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Schreckensnacht

Lunette war gut gelaunt. Das war sie eigentlich immer, wenn es Samstag Abend war.

Das hatte den Grund, dass ihre Mitbewohnerin Isabelle an diesem Abend immer ausging. Meistens mit ihren Freundinnen zum Tanzen, aber sie hatte auch mal das ein oder andere Date mit einem all zu vornehmen jungem Mann. An diesen Tagen war Lunette froh die schöne Wohnung für sich zu haben. Sie musste schließlich die ganze Woche über für ihr Medizinstudium pauken, da hatte sie es sich doch verdient, sich einmal in der Woche frei entfalten zu können und Musik zu hören so laut wie sie es wollte. „Tschüß, Lune!“, rief Isa fröhlich aus und war schon auf dem Weg zur Tür.

Sie sah selbstverständlich wieder totschick aus. Ein blaus, langes Kleid trug sie, mit silbernen Röschen daran. Es glitzerte leicht. Die Harre hatte sie zusammengebunden und wie immer hatten sie einen prächtigen Glanz.

Lunette saß Zeitung lesend in der Küche und murmelte etwas. Erst als sie endlich die Tür ins Schloss fallen hörte, atmete sie erleichtert auf. Nun war es Zeit zu überlegen was sie anstellen wollte. Ein Buch? Nein, das konnte sie ja auch lesen, wenn Isabelle da war. Sie musste ihre Abwesenheit schon richtig auskosten. Sie huschte ins Wohnzimmer und begann den Stapel DVDs vor dem Fernseher genauer unter die Lupe zu nehmen. Den hatte sie sich schon mal bereitgestellt, als sie erfahren hatte, wo es heute für Isa hingehen sollte. In den angesagtesten Nachtclub in ganz Frankfurt, dessen Namen ihr entfallen war. Dort würde ihre liebe Mitbewohnerin heute tanzen und sich den erst besten Typen angeln. Es lief immer nach dem selben Schema ab. Nach einem ausgiebigem Blickflirt miteinander Tanzen, sich dabei immer näher kommen und schließlich an der Bar so viel gemeinsam trinken, dass man für die restliche Nacht für alles zu haben war.

Es war doch immer gleich! Lunette war froh im trautem Heim zu bleiben. Dort gab es keine nach Alkohol stinkenden Männer, die kaum ein Wort mehr vernünftig reden konnten.

Keine Schleimer, die es nur darauf abgesehen hatten ihr Objekt der Begierde ins Bett zu bekommen.

Nein, zu Hause gab es nur ihre gemütliche Couch und ihre Lieblingsfilme. Genau das richtige für so einen zarten Charakter wie sie ihn besaß.

Und da hatte sie auch schon ihren Traumfilm in der Hand. Titanic! Wie oft sie ihn schon zusammen mit ihrer besten Freundin Berdina geschaut hatte! Zehn mal bestimmt. Aber das waren immer noch ein paar Male zu wenig.

Und so kam es, dass sie wenige Minuten später mit einer dünnen Decke über den Beinen und einer Schüssel Keksen auf dem Sofa saß und gebannt den vor ihr sich abspielenden Szenen folgte.

Jack, gespielt von Leonardo Dicaprio, war gerade dabei zusammen mit seinem Freund an Bord zu gehen. Wie fröhlich und übermutig er war, als er über das Deck stürmte! Dieser Übermut, den hatte sie doch schon mal gesehen. Ja, der kam ihr bekannt vor. Der begehrenswerte Schauspieler nahm vor ihrem inneren Auge plötzlich eine ganz andere Gestalt an. Etwas kleiner wurde er, die Haare kürzer und das Lächeln schien auch ein wenig zaghafter zu werden. Ganz deutlich sah sie nun IHN vor sich. Ihn, den sie doch eigentlich erfolgreich verdrängt hatte. Nie wieder sollte er in ihr Erinnerungen, geschweige denn Gefühle auslösen. Nein, das hatte sie hinter sich.

Sie schüttelte ihren Kopf, als könnte sie dadurch die Gedanken loswerden. Das Bild verschwamm, nahm immer schwerer erkennbare Formen an, bis es im nächsten Augenblick verschwunden war und wieder Leonardo Dicaprio vor ihr stand, der mit strahlenden Augen auf den Ozean blickte.

Krampfhaft versuchte sie sich wieder auf den Film zu konzentrieren. Doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Sie war auch schon sehr müde und es wäre vielleicht besser sich hinzulegen. Aber das wäre dann ein verschwendeter Samstag Abend! Den einzigen Abend, den sie ohne Isa verbringen konnte, wollte sie genießen und nicht verschlafen. Also führte sie den Kampf mit der Müdigkeit fort.

 

Ein Geräusch weckte sie aus ihrem Traum. Vor ihren Augen breitete sich dunkles Braun aus und ihre Hände krallten sich in weichen Stoff. Es musste Polster sein. Und da – da war auch wieder das Geräusch, das sie um ihren Schlaf gebracht hatte. Das war eine Mischung aus Weinen und lautem Gepolter. Erschrocken fuhr sie hoch und blickte geradewegs in den Fernseher, wo ein paar hundert Leute dabei waren um ihr Leben zu kämpfen. Titanic! Es war nur der Film. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Matt blinzelte sie zu der großen Standuhr im Zimmer und stellte fest, dass es mittlerweile 3 Uhr morgens war. Stöhnend rieb sie sich die Augen und machte den Fernseher aus. Diese Untergangsszene war gerade nicht sehr angenehm für sie zu schauen.

Überhaupt fühlte sie sich schwummrig. Ihre Beine waren weich, ihr Magen fühlte sich an, als hätte ihr jemand einen Schlag dort hin verpasst und es trieselte ihr.

Unruhig begann sie die DVD aus dem Player zu nehmen und sie in ihre Hülle zurück zu legen. Ihre Hand zitterte dabei unaufhörlich. Was ist denn nur los mit mir?, fragte sie sich verwirrt. Warum war ihr so unbehaglich zu Mute?

Plötzlich wusste sie es. ER löste das in ihr aus. Vorhin, da hatte ER vor ihr Gestalt angenommen. Ja, da hatte sie ihn deutlich vor sich erkennen können.

Aber er war nicht da. Er würde nie mehr da sein. Sie brauchte keine Angst haben, denn es gab keinen Grund dazu.

Was könnte sie denn nun am besten beruhigen? Einen Tee, ja das würde ihr mit Sicherheit gut tun.

Schnurstracks begab sie sich in die Küche und setzte Wasser auf.

So, gleich würde es ihr doch schon wieder viel besser gehen. Wenn doch nur ihre Hände aufhören würden zu zittern, verdammt!

Die Minuten verstrichen, sie ging durch die Wohnung und schaltete in jedem Zimmer Licht an.

Es war kurios,aber nun wünschte sie sich, Isa wäre hier.

Das Knacken des Hauses, in dem die Wohnung lag war heute lauter als sonst. Viel lauter. Oder bildete sie sich das vielleicht nur ein?

Ganz ruhig, Lunette! Hör auf an ihn zu denken, er kann dir nichts mehr tun. Der gute sitzt in der Psychatrie, oh ja da sitzt er!

Doch sie wurde nicht ruhiger. Warum ausgerechnet heute? Warum mussten heute all die Erinnerungen in ihr hochkommen?

Auf einmal hielt sie in der Bewegung inne. Sie hatte etwas gehört. Ihr Herz machte nervöse Sprünge.

Doch im nächsten Moment lachte sie über sich selbst, das heißt sie versuchte es. Denn sie hatte nur den Regen vernommen, der leise an die Fenster plätscherte. Kein Grund, gleich in Panik zu geraten.

Doch das änderte nichts daran, dass ihre Angst bildlich greifbar wurde. Sie sah ihren Peiniger vor sich. Wie er sie anstierte mit seinen teuflisch großen Augen. Ihr war, als spürte sie sogar seine Faust im Gesicht. Aber sie war in Sicherheit. Das Hochhaus war sehr belebt, niemand könnte ihr etwas zu Leide tun. Seltsam, was ein Film alles in einem Menschen auslösen konnte! Dabei hatte Leonardo doch nur einen winzigen Hauch von Ähnlichkeit. Sie war einfach zu sensibel.

 

Endlich war der Tee fertig und sie trank ihn dankbar und in großen Zügen. Es fühlte sich so schön an die Wärme des Bechers an ihren Händen zu spüren. Eine ganze Weile saß sie so und lauschte dem Regen. Ihr Puls schien sich wieder in einem normalen Rahmen zu befinden und auch ihr Herzschlag normalisierte sich.

Ich gehe besser ins Bett, das ist das einzig gute was man in so einer Situation machen kann, dachte Lunette sich und trank rasch die letzten Schlucke des Zitronentees.

 

Gerade war sie dabei, den Becher in die Geschirrspülmaschine zu legen, als ihr Handy vibrierte. Ihr war zuvor nie aufgefallen, wie unheimlich sich dieses in der nächtlichen Stille anhören konnte.

Sie wollte den grünen Knopf drücken, als sie plötzlich erstarrte. Auf dem kleinen Display stand : Unbekannt. Lunette schnappte nach Luft und blieb regungslos stehen. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Wer rief sie um diese Uhrezeit an? All ihre Freunde wussten, dass sie früh schlafen ging.

Sie ließ sich ratlos auf das Sofa sinken und durchbohrte das Mobiltelefon mit ihren Blicken.

Ok, zusammenreißen! Zusammenreißen, Lunette Nietz! Da hatte sich bestimmt jemand verwählt.

Das vibrieren verstummte, der Anrufer hatte also aufgegeben. Hätte sie doch ran gehen sollen?

Nein, das konnte doch nicht für sie gewesen sein. Da musste jemand die falsche Nummer gewählt haben, anders konnte sie sich das nicht erklären.

Kurz entschlossen schaltete sie das Gerät aus und atmete tief ein und aus. Doch auch das sollte ihr nicht gegönnt sein. Eine all zu bekannte Musik ließ sie versteinern. Es war eine gleichmäßige Melodie, die leicht und friedlich einen Anruf ankündigte. Das Haustelefon! Wer immer das auch gerade war, er versuchte es nun auf diese Weise. Sie erschrak über ihre eigenen Gedankengänge. Wen meinte sie eigentlich mit er? Doch nicht IHN! Er konnte das schließlich nicht sein.

Wie in Trance schleppte sie sich zu dem Hörer, drückte auf den Knopf und presste ihn sich an das Ohr. „Hallo?“, meldete sie sich mit schriller Stimme. Jemand schnaubte am anderen Ende. Klara meldete sich ein weiteres Mal, doch keine Reaktion. Sie legte auf und fing verzweifelt an zu weinen. Die Polizei! Sie musste die Polizei benachrichtigen! Er war hinter ihr her, hatte sie aufgespürt. Aber was sollte sie den Beamten sagen? Dass jemand bei ihr angerufen hatte und sich der Regen so unheimlich anhörte und sie nun annahm, jemand wollte ihr etwas antun?

Nein, das ging nicht. Aber Bernadine wollte sie nun endlich alles erzählen. Schnell tippte sie die Nummer der Freundin ein und wartete auf das Freizeichen.

Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als sie endlich die vertraute Stimme hörte. „Lunette? Warum rufst du mich....“ Ein herzhaftes Gähnen unterbrach sie. „...um diese Uhrzeit an?“

„Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe! Aber du musst mir helfen, ich habe solche Angst!

Er weiß wo ich bin! Er...“ „Lunette! Du weißt ganz genau, dass er dich nicht finden kann, da er nicht auf freiem Fuß ist. Der hat jetzt erstmal noch ein paar schöne Wochen in der Irrenanstalt vor sich und dann..“ Es knackte in der Leitung. „Bernadina?“, ihre Stimme kreischte in den Hörer.

Nicht war zu hören. Nicht einmal ein Rauschen. Die Leitung war tot.

Sie ließ die Hand sinken und hatte das Gefühl alle Kraft würde aus ihrem Körper schwinden.

Alles kam ihr plötzlich so weit entfernt vor. Als wäre sie in einer Blase gefangen, aber gleichzeitig auch beschützt, die nichts an sie herankommen ließ.

Ich muss hier raus, ich muss hier raus, dachte sie bei sich und versuchte nun nicht mehr das Zittern zu unterdrücken. Wenn ich die Polizei nicht anrufen kann, dann muss ich jetzt schnellstens zum Präsidium. Auch wenn sie mich womöglich für verrückt halten.Wenigstens bin ich da in Sicherheit. In Windeseile zog sie sich die Schuhe an und nahm ihren Mantel vom Haken. Sie hatte die tür schon aufgeschlossen, als sie hörte, wie unten jemand in den Hausflur trat. Schritte auf der Treppe. Da kam jemand hoch und es hörte sich nicht nach Isabelle an. Die beeilte sich immer und meistens hörte man ihren Schluckauf. Das Blut gefror in Lunettes Adern. Blitzschnell drehte sie den Schlüssel wieder herum und rannte in das Wohnzimmer zurück. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

 

Tränen flossen und sie hatte Mühe ihrem Schluchzen nicht freien Lauf zu lassen. Sie stand gegen die Wand gelehnt und rechnete damit, dass ihre Beine jeden Moment unter ihr nachgeben würden.

Die Schritte waren nun auch aus dieser Entfernung zu hören. Noch waren sie leise, aber sie kamen immer näher. Sie wohnte mit Isabelle im vierten Stock. Es würde nicht mehr lange dauern bis...

Sie wagte nicht darüber nachzudenken. Noch bestand ja die Chance, dass es doch ein Bewohner von hier war. Doch Lunette spürte, dass es nicht so war. Ein lauter entsetzter Schrei entfuhr ihr.

Das Telefon. Es klingelte. Die Melodie erfüllte den Raum, als wollte er ihren baldigen Tod einleiten. Lunette keuchte. Es drehte sich alles. Sie rannte zum Telefon, riss den Stecker heraus und knallte es mit voller Kraft gegen die Wand. Funken sprühten, der Display wurde schwarz.

Sie keuchte immer noch, als wollte sie nie mehr aufhören.

Kurz darauf stand sie in der Küche und kramte das größte Messer aus dem Schrank, das sie finden konnte. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren. Sie würde sich wehren. Sie würde, sie würde....

Unkontrolliert spurtete sie in den Hausflur und hielt mit blitzenden Augen nach dem vermeintlichen Verbrecher Ausschau. Da kam er auch schon. Aber es war nicht der, den sie erwartet hatte. Es war ein friedlich aussehender junger Mann mit einem grün gestreiften Anzug. Er schritt noch die letzten Treppen empor, dann stand er vor ihr und lächelte ihr zaghaft zu. Lunette sah ihn völlig überfordert an. Kein Wort kam aus ihr heraus. Stirnrunzelnd musterte er das Küchenmesser, dann Lunette.

„Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, Frau Nietz“, erklärte er ihr vorsichtig. „Ich bin Albrecht. Timo Albrecht, Kriminalpolizei. Eine gewisse Bernadine Lota hat uns benachrichtigt. Sie wären in Gefahr.“ Wortlos nickte sie und ließ das Messer fallen. „Gehen wir erst einmal rein!“, schlug der Polizist vor und hob das Messer auf.

Drinnen deutete er ihr sich auf die Couch zu setzen und fragte sie ob sie einen Kaffee gebrauchen konnte. Sie verneinte. „Ich habe eine verdächtige Person ausmachen können, vor ihrer Wohnung.“, erzählte er und setze sich neben sie. „Als ich ihn verhören wollte ist er abgehauen und leider auch entwischt. Haben Sie eine Ahnung wer ihnen was tun wollen könnte? Ihre Freundin sagte etwas von einem Exfreund?“ Es fiel ihr unheimlich schwer aber Lunette erzählte ihm die ganze Geschichte. Alles aus der Vergangenheit. Sie wurde immer heiserer und musste sich nach jedem zweiten Satz räuspern. Der Kriminalpolizist nickte und notierte sich alles. „In Ordnung, sie brauchen sich nicht mehr zu ängstigen! Ich rufe nun einen Kollegen an, der umgehend vorbeikommen wird.“

Lunette reagierte nicht. Sie hatte eine Decke um sich geschlungen und nahm alles nur noch verschleiert war. Aber die Erleichterung war trotz alle dem groß. Sie hörte wie der Beamte seinem Kollegen am Telefon die Lage schilderte und sich schließlich verabschiedete. „Er wird gleich da sein!“, raunte er ihr beruhigend zu. Lunette nickte stumm. Sie wusste nicht wie viel Zeit verging. Sie wusste nicht wie spät es war und wo Isabelle sein konnte. Warum kam sie nicht nach Hause?

Und wie war der Polizist in das Haus gekommen? Naja, die Polizei hatte da natürlich ihre Mittel und Wege.

Es dauerte nicht lange, da begrüßte Albrecht seinen Kollegen. Die beiden lachten, als wären sie alte Kumpel. Die Stimme des einen kam ihr sehr bekannt vor. Das was dann geschah, konnte sie sich auch später nur schwer erklären, aber auf einmal stand sie kerzengerade im Zimmer und spürte eine unglaubliche Kraft und Wut in sich. Zielsicher steuerte sie auf die beiden Männer zu.

Sie musterte den Kollegen. Kein Zweifel! Er war es. Er, der ihr das Leben vor einem Jahr zur Hölle gemacht hatte. Michael.Er hatte sich nicht groß verändert. Immer noch dieselbe Hackennase, dasselbe zaghafte Lächeln, das sich von einem Moment auf den anderen plötzlich in ein fieses Grinsen verwandelte. Derselbe diabolische Blick. Er starrte sie einen Moment lang an, bis er in ein schallendes Gelächter ausbrach. Sein Freund, der „Polizist“ war verschwunden. „Da haben wir dich aber ganz schön an der Nase herumgeführt, meine Süße! Dass es dir aber auch gar nicht komisch vorkam, dass einer von der Kriminalpolizei in so einem Anzug hier aufkreuzt!“ Sein Lachen wurde lauter. „Aber - wie ich gehört habe – lähmt die Angst den Verstand, ist es nicht so?“

Lunette bebte, aber diesmal nicht vor Angst. „Und dann wolltest du auch noch mit einem Küchenmesser auf mich losgehen, hm? Das ist aber gar nicht nett von dir. Dabei wollte ich dir doch lediglich einen kleinen Besuch abstatten.“

„Was machst du eigentlich hier?“, fragte Lunette und wunderte sich selber über ihre Gelassenheit. „Solltest du nicht eigentlich in der Psychatrie sein, mein Lieber? Da wo du hingehörst?“

Seine Miene verfinsterte sich. „Du wagst es so mit mir zu reden, ja?“, fragte er und kam ein paar Schritte näher. Er stand nun zwischen Wohnzimmer und Diele. Lunette stellte sich todesmutig ihm gegenüber. Die ganze Panik, die Angst hatte plötzlich den Weg frei gemacht für die unbändige Wut, die sich in ihr aufgestaut hatte. Doch dann fühlte sie auf einmal etwas kaltes an ihrem Hals. Sie erkannte aus den Augenwinkeln eine Klinge. Es war das Messer, das sie vorhin hatte fallen lassen.

„So, meine süße und jetzt wirst du schön tun, was wir von dir verlangen, verstanden?“, wisperte der Albrecht in ihr Ohr. Verdammt, warum hatte sie ihn aus den Augen verloren?

„Und wenn du schreist, dann wird das gleichzeitig das Letzte sein, was man je von die gehört hat!“

Widerwillig stand sie bewegungslos da und wartete, was passieren würde.

Michael kam grinsend näher und strich ihr mit gespielter Behutsamkeit über das Kinn. „Weißt du, ich fand das wirklich schade, dass du mich damals von einem Tag auf den anderen verlassen hast. Das war nicht gerade die feine englische Art, meinst du nicht auch?“ „Du hast mir keine andere Wahl gelassen!“, keifte Lunette zurück und ihre herunter hängende Hand ballte sich zur Faust.

„Nun ja, was ich dir eigentlich sagen wollte, war...“ Doch weiter kam er nicht. Lunettes Wohnungstür wurde mit voller Wucht aufgetreten und fiel aus den Angeln. Sie landete direkt auf Michael, der zu Boden gerissen wurde. Bevor er überhaupt realisieren konnte was geschah, stürmten Polizisten zu ihm, drückten seinen Oberlörper hinunter und legten ihm Handschellen an. Er brüllte und wandte sich, doch Widerstand war zwecklos. Lunette betrachtete fassunglos, das Geschehen, welches sich vor ihren Augen abspielte. Sie hatte niemanden kommen hören.

Einer der drei Polizisten wollte einen Schritt auf sie zumachen, doch der Albrecht zog sie zurück und drückte das Messer nun an ihre Schläfe. „Kommen Sie mir noch ein bisschen näher und diese Frau hier ist tot!“, drohte er. Seine Stimme nahm etwas wahnsinniges an, die Worte sprudelten gerade zu aus ihm heraus. Der Polizist sah ihm unschlüssig in die Augen, während die andern beiden damit beschäftigt waren,seinen Komplizen aus der Wohnung zu verfrachten.

„Lassen sie sie augenblicklich los!“, wurde Albrecht kommandiert. „Das geht nicht, der bringt mich um. Der bringt mich um!“

„Wer bringt sie um?“, der Beamte kam ein Stück vorwärts. „Zurück!“, brüllte er und Lunette spürte wie sich das Messer in ihre Haut bohrte. Ihr wurde schwindelig und sie erkannte eine rote Flüssigkeit, die an ihrem Auge herunterlief. „Er wird auch Ihnen nichts tun können!“, beharrte der Polizist. „Was verstehen Sie schon! Der ist vollkommen wahnsinnig, der ist nicht ganz bei Trost!“, der Ganove schien nun vollends die Fassung zu verlieren. Lunette verspürte nur noch Müdigkeit in ihrem ganzen Körper.

 

„Lunette! Lunette, hörst du mich?“ Verschlafen blinzelte sie in ein Augenpaar. Wo war sie?

Mühsam setzte sie sich auf. Ein unerträglicher Schmerz zog sich durch ihre Stirn. Sie lag in einem weißen Bett und befand sich in einer Ar Krankenzimmer. „Du bist im Krankenhaus!“, erklärte Isabelle, die ihre Hand hielt. Erstaunt betrachtete Lunette sie.

Es dauerte ein paar Minuten bis die Bruchstücke ihrer Erinnerung ein Bild ergaben. „Er hat mich gefunden und er wollte mich...“, brachte sie hervor.

Isabelle nickte. Sie war leichenblass. „Was ist passiert?“, fragte Lunette. „Ich weiß nur noch wie sie Michael abgeführt haben und der andere hat mich bedroht. Mit dem Messer und...dann war da dieses Blut.“ Sie fasste sich an den Kopf und merkte, dass sie einen Verband trug.

Isabelle zögerte einen Moment bevor sie berichtete. Der Komplize von deinem Exfreund, der stand unter der Fuchtel von ihm. Dieser Michael hatte ihn total unter Kontrolle und hat ihn auch zu dieser Tat überredet. Aber als er dann vor der Polizei stand und Michael abgeführt wurden ist, da bekam er es mit der Angst zu tun. Zum einen wollt er dich nicht gehen lassen weil er Angst vor Michaels Rache hatte. Andererseits hatte er auch Angst vor dem Gericht und seiner Freiheitsstrafe. Er hat sich ergeben und du wurdest in dieses Krankenhaus geliefert. Er musste mich übrigens verfolgt haben als ich in den Club gegangen bin und hat mir dann den Haustürschlüssel geklaut.“

Die beiden schwiegen eine Weile betreten. Lunette sah alles wieder deutlich vor sich.

„Als ich dann irgendwann nach Hause ging begegnete mir Herr Weißner, du weißt schon, der alte Herr mit dem kleinen Scotch Terrier, der manchmal seine morgendlichen Runden dreht.“ Lunette nickte.

„Der sagte mir, dass jemand kurz vor mir die Tür aufgeschlossen hätte und rein gegangen wäre. Als ich mir nebenbei die Beschreibung geben ließ, wusste ich, dass ich so jemanden noch nie hier gesehen hatte. Ich meine bei unserem Rentnerhochaus....“, sie lachte auf.

„Naja und dann auch noch mein verschwundener Schlüssel. Ich hab sofort die Polizei gerufen und ihnen die Lage geschildert. Die haben mich zuerst nicht ernst genommen und meinte es gäbe zu wenig Hinweise auf ein Verbrechen. Na ja, dann hab ich mich gezwungen gesehen, ein bisschen zu übertreiben und alles ein wenig dramatischer darzustellen. Und wie man sieht, war das das einzig Richtige. Ich habe ihnen gesagt, dass sie keinen unnötigen Krach machen sollten, weil sie den Typen sonst womöglich warnen würden. Lunette musste unwillkürlich grinsen. Sie konnte es sich lebhaft vorstellen, wie ihre temperamentvolle Mitbewohnerin den Gesetzeshütern Anweisungen gab.

„Lunette – wer ist dieser Michael?“, fragte Isabelle nun gerade heraus.

Sie hatte gewusst, dass diese Frage irgendwann kommen würde. Mit einem Stöhnen ließ sie sich zurück in die Kissen sinken. „Mein Exfreund, wie du weißt.“

„Aber warum wollte er sich an dir rächen? Für was?“ Isabelle wurde ungeduldig.

Lunette schluckte. „Ich habe mit ihm eine Beziehung geführt. Zwei Jahre waren wir glücklich zusammen. Seine Eifersucht war von Anfang an da, aber es nahm noch nicht solche Außmaße an.

Aber- dann kam es soweit, dass er sich darüber aufregte, dass ich männliche Passanten zu lange anschauen würde. Wenn ich ein wenig später von meinem Nebenjob, den ich damals noch hatte, nach Hause gekommen war, hatte er mir gleich Unterstellungen gemacht. Es wurde immer schlimmer. Er hat mich angebrüllt, mich beleidigt. Und irgendwann auch geschlagen.“

Isabelle spielte angespannt mit ihren Fingern. „Das tut mir so Leid!“, sagte sie.

„Irgendwann kam es dann so weit, dass er mich täglich schlug und mir drohte mich umzubringen.

Ich war an der ganzen Sache nicht ganz unschuldig. Ich hätte einfach früher einen Schlusstrich ziehen müssen. Aber in mir trug ich einfach die ganze Zeit die Hoffnung, dass es besser werden könnte. Schließlich hatten wir auch mal schöne Zeiten.“ Sie hielt kurz inne und bemühte sich die Tränen zu unterdrücken. „Und wie es nicht anders zu erwarten war : Es ist eskaliert. An einem Tage als ich nach Hause kam und ich mich vor der Tür mit einem Arbeitskollegen unterhalten habe ist er mit einer Pistole auf uns zugekommen und hat ihn angeschossen. Er hatte einen regelrechten Tobsuchtsanfall. Die Polizei kam und konnte irgendwie verhindern, dass er noch mehr Menschen anschießt.“

„Das ist ja schrecklich!“, flüsterte Isabelle tonlos.

Lunette nickte nur. „Von dem Moment an war alles anders. Der besagte Arbeitskollege überlebte zwar, er ist auch wieder ganz gesund geworden. Aber mich hat von diesem Tage an die ständige Angst verfolgt. Ich hatte keine ruhige Minute mehr. In meinem Kopf spielten sich nur noch Gewaltszenen ab. Michael kam selbstverständlich vor Gericht wurde aber für nicht zurechnungsfähig erklärt. Also wurde er in eine psychatrische Klinik eingewiesen. Mir ging es dadurch nicht besser. Ich habe diesen Tag, die gesamte zeit voller Gewalt und Angst niemals vergessen können und bin mir nicht sicher, ob ich das jemals können werde. Und damit meine ich wirklich vergessen und nicht verdrängen. Ja und kurz darauf bin ich in diese Wohnung hier gezogen. Weit weg von diesem Ort wo alles geschehen war.“

Isabelle drückte ihre Hand und blickte ihr sanft in die Augen.

Lange saßen sie so und Lunette genoss die Stille. Irgendwann klopfte es an der Tür und hinein traten eine Krankenschwester und ein Mann im braunen langem Mantel. Er sah aus wie einer der Kriminalpolizisten aus den Krimis. „Guten Tag, Kriminalpolizei!“, sagte er auch sogleich und hielt eine Karte hoch. Die nächsten Minuten verbrachte Lunette damit, dem netten Mann zu erklären was sich in ihrer Wohnung zugetragen hatte. Die Schweste begutachtete ihre Wunde und schmierte ihr eine Creme darauf. „Bei ihrem ehemaligem Partner wurde ein Gutachten abgelegt von einem Psychologen. Der hat ihn für geheilt erklärt und beschrieb sein Verhalten als kontrolliert und seine Haltung gegenüber seiner Taten als reuevoll. Er wurde also entlassen.“

„Und jetzt?“, brauste Isabelle auf einmal auf. „Wird der jetzt besser weggesperrt?“

„Machen Sie sich keine Sorgen!“, entgegnete er behutsam. „Er befindet sich momentan noch in Untersuchungshaft. Es wird aber so schnell wie möglich gehandelt und er wird wieder eingewiesen werden, nehme ich an. Ach ja Frau Nietz! Er hatte gestern übrigens ein längeres Gespräch mit einem Gefängnispsychologen. Er war sehr verwirrt und erzählte er hätte nicht vorgehabt Ihnen etwas schlimmeres an zu tun. Er würde immer noch an Ihnen hängen und hätte Ihnen lediglich ein paar Stunden mit ungewisser Angst quälen wollen.“

Lunette wusste nicht was sie davon halten sollte. Er liebte sie noch? Ganz sicher nicht. Bestimmt hatte er noch eine gewisse Bindung zu ihr, die er auf eine sehr kranke Vorgehensweise zum Vorschein brachte, aber Liebe war das nicht.

Der Kommissar verabschiedete sich und auch die Krankenschwester ließ die beiden Frauen alleine.

Plötzlich war Lunette unglaublich dankbar, dass sie Isabelle an ihrer Seite hatte. Die, mit der sie nie wirklich etwas anzufangen gewusst hatte.

„Danke!“, sagte sie mit schwacher Stimme und wusste nicht, ob ihr nun Tränen der Freude oder der Trauer herunterliefen.

Isabelle grinste schelmisch. „Kein Problem, irgendwann muss ja mal Waffenstillstand zwischen den beiden WG-Zicken herrschen! Was hälst du übrigens davon, wenn wir nächsten Samstag mal gemeinsam den Abend verbringen?“

Zweifelnd blickte Lunette sie an. „In einer Disko?“

„Quatsch, wie kommst du denn darauf?“, zwinkerte sie. „Ich dachte eher daran einen schönen Film gemeinsam zu gucken. Ganz ohne betrunkene Aufreißer, die nur auf das eine aus sind!“

Lunette lachte und nickte eifrig, während sie sich mit dem Taschentuch die letzte Träne wegwischte.

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Tag der Veröffentlichung: 28.04.2013

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