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Der Musiklehrer

Nervös zermalmte sie einen Zigarettenstummel unter ihrem Schuh. Die Luft roch ekelhaft verpestet, denn aus dem Rauchverbot schien sich niemand etwas zu machen. Betty blickte immer wieder auf ihr Handy und fummelte daran herum um nicht die ganze Zeit über durch die Gegend zu starren.

Ein paar Züge fuhren in die verschiedenen Gleise ein, Menschen stiegen ein und aus, ein Mann von der Bahnhofsmission half einer alten Frau beim Koffer tragen.

Alles ganz normal, wie bei jedem anderen Bahnhof an jedem anderen Tag auch. Doch sollte heute alles anders sein. Zumindest für sie.

15 Minuten zeigte das Informationsschild von Gleis 3 an. So lange musste sie sich noch gedulden.

Sie atmete geräuschvoll aus und versuchte über ihren laut pochenden Herzschlag hinweg zu hören.

Was war denn dabei? Sie traf sich mit ihrem Klavierlehrer. Na und? Es war alles so wie immer, nur dass es privat war und nichts musikalisches geplant war.

Der Bahnsteig füllte sich langsam. Nun wurde ihr ein wenig schwindelig. Damit hatte sie seit ihrer Kindheit zu kämpfen. War sie aufgeregt, konnte sie sich sicher sein, dass auch der Schwindel nicht lange auf sich warten lassen würde.

Sie stellte sich vor wie die Begrüßung wohl ablaufen würde. Würden sie sich umarmen? Oder war das zu persönlich? Aber es war ja schließlich auch ein persönliches Treffen. Ob er es eigentlich als Rendez-vous betrachtete?

Nein, höchstwahrscheinlich nicht. Sie hatte keine Ahnung ob er eine Freundin hatte oder nicht. In den Stunden hatten sie zwar auch sehr viel über andere Dinge als über Instrumente und Noten geredet, aber privates hatte er bis jetzt nicht viel von sich durchklingen lassen.

Trotzdem war er immer freundlich und herzlich zu ihr und sie bildete sich ein, er würde sie immer ganz besonders anstrahlen. Und nun hatten sie sich sogar verabredet um miteinander in Berlin die Stadt zu erkunden. Wie gut, dass Betty diese Ferien bei ihrer Großmutter verbrachte, die dort lebte.

Christian liebte Berlin und da ihr gemeinsamer Heimatort nur eine Stunde entfernt war, versprach er ihr sie in den Ferien dort zu besuchen. Ihr Herz klopfte schneller wenn sie sich den Tag in Erinnerung rief, an dem er ihr das vorgeschlagen hatte.

Endlich! Der Zug fuhr ein. Als er schließlich begleitet von einem lauten Zischen hielt, hatte Betty Mühe sich von der Menschenmenge nicht zu den Türen drängen zu lassen. Sie stellte sich etwas abseits, so dass sie alles gut überblicken konnte und hielt nach Christian Ausschau. Doch nirgendwo konnte sie ihn sehen. Angestrengt versuchten ihre Augen ihn in dem ganzen Durcheinander auszumachen. Doch auch als die größte Menge verschwunden war und es wieder leerer wurde, war er nirgends zu sehen. Betty schluckte und spürte wie sich Tränen ankündigten. Sie durfte jetzt nicht albern sein, sicher hatte er ihr schon eine SMS geschrieben. Doch noch bevor sie ihr Handy aus der Manteltasche hervor angeln konnte, legten sich zwei Hände um ihre Schultern. Erschrocken fuhr sie herum und blickte geradewegs in Christians Augen.

Er lachte. Betty lachte ebenfalls obwohl ihr der Schreck noch in den Gliedern saß. „Na, dachtest du ich hätte dich vergessen?“, fragte er und zwinkerte.

Sie schüttelte bestimmt den Kopf und lächelte. „Nein, wieso?“

„Du sahst so aus!“ Er grinste und gab ihr einen zaghaften Stubs. „Schön, dich zu sehen, Betty. Wollen wir losgehen?“

„Natürlich!“, erwiderte sie freudig. Christian strahlte wieder einmal ein freundliches, herzliches Wesen aus. Seine braunen Augen wirkten tief und geheimnisvoll, sein Lachen gut gelaunt und aufrichtig. War er beim Friseur gewesen? Ihr war so, als hätte er kürzere Haare als noch das letzte Mal.

Und auf einmal verspürte sie großen Stolz mit so einem tollen Mann durch den Bahnhof zu gehen und sich mit ihm wie selbstverständlich zu unterhalten. Dabei war es alles andere als das, denn Christian war bereits 37 Jahre alt und hörte normalerweise in der Musikschule nur auf „Herr Angelt“. Ab der dritten Stunde bei ihm hatte er ihr aber das Du angeboten und darüber freute sie sich noch immer sehr. Sie selber war 17, hatte gerade ihre Realschule beendet und besuchte nun eine Schule für Journalismus.

Ein bisschen enttäuscht war sie schon, dass er sie nicht umarmt hatte, doch so lebhaft wie er ihr nun von seiner Zugfahrt erzählte und sie anstrahlte, rückte das gleich wieder in den Hintergrund.

Als sie so nebeneinander hergingen berührten sich für einen Augenblick ihre Arme, was Betty ein knisterndes Gefühl der Spannung verlieh.

„Aber jetzt erzähl du mir mal etwas. Wie waren deine Ferien bisher? Fehlt dir der Klavierunterricht?“

Betty kicherte. „Nun ja, ein wenig. Aber da meine Oma ein Klavier besitzt, kann ich manchmal spielen, das macht es nicht ganz so schlimm.“

Er nickte und lächelte über das ganze Gesicht. Betty spürte einen gewissen Druck in sich. Mensch, worüber sollte sie sich nur den ganzen Tag mit ihm unterhalten? Irgendwann würde ihnen sicher der Gesprächsstoff ausgehen.

Doch diese Sorge war unbegründet. Zuerst fuhren sie zum Brandenburger Tor, von dem Christian zwar etwas begeisterter war als sie selbst. Dennoch regte es zu einer interessanten Unterhaltung an, denn wie sich herausstellte hatte er ein enormes Wissen über die Geschichte.

Als sie in einen kleinen Souvenirshop gingen fragte er sie nach ihrer Meinung, welches Bild besser in sein Wohnzimmer passen würde. Nachdenklich betrachtete Betty die im Regal stehenden kleinen Bilder, die interessante Orte Berlins zeigten. Und wieder einmal war sie stolz, denn sie war wohl die einzige Schülerin, die bereits bei Christian zu Hause eine Stunde gehabt hatte.

„Eindeutig dieses hier!“, stellte sie selbstsicher fest und hielt eine Zeichnung des Reichstages im goldenen Rahmen hoch.

Ohne zu zögern nickte er zufrieden. „Danke für deine Hilfe.“

„Du nimmst es wirklich?“

„Natürlich, auf deine Meinung vertraue ich blind!“, sagte er lächelnd. Betty errötete und drehte sich unauffällig zu einem Stand mit Postkarten.

„Wenn du möchtest kannst du mich ja mal besuchen und mir sagen wo ich es am besten aufhängen sollte!“

„Das kann ich dir auch so sagen, dazu muss ich gar nicht erst zu dir kommen!“, bemerkte sie und hätte sich eine Sekunde später am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum musste sie immer die schönsten Momente mit so einer unbedachten Bemerkung, fast schon Abwehrreaktion, zerstören?

Christian schaute sie überrascht an, es war das erste Mal, dass er nicht lächelte. Doch dann schlich sich erneut ein Grinsen über sein Gesicht.

„Du hast ganz Recht. Ich schlage dir vor wir gehen jetzt in das gegenüberliegende Cafe und ich lade dich auf einen Cappucino ein. Dabei kannst du mir dann erzählen wo du das Bild aufhängen würdest“

Erleichtert nickte Betty und sie spürte wie ihre Beine wieder standfester wurden.

 

Im Cafe angekommen setzten sie sich in eine gemütliche, kleine Ecke am Fenster. Dort hatten sie noch am ehesten etwas Ruhe, denn es war gut besucht heute. Christian rückte ihr sogar den Stuhl zurecht und half ihr dabei ihren Mantel auszuziehen. Ein aufgeregetes Kribbeln suchte sie erneut heim. Das tat doch kein Mann, der an einer Frau kein Interesse hatte!

Christian ging zum Tresen und bestellte einen Capucino und einen doppelten Espresso.

Plötzlich begann ihr Handy zu vibrieren. War es Anne, ihre beste Freundin? Sicher wollte sie wissen wie es lief. Doch auf dem Display erschien der Name ihrer Oma. Genervt rollte Betty die Augen, öffnete die SMS aber trotzdem.

„Komm nicht so spät heim, mein Kind und gehe bitte nicht zu deinem Lehrer nach Hause. Oma.“

Christian kam zurück und stellte eine randvolle Tasse vor ihr ab. Lächelnd ließ sie ihr Handy verschwinden und dankte ihm. Noch nie wurde sie von einem Mann eingeladen.

„Berlin ist großartig.“, stellte Christian fest, nachdem er einen großen Schluck Kaffee getrunken hatte. „Überall Menschen, Trubel, Lärm. Ich finde sowas toll.“

Betty nickte eifrig, obwohl sie diese Meinung gar nicht teilte.

„Eigentlich ist es viel zu schade Berlin nach einem Tag schon zu verlassen. Ich könnte viel mehr sehen, wenn ich ein paar Tage bleiben könnte.“

„Dann mach das doch!“, rief Betty begeistert aus. Für einen kurzen Augenblick schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, wie es wohl wäre wenn er bei ihr und ihrer Oma ein paar Tage verbringen würde, doch diese Vorstellung verwarf sie gleich wieder. Sie würde es niemals dulen, ihre Oma kam aus strengem Hause und traute den Männern der heutigen Zeit nicht. Es war schon schwer genug gewesen sie zu überreden sich mit ihm treffen zu dürfen.

„Ein so viel älterer Mann ist nichts für junge Mädchen!“, waren ihre Worte gewesen.

 

„Meinst du?“, fragte er und sah sie zweifelnd an. Ganz überzeugt schien er nicht zu sein.

War sie ihm vielleicht doch zu langweilig?

„Ja, du könntest doch in ein Hotel einchecken!“, schlug sie vor und ging gedanklich die Hotels durch, die von dem Haus ihrer Großmutter aus gut erreichbar waren.

„Hm.“, machte Christian und lutschte nachdenklich an seinem Strohhalm.

„Ach weißt du. Eigentlich ist das gar keine schlechte Idee. Kannst du mir eines empfehlen?“

Bettys Augen strahlten. Das sollte der Anfang eines langen Abends werden. Nachdem sie die Hotels abgeklappter hatten, die in der Nähe von ihr lagen und keines noch bereit war ein Zimmer zur Verfügung zu stellen, fuhren sie mit der U-bahn zurück in die Innenstadt. Endlich hatten sie eines gefunden, es hatte zwar nur drei Sterne, lag dafür aber sehr zentral.

 

„Super!“ Christian blickte sich wohlwollend in seinem Zimmer um. Es war klein, aber fein. Ein Doppelbett, ein ziemlich altmodischer Schreibtisch und ein Fernseher. Wohlig seufzend ließ er sich auf seinem Bett nieder. „Endlich sitzen!“, rief er aus und lachte Betty mit seinen wunderschönen braunen Augen an.

Betty grinste und setzte sich neben ihm. Sie war schon sehr viel lockerer geworden und die Hotel-Suche mit Christian hatte ihr richtigen Spaß gemacht. Jetzt würde er sogar noch drei Tage bleiben!

Doch als ihr Blick auf ihre Armbanduhr fiel erschrak sie. „Schon acht Uhr durch. Tut mir leid, aber ich muss jetzt nach Hause, meine Oma macht sich immer so schnell Sorgen.“

Er nickte verständnisvoll und stand auf. „Natürlich. Ich begleite dich noch zu deiner U-Bahn.“

Bettys Herz schlug schneller. Er mochte sie, kein Zweifel. Oder?

 

Die U-bahn fuhr ein, Menschen drängelten sich an ihnen vorbei und stiegen ein und aus. „Hättest du vielleicht Lust morgen Abend mit mir einen Film zu schauen?“, fragte Christian.

„Ich habe da einen etwas älteren, aber sehr interessanten Film mit, der mit Musik zu tun hat. All zu viel will ich nicht verraten. Er würde dir sicher gefallen.“

Betty überlegte nicht lange und willigte ein, hätte am liebsten gejauchzt vor Freude, doch sie wollte sich nicht albern benehmen.

Vor ein paar Tagen noch hatte sie wie jede andere Schülerin auch mit ihm Klavier gespielt und nun war sie mit ihm verabredet um einen Film anzuschauen. Wer hätte das gedacht! Sie jedenfalls nicht.

Schnell war eine Uhrzeit ausgemacht, zu der sie ihm im Zimmer besuchen sollte. Kurz bevor sie einstieg entfernte er sich bereits einige Schritte, hob lediglich die Hand und sagte Tschüß.

Sie versuchte die sich ankündigende Enttäuschung, die in ihr hochstieg, zu unterdrücken. Es hatte nichts zu bedeuten. Er wollte eben nicht aufdringlich sein, ja so würde es sein.

 

*

 

„Betty, wo bist du nur so lange gewesen? Wegen deiner ständigen Unpünktlichkeit bekomme ich jedes Mal ein paar graue Haare mehr!“

Wenn sie ihre Oma nicht so lieb haben würde, wäre sie nun genervt. Denn das brachte ihr die Realität wieder etwas näher, nämlich, dass sie noch ein 17-jähriges Mädchen war.

„Entschuldigung. Ich habe die U-bahn verpasst.“

Als sie in die Küche ging und sich an den Tisch setzte, wo es bereits nach leckeren Sahne Nudeln roch, stand ihre Oma bereits mit verschränkten Armen davor und betrachtete ihre Enkelin misstrauisch. „Hat dich dein Klavierlehrer dazu angestiftet später zu kommen?“

Nun musste Betty lachen. „Ich bin kein kleines Kind mehr, ich kann gut alleine einschätzen wann es Zeit ist zu gehen und wannnicht.“

„Aha, so ist das also. Dann hast du entweder ein eigenartiges Zeitgefühl, mein Fräulein, oder du machst dir nicht viel aus meinen Vorschriften.“

„Aber...“

„Kein Aber!“, unterbrach sie ihre Enkeltochter streng. Betty schwieg.

Dann seufzte ihre Großmutter und setzte sich auf den Platz ihr gegenüber. „Betty, mein Schatz. Ich möchte dich doch nur in Sicherheit wissen. Es behagt mir nicht, wenn du dich mit älteren Herren triffst,Kind!“

„Ach, da erinnerst du mich an etwas!“, rief Betty. „Ich treffe mich morgen noch einmal mit ihm. So um acht Uhr. Ich möchte ihm etwas die Stadt zeigen.“

„Ich dachte er würde nur einen einzigen Tag hier verbringen?“ Man sah ihrer Oma die Angst deutlich an.

„Er hat es sich anders überlegt und sich ein Zimmer im Hotel Botterbloom genommen. Mach dir keine Gedanken. Er ist ein sehr netter und hochgeschätzter Mann und einer der besten Lehrer unserer Musikschule.“

„Das hat gar nichts zu sagen, Betty.“

 

Damit ihr nicht noch eine patzige Antwort raus rutschte, konzentrierte sich Betty ganz auf ihre Nudeln und überlegte sich was sie am nächsten Tag anziehen wollte.

Doch die Auswahl war nicht leicht, auch nicht als sie wenige Zeit später vor ihrem Spiegel stand und mehrere Sachen ausprobierte.

„Tja, ich sehe einfach in allem gut aus!“, sagte sie zu ihrem eigenen Spiegelbild und kicherte übermütig.

Als die passenden Klamotten über ihrem Stuhl lagen und bereit waren am nächsten Morgen angezogen zu werden, wurde ihr langsam etwas mulmig zu Mute. War es wirklich so eine gute Idee mit ihm gleich einen Film zu schauen? Dabei war man sich normalerweise bei einem Date sehr nahe und oft war es die Vorlage für den ersten Kuss. Aber ob er sie wirklich küssen wollte?

„Mensch, du Schaf!“, schalt sie sich selbst und lachte auf. Als ob er das wirklich vorhatte. Nein, das täte kein Mann in seinem Alter mit einer 17-jährigen. Ein bisschen flirten und Spaß machen, ja. Aber mehr auch nicht, er würde sicherlich nicht seinen einwandfreien Ruf in der Musikschule riskieren wollen. Außerdem – er hatte sie noch nicht einmal umarmt, wie sollte er dann das Verlangen haben sie zu küssen? Nein, das war ganz und gar nicht realistisch. Und schon ihre Mutter hatte ihr beigebracht mit realistischen Erwartungen an ein Date zu gehen.

Trotzdem freute sie sich. Denn sie nahm sich vor mit ihm einen netten, unverbindlichen Abend zu verbringen.

 

 

*

 

Und doch konnte sie nichts dagegen ausrichten, dass ihr die Beine weich wurden als sie das Hotel betrat und die Treppen zu seinem Zimmer empor stieg. Als sie zaghaft anklopfte öffnete Christian sofort und deutete ihr mit einer charmanten Bewegung einzutreten. Betty legte ihre Sachen ab und setzte sich etwas befangen auf sein Bett um sich die Dvd anzusehen, die bereits bereitlag.

„Mein Weg in die Musik“ hieß der Titel. Hörte sich wie eine langweilige Biographie an, doch wenn Christian neben ihr war, machte das gar nichts. Vorfreude stieg in ihr auf. Sie würde den Abend richtig genießen.

Christian trug eine sehr schicke dunkle Jacke und eine dazugehörige Hose, seine Haare waren glatt nach hinten gekämmt. So vornehm hatte sie ihn noch nie gesehen und auf einmal fragte sie sich ob sie selbst gut genug aussah mit ihrem stink normalem Rock und das eher einfallslose lila T-shirt.

Er schaute sie an und als hätte er ihre Gedanken erraten, grinste er und sagte: „Ich weiß, ich habe mit der Kleidung vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich warte schon lange darauf diese Jacke zu irgendeinem Anlass mal anzuziehen.“

Betty lachte und äußerte sich positiv dazu.

 

„So, ich hoffe der Film gefällt dir, versprich dir nicht zu viel vom Anfang, er wird erst zur Mitte hin spannend.“ Nachdem er den Film hineingelegt hatte, ging er zum Schrank und nahm eine Flasche Sekt und zwei Gläser heraus. „Auch etwas?“, fragte er und lachte gespielt verrucht.

Betty mochte keinen Sekt, doch es wäre unhöflich dieses Angebot abzulehnen. Sekt trank man nunmal wenn man erwachsen war.

„Gerne, aber nicht so viel, es steigt mir immer sehr schnell zu Kopf!“

„Kein Problem!“, beruhigte er sie und goss ihr bis zur Mitte ein, dann sich selbst.

Es schmeckte wie erwartet ekelig bitter. Schon oft hatte sie versucht an diesem Getränk Gefallen zu finden, doch es war ihr noch nie gelungen.

 

Der Film begann. Es ging um einen jungen Mann, dessen sehnlichster Wunsch es war Musik machen zu können, seine Eltern hielten jedoch nichts davon. Beide saßen nebeneinander auf dem Bett an ein großes Kissen gelehnt, Christian hatte noch Chips und Salzstangen auf dem kleinen Tisch bereit gestellt, doch weder er noch sie aß etwas davon.

Sie zwang sich ein paar Schlucke Sekt hinunter und staunte als Christian seines schon wieder ausgetrunken wegstellte.

„Wenn du nicht mehr magst, musst du es dir nicht runter zwingen!“, sagte er leise und rückte dabei etwas näher an sie heran, sodass sein Atem in ihren Ohren kitzelte.

Sie nickte lächelnd, nahm einen letzten langen Zug und stellte es dann ab.

 

Fünf Minuten vergingen und Betty hatte keine Ahnung worum es nun ging. Sie hatte die meiste Zeit nicht zugehört, denn sie war damit beschäftigt gewesen zu realisieren, dass Christian gerade absolut offensichtlich und unmissverständlich ihre Nähe gesucht hatte.

 

Nach weiteren zehn Minuten rekelte sich Christian und gähnte. „Ich bin ein wenig müde. Wollen wir uns vielleicht hinlegen?“, fragte er und seine Augen strahlten in diesem Augenblick etwas aus, dass Betty nicht geheuer war.

 

„Ich bin eigentlich gar nicht so müde.“, entgegnete sie und spürte wie ihr Herz ihr in die Hose rutschte.

 

„Nun, das musst du ja auch nicht sein!“, grinste er. „Aber ich könnte mich so besser auf den Film konzentrieren, es wäre einfach bequemer.“

 

Betty hielt kurz inne, suchte nach passenden Worten, spielte ganz kurz mit dem Gedanken nach Hause zu gehen, doch dafür schalt sie sich gleich darauf selbst.

Das ist doch albern, sagte sie sich innerlich. Was ist denn dabei wenn wir nebeneinander liegen? Gar nichts.

Also legten sie sich hin. Er legte einen Arm um sie und drückte sie zärtlich an sich.

 

Ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig. Was sollte das? Sie versuchte ruhig zu bleiben, doch es ging nicht. Ruckartig setze sie sich auf.

„Was hast du?“, fragte Christian überrascht. Langsam drehte sich Betty zu ihm. „Ich – ich dachte... da wäre ein Tier gewesen.“

Er schaute sie einen Moment lang verdutzt an, zog die Augenbrauen hoch und brach dann in sein Gelächter aus, das sie so an ihm mochte.

Betty lächelte beschämt. Sie war noch nie einem Mann so nahe gekommen. Eigentlich war es doch genau das was sie wollte. Sie fand Christian anziehend, er war unwahrscheinlich gutaussehend, war intelligent und teilte noch dazu ihre große Leidenschaft die Musik. Wie oft hatte sie sich ausgemalt wie schön es wäre in seinen Armen zu liegen. Und jetzt wurde sie hysterisch?

Christian hatte sich nun ebenfalls wieder aufgesetzt. „War ich dir etwas zu aufdringlich?“, fragte er unsicher. Betty schaute ihn nicht an.

„Nein, das ist es nicht. Ich meine – doch.“ Ihr entfuhr ein verzweifeltes Kichern. „Es ist nur so. Ich mag dich so gerne, aber ich bin es nicht gewohnt.“

„Ich mag dich auch sehr gerne!“, erwiderte Christian lächelnd. „Aber was bist du nicht gewohnt?“

„Naja, solche Situationen.“

Christian grinste breit, legte nun einen Arm um ihre Schulter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich finde dich toll. So manche anderen könnten sich mal eine Scheibe abschneiden von dir.“

Betty spürte die Anspannung noch immer in jedem Glied, obwohl der Kuss ihr ein erstaunlich großes Glücksgefühl beschert hatte. Wie musste es dann erst sein wenn er sie richtig küssen würde?

„Meinst du das ehrlich?“, fragte sie und betrachtete ihn aufmerksam.

„Ich würde nie lügen wenn es um so etwas geht. Mir gefällt es wie du bist. Du scheinst niemand zu sein, der mit jedem gleich in die Kiste springt. Und das wird mittlerweile leider immer mehr zur Seltenheit.“

Betty nickte nur.

Christian streichelte über ihr Haar, dann über ihren Arm und schließlich legte er sie auf ihrem Bein ab. Betty ließ es geschehen ohne sich zu rühren. Sie wusste einfach nicht was sie tun sollte. Ihn ebenfalls berühren? Nein, aus irgendeinem Grunde war ihr nicht danach.

Plötzlich näherte sich sein Gesicht dem ihren, sie spürte seine Haut schon beinahe an ihrer, bis ihre Lippen sich berührten und miteinander zu verschmelzen schienen.

Ein wahres Gefühlschaos brach in ihr aus. Doch das von Freundinnen versprochene Feuerwerk, das im Inneren stattfinden sollte, würde man einmal von einem Mann geküsst werden, blieb aus.

Wie benommen fühlte sie sich und sie konnte nicht sagen ob das alles gut oder schlecht war.

„Christian, ich.. Ich denke wir sollten das lassen. Ich fühle mich gerade nicht so danach.“

Sie war sich selbst fremd, als sie diese Worte sprach und dennoch drückten sie genau das aus was sie empfand.

„Aber es hat doch so schön angefangen, liebe Betty!“, flüsterte Christian und wollte ihren Hals küssen. Reflexartig versetzte sie ihm einen kleinen Stoß und rückte ab.

„...wirklich nicht!“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor.

Und auf einmal war es, als hätte jemand einen Schalter in Christian umgelegt. Seine Gesichtszüge verspannten sich, er sah auf einmal streng und verständnislos aus, als hätte er ein anderes Gesicht bekommen.

„Was fällt dir ein?“, fragte er ruhig aber man konnte einen Unterton heraushören, der so eisig war, dass es Betty kalt über den Rücken lief.

„Du warst doch genau so darauf aus wie ich. Hast du wirklich geglaubt wir würden hier einen netten Filmeabend machen und ein wenig quatschen? Das kaufe ich dir nicht ab. Du hast es von Anfang an darauf angelegt, also zier dich gefälligst jetzt nicht!“

 

Betty starrte ihn an. Was passierte hier? Was war los? Wo war der nette, zuvorkommende Christian geblieben?

Sie versuchte zu grinsen. „Hör auf mit dem Quatsch!“, brachte sie heiser hervor, in sich tatsächlich die leise Hoffnung tragend, es wäre nur ein schlechter Scherz.

Er ergriff sie an den Handgelenken, drückte zu. „Hör auf, du tust mir weh!“, rief Betty und versuchte sich zu befreien, doch Christian war zu stark.

Höhnisch lachend zwang er sie zurück auf das Bett und drückte sie nieder. „Du naives kleines Ding!“, flüsterte er mit geweiteten Pupillen. Betty weinte, wollte etwas sagen, doch ihre Stimme versagte. Alles in ihr war erfüllt von Angst. Riesiger Angst. Und des Gefühles ausgeliefert zu sein.

„Was glaubst du, wie lange ich schon auf diesen Moment warte? Schon als du das erste Mal zu mir in die Musikstunde gekommen bist, wusste ich, dass du leichtgläubiges Etwas schnell zu betören bist. Ein netter Blick hier, eine höfliche Bemerkung dort und schon hat man dich am Haken.“

Bettys Atem wurde schneller, sie hechelte geradezu. Sie hörte dumpfe Stimmen, die sich unterhielten und ein leises Gepolter. Es musste aus dem Nebenzimmer kommen. Sie musste sich bemerkbar machen, nur wie?

 

Bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte, entfuhr ihr ein schriller, lauter Schrei. Christian hatte seine Hand an ihrem Hosenknopf gehabt, nun aber schnellte sie in die Höhe und traf Bettys rechte Wange mit einem lauten Knallen.

Für einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen. Sie spürte den Schmerz kaum. Sie sah Bilder vor sich aus der Vergangenheit. Blitzschnell huschten sie durch ihren Kopf und ließen dennoch einen gewaltigen Schmerz zurück. Christian. Sie hatte ihm vertraut. Gemocht hatte sie ihn. Er hatte immer eine Engelsgeduld gehabt, wenn es darum ging ihr ein neues Stück beizubringen. Immer hatte er sie angestrahlt.

Die Benommenheit verschwand, sie konnte wieder klar sehen. Ihre Hände waren gefesselt, ebenso wie ihre Füße. Sie konnte hören wie ein Schlüssel herumgedreht wurde. Betty richtete ihren Oberkörper etwas auf, sah, dass Christian die Tür verschlossen hatte.

„Damit uns auch niemand stört.“, erklärte er mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Betty ließ sich zurücksinken. Tränen flossen ihr die Wange herab. Sie musste etwas tun. Aber wenn sie Lärm machte, würde er sie nur wieder schlagen. Die Wahrscheinlichkeit war gering, das tatsächlich jemand nachsehen würde.

Langsam schritt Christian auf sie zu, er wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als auf einmal jemand klopfte.

„Was wollen Sie?“, fragte er barsch.

„Ent-entschuldigen Sie, mein Herr!“, ertönte eine männliche, kleinlaute Stimme.

„Aber hier ist jemand, der sie sprechen möchte. Um ehrlich zu sein – es ist die Polizei.“

Betty traute ihren Ohren nicht. Das machte keinen Sinn, das machte überhaupt keinen Sinn.

Christian gab keinen Ton von sich, blieb stehen wie erstarrt und rührte sich nicht.

Die Tür wurde aufgeschlossen. Als Betty den Kopf hob und zur Tür lugte, sah sie zwei Polizisten hereinkommen. Am Eingang des Zimmers blieb ein verschüchtert aussehender, hagerer Mann zurück und starrte sie entsetzt an.

Und plötzlich schwand alle Kraft aus ihrem Körper, sie spürte wie die Erleichterung sie wie eine Welle überrollte. Sie weinte. Und sie lachte.

Als sie endlich von den Fesseln befreit war, hatten sie Christian bereits Handschellen angelegt. Er hatte seinen Blick starr zu Boden gerichtet. Seine Augen sahen unheimlich rot angelaufen aus und die Blässe ließ ihn wie tot wirken.

Die Polizisten führten ihn ab. Betty war es, als hätten sich ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen, kurz bevor er den Raum verließ. Sie saß noch immer auf dem Bett. In ihrer Hand spürte sie einen Gegenstand, der sich in ihre Haut bohrte. Wie lange hatte sie ihn schon umklammert? Sie wusste es nicht. Es war eine Packung. Wie von einem Medikament. „Diazenolut“ war in großen Buchstaben darauf gedruckt. Sie wendete es und überflog die Anwendungsbeschreibung. "Psychopharmaka gegen Erregungs-und Aggressionszustände."

 

„Geht es Ihnen gut?“, fragte der hagere Mann, wahrscheinlich jemand von der Rezeption.

„Ja, jetzt wieder.“, lächelte Betty. „Aber sagen Sie, warum ist die Polizei gekommen?“

Der Herr reichte ihr einen heißen Plastikbecher mit Tee. „Nun, die hat eine gewisse Frau Engbert eingeschaltet. Sie hatte sich wohl Sorgen um ihre Enkeltochter gemacht, weil es ihr die ganze Zeit über nicht geheuer war, dass diese sich mit einem älteren Mann trifft.“

Er lachte auf. „Anscheinend hat die gute Dame am Telefon ziemlich übertrieben, denn nachdem sie den Namen unseres Hotels genannt hat, in dem man diesen finden konnte, standen sofort die beiden Beamte auf der Matte.“

 

Betty nickte stumm. Dann warf sie dem Herrn einen entschuldigenden Blick zu, eilte zu ihrem Mantel um ihr Handy hervor zu angeln und tippte eine SMS an ihre Oma ein. „Danke, Oma. Du hattest Recht. Ich hab dich lieb.“

 

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.06.2013

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