Cover

<3

Der Himmel so blau

 

Der Mensch ist blind.

So unwissend.

Genau wie ein armes Tier, das nicht weiß,

dass der einzige Zweck seines Lebens darin besteht,

gebraten und mit Zwiebeln serviert,

im Rachen eines Ungeheuers zu enden.

 

An meinem 5. Geburtstag, die Sonne stand hoch am Horizont,

fragte ich, um ein Stück mehr Wissen in mir aufzusaugen,

meinen Großvater, der neben mir stand,

warum sich der Himmel so blau über unseren Köpfen erstrecke.

Da blickte er mich an,

als hätte er in seinem ganzen Leben nichts anderes getan.

Und erklärte ganz ruhig,

mit einem stetigen Lächeln auf den Lippen,

dass der Himmel sich im Meer spiegle,

das bekanntlich ganz blau in der Sonne glitzert.

Und ich fragte mich,

wie ich so blind sein konnte.

Den Wald, vor lauter Bäumen nicht sah.

Mein Großvater, der wohl bemerkt hatte,

dass ich in meinen Gedanken unterging,

wie ein schwerer Stein im Wasser,

wischte etwas Staub von seiner Brille,

platzierte sie wieder auf der Nasenspitze.

Nahm mich an der Hand,

drückte sie,

ganz leicht,

kaum spürbar.

 

Eines Tages dann,

starb er,

mein Großvater.

Wurde mir entrissen.

Einfach so.

Doch auch an diesem Tag erstreckte sich der Himmel

in voller Farbe über mir,

was Wut in mir aufbrodeln ließ.

Ich wünschte so sehr,

er würde wie ein Spiegel zerspringen.

In feinem Staub auf mich herabrieseln,

mich bedecken.

Mich hinab in die Tiefe drücken.

Zu meinem Großvater

damit ich bei ihm sein konnte.

 

Aber mein Großvater

ging ganz allein von uns Sterblichen

und mit ihm starb auch sein Wissen.

Es war, als würde eine Bibliothek abbrennen,

geschliffen werden.

Ich wurde zurückgelassen.

Ohne ein einziges Buch,

an das ich mich hätte klammern können.

 

In der vierten Klasse,

ich saß an meinem abgenutzten Tisch, wie jeden Tag.

Mein so schwer wirkender Kopf,

wurde gestützt von meinem Ellenbogen.

So wie ich, damals.

Damals, von meinem Großvater.

 

Wir hatten Kunst,

die Lehrerin, voller Elan,

versuchte uns,

den halb eingenickten Schülern,

die Spaltung des Lichts,

und den Grund für das Blau des Himmels,

nahe zu bringen.

 

Da blickte ich sie an,

als hätte ich in meinem ganzen Leben nichts anderes getan.

Nicht mit Hass oder Verachtung.

Sondern mit Trauer.

Tiefer, unergründlicher Trauer.

Sah die Blindheit in ihren geschminkten Augen.

Doch ich zog sie nicht heraus

aus dem Sumpf ihrer Unwissenheit.

 

Der Mensch ist blind.

So unwissend.

Genau wie ein kleines Mädchen, das ihren Großvater,

einen weisen, Brillen tragenden Mann,

nach dem Sinn des Lebens fragt.

Obwohl sie längst weiß,

dass erst das Leben dem Sinn die Aufgabe gibt,

nach ihm zu fragen.

 

Der Mensch scheint blind.

So unwissend.

Doch vielleicht braucht er

einfach nur jemanden,

der ihm eine Brille leiht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
...an all die Menschen, die nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen sehen. Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. - Albert Einstein

Nächste Seite
Seite 1 /