sie, „was hast du getan?“
Jakob blickte abwechselnd von Jessie zu Kitt. Natürlich, dachte er, wie sollte es auch anders sein? „Er ist schuld daran, nicht wahr?“ Es war weniger eine Frage als vielmehr eine kalte Feststellung.
Herr Havlock, der diesem Burschen zum ersten Mal gegenüberstand, war verwirrt. „Was geht hier vor? Wer ist der Kerl, Jakob?“
Mit geballten Fäusten antwortete Jakob: „Ein Verbrecher, Robert. Ein Gottloser, der Jessica die letzten Wochen nachstellte und sie verführen wollte. Aber ich dachte, nach unserem kleinen Gespräch hat er die Drohung verstanden. Scheinbar war das ein Irrtum.“
Endlich ergab alles einen Sinn für Herrn und Frau Havlock. Der Teufel hatte sich Jessie in Gestalt einer dritten Person genähert – dieses schmächtigen, dunklen Kerls da, der im Griff der durchtrainierten, großen Sicherheitsmänner wie ein mickriger Schuljunge wirkte.
„Bitte“, hörte man Jessies flehende Stimme. „Lasst ihn doch los. Ihr tut ihm ja weh...“
Jakob fuhr fast aus der Haut. „Jessie! Man, verstehst du nicht!?“, sagte er aufgebracht. „Der Typ da ist ein Betrüger, ein Dieb, der nur an unserem Geld interessiert ist! Er hat mich erpresst! Zweitausend Euro wollte er dafür haben, dass er dich in Ruhe lässt.“
Jessie öffnete und schloss ihren Mund. Endlich brachte sie die Worte hervor: „... ist das wahr, Kitt?“
Kitt wich ihrem fragenden Blick aus. Die beschädigte Sonnenbrille löste sich und fiel klirrend zu Boden. Blut tropfte unaufhörlich aus seiner Nase. Nie zuvor hatte Jessie ihn so beschämt und hilfsbedürftig gesehen wie in diesem einen Moment. Sie wunderte sich selbst, denn sie empfand keinerlei Zorn gegen ihn. Auch wenn es stimmte, was Jakob eben erzählt hatte. Auch wenn die Gründe ihrer Zusammenkunft nicht die romantischsten waren, selbst wenn er ihr etwas vorgespielt haben sollte und dunkle Absichten sein Verhalten bestimmt hatten. Was auch immer, dachte Jessie und spürte ein Gefühl von unendlicher Dankbarkeit bei seinem Anblick.
Er hat mir die Augen geöffnet, dachte sie. Er hat mich aus meinem Schlummer erweckt. Er war kein Prinz auf einem weißen Schimmel, kein von Gott gesandter Engel mit blondem Haar und hellblauen Augen, und auch kein Ritter mit goldener Rüstung und Treueschwüren oder ein romantischer Dichter, der ihr die Sterne vom Himmel holte mit zuckersüßen Liebesschwüren – er war nicht Romeo, nicht Edward oder Tristan, war weder Dämon noch Teufel und schon gar nicht Beelzebub persönlich.
Er war einfach ein verwirrter Junge, einer dieser ewig Suchenden auf Erden, die sich nie an etwas festes binden konnten. Doch nicht, wusste sie jetzt, weil er keine Liebe in sich trug. Im Gegenteil: Er war einst voller Liebe gewesen, ehe er an der Boshaftigkeit der Menschen und der Grausamkeit der Welt zerbrochen war und sich dazu entschlossen hatte, eine Maske aufzusetzen. All das und mehr begriff sie in jenem Moment, da er so klein und schutzlos wie nie wirkte und sie selbst kopfüber mit einem Salto auf den Boden der Tatsachen aufgeschlagen war.
Jessie löste sich von Jakob. Sie spürte die fragenden Blicke ihres Verlobten, ihrer Eltern und der Sicherheitskräfte auf sich, als sie energisch auf Kitt zumarschierte. Als sie ihn erreichte, schlossen sich Kitts Augenlider aus Angst vor den gewohnten Prügel.
Doch...
Jessie küsste ihn vor den Augen aller Anwesenden leidenschaftlich auf die blutverschmierten Lippen.
Ihren Eltern und Jakob verschlug es so sehr die Sprache, dass sie wortwörtlich nur zu einer Reaktion fähig waren: Mit offenen Mündern reglos auf der Stelle zu verharren.
Jessie löste sich von Kitt. Sein Blut klebte an ihrem Gesicht, doch es kümmerte sie nicht. Mit ihrer rechten Hand strich sie durch sein wildes Haar, sah ihm tief in die verwunderten Augen und nickte ihm vergebend zu. Dann wandte sie sich um. Sie nahm ihren Reinheitsring ab, den sie seit sieben Jahren trug, und warf ihn vor die Füße ihrer Eltern. Sie ging auf Jakob zu, der sprachlos und klein in der Ecke kauerte, und umarmte ihn. Es war ihr gleich, dass er die Umarmung nicht erwiderte. Sie hätte ihn niemals lieben können, das wusste sie jetzt mit Bestimmtheit. Darum wollte sie sich bei ihm entschuldigen. Doch sie empfand keine Schuld mehr gegen sich. Denn jetzt erst wusste sie, wie wahre Gefühle sich anfühlten. Während der Umarmung hatte sie den Verlobungsring abgenommen und ihn heimlich in Jakobs Jackett geschoben.
Sie warf einen letzten Blick auf Vater und Mutter. Sie waren keine schlechten Menschen. Aus menschlicher Angst heraus hatten sie das Bedürfnis nach Sicherheit verspürt und ihre persönliche Lösung dieses existentiellen Problems in der wortwörtlichen Auslegung der Bibel für sich gefunden. Sie hatten nicht aus Boshaftigkeit Jessie in ihrer Entwicklung gehemmt, sondern – wie sie glaubten – aus Liebe. Doch für Jessie war es nun an der Zeit zu gehen und all das hinter sich zu lassen. Und sie wusste, auch wenn sie den Schmerz und die Enttäuschung und auch eine Spur von verständnislosem Zorn in den Augen ihrer Eltern wahrnahm, dass es nicht anders ging. Eine ungesunde Bindung wie diese war nur mit dem Schwert zu lösen. Kitt hatte ihr das Schwert gebracht, und sie hatte es endlich geschwungen und sich gelöst. Jetzt war da kein Hass mehr auf ihre Eltern. Da war nur noch stille Vergebung und Liebe, für sich, ihre Eltern, die ganze Welt. Denn erst jetzt begriff sie die Sieben Letzten Worte in Lk 23,43, die Jesus während der Kreuzigung ausgesprochen hatte.
Vater, vergib uns, denn wir wissen nicht, was wir tun! dachte Jessie und verabschiedete sich innerlich von ihrer bisherigen Welt. Sie befreite Kitt aus dem Griff der verwirrten Sicherheitsleute, nahm ihn bei der Hand und führte ihn ohne ein weiteres Wort durch die Türe nach draußen.
Im Hauptsaal teilte sich die Festgesellschaft wie das Rote Meer zu Moses besten Zeiten und machte Platz für ein blutverschmiertes, geprügeltes und beschmutztes Liebespaar, das man so noch nicht gesehen hatte. Jessie und Kitt schritten Hand in Hand über die Tanzfläche Richtung Ausgang. Auf ihrem Weg ruhten die Augen aller Anwesenden auf ihnen, die sie wie einen Schandfleck mit Blicken brandmarkten. Sie beide spürten die Abwertung und Missgunst, die sie hundertfach von allen Seiten empfingen, doch es kümmerte unsere beiden Helden nicht. Mit dem Anflug eines Lächelns warfen sie diese einfach von sich. Nichts konnte unsere Jessie jetzt noch aufhalten, nichts außer:
„Jessie?“, sagte eine piepsende, süße Stimme.
Jessie hielt inne, löste sich von Kitt und ging vor Sarah auf die Knie. Ihre Schwester sah sie ängstlich und mit feuchten Augen an.
Jessie lächelte ihr zu. „Sarah“, sagte sie mit weicher Stimme. „Du bist wunderschön. Eines Tages wirst du eine starke, selbstbewusste, unabhängige Frau sein. Nein, weine nicht.“
Doch zu spät. Die Tränen kullerten schon aus Sarahs kleinem Engelsgesicht. „Geh nicht, bitte...“
„Aber ich muss, mein Engel.“
Sarah sah sie durch den Schleier ihrer feuchten Augen fragend an. „Warum?“
Jessie wischte ihre Tränen fort. Dann sagte sie: „Weil mein Herz nach draußen zeigt. Wir sehen uns bald, Schwesterchen.“
Sie küsste Sarah zum Abschied auf die Stirn. Dann kehrte sie zu Kitt zurück, der sich keinen Schritt ohne sie bewegt hatte. Vor dem Ausgang stellte sich ihnen Jessies Bruder Lukas ein letztes Mal in den Weg.
„Ich kann euch nicht gehen lassen“, sagte er in dem Versuch, so erhaben zu klingen wie sein Vater. „Mein Gelübde verbietet es–“
„Ach, weg mit dir, du Knirps“, sagte Kitt lediglich und schob Lukas mühelos beiseite.
Und dann hatten sie endlich die Enge des Saals verlassen. Ein frischer Windzug begrüßte sie, als sie durch das marmorne Tor nach draußen in eine sternenklare Frühwinternacht traten. Schweigend gingen sie die Treppen nach unten. Auf der Straße dann machte Jessie Halt. Und während Kitt sich eine wohlverdiente Zigarette anzündete, beobachtete er Jessie dabei, wie sie sich merkwürdig verhielt. Sie hielt ihre Nase zu, zählte ihre Finger und machte dann sogar einen Luftsprung auf der Stelle.
„Was soll das denn werden?“, fragte Kitt belustigt, nachdem er einen ersten Zug der Kippe ausgestoßen hatte und sich wieder halbwegs wie ein Mensch vorkam.
„Nur ein kleiner Realitätscheck“, sagte Jessie lächelnd.
„Und?“
„Kein Traum“, antwortete Jessie und beide mussten breit grinsen.
„Das war ganz schön mutig von dir“, sagte Kitt und meinte jedes Wort.
„Ich weiß. Du?“ Jessie lehnte sich an ihn. „Ich kann nicht mehr zurück zu meinen Eltern. Vielleicht nie mehr. Was soll ich jetzt tun? Was sollen wir jetzt tun?“
Kitt stieß eine Rauchwolke aus seinen Lungen gen Himmel. „Was immer wir wollen“, sagte er leichthin.
Die Antwort befriedigte Jessie jedoch nicht. „Geht’s vielleicht ein bisschen konkreter?“, drängte sie.
Kitt nahm einen neuen Zug und überlegte einen Moment lang. Dann sagte er, so als handelte es sich dabei um das Natürlichste der Welt:
„Musik.“
„Musik?“, wiederholte Jessie verblüfft.
„Musik!“, sagte Kitt feierlich.
„Musik...“, hauchte Jessie sehnsuchtsvoll.
Sie küssten sich einen innigen Moment lang. Nach dem Kuss stieß Jessie hustend Kitts versehentlich eingeatmeten Zigarettenrauch aus.
Über ihnen kreischte ein Vogel auf. Beide sahen auf. Ein Weißstorch flog über ihren Köpfen hinweg in den Nachthimmel. Eine schwarz-weiße Feder sank spiralförmig gen Boden. Jessie fröstelte leicht, während ihre Augen der über ihren Köpfen kreisenden, fallenden Feder folgten. Kitt legte seine Jacke schützend um ihre Schultern und kuschelte sich wärmend an sie.
Er spürte, dass es da noch eine Sache gab, die ihr auf dem Herzen lag.
„Darf ich dich was fragen?“, sagte sie leise, während sie die sinkende Feder über sich betrachtete.
Kitt wusste instinktiv, worum sie ihn bitten würde. Doch war er dazu bereit? Er hatte ihn niemandem bisher gegeben – nicht Moses, nicht Julie, nicht Paulinchen oder seinem Vermieter, keiner seiner vielen Geliebten oder sonst wem.
Doch jetzt nickte Kitt.
Jessie wandte sich an ihn. „Der Junge mit den hässlichen gelben Entlein“, sagte sie zögerlich. „Der, den du vor zehn Jahren getötet hast.“ Sie sah ihn liebevoll an und fragte vorsichtig: „Wie war sein Name?“
Kitt sah schweigend in den Nachthimmel. Konnte er es wirklich wagen, sich vor einem anderen Menschen die Blöße zu geben? Sich diesem Jemand zu zeigen, nackt wie Gott ihn geschaffen hatte? Sein Inneres auf dem Tisch auszubreiten und ohne Angst zu sagen: „Das bin ich“? War er wirklich dazu bereit, die schützende Maske abzulegen und all seine Makel, Fehler, Ängste, Sorgen und Träume der Welt zu offenbaren?
Etwas in seinem Inneren hieß ihn, die freie Hand nach der sinkenden weißen Feder auszustrecken.
Im Moment, da diese seine Handfläche berührte, sagte er mit brüchiger Stimme:
„Timo. Timo Burkhart.“
Und alles war gut.
Wir wollen unsere beiden Helden am Gipfel ihrer trunkenen Verliebtheit verlassen und sie in diesem Bild unterm Sternenhimmel in jugendlich-ewiger Erinnerung bewahren. Ist es nicht herzerwärmend, dass selbst ein Antiheld wie der unsrige zu guter Letzt noch seine Feder fand, die ihm den Mut und die Kraft gab, die künstliche Maske abzustreifen? Und ist es nicht inspirierend zu sehen, wie unsere junge Heldin im entscheidenden Moment nicht den goldenen Käfig, sondern ihrem Wesen folgend das ungewisse Freie wählte?
Ich frage Dich, lieber gender-neutraler Leser: Welchen Nutzen hat es, die Ereignisse, die naturgemäß nun folgen müssen, anzuhängen und das harmonische Schlussbild zu trüben? Warum vom schicksalsschweren Schuss erzählen, der die Nacht durchdringt und so eine aufkommende Liebe vor ihrer Zeit zerstört? Weshalb eine Beerdigung an der Stelle schildern, an der ursprünglich eine Hochzeit angesetzt war?
Ich bitte Dich also: Verzeihe einem jungen Autor das Fehlen eines angemessenen Schlusskapitels, welches alle offenen Erzählstränge zu einem kunstvollen, vollendeten Ganzen vereint und gib Dich stattdessen mit diesem dürftigen Schlusswort zufrieden. Verzeih das Missachten dramaturgischer Regeln und Prinzipien. Verzeih, dass ich Dir die Wahl lasse, die Geschichte (den Vorgaben des klassischen Dramas folgend) konsequent zu Ende zu denken oder wie in meinem Falle – eines hoffnungslosen Romantikers – beim Bild der Liebenden zu verweilen.
Du weißt ja: Die Schriftsteller genießen es seit jeher von den tragischen Konsequenzen zu berichten, die auf vorangegangene Fehltritte ihrer Protagonisten folgen. Wie bei Shakespeare und den alten Griechen enden die meisten Stücke in großer Tragik, einer Liebe, die nie sein durfte und einer Welt, die letztlich die Überhand gewinnt. Gewiss, die Welt verlangt auch für unsere beiden Helden eine Opfergabe. Aber weißt Du was? Zum Teufel damit! Nur einmal möchte ich die Welt verleugnen, ja, ich möchte selbst so frech und ungestüm wie unser Kitt sein und ihr ins selbstgefällige Gesicht lachen! Soll sie mir grollen, weil ich mir Jesus zum Vorbild nehme und mit literarischer Vergebung um mich werfe und auf Tintenblut und -schmerzen verzichte. Denn weiß Gott: In jedem reuevollen Schurken steckt ein Herz, das zehnmal so viel wiegt wie das eines Gerechten, der mit erhobenem Finger auf ihn zeigt.
Lieber gender-neutraler Leser, ich lade Dich ein in dieser Sache mein Komplize zu sein. Trete ein in den Bund jugendlich-romantischer Idiotie. Schnapp Dir einen Radiergummi und wirf Dich damit auf unseren zutiefst im Stolz verletzten Kriegshelden, der mit Tschechows Waffe aus der Kirche stürmt, um sein dunkles Versprechen einzulösen; hilf unserem Liebespaar, indem du ihn zum Duell forderst und Stück für Stück ausradierst. Verschaff unseren beiden Helden Zeit; greif zum Bleistift und zeig ihnen einen neuen Weg auf, einen, der nicht zurück auf den Straßenstrich führt, wo unschuldige Seelen an den Folgen ihrer weltgemachten Laster sterben. Vielleicht magst Du sie zum guten, alten Anton auf den niemals schlafenden Jahrmarkt führen, wo sie für eine Weile vor den Augen der Welt untertauchen können? Vielleicht möchtest Du auch einen Schritt weitergehen. Dann lass sie Berlin ganz verlassen, noch heute Nacht, mit nichts weiter in den Taschen als einer Liebe, die heute alles ist und morgen vielleicht nicht mehr. Welches Schicksal Du Dir auch immer für Jessie und Kitt ausmalst, lass Dir gesagt sein, es betrifft weit mehr als nur das unserer beiden literarischen Helden.
Es betrifft vermutlich auch ein Stück weit Dich selbst.
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2020
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Covermotiv: Shutterstock.com
Klappentext/Beschreibung: Johannes zum Winkel