Cover

Blood of Love: Schmerz der Ewigkeit

 

 

Für meinen im April 2014 verstorbenen Onkel. Mögest du in Frieden ruhen und niemals vergessen werden.

 

 

Deutsche Erstausgabe August 2014

Copyright © 2014 Marie-Luis Rönisch

Umschlaggestaltung von Casandra Krammer

Umschlagmotiv: Shutterstock © Eugene Partyzan – 191502917

Illustrationen © 2014 Anako

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alexander Pohl

IDEEKARREE Leipzig

Alfred – Kästner – Str. 76

04275 Leipzig

office@ideekarree.de

Tel.: 0341/5199-475

Herausgegeben von

Alexander Pohl

IDEEKARREE Leipzig

www.ideekarree.de

 

 

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte, sämtliche Namen und Geschehnisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Leben ist wertlos, wenn die Liebe den Tod findet. Es ist kurz, grausam und dennoch verbunden mit Hoffnung. Schafft man es diese zu nutzen, kann man seinem Schicksal entfliehen und der Welt, bestehend aus Blut, den Rücken kehren.

Weiße Schneeflocken segelten vor meinen Augen hinab und vermischten sich mit den grauen Gebäuden Berlins. Sie legten sich wie eine Decke darüber, schützend und weich, als würden sie jedes Bauwerk behüten und vor der klirrenden Kälte bewahren.

Wartend stand ich am Auto und lauschte einem Song meiner Lieblingsband. Das Lied dröhnte in meinen Ohren und berauschte meine Sinne. Ich wippte mit dem Oberkörper hin und her und bewegte mich auf dem Parkplatz, als würde ich zu dem Takt tanzen. Schwungvoll ließ ich meine Hüfte kreisen, wickelte das Kabel meines MP3-Players um meinen Finger und hinterließ absichtlich ein Muster von meinen Fußabdrücken im Schnee. Immer wieder starrte ich hinab auf meine Armbanduhr, blickte nervös hinüber zu dem Laden, abseits der Stadt und hoffte, dass meine Mutter bald erscheinen würde.

„Ich brauche nicht lange“, hatte sie beteuert. Langsam fragte ich mich jedoch, wo sie steckte.

Es wurde dunkel und die Sonne verschwand am Horizont. Die anderen Kunden hatten den Laden längst verlassen und somit standen lediglich zwei Autos an Ort und Stelle.

Fröstelnd zog ich meine Arme an meinen Körper heran. Ich hauchte etwas von meinem warmen Atem in meine Hände und vergrub sie anschließend in meinen Hosentaschen. Der Schal um meinen Hals leuchtete dank der Laternen in einem dunklen Blauton und schien perfekt auf meine keineswegs Winterfesten Turnschuhe abgestimmt zu sein.

Als der Song endete, verstaute ich meinen Player in meiner Jackentasche und schaute gespannt hinüber. Wo blieb sie denn? Kopfschüttelnd strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht und presste meine Finger auf die mittlerweile kalten Ohren. Ich lauschte der vertrauten Stille, die den Parkplatz und den Laden umgab und ich beschloss, nicht länger auf meine Mutter zu warten. Es lag keineswegs allein an der Kälte, die sich an mich schmiegte wie eine Person, sondern mehr an der Dunkelheit, die mich umschloss und mir einen Schauer über den Rücken jagte. Ich hasste die Vorstellung allein zu sein, lediglich behütet von dem silbern erstrahlenden Mond, der mir etwas Zuversicht spendete.

Gediegen schritt ich auf das Geschäft zu, das nicht größer als ein Tante – Emma – Laden war. Hier pflegten wir stets unsere Nahrungsmittel zu kaufen, die den Grundstein für unsere Kochexperimente legten. Mehl, Eier, Zucker und Milch, gehörten dazu, wenn man am Wochenende einen Kuchen fabrizieren wollte. Mutter liebte es mir ihre Künste zu präsentieren und in einem Alter von gerade einmal zehn Jahren, war ich nicht abgeneigt von ihr zu lernen.

Zaghaft drückte ich die metallische Klinke hinab und sogleich ertönte das Leuten einer Glocke über der Tür. Ich betrat den Laden und schaute mich neugierig um. Gerade einmal drei schmale Gänge hatte dieses Geschäft zu bieten. Auf den Regalen konnte man nur wenig Auswahl finden, dennoch reichte es, um mich sofort zu den Süßigkeiten zu ziehen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, mir einen Riegel in die Jacke zu schieben, da der Kassierer nicht anwesend war. Ich ließ meinen Blick schweifen, umklammerte die Verpackung und Schwups, war er in meiner Tasche verschwunden. Niemand hatte etwas bemerkt. Ich atmete auf.

Zufrieden stolzierte ich in den hinteren Bereich, wo sich ein größeres Lager befand. Meine Mutter kaufte gerne Mengen, die der Laden als solches nicht hergab. Ich schob den durchsichtigen Plastikvorhang zurück, der mich an ein Schlachthaus erinnerte. Grünliches Licht umfing mich. Es zeichnete Schatten an die Wand, sorgsam und fein, als würde es meine Ängste herausfordern. Niemand war anwesend. Weder der Verkäufer noch meine Mutter.

„Hallo? Ist hier jemand?“, rief ich laut und hoffte auf eine Antwort.

Plötzlich spürte ich den warmen Atem einer Person in meinem Nacken und fuhr unweigerlich zusammen. Eine Hand legte sich im nächsten Moment auf meine Schulter und ein Schrei entkam meiner Kehle. Panisch drehte ich mich um und erblickte den verdutzten Besitzer des Ladens, der mich freundlich anlächelte und achselzuckend um Vergebung bat.

„Ich wollte dich nicht erschrecken, Kleines“, gestand er mir und drängte mich aus dem Lagerraum.

„Was machst du hier so alleine?“, wollte er erfahren.

Ich schluckte meine aufkommende Furcht hinab und fing mich wieder.

„Ich warte auf meine Mutter. Ist sie nicht bei Ihnen?“, fragte ich und schaute ihn erwartungsvoll an.

Der Besitzer schüttelte seinen Kopf und strich sich nachdenklich durch sein graues Haar. Es passte perfekt zu seinem Bart, der mich zusammen mit seiner körperlichen Statur, an den Weihnachtsmann erinnerte. Seine Vorliebe für rote Kleidung bestärkte dieses Bild.

„Sie ist vor einigen Minuten gegangen“, warf er ein und deutete auf sein Schild.

Verwundert beäugte ich es und blickte auf meine Uhr.

„Sie haben geschlossen“, schlussfolgerte ich.

Er nickte.

„Ich wäre dir wirklich sehr verbunden, wenn du draußen nach deiner Mutter suchen könntest“, sagte er.

Ich folgte seiner Bitte und verließ kurz darauf seinen Laden. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Wie konnte ich sie verpassen? Wann hatte sie das Geschäft verlassen und wieso war sie nicht sofort zu mir zurückgekehrt, wo sie doch wusste, dass ich in der Kälte auf sie wartete?

Schweigend stapfte ich zum Auto zurück, schaute mehr als einmal über meine Schulter und vergewisserte mich, dass mir keiner folgte. Ich lehnte mich gegen den roten Seat Altea meiner Mutter und blickte auf eine Landschaft aus Schnee mitten in Berlin.

Die Minuten vergingen, aber von meiner Mutter fehlte jede Spur. Ich spürte deutlich wie die Kälte meinen Körper ergriff und mich ein Zittern durchdrang. Als schließlich das Licht im Laden erlosch und der Besitzer schnaufend in sein Auto stieg, ohne mich zu beachten, machte ich mir Sorgen und lief umher, auf der Suche nach ihr.

Ich umrundete das Haus, blickte in jede Gasse und starrte jeden Fremden, der an mir vorbeiging, misstrauisch an.

„Mama!“, schrie ich so laut ich konnte, aber in der Finsternis tat sich nichts.

Panik stieg in mir auf. Kein Zweifel, sie würde mich niemals freiwillig so lange warten lassen. Es musste etwas geschehen sein!

Resigniert rannte ich los und kam erst keuchend zum Stehen, als ich zwei Schatten unter einer Baumgruppe erblickte. Die Laternen warfen ein helles Licht auf die Personen und formten die erste tatsächlich zu einem Abbild meiner Mutter. Ich erkannte von weitem ihre blonden Locken und hetzte zu ihnen hinüber. Mir war nicht klar gewesen, wieso ich mich blindlings auf sie zu bewegte, bis mich schließlich das vollständige Bild dieser Szene umfing und ich stoppte. Ich schlug die Hände vor meinen Mund, schluckte meine Zweifel hinab und versuchte zu verdrängen, was für ein Anblick sich mir hier bot. Meine Mutter befand sich in den Fängen einer Person, deren Gesicht ich nicht sehen konnte. Sie wurde an den Fremden gepresst und lag schwach in dessen Armen. Ihre blonden Locken waren verklebt von einer roten Substanz, selbst ihre weiße Bluse war besudelt. Ihre Jacke lag zerfetzt vor mir und ihre silberne Kette mit dem Rosenanhänger versank im Schnee. Ihre moosgrünen Augen waren leer und glasig. Ihre Lippen waren leicht gerötet und ihre Haut so bleich wie die einer Leiche.

Der Fremde drückte sie weiterhin an sich und labte sich an ihr, wie ein Tier an seiner Beute. Erst jetzt verstand ich, was genau sich am Hals meiner Mutter hinabschlängelte. Blut! Ihr Blut! Entsetzt wich ich zurück und beobachtete das Geschehen. Ein stummer Schrei kroch meine Kehle empor, schaffte es aber keineswegs sich zu lösen.

Die Person blieb die gesamte Zeit über im Schatten der Bäume, sodass sich lediglich das silberne Licht des Mondes auf deren rechten Gesichtshälfte abzeichnete. Ich erkannte langes, dunkles Haar und für einen Mann, eine relativ schmale Taille. Die kräftigen Arme und die Macht, die dieser Mensch über meine Mutter hatte, schlossen meines Erachtens eine Frau aus. Der Blick des Fremden durchbohrte mich regelrecht, sodass ich den Atem stockte und nur langsam meine Hände zu Fäusten ballte. Dort lag verdammt noch mal meine Mutter in den Armen einer Person, die ihr das Leben aushauchte! Das konnte ich nicht zulassen! Obwohl mich die Furcht längst überwältigt hatte und meine Glieder sich weigerten, auch nur einen Schritt zu wagen, stürzte ich auf dieses Monster zu. Wild riss ich an dessen Kleidung, zerrte an den langen Haaren und trat eisern zu. Meine Fäuste gruben sich, nicht so schmerzhaft wie gehofft, in dessen Seite. Ich wusste nicht wie mir geschah, als diese Person endlich von mir Notiz nahm. Im nächsten Augenblick ließ es meine Mutter unbeteiligt zu Boden gleiten und ihre Schönheit wurde von Schnee verdeckt. Blut sickerte auf den weißen Untergrund und zusammen mit dem Licht des Mondes offenbarte sich mir ein Schauspiel, das meine Sinne rebellieren ließ.

Schluchzend fiel ich vor ihr auf die Knie, drückte sie an mich und fuhr durch ihr Haar. Ich schrie ihren Namen, bis meine Stimme versagte und der Fremde schaute einfach zu. Kein Mitleid war in dessen Iris zu erkennen, als dieses Wesen nun seine gierigen Finger auch nach mir ausstreckte.

Ängstlich rutschte ich fort von dieser Kreatur, schaffte es zurück auf die Beine und stürzte mit Tränen in den Augen davon. Wankend und orientierungslos rief ich nach Hilfe, die ich in dieser Gegend niemals erhalten würde. Als mich der kalte Atem des Fremden im Nacken streifte, richteten sich meine Härchen alarmierend auf. Zitternd drehte ich mich um und schaute dem Monster direkt in sein Gesicht. Lange spitze Zähne schossen aus seinem Kiefer heraus. Ein Knurren entkam dessen Kehle und die Nägel wirkten wie die Klauen eines wilden Tieres. Der Rest war menschlich, wenn ich es auch nicht mit absoluter Sicherheit bestätigen konnte.

„Bitte“, wimmerte ich und versuchte mich zu wehren, als ich mich in dessen engem Griff verlor.

Ich wurde herumgerissen, sodass mein Kopf irgendwo anschlug und ich kaum etwas in der Finsternis erkennen konnte. Das Licht der Straßenlaterne brannte in meinen Augen und so sehr ich es versuchte, mein Angreifer blieb unsichtbar.

„Bitte, friss mich nicht“, schluchzte ich der Panik nahe.

Die Kreatur beugte sich über mich und streifte meine Haare zur Seite. Sie legte meinen Hals frei und näherte sich meiner Haut. Anfangs spürte ich die weichen Lippen, bis dieses Gefühl einem stechenden Schmerz wich. Die Fänge dieser Bestie gruben sich in mein Fleisch, rissen meine Kehle auf, als wäre ich ein Lamm auf einer Weide. Keuchend wehrte ich mich, flehte, bettelte. Irgendwann jedoch akzeptierte ich mein Schicksal. Mein warmes Blut ergoss sich regelrecht auf meine Jacke. Ich zuckte unter dessen Klauen, starrte hinauf zum Himmel und betrachtete die Sterne. Ich würde meiner Mutter in eine unendliche Welt folgen und ihr im Jenseits erneut begegnen.

Als die Schmerzen einem kaum spürbaren Kribbeln wichen und die Kälte ihre Finger nach meinen Gliedern ausstreckte, wusste ich, dass es vorbei war. Ich wollte mich nicht länger quälen und schloss eisern meine Lider. Ich summte in meinen Gedanken das vertraute Lied, was meine Mutter mir einst vorgesungen hatte und gab mich der Müdigkeit hin, die an mir genauso nagte, wie der Tod.

 

Wärme umfing mich. Ich brauchte eine Weile, bevor ich bemerkte, dass ich getragen wurde. Ich glaubte ein Wispern zu vernehmen und gab mir die größte Mühe genauer hinzuhören. Ich schaffte es kaum meine Augen zu öffnen, denn jede Handlung fühlte sich unsagbar schwer an. Ich erkannte lediglich einen Schatten, großgewachsen und mit breiten Schultern. Es hatte sich also definitiv ein Mann meiner angenommen. Schließlich zwang ich mich gegen meinen eigenen Körper Widerstand zu leisten und ich verstand die Worte meines Retters.

„Keine Sorge, du bist bei mir in Sicherheit. Ich bringe dich jetzt in ein Krankenhaus“, sagte er.

Seine Stimme grub sich in meine Gedanken und ein einfaches Lächeln umspielte meine Lippen. Zu mehr war ich nicht in der Lage.

Schwach schmiegte ich mich an den Fremden und vertraute darauf, dass der Tod sich zumindest dieses Mal, gedulden müsste.

 

Blut floss in Strömen an meiner Kleidung hinab und tropfte auf den grünen Untergrund, dessen Blüten verführerisch dufteten und dem Schauspiel eine gewisse Milde verpassten.

Panisch fasste ich mir an die Wunde, die jenes Geschöpf an meinem Hals hinterlassen hatte und ein Schrei entkam meinem Mund. Obwohl ich mir die größte Mühe gab, ging meine Stimme in dem Getöse unter und wurde in einer Welt aus Blut erstickt. Das Schicksal verharrte direkt neben mir und sah lächelnd meinem Ableben entgegen. Es verspottete mich und schien dieses Monster zu unterstützen, was mich zu verschlingen drohte und nun erneut näher kam.

Ich robbte voran, wollte fliehen, aber meine Glieder fühlten sich unsagbar schwer an. Meine blonden Locken versperrten mir mehr als einmal die Sicht. Wimmernd blickte ich meinem Ende entgegen und schloss meine Lider, als die Kreatur ihre Fänge erneut in mein Fleisch grub und ich deutlich spüren konnte, wie mich meine Lebenskraft langsam verließ.

 

Schweißgebadet erwachte ich. Ein Keuchen hallte in meinen Ohren und erst jetzt bemerkte ich, dass ich vor mir selbst erschrocken war. Schwer atmend, strampelte ich die Decke beiseite und schaute mich in meinem Zimmer um. Ich schaltete meine Nachttischlampe an. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass der Samstagmorgen mehr als früh begonnen hatte.

„Sechs Uhr“, brummte ich verschlafen und streckte mich.

Das gedimmte Licht umfing mich wie eine warme Decke und liebkoste meine Haut. Missmutig erhob ich mich und eilte in die Küche, welche sich genau wie mein Zimmer im Erdgeschoss befand. Schlafen konnte ich heute nicht mehr, beziehungsweise, ich würde es nicht wagen erneut meine Lider zu schließen. Aus diesem Grund beschloss ich, für die Herren im Haus, Frühstück zu machen.

Immer wieder dachte ich über diese seltsame Szene meines Traumes nach. Ich konnte ihr nichts abgewinnen oder etwas in sie hineindeuten. Das einzige, was mich verwundert hatte, war die Anwesenheit einer Person, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, die sich allerdings als das Schicksal herausgestellt hatte. Der goldene Faden in dessen Hand, der mein Leben verkörperte und den es bereit war durchzuschneiden, hatte es mir verraten. Der lange Umhang und die karge Gestalt hingegen, ließen lediglich Vermutungen erblühen. Was sollten mir diese Träume sagen? War ich tatsächlich dazu verdammt, mein Leben lang, diesen grauenvollen Moment wieder und wieder durchleiden zu müssen? Ich schluckte unsicher, als sich mir genau diese Gedanken aufdrängten.

Gähnend lehnte ich mich gegen die Küchentheke und zog in derselben Bewegung die Milch aus dem Kühlschrank heraus. Ich schüttelte die Flasche, damit sich Kakaopulver und Flüssigkeit vermischen konnten und nahm anschließend einen großen Schluck, um endlich wach zu werden.

Ich war mir im Klaren, dass mich dieses Erlebnis auf ewig begleiten würde und ich keine Möglichkeit hatte, damit abzuschließen. Meine Mutter fehlte mir, sodass ich oft das Gespräch mit meinem Vater suchte. Allerdings gehörte mein Vater keineswegs zu jenen Menschen, die über ihre Gefühle reden konnten. Er begann mich zu meiden, als wäre ich verantwortlich für ihren Tod. Wenn ich aus der Schule kam, suchte er schleunigst das Weite, vergrub sich in seiner Arbeit und strafte mich mit Schweigen.

Ich war Luft für ihn, eine zierliche Puppe, die nicht mehr als Nahrung und ein Zimmer benötigte. Dabei suchte ich seine Nähe, es verlangte mich nach Liebe, Zuneigung und der Hoffnung auf eine Zukunft ohne dunkle Gedanken. Ich wusste nicht, was genau ihn daran hinderte sich mir anzuvertrauen. Spätestens als er es wagte, mir in die Augen zu sehen und mich beim Namen meiner Mutter nannte, erkannte ich den Grund für seine Abneigung.

Er konnte es kaum ertragen mit mir in einem Haus zu wohnen. Meine bloße Anwesenheit löste jedes Mal aufs Neue die schmerzlichen Erinnerungen aus. Dabei brauchte ich ihn. Ich klammerte mich an ihn, erhielt aber niemals eine Reaktion. Immerhin ein Hoffnungsfunken zauberte mir ab und an ein Lächeln auf die Lippen. Mein Cousin Shane war kurz nach meinem Verlassen des Krankenhauses bei uns in der Villa, in der Nähe von Berlin am großen Müggelsee, eingezogen. Er selbst hatte Probleme mit seiner Alkoholabhängigen Mutter und brauchte dringend Abstand. Mein Vater bot ihm einen Ausweg, den er scheinbar dankbar angenommen hatte. Überraschender Weise konnte Shane mir all das geben, wonach ich mich so sehr sehnte. Er wurde zu einem Teil unserer Familie und erlangte von Tag zu Tag mehr Bedeutung. Insgeheim sah ich in ihm den Bruder, den ich niemals haben würde…

 

Mürrisch kaute ich am Frühstückstisch auf einem Brötchen mit Schokocreme herum. Ich hatte lange auf das Eintreffen meines Vaters gewartet, aber anscheinend hatte er das Haus bereits in den frühen Morgenstunden verlassen. Da ich sechs Uhr erwacht war, drängte sich mir unweigerlich die Frage auf, was genau mein Vater unter `früh` verstand.

Ich schnappte mir einen Esslöffel und steckte ihn in ein Glas, gefüllt mit Schokocreme. Mit einem Mal holte ich die gesamte Creme hervor und leckte mit meiner Zunge genüsslich darüber. Gegen meinen Frust half bloß Schokolade und das in jeder erdenklichen Form. Ich war nahezu ein Junkie, wenn es um Süßigkeiten ging.

Das aufdringliche Knacken der Treppe verriet mir, dass Shane erwacht war. Verschlafen schlenderte er die Stufen hinab, hielt kurz inne und schaute sich neugierig um. Er betrachtete mich mit halb geschlossenen Augen und stemmte seine Hände in die Seiten. Als er den Kaffeegeruch wahrnahm, breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus und er setzte sich zu mir. In seinen Boxershorts, die einen Charakter aus einer Cartoonserie zeigten und dem dünnen Hemdchen, was sich eng an seine Taille schmiegte, wirkte er wie ein Kind. Dabei hatte er erst vor einigen Wochen seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Das ungekämmte, hellbraune Haar hing ihm wirr in die Stirn und verdeckte teilweise seine azurblauen Augen, um die ich ihn schon immer beneidet hatte. Auf den Bartansatz an seinem Kinn war er besonders stolz und er hatte vor, ihn weiter wachsen zu lassen. Dass allerdings überall nur einige wenige Haare sein Gesicht formten und das Ganze wie ein Rasierunfall aussah, störte ihn nicht. Shane war der einzige, den ich kannte, der sich nichts aus den Kommentaren von anderen Menschen machte. Im Gegenteil, durch den langen Leidensweg seiner Mutter, hatte er gelernt, das Leben zu genießen und sich nicht zu verstecken, weil er seinen Mitmenschen nicht gefiel.

Shane umklammerte seine Tasse mit dem Aufdruck einer nackten Frau und goss sich die dunkle Flüssigkeit ein.

„Es geht doch nichts über einen guten Wachmacher am Morgen“, meinte er und trank die warme Brühe.

Ich hatte scheinbar den Filter falsch eingelegt, weshalb sich Reste von dem Pulver in seinem Kaffee befanden. Er rührte mit dem Löffel in dem Getränk herum, schaffte es aber keinesfalls den Kaffee von den unangenehmen Bohnenresten zu befreien. Schließlich schaute er auf und musterte mich.

„Faye, was hast du? Es sind Ferien und du kannst tun und lassen was du willst. Warum so bedrückt?“

Behutsam strich er über meine Hand und schnappte sich anschließend eine Scheibe Brot, die er großzügig mit Erdbeermarmelade bestrich.

„Was kümmern mich meine Ferien? Ich würde Papa gern mein Zeugnis zeigen und seine Meinung dazu hören, aber er ignoriert mich schon seit Jahren.“

Shane schob die Schnitte vollständig in seinen Mund und schluckte sie hastig hinunter, um mir antworten zu können.

„Kopf hoch Kleines, du hast mich. Und ich bin echt stolz auf deinen guten Durchschnitt!“, erwiderte er und klopfte mir auf die Schulter.

Meine Mundwinkel zuckten, sodass er mich weiterhin anstarrte und verlegen nach einem Witz in seinem Hinterstübchen suchte. Shane war dafür bekannt, die tollsten Sprüche in den unpassendsten Situationen zu finden. Er wusste sich scheinbar nicht anders zu helfen. Shane wollte gerade eine weitere Lachnummer anstimmen, um mich aufzumuntern, als sich im selben Moment die Tür öffnete und mein Vater eintrat. Er stand so unverhofft vor uns in der Küche, dass ich aufsprang und ihn Freudestrahlend begrüßen wollte.

William Stuart war ein wahres Arbeitstier. Täglich kümmerte er sich beinahe elf Stunden um seinen Job und er verübte ihn mit solch einer Leidenschaft, dass ich mich oft fragte, wieso er nie etwas darüber preisgab. Weder Shane noch ich wussten, womit er seine Brötchen verdiente und uns all das ermöglichen konnte. Er war ein Mysterium, dass ich bereits seit fünf langen Jahren zu knacken versuchte. Auch dieses Mal hielt er kurz inne und eilte anschließend in schnellen Schritten an uns vorbei. Er würdigte uns keines Blickes. Shane kümmerte diese Tatsache reichlich wenig, da er mit seinem Kaffee beschäftigt war.

„Wie wär’s mit einem Hallo? Oder ist das heute auch zu viel verlangt?“, fuhr ich ihn von der Seite an, bevor er im Flur verschwinden konnte.

„Faye, mach jetzt bitte keinen Aufstand, ich habe keine Zeit dafür. Ich werde etwas aus meinem Arbeitszimmer holen und dann muss ich los“, erklärte er und schaute zu mir hinüber.

Seine Augen, die in einem tiefen Grün leuchteten und mich an den Grund eines Sees erinnerten, wirkten trüb und gerötet. Als hätte er über Stunden hinweg, Tränen vergossen und seinen Emotionen freien Lauf gelassen.

„Ich habe dich lediglich um ein einfaches `Hallo` gebeten und nicht um eine Rechtfertigung“, stichelte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Mein Vater seufzte und zuckte mit seinen Schultern. Ein Brummen entkam seiner Kehle und er fuhr mit seinen Fingern an seinem braunen Bart entlang. Die verstrichene Zeit nach dem Tod meiner Mutter hatte ihn zusätzlich altern lassen. Er wirkte an manchen Tagen wie ein gebrechlicher Mann, doch heute hielt er seine Nase stolz Richtung Himmel und schien schlicht weg keine Lust, auf eine Diskussion mit seiner Tochter, zu haben.

„Faye, lass uns das bitte später klären“, schlug er vor und wandte sich ab.

Ich hielt ihn zurück und eh er sich versah, stand ich bereits bei ihm und umklammerte fest seinen Arm.

„Wann?“, drängte ich zu erfahren.

Verwundert musterte er mich. Er wusste, dass er auf diese einfache Frage keine Antwort geben konnte. Er würde sich niemals freiwillig die Zeit nehmen, suchen oder fordern, dazu hasste er meinen Anblick zu sehr. Mir war es nie aufgefallen, aber als mir Shane die alten Bilder meiner Tante gebracht und ich die Ähnlichkeit zwischen meiner Mutter und mir bemerkt hatte, verstand ich, dass er mich zwar liebte, aber gleichzeitig unfähig war, mir diese Gefühle zu zeigen.

Mein Vater riss sich los und ließ mich stehen. Im selben Augenblick vernahm ich direkt hinter mir Schritte und wandte mich erschrocken um. Nie zuvor hatte mein Vater einen sogenannten Arbeitskollegen mit nach Hause gebracht und ausgerechnet jetzt, betrat eine solche Person unsere Küche.

„Was dauert denn so lange, Will?“, warf der Fremde ein und erschien im Türrahmen.

Das dunkle Haar reichte dem Unbekannten tief bis in sein Gesicht und verdeckte dessen Augen. Es wirkte fettig und war streng nach hinten gekämmt. Zwei dünne Strähnen umrahmten seine hohen Wangenknochen, um die ihn jedes Model beneidet hätte. Er hatte breite Schultern und war im Verhältnis zu Shane recht groß. Über den Muskeln an seinen Armen spannte ein Anzug, der in einem matten Schwarz leuchtete. Mit den sonderbaren Lackschuhen wirkte er auf mich wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, lediglich seine dunklere Hautfarbe störte diese Vorstellung. Er erinnerte mich an einen Austauschschüler, der einst aus Chile für einige Wochen nach Deutschland gekommen war.

Als mein Vater bemerkte, wie verwundert Shane und ich diesen Mann anstarrten, drehte er sich zu uns um und zog seinen Kameraden zu sich.

„Tut mir leid, ich wurde von meiner Tochter aufgehalten“, stellte mein Vater klar.

Sein Begleiter wandte sich mir zu. Seine tief blauen Pupillen stachen besonders hervor und lenkten von seinem Lächeln ab, was zum dahinschmelzen war.

„Guten Tag.“

Ich schluckte und versuchte den Kloß in meinem Hals zu vertreiben. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Rachen kratzte und ich kurz davor war mit Husten zu beginnen. Ein seltsamer Geruch grub sich in meine Nase und betäubte meine Sinne. Würgend hielt ich mir den Bauch, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Als hätte es in der Küche geregnet und jedes vorhandene Metall wäre mit der Feuchtigkeit verschmolzen.

Ohne sich länger mit uns zu beschäftigen, zwinkerte mir der Fremde ein letztes Mal zu und trottete meinem Vater wie ein Schoßhund hinterher. Gemeinsam verschwanden sie im Flur. Shane räusperte sich und wollte etwas einwerfen. Ich unterbrach allerdings seinen Tatendrang mit einem Seufzer. Dieser Mann hatte mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Irgendetwas an ihm verunsicherte mich. Plötzlich sah ich die Bilder wieder vor mir und der Tod meiner Mutter schien zum Greifen nahe. Als würde es dieser Mann Revue geschehen lassen.

„Faye?“

Shane umklammerte mein Handgelenk und knetete es mit seinen warmen Fingern. Ein wohltuendes Gefühl umspielte meinen Arm. Um mich nicht gänzlich in seiner Nähe zu verlieren, löste ich mich von meinem Cousin und stand auf. Geschwind lief ich auf mein Zimmer zu und verschanzte mich darin, um meine Gedanken zu ordnen. Shane hatte sicher keine Ahnung, was soeben vorgefallen war und ich wollte ihm keineswegs meine wilden Vermutungen unter die Nase reiben.

Ein wenig geschockt, ließ ich mich auf mein Bett fallen und griff erschöpft an meine Stirn. Dieses Lächeln, diese Augen!

Ich setzte mich auf und zog meinen Laptop auf meine Oberschenkel. Das durch ein Password geschützte Dokument, was ich aufrief, war unter dem Dateinamen `Vampir` abgespeichert. Ich hatte es bereits vor Monaten angelegt und meine Sammlung an Wissen beinahe jeden Tag ergänzt. Wieder und wieder las ich mir die scheinbaren Merkmale einer solchen Person durch. Ich hatte alles aus Romanen, Märchen und Legenden zusammengetragen. Dieser Mann in der Küche hatte etwas an sich, was mich stark an einen Ausschnitt aus einem literarischen Werk erinnerte. Der Autor beschrieb die Blutsauger wie folgt:

Sie wandeln unter uns, ohne sich äußerlich von einem Menschen zu unterscheiden. Jedoch gibt es eine Tatsache, die wiederkehrend in allen Werken der Geschichte auftaucht. Sie haben eine Anziehungskraft auf uns Menschen, derer wir uns nicht wiedersetzen können. Sie erscheint uns als ein drückendes Gefühl in der Magengegend, wodurch unser Körper uns die Gefahr, die von diesem Jäger ausgeht, bemerkbar machen möchte. Da wir jedoch blind für die Wahrheit sind, ignorieren wir ungewollt unseren Instinkt und verfallen diesem Geschöpf in binnen von Sekunden. Manche Menschen haben die Gabe den Geruch eines Vampirs wahrzunehmen. Ihr Körper rebelliert, wenn sich dieser metallische, salzige und nach Verwesung riechende Duft mit unserer Luft vermischt.“

Diese Sätze beschrieben bis ins Detail, wie ich mich derzeit fühlte. Aber hatte ich tatsächlich den Geruch eines Blutsaugers wahrgenommen? War das überhaupt möglich? Was ging hier vor?

Die Statur und der aufgesetzte Charme des Fremden, glichen dem Verhalten aus einem Handbuch. Vielleicht wurde ich paranoid, dennoch schien ihn etwas Düsteres zu umgeben.

Nie zuvor hatte er mir die Chance gegeben, einen Einblick in seinen Alltag zu erhaschen und nun brachte er ausgerechnet einen seltsamen Kerl mit zu uns nach Hause? Einen Mann, dessen Wirkung auf mich wie Gift war. Ich fühlte mich hilflos im Angesicht der vielen Fragen, die mich nicht schlafen ließen. Ich wollte mehr erfahren, endlich versuchen zu verstehen, was mein Vater für einen Job ausübte. Meine Neugierde war geweckt und konnte vorerst nicht gestillt werden. Noch heute würde ich das geheime Arbeitszimmer betreten, welches für Shane und mich all die Jahre Tabu gewesen war.

 

Leise schlich ich auf den schmalen Flur hinaus, wo so manche antike Gegenstände von einem hellen Licht angestrahlt wurden. Unsere Villa glich teilweise einem Museum. Mein Vater war ein begeisterter Sammler von Büchern, heiligen Schriften, Statuen, Gemälden und anderen Dingen, die etwas mit Mythologien oder Legenden zu tun hatten. Ich wusste nicht, woher er das viele Geld nahm. Aus diesem Grund hatte ich mir schon oft den Kopf zerbrochen.

Vorsichtig huschte ich über den roten Teppich, der einen goldenen Rand mit Fransen besaß. Die Mittagssonne würde bald die Kirchenfenster in der großen Halle, auf die ich mich gerade zubewegte, durchleuchten. Ihre besonderen Grüntöne entlockten mir stets ein Glücksgefühl, denn ihre Schönheit war kaum in Worte zu fassen.

Mutig schaute ich mich um. Ich konnte deutlich Vaters Schritte hören und als ich um die Ecke blickte, erkannte ich seine korpulente Gestalt. Ein schwarzer Hut schmückte sein hellbraunes, leicht gelocktes Haar. Er liebte diese altmodischen Hosenträger und versteckte sie auch jetzt wieder unter seinem bläulichen Sakko. Sein Hemd war etwas unbeholfen in der Hose verstaut worden.

„Können wir los, William?“, fragte sein Begleiter.

Mein Vater nickte und verabschiedete sich von Shane, der nach wie vor in der Küche hockte und ein Brötchen nach dem anderen verschlang. Ich senkte meinen Kopf, um mir ein Kichern wegen dieser Angewohnheit zu verkneifen. Was für ein Vielfraß!

Kurz darauf vernahm ich den Knall einer Autotür und wartete bis mein Vater in seinem dunklen Audi verschwand. Die Gelegenheit schien günstig.

Bedächtig öffnete ich die Tür zu seinem Zimmer. Der Rahmen hatte eine seltsame Holzmarmorierung, bestehend aus kleinen Engeln, deren Flügel auf dem Weg zur Hölle gerupft wurden.

Ich hatte schon viele Gerüchte über den Raum meines Vaters gehört, ihn aber nie zuvor betreten. Das Verbot lag mir auch jetzt in den Ohren, doch ich missachtete es, um mehr über ihn zu erfahren. Seit meine Mutter gestorben war, schien er sich verändert zu haben und vermied es mir nahe zu kommen. Er gehörte keineswegs zu den behütenden Vätern dieser Welt. Und genau das trieb mich zu dieser Tat, zu meiner Neugierde, zu meinem Verlangen. Ich wollte wissen, warum ich keinen normalen Vater hatte, so wie meine Klassenkameraden. Seit damals, suchte ich nach einer sinnvollen Erklärung für den blutleeren Körper meiner Mutter, für die Bisswunden und die langen Eckzähne. Dieses Erlebnis ließ mir keine Ruhe.

Misstrauisch ging ich weiter und schaute mich gründlich um. Ich erblickte einen unordentlichen Schreibtisch mit vielen Notizzetteln und einen gepolsterten Drehstuhl. An der Wand befanden sich ein großes Bücherregal, mit den verstaubten Werken von längst vergessenen Autoren und ein kleiner Schrank, welcher Runenähnliche Verzierungen aufwies. Ich strich mit meinen Fingern über die Buchrücken, die in unterschiedlichen Farben leuchteten. Bei einem scheinbar mit Pelz überzogenem Exemplar, blieb ich stehen und holte es aus seinem Versteck heraus. Ich blätterte es lustlos durch und stellte es wieder zurück. Auch der Schreibtisch hatte neben einigen Mappen mit jeder Menge Aufzeichnungen, nichts Besonderes zu bieten. Seine Notizen ergaben wenig Sinn, ohne den Zusammenhang zu kennen. Die Fenster waren durch lange, schwere Vorhänge verdunkelt und die einzige Lichtquelle, stellte ein Regal aus Kerzen dar. Der Staub sammelte sich auf allen Utensilien und langsam fragte ich mich, wann hier zuletzt jemand sauber gemacht hatte. Warum war dieses Zimmer tabu? Was auch immer er vor mir verbergen wollte, hier schien ich die Lösung keineswegs zu finden.

Die Schublade an seinem Schreibtisch war verschlossen und all meine Bemühungen, sie zu knacken, schlugen fehl. So viele Unterlagen und dennoch gab es keinen einzigen Hinweis. In dem kleinen schwarzen Schränkchen fand ich einige Mappen, die durch ein Gummiband miteinander verbunden waren. Ich öffnete die Erste und las einen kurzen Text zu einem Kind, etwa in meinem Alter. Ein Bild des Mädchens klebte direkt daneben und die dunkle Hautfarbe ließ es interessant erscheinen. Als die deutsche Sprache ins Englische überging, bekam ich meine ersten Schwierigkeiten den Worten zu folgen. Irgendwann jedoch, riss der Faden abrupt ab und die Sprache änderte sich erneut. War dies eine Vorkehrung meines Vaters? Latein konnte ich weiß Gott nicht entziffern. Ich tippte die lateinischen Sätze in mein Handy ein und versuchte sie im Internet zu übersetzen. Die Bedeutungen raubten mir für einen kurzen Augenblick den Atem.

 

`Nala B., vierzehn Jahre alt, keine Angehörigen, Blutgruppe AB, keine Krankheiten, aus Westafrika, abgefangen auf den Kanaren. Hier erwartet Sie reines Blut eines jungen Kindes, unverkostet, unverdorben, jungfräulich. Genießen Sie den Geschmack Afrikas aus erster Quelle.`

 

Was zur Hölle war das? Etwa ein Werbetext? Ich öffnete die nächste Mappe und dieses Mal leuchtete mir das Bild eines jungen Mannes entgegen. Er stammte aus Afghanistan, soviel konnte ich der Akte entnehmen. Was ging hier vor? Wer waren diese Menschen und was genau hatte mein Vater mit ihnen zu tun?

Als ich mir gerade alle Namen vermerken wollte, vernahm ich das Quietschen von Reifen auf dem Schotterweg vor dem Haus. Augenblicklich entwich mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht, wie ich unverdrossen feststellen musste, als ich in den Spiegel neben dem Bücherregal schaute. Ohne weiter darüber nachzudenken, legte ich die Akten zurück an Ort und Stelle und sprintete hinüber zur Tür. Ich huschte in den Flur hinaus, verschloss den Eingang und verschwand gerade noch rechtzeitig, bevor mein Vater an seinem Arbeitszimmer ankam.

„Wie konnte ich nur die Liste vergessen?“, fluchte er vor sich hin und erneut wurde er von dem Fremden begleitet.

Keuchend lehnte ich mich an die Wand in der Küche. Mein Herz schlug wild gegen meine Brust und ich schaffte es kaum, mir einen Seufzer zu unterdrücken. Ich war rechtzeitig entkommen, bevor mich mein Vater bemerken konnte. Respekt. Zugegeben, die Aktion hätte man vorher besser durchdenken und planen können, dennoch war es mir gelungen, zumindest ein Geheimnis zu lüften. Nur warfen die Namen dieser Menschen weitere Fragen auf und ich konnte mir einfach keinen Reim darauf bilden.

„Faye, was stehst du denn da wie angewurzelt?“, mischte sich Shane ein und starrte mich grinsend an.

Er schien bemerkt zu haben, dass ich vor meinem Vater getürmt war und wirkte von diesem Umstand äußerst amüsiert.

„Hilf mir lieber beim Abtrocknen, als deine Zeit damit zu verschwenden, deinem Vater hinterher zu spionieren“, schlug er vor und warf mir das Wischtuch entgegen.

„Pssst. Wenn er dich hört!“, fuhr ich ihn an und presste augenblicklich meine Zeigefinger auf seine Lippen.

Shane zuckte mit den Schultern.

„Schon vergessen, dass es ihn nicht interessiert?“, nuschelte er und ich gab seinen Mund frei.

„Trotzdem, es war mir untersagt und ich habe es dennoch gewagt sein Zimmer zu betreten. Ich will keinen Ärger bekommen und überhaupt, was geht es dich an?“

Shane zögerte und vergrub sich in der Hausarbeit, um mir nicht antworten zu müssen. Als von ihm lediglich Stille ausging, gab ich ein Zischen von mir und knallte das Wischtuch auf die Küchentheke.

„Wieso zur Hölle hat hier jeder ein Geheimnis? Warum können wir uns nicht wie eine normale Familie aussprechen?“, rief ich empört und machte kehrt.

Shane streckte seine Hand nach mir aus, bekam mich allerdings nicht zu fassen. Er hauchte mir einige Worte entgegen, die ich nicht vernehmen konnte. Stattdessen ging ich in mein Zimmer zurück und versank in Selbstmitleid, bevor mir klar wurde, dass diese Menschen Flüchtlinge waren und sie kein gutes Schicksal erwarten konnte.

 

Ich hatte mir gefühlt acht Kaugummis in den Mund gesteckt und bekam meine Zähne nicht mehr auseinander. Ich spuckte das Zeug in meinen Papierkorb und machte es mir auf meinem Bett gemütlich. Der Fremde und diese Namen waren mir nicht aus dem Kopf gegangen. Mein Vater hatte seit etwa zwanzig Minuten sein Arbeitszimmer nicht verlassen. Was konnte so wichtig sein, dass er es vorzog so lange hier zu verweilen? Zumal er nicht allein gekommen war!

Als ich gerade wilde Theorien aufstellen wollte, klopfte es an meiner Tür. Neugierig hechtete ich nach oben und öffnete. Mein Vater stand vor mir und zum ersten Mal sehnte ich mich nicht nach seiner Nähe, nein ich fürchtete mich vor ihm.

„Was ist?“, fragte ich und bat ihn herein.

Er wich meiner Bitte aus und umklammerte stattdessen mein Handgelenk.

Stumm zog er mich mit sich und als wir um die Ecke bogen, den Flur erreichten und die Tür seines Arbeitszimmers immer näher kam, wusste ich, dass dies nichts Gutes zu verheißen hatte.

„Stimmt irgendetwas nicht?“, harkte ich nach.

Im besagten Raum angekommen, empfing mich sein Kollege, dessen ernster Gesichtsausdruck mich verunsichert Schlucken ließ. Mein Vater löste seinen Griff und kehrte zu seinem Sitzplatz hinter dem Schreibtisch zurück. Auf der Oberfläche lagen all die Mappen, die ich zuvor ausgiebig betrachtet hatte. Mir drängte sich unweigerlich ein seltsames Gefühl auf und mein Instinkt sagte mir, dass ich schleunigst von hier verschwinden sollte.

„Du warst in meinem Zimmer, obwohl ich es dir verboten habe“, stellte er fest und schob die Akten nach vorn, damit ich sie deutlich sehen konnte.

„Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“, wollte er erfahren.

Ich zögerte.

„Keine Ahnung, was du meinst“, entgegnete ich mit fester Stimme.

Ich durfte mir nichts anmerken lassen.

„Die Akten waren durch ein Gummiband miteinander verbunden. Als ich den Schrank öffnete, lag das Band darauf und die Mappen ungeordnet übereinander“, berichtete er.

„Und?“, brachte ich verwirrt hervor.

„Shane würde es nicht wagen, ohne meine Einwilligung diesen Raum zu betreten“, konterte er.

Ich zuckte mit den Achseln.

„Wieso sollte ich dieses Zimmer aufsuchen? Nach all den Jahren, in denen ich es nicht ein einziges Mal betreten habe?“, erwiderte ich stur und versuchte diese Diskussion zu gewinnen.

Auf einmal war ein Stöhnen direkt neben mir zu vernehmen und der Arbeitskollege meines Vaters drängte sich in unser Gespräch.

„William, die Kleine wird es sowieso nicht zugeben. Bei deinen Erziehungsmaßnahmen, ist es kein Wunder, dass du mit einer Lügnerin unter einem Dach wohnst“, zischte er und betrachtete mich.

Seine eisblauen Augen durchbohrten mich förmlich, streiften über jede Unebenheit meines Körpers und schienen mich zu verschlingen.

„Lügnerin?“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Stell dich nicht dümmer als du bist. Ich wollte von dir ein Geständnis und erfahren, wie viel du über meine Arbeit weißt. Stattdessen weichst du mir aus“, brummte er und griff sich an die Stirn.

Wut stieg in mir auf und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Meine Finger kribbelten und ich wusste nicht, ob ich auf seine Aussage eingehen sollte. Er hatte mich herausgelockt und immerhin war es so offensichtlich, dass es mir zwecklos erschien, es zu leugnen.

„Ich habe versucht herauszufinden, wer mein Vater ist“, warf ich ein und die Männer schauten mich verwundert an.

„Unsere Vater – Tochter – Beziehung ist scheiße, das musst du doch auch bemerkt haben?“

Mein Vater hob fragend eine Augenbraue, ersparte mir allerdings eine Antwort. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Eigentlich wollte ich damit warten bis du achtzehn Jahre alt bist. Nun, da du bereits ein wenig eher auf die Spur unseres Familiengeheimnisses gekommen bist, werde ich dich einweihen. Mein Kind, ich werde dich vor die Wahl stellen und du musst entscheiden, welchen Weg du gehen willst.“

Ich nickte bedächtig, obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

„Diese Menschen“, er deutete auf die Mappen direkt vor ihm, „sind Flüchtlinge aus allen Ländern der Welt, die nur ein Ziel verfolgen: Europa. Sie wollen sich in Europa etwas aufbauen, hegen Hoffnungen auf eine Zukunft und kommen über verschiedene Routen zu uns. Es gibt die Verbindung von Westafrika zu den Kanarischen Inseln, oder auch von Marokko zum spanischen Festland. Egal wie, wenn sie es schaffen das Land zu erreichen, stehen sie unter dem Schutz Europas. Aus diesem Grund greifen wir sie auf dem Meer ab und bieten ihnen eine Chance, die sie blind und dankbar annehmen.“

So weit so gut, dachte ich und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Ihr helft also diesen Menschen?“, fragte ich und bewunderte seine Worte.

Mein Vater brach in Gelächter aus.

„Ja mein Kind, wir helfen ihnen, auf unsere spezielle Weise“, prostete er los und sein Kollege stimmte mit ein.

„Wir nehmen diese Flüchtlinge bei uns auf und bringen sie in Deutschland, Frankreich und Spanien unter. Sie bleiben allerdings nur wenige Wochen in den Siedlungen, wie wir sie nennen. Anschließend werden ihre Personalien aufgenommen, sofern sie welche besitzen, man bestimmt ihre Blutgruppe, die Herkunft und das Krankheitsbild. Sind sie reinen Blutes, erstellen wir eine Karteikarte.“

Verwirrt starrte ich meinen Vater an. Langsam dämmerte es mir, aber ich wollte nicht daran glauben. Auf meiner Zunge brannten Worte, die ich keineswegs auszusprechen vermochte.

„Was passiert mit diesen Menschen?“, hauchte ich kaum hörbar und musterte seinen Partner, als ich die Frage stellte.

Mein Vater war drauf und dran, dieses lang gehegte Geheimnis einfach so zu verkünden. Mittlerweile jedoch, war ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich es nicht hören wollte.

„Stopp, sag es nicht!“, forderte ich.

Mein Blick fiel auf die Tür, die mir wie ein Sinnbild der Freiheit erschien. Im nächsten Moment rannte ich wie eine Besessene los und schaffte es sogar, die Klinke zu erreichen. Als ich sie hinabdrücken und fliehen wollte, spürte ich den kalten Atem einer Person in meinem Nacken. Panisch wandte ich mich um und holte aus, doch der Partner meines Vaters schnappte sich meinen Arm und bog ihn in eine schreckliche Richtung, sodass ich kreischend an ihn gepresst wurde und nach Luft rang. Er drückte mich gegen die Wand und machte mich Bewegungsunfähig. Alles ging so furchtbar schnell von Statten, dass ich nicht registriert hatte, was genau geschehen war.

Seine Hände wanderten über meinen Körper, zeichneten meine Hüfte nach und stoppten erst auf meinem Gesäß. Er roch an meinen blonden Locken und leckte sich über die trockenen Lippen. Als er mich drehte wie eine zierliche Marionette, konnte ich in seiner Iris etwas aufflammen sehen und erschauderte. Das verführerische Blau war einem dunklem Blutton gewichen.

„Nein“, wisperte ich und mein Instinkt verspottete mich.

Ich hab’s dir doch gesagt!, hallte es in meinem Innersten.

Der Kollege öffnete seinen Mund und zwei spitze Zähne kamen zum Vorschein. Ängstlich wand ich mich unter seinem Griff, versuchte frei zu kommen, was mir jedoch nicht gelang. Vor mir stand ein leibhaftiger Vampir, ein Unsterblicher, ein Monster.

„Lassen Sie meine Tochter in Ruhe“, mischte sich mein Vater ein.

Eingeschüchtert schaute ich an dem Fremden vorbei. Mein Vater richtete die Krawatte, welche locker um seinen Hals hing und ballte anschließend seine Hände zu Fäusten.

„Nächstenliebe kann man in unserem Beruf nicht gebrauchen, William“, erwiderte der Geschäftspartner.

Seine angefeuchteten Lippen strichen über meine Haut. In einer kreisenden Bewegung fuhr er meinen Rücken hinauf und verharrte an der Stelle, wo sich der Verschluss meines BHs befand. Dieser Mann ekelte mich an. Seine ganze Art, sein Auftreten und die Tatsache, dass er mich berührte, als wäre ich sein Eigentum, brachten das Fass zum Überlaufen. Ich nahm all meinen Mut zusammen.

„Nimm deine dreckigen Pfoten von mir, du mieser Vampir!“

Die Worte platzten aus mir heraus und verschafften meinem Herzen Erleichterung. Gleichzeitig jagte mir sein Gesichtsausdruck einen weiteren Schauer über den Rücken.

Ohne den Verlauf dieses Gesprächs abzuwarten, wurde ich von meinem Vater wie ein leichtes Kleinkind über die Schulter geworfen und verschleppt. Ich gab ein Stöhnen von mir und krallte mich in seinem Nacken fest. Sein Weg führte hinab in den Keller, dessen Stufen eine Hürde für meinen Papa darstellten. Er bezwang seine eigenen Zweifel, denn sein Stolz war ihm wichtiger als alles andere. Ich hatte seine bedeutendste Regel mit Füßen getreten und sollte nun seinen Hass spüren.

Im Kellergeschoss setzte er mich ab und zerrte mich mit sich. Vor einem dunklen Raum blieben wir stehen. Ein großes Schloss zierte die hölzerne Tür. Er kramte eine Weile in seiner Tasche, öffnete mir und stieß mich schweigend in das Zimmer hinein. Hastig drehte ich mich um die eigene Achse und versuchte meinen Fuß in den verbliebenen Spalt zu klemmen, doch die Tür war bereits zugefallen.

„Was soll das?“, kreischte ich empört.

„Tut mir leid, mein Kind. Im Moment gibt es keine andere Lösung“, sagte er mitfühlend.

„Lass mich raus! Ich bin immerhin deine Tochter und kein wildes Tier!“

Nun war ein lautes Brummen zu hören.

„Ihre Regeln besagen, dass du sterben musst, da du über sie Bescheid weißt.“

„Wessen Regeln? Die der Vampire? Aber Papa, das habe ich aus Frust gesagt. Ich meine, diese Wesen, es kann sie nicht geben“, rief ich stur.

Mein Vater lehnte sich gegen das Holz und schien für einen Augenblick mit mir verbunden zu sein.

„Seit wann weißt du es schon?“, drang es aus seinem Mund.

Ich zögerte.

„Hast du vergessen, dass ich von einem Menschen gebissen wurde?“, erwiderte ich leise.

„Also hast du nachgeforscht und nur auf einen guten Augenblick gewartet, um die Wahrheit herauszufinden“, stellte er fest und seufzte.

„Natürlich, wer würde nicht wissen wollen, wie die eigene Mutter den Tod fand? Auch wenn du es nicht wahr haben möchtest, aber ich kann mich sehr gut an damals erinnern.“

Niedergeschlagen tastete ich die Wand ab, da mir die Dunkelheit jegliche Sicht nahm.

„Bitte, lass mich hier raus. Was auch immer du tust, es ist falsch! Du spielst mit dem Leben anderer. Oder hat dir Mutter nichts bedeutet? Schließlich betreibst du mit diesen Blutsaugern Geschäfte und sie ist durch ein solches Geschöpf gestorben!“

Von Wut gepackt hämmerte ich gegen die Tür. Mein Vater ignorierte allerdings sämtliche Beschuldigungen.

Jeder Muskel in meinem Körper sträubte sich meine Niederlage einzugestehen.

„Es gibt eine Möglichkeit dich vor deinem Schicksal zu bewahren“, warf er ein.

Diese Aussage brachte mich beinahe an den Rand der Verzweiflung. Was würde er für meine Freiheit verlangen?

„Welche? Sag es mir“, drängte ich ungeduldig.

„Tritt in unsere Organisation ein und verpflichte dich unseren Zielen.“

Mit zusammengebissenen Zähnen dachte ich nach.

„Was beinhaltet mein Eintritt?“, fragte ich mit gemischten Gefühlen.

„Kind, du hast bereits alles über mich erfahren und kannst dir zusammenreimen, mit was wir uns beschäftigen. Wir verkaufen Flüchtlinge als lebende Blutbanken an die Vampire und erhalten dafür treue Partner, die uns vor dem Gesetz und feindlichen Übergriffen durch mystische Wesen bewahren. Dieser Tausch ist die Sache wert, findest du nicht?“

Schweigend wartete er auf eine Reaktion von mir. Ich weigerte mich die Situation zu akzeptieren.

„Das ist grausam! Du hilfst dabei Unschuldige zu ermorden. Was ist das für ein Leben als Sklave für die Vampire in einer Kammer dahinzuvegetieren? Würdest du dir so etwas wünschen?“

Meine Stimme überschlug sich. Mit bebenden Lippen krallte ich meine Nägel in das Holz und kratzte darüber, sodass ein nervender Ton das Gespräch zerriss. Ruhe kehrte ein. Ich konnte deutlich seine Atemzüge vernehmen. Als würde er innerlich mit sich kämpfen, brauchte er eine Weile, um sich zu fangen und mir, die für ihn wichtigste Frage zu stellen.

„Sei es drum, das ist nun einmal meine Bestimmung. Ich opfere lieber andere, als meine Familie zu verlieren. Wie entscheidest du dich? Beugst du dich meinen Regeln, oder möchtest du eine Gefangene bleiben?“

Der hoffende Unterton stach besonders hervor. Dennoch, ich war gerade einmal fünfzehn Jahre alt und sollte über das Schicksal anderer verfügen. Ich fühlte mich dazu keineswegs in der Lage und lehnte von Wut gepackt sein Angebot ab.

„Ich bin kein Unmensch und habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Nein Vater, in Zukunft wirst du auf dich allein gestellt sein, denn wer das zulässt, ist ein Monster!“

Frustriert lehnte ich mich gegen die Wand und zog meine Knie an meinen Bauch heran. Meine Glieder zitterten vor Aufregung. Ich hatte ihm die Stirn geboten und fürchtete mich vor seinem Zorn.

„Dann sei es so. Ab heute bist du für mich gestorben“, sagte er in einem eisigen Tonfall, der mich erschaudern ließ.

Kurz darauf entfernten sich seine Schritte und ich blieb einsam im dunklen Nichts zurück.

Gekränkt fuhr ich durch meine Haare und stöhnte, als ich mir den Ellenbogen an einem harten Gegenstand verletzte. Enttäuscht über so wenig Ehrgefühl, rollte ich mich wie eine Katze zusammen und wartete auf Hilfe. Vielleicht würde mein Cousin herausfinden, was heute geschehen war und die Polizei rufen? Er konnte unmöglich mein Verschwinden vertuschen. Innerlich hoffte ich, dass er zur Einsicht kommen würde. Aber als er auch nach Stunden nicht zurückkam, beharrte ich darauf, dass er es ernst meinte und machte mir kaum Hoffnungen.

Die einzige Lichtquelle war meine Uhr, die einen grünlichen Schein von sich gab. So wirkte die Dunkelheit ein wenig angenehmer.

Mein Magen knurrte erbarmungslos und sehnte sich regelrecht nach einer ausreichenden Mahlzeit. Verkrampft drückte ich meine Faust in meinen Bauch und schloss meine Lider. Seufzend erlag ich meiner Müdigkeit und versank in meinen Träumen.

 

Entkräftet erwachte ich und streckte mich, wie ich es jeden Morgen tat. Mein Körper beteuerte, dass ein neuer Tag angebrochen sei. Es war eine Gewöhnungssache, ich hatte allerdings keine Ahnung, ob es der Wahrheit entsprach. Ein Blick auf die Uhr, verriet mir, dass ich mich keinesfalls irrte. Mein Magen meldete sich zu Wort und ich versuchte alles, um ihn und sein Brummen zu ignorieren.

Als ich mich aufrichtete, spürte ich einen eindringlichen Schmerz, der meine Wirbelsäule hinaufkroch und meinen Nacken lähmte. Der harte Boden hatte mir nicht gut getan, wie ich verdrossen feststellen musste.

Gähnend rieb ich mir die Augen, auch wenn ich durch die Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte. Mit zitternden Händen, die der Kälte strotzten, schmiegte ich mich an das Holz der Tür und wartete auf eine Wendung in diesem Spiel.

Es dauerte eine Weile. Letztendlich vernahm ich Schritte, die sich mir mit Bedacht näherten. Ein Poltern, das die Treppenstufen herausforderte, welche unter dem Gewicht der Person ächzten wie Bäume in einem Sturm.

Wimmernd drückte ich meine Gefühle aus und versuchte jene Person, die mir getrennt durch eine Wand gegenüberstand, von meiner misslichen Lage zu überzeugen.

„Papa, bist du es?“, flüsterte ich mit weinerlicher Stimme.

Ich wusste, dass er meinen Tränen oder bereits der Andeutung meiner Trauer keinesfalls widerstehen konnte. Egal wie herzlos er erschien, in seinem Innersten steckte nach wie vor mein Vater. Ein gebrochener Mann, den der Tod der Frau ins Unglück gestürzt hatte.

Schweigend öffnete jemand die Tür und eh ich mich versah, schob man mir ein Tablett mit einer Wasserfalsche und einem Stück Brot hinein. Gierig streckte ich meine Finger nach der Flasche aus und beträufelte meine trockenen Lippen mit der kühlen Flüssigkeit. Ich seufzte und erblickte einen großen Schatten, der sich vor mir aufbäumte. Neugierig schaute ich durch den Spalt des Eingangs und erkannte meinen Vater, der mit einem eisigen Blick auf mich hinabsah.

„Lässt du mich gehen?“, fragte ich mit einem hoffenden Unterton.

Mein Vater krallte sich einen Stuhl und setzte sich vor mich. Dicke Falten zierten seine Stirn. Er wirkte nachdenklich. Sein Gesichtsausdruck rief in mir schlimme Vermutungen hervor.

„Papa?“, harkte ich erneut nach.

„Ja, ich habe dich gehört“, knurrte er und ließ sich in den Stuhl sinken.

Die breiten Schultern hingen schlaff an seinen Seiten.

„Und?“

Ich wollte unbedingt seine Antwort erfahren. Ohne, dass er es bemerkte, kroch ich vorsichtig Richtung Ausgang. Mein Vater war mit sich selbst beschäftigt und schaute kontinuierlich zu Boden. Schließlich schlug er mit seiner Faust auf den mickrigen Tisch direkt neben ihm. Der Knall schreckte mich auf wie ein scheues Reh und ich zuckte unweigerlich zusammen. Zweifellos wäre ihm mein Fluchtversuch entgangen, doch nun hatte ich seine Aufmerksamkeit.

„Nein. Deine Freiheit hast du zusammen mit deiner Entscheidung verloren.“

Seine Worte benebelten meine Sinne und trafen mich wie eine Ohrfeige. Mein Herz schlug so wild in meiner Brust, dass ich nach Luft schnappte und meine Hand darüber legte.

„Willst du mich bis an mein Lebensende einsperren?“, rief ich verzweifelt und stellte mich vor meinen Vater.

Gestikulierend veranschaulichte ich ihm meine Emotionen, die ihn jedoch kalt ließen.

„Das kann eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Irgendjemandem wird es sicher auffallen. Du hast nicht das Recht, mir als deine Tochter, so etwas anzutun! Was würde Mutter denken?“

Bei dem letzten gesprochenen Satz fuhr er zusammen und sprang auf. Von Wut gepackt, machte er einen Schritt auf mich zu und drückte mich grob gegen die Wand. Keuchend versuchte ich mich aus seinem Würgegriff zu befreien. Der Stuhl wackelte noch immer und glitt kurz darauf auf den Untergrund.

„Papa“, hustete ich.

In seinen Augen erkannte ich einen starren Zorn, der mir gewidmet war. Angst machte sich in mir breit. Wenn er sich bereits jetzt gegen mich stellte, was würde er mir in Zukunft antun?

Sein Griff löste sich und ich atmete auf. Röchelnd ging ich vor ihm in die Knie und wischte mir die Tränen von der Wange.

„Du bist nichts wert. Faye, sieh es endlich ein, da draußen wird keiner nach dir suchen. Deine Schule hat gestern durch mich von deinem schrecklichen Unfall erfahren. Ich habe dem Direktor eine geniale Lüge aufgetischt und ihm erklärt, dass du nach den Ferien nicht zurückkehren wirst. Dein Cousin glaubt, du würdest dich im Krankenhaus befinden und dort betreut werden. Deine Großeltern sind seit Jahren tot und außer mir und Shane, hast du keine Verwandten, die dein Verschwinden bemerken würden.“

Geschockt schaute ich zu ihm auf. Er hatte alles bis ins Detail geplant.

„Was wird mit mir geschehen?“

Zaghaft berührte ich die Abdrücke, die mein Vater an meinem Hals hinterlassen hatte.

„Du bleibst vorerst eine Gefangene, jedoch hat mein Partner bereits sein Interesse an dir bekundet.“

Ich musterte ihn.

„Was soll das heißen?“, fuhr ich ihn erbost an.

Wenn es um diese Blutsauger ging, hatte ich mich nur schwer unter Kontrolle.

„Was bringt es mir, dich Jahrelang durchzufüttern und dennoch in diesem Dreckloch versauern zu lassen? In diesem Fall, halte ich es für angebracht in erster Linie meinen Partner zu besänftigen“, raunte er und packte mein Kinn.

Er zog es ein Stück in seine Richtung und betrachtete mich wie einen Gegenstand, den er bald versteigern würde.

„Besänftigen? Wie?“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Mit dir, Faye. Er verzehrt sich nach deinem jungen Körper, deinem köstlichen Blut und …“, er stoppte und wendete sich abrupt ab.

Und was? Meinem Leben?, ging es mir durch den Kopf.

„Du verkaufst mich an einen Vampir? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!“, kreischte ich und stürzte mich auf ihn.

Mein Vater reagierte nicht, sodass ihn meine Handfläche hart an der Wange erwischte. Er stöhnte, dann verengten sich seine Augen zu Schlitzen und der feste Druck auf meiner Brust beförderte mich in die nächste Ecke. Meine Rippen schmerzten, als ich mich aufrichtete und mich wehren wollte, doch er war bereits zur Stelle und schleifte mich zurück in meine düstere Zelle.

„Lebe wohl, Faye. Von heute an, gehörst du meinem Partner Sain. Was auch immer er mit dir vorhat, sämtliche Entscheidungen obliegen bei ihm.“

Die Geräusche verschwanden und plötzlich fühlte ich mich allein. Alles war so schnell von Statten gegangen, dass ich mich keinesfalls von dem Schock erholen konnte.

„Das darfst du nicht! Ich bin deine Tochter! Vater! Das werde ich dir niemals verzeihen!“, schrie ich bis meine Stimme versagte und ich heißer zu Boden sank.

Hitze durchströmte mich. Ein Gemisch aus Wut, Hass, Verachtung, Furcht und Trauer vereinnahmte mich. Meine letzten verbliebenen Reserven der Liebe, die ich einst für meinen Papa empfunden hatte, verschwanden, genau wie seine verblassenden Schritte. Gefangenschaft, ein Begriff dessen Bedeutung ich endlich verstand.

Der Tag neigte sich schneller als erwartet dem Ende. Zwischendurch hatte mich einer von Vaters Laufburschen auf die Toilette gelassen, danach aber sofort wieder eingesperrt. Ich fühlte mich wie ein hilfloses Tier. Ein Lamm, das angekettet auf der Weide stand und auf den blutrünstigen Wolf wartete. Es gab kein Entrinnen.

 

Der nächste Morgen sollte mir neue Erkenntnisse bringen. Mir fehlten mein weiches Bett, die warme Dusche und meine Zahnbürste. Nie im Leben hätte ich geglaubt, solch eine Sehnsucht für diese Gegenstände zu entwickeln. Die Stille in der dunklen Kammer raubte mir mehr und mehr den Verstand. Sollte das wirklich die nächsten Jahre so weitergehen?

Entmutigt lauschte ich auf eine Regung, aber für die nächsten Stunden ließen sie mich allein.

Am Nachmittag vernahm ich kaum hörbare Schritte. Die Geschmeidigkeit, mit der sich die Person fortbewegte, jagte mir einen Schauer über den Rücken und erinnerte mich an die Samtpfötchen von Katzen. Zögernd kroch ich fort von der Tür und suchte in einer der hinteren Ecken Schutz. Mein Gefängnis öffnete sich im selben Moment und ein großer, schlanker Schatten stand mir gegenüber. Das Licht, das in den Raum strömte, ließ mich blinzeln. Ich konnte kaum etwas erkennen. Die Ruhe der untersten Etage umfing mich. Der Fremde atmete nicht. Kein einziger Ton durchschnitt diese Szene. Wir verharrten beide für wenige Minuten in unserer Stellung. Irgendwann breitete sich auf seinem von Schwärze bedeckten Gesicht ein Lächeln aus. Er streckte seine Hand nach mir aus und wartete auf meine Reaktion.

Komm, meine Kleine“, flüsterte er in meinen Gedanken. Ich weigerte mich seinen Worten zu lauschen.

Ich bringe dich an einen Ort, wo du es besser haben wirst als hier“, gestand er mir und hoffte so mein Vertrauen zu erlangen.

Kopfschüttelnd zog ich meine Beine an meinen Bauch heran.

Hab keine Angst. Ich verspreche dir, wenn du es möchtest, wirst du keinen Schmerz spüren.“

Ich wusste, wer mir gegenüberstand. Ich konnte mich kaum rühren, so erschüttert war ich darüber, dass sie tatsächlich existierten und nach meiner Mutter, nun auch mich zu sich holen wollten. Vampire! Blutsauger der dunklen Art. Kinder der Nacht. Schatten des Todes. Bestien der Menschenwelt.

„Nun gut, wenn es anders nicht geht“, sagte er zu sich selbst.

Auf einmal befand er sich direkt neben mir. Sein Zeigefinger berührte meine Schläfe und sein Blick durchbohrte mich.

„Komm mit mir, Faye“, hauchte er sanft.

Seine Worte drangen in mich ein und steuerten sämtliche Organe, Muskeln und Knochen. Ich wurde zu seiner Marionette und vergas jegliche Furcht.

„Lächle. Öffne mir dein Herz“, befahl er mit einem harten Unterton.

Seine Erscheinung hatte sich in wenigen Sekunden verändert und obwohl ich vor Panik schreien wollte, legte sich ein stummes Lächeln über meine Lippen. Wie ein Kleinkind ergriff ich seine Hand und klammerte mich an ihn.

Gemeinsam verließen wir den düsteren Raum und betraten nur wenige Meter weiter, ein geräumiges Zimmer mit einem großen Bett. Das zugemauerte Fenster fiel mir als erstes auf. Danach ließ ich meinen Blick schweifen und erkannte ein kleines Bad in der Seitennische. Direkt daneben befanden sich ein Kleiderschrank und ein Regal mit einigen Büchern. Sofort verkrampfte ich mich. Das sah mir sehr nach einer Puppenstube aus. Ich wollte nicht hineingehen, aber meine Sturheit konnte mich vor dieser Situation keineswegs bewahren. Sain zerrte mich mit sich. Mit jeder verstrichenen Minute wurde er ungehobelter, gemeiner, blutrünstiger. Es kostete mich viel Überwindung die Kontrolle über meinen Körper zu akzeptieren.

Vorsichtig setzte er mich wie ein Spielzeug auf das Bett und reichte mir saubere Kleidung.

„Du wirst dich jetzt frisch machen und anschließend für mein Erscheinen bereit halten“, sagte er und verabschiedete sich.

So schnell wie er gekommen war, verschwand er wieder.

Obwohl ich mitbekam, was er aus mir machte, hatte ich keine Wahl. Ich gehorchte ihm und sprang unter die Dusche, die ein berauschendes Gefühl in mir zum Vorschein brachte. Mein Haar duftete nach Rosenblüten und eine mollige Wärme umhüllte mich.

Im Spiegel richtete ich meine Strähnen, die nun als Locken über meine Schultern fielen. Das helle Kleid war verspielt und altmodisch. An den Rändern wurde der Stoff von weißer Spitze abgelöst und um die Taille verlief ein blaues Band, das meinen Busen ein wenig nach oben drückte. Herausgeputzt wie an meinem ersten Schultag, nahm ich auf dem weichen Bett Platz und wartete auf mein Verderben.

Das gedimmte Licht in diesem Raum, machte mich neugierig und ganz gleich, ob ich herumschnüffeln wollte, mein Körper weigerte sich und verharrte an Ort und Stelle. Das Vampire eine solche Macht über Menschen hatten, war mir neu.

Schließlich kehrte er zurück. Gediegen lief er auf mich zu und betrachtete mich mit einem zufriedenen Grinsen. Sein dunkles Haar wirkte wild und nicht so gepflegt wie sonst. Das Hemd, das seinen Oberkörper bedeckte, war halb geöffnet und lud zu einem Blick auf seine nackte Brust ein. Zaghaft wandte ich mein Gesicht ab und versank in Scham. Was wollte er von mir?

Behutsam fuhr er über meine Arme und zog mich zu sich heran. Er presste mich regelrecht an sich, so dass ich erschrocken nach Luft schnappte und meine Lider fest zusammenkniff.

„Zeig mir deine grüne Iris“, verlangte er und stupste mein Kinn nach oben.

Ich öffnete meine Augen und starrte ihn verwundert an.

„So viel Schönheit, vereint in einem jungen Mädchen. Was für eine Schande das zu verschwenden“, meinte er und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.

Seine Finger glitten forschend über meine Haut, von den Ellenbogen hinab bis zu meiner Hüfte und anschließend wieder hinauf bis zu meinen Rippen. An meinem Busen stoppte er, strich lediglich zurückhaltend darüber und musterte mich bei jeder weiteren Annährung, die er wagte.

„Bitte, ich bin doch erst fünfzehn“, wisperte ich ängstlich und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien.

Sain stieß einen Seufzer aus.

„Ein passables Alter, um die Unendlichkeit zu begrüßen“, erwiderte er und öffnete das Band, was meine Taille umgab.

Das Kleid, das meine Scham verbarg, lockerte sich mit jeder verstrichenen Minute mehr. Er schien daran Gefallen gefunden zu haben und versuchte alles, um mich zu verführen. Da er ein Vampir war, zog er es vor zu betrügen und bezirzte mich aufs Neue. Es dauerte nicht lange und seine Lippen berührten meinen Hals. Sain arbeitete sich vor und ich musste als willenlose Marionette alles erdulden. Ich verfluchte mein Leben. Wenn dies der Moment war, der es verändern würde, müsste ich handeln, bevor es zu spät wäre. Unter einem inneren Druck, der mich zu zerreißen drohte, wagte ich es mich gegen die Macht des Vampirs zu stellen. Der Bann, der meinen Mund versiegelte, konnte mein Herz nicht zum Schweigen bringen. Als Sain gerade dabei war, meinen Busen mit Küssen zu überhäufen, holte ich aus und drängte ihn mit einem Schlag zurück. Verblüfft schaute der Vampir zu mir hinüber und rieb sich die rote Stelle in seinem Gesicht. Meine gesamte Wut hatte ihre Spuren hinterlassen. Unter meinen Nägeln fand ich seine blutige Haut und ich wich entsetzt zurück. Ich erkannte mich selbst kaum wieder und legte zitternd meine Hände auf die Ohren, um das laute Pochen meines Herzens zu verdrängen.

„Du bist ja ein kleines Kätzchen. Oh, ich werde dir deine Krallen schon stutzen!“, rief er verrucht und packte mein Handgelenk.

Grob drehte er mir den Arm auf meinen Rücken und stieß mich auf mein Bett. Mit dem Gesicht voran, landete ich in den Kissen. Das Atmen fiel mir schwer, da er sich mit seinem gesamten Gewicht auf mich legte. Fauchend kämpfte ich mich durch und schaffte es mit ein wenig Mühe, mich zu drehen, um seine ekelerregende Visage vor mir zu haben. Sain lachte und riss mir die Kleider vom Leib. Ich schrie, als er mich an den Haaren ergriff und nach oben zerrte. Diese Szene schien ihn zu erfreuen, denn urplötzlich schossen seine Fänge aus dem Oberkiefer und er betrachtete mich wie ein hungriger Wolf sein Lamm. Die spitzen Zähne näherten sich meinem Hals und schließlich bohrte er sie hinein, drückte mich an sich und trank mein Blut. Schmatzend genoss er mein Lebenselixier.

Mein Wimmern verstummte. Der Schmerz jagte durch meine Glieder. Mein Blut brannte wie Feuer. Bereits nach wenigen Sekunden spürte ich, wie mir der Vampir meine Körperwärme entzog. Durch den Blutverlust wurde ich schwächer. Sain stoppte. In seinen Augen lag ein merkwürdiges Leuchten. Die rote Iris stach besonders durch seine düstere Erscheinung hervor.

„Ganz ruhig, ich sagte doch, dass ich dich keinesfalls sofort töten werde. Ich bringe dir gehorsam bei und mache dich zu meiner persönlichen Sklavin, meiner Prinzessin, meinem Snack“, entgegnete er und küsste mich.

Er knabberte an meinem Ohrläppchen, lauschte meinem Schluchzen und leckte über die Wunde, aus der weiterhin Blut quoll. Überall spürte ich seine Anwesenheit und ich fragte mich, wie viele Hände er zur Verfügung hatte.

Seine Lippen legten sich auf die meinen. Ich erwartete einen zärtlichen Kuss, erhielt allerdings einen blutigen Biss, der mich zum Kreischen brachte. Tränen tropften auf das Lacken und vermischten sich mit Blut. Mit meinen Fäusten hämmerte ich auf seinen Rücken ein. Ich fühlte wie sich seine Muskeln anspannten und hörte sein höhnisches Gelächter.

„Unglaublich. Du kannst dich meinen Künsten widersetzen. Das werde ich dir austreiben. So ein Mädchen wie du, ist mir nie zuvor untergekommen. Die Meisten verfallen sofort meinem Charme oder meiner Macht“, schwafelte er und zog die Augenbrauen nach oben.

„Geh runter von mir. Bitte! Du tust mir weh“, flehte ich.

Sain schob meine Handgelenke beiseite und drückte sie in die Kissen. Sorgfältig wischte er das Blut von meinen Lippen und genehmigte sich einen letzten Schluck. Dann sprang er auf, knöpfte sein Hemd zu und verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Verunsichert richtete ich mich auf und fuhr über meine Wunden, die er hinterlassen hatte. Narben, die meine Seele zeichnen würden.

„Mach dir keine großen Hoffnungen. Ich denke, ich werde dich von heute an, jeden Tag besuchen kommen. Dein Vater hat sein Interesse an dir verloren. Ich hingegen, fange gerade erst an, mich mit dir zu vergnügen.“

Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren und schlug laut und schallend zu. Der Schlüssel versiegelte meine Kammer und machte aus mir die Sklavin, die sich Sain gewünscht hatte. Verstört klammerte ich mich an eines der Kissen und begann mit Weinen. Kaum auszudenken, was er mir in den nächsten Jahren alles antun würde. Ich konnte dieses Erlebnis weder verdrängen noch verarbeiten, denn dazu war es zu schmerzlich und zu frisch. Wie hatte ich es geschafft, meinen Vater derart gegen mich aufzubringen? War es gar meine Schuld, dass ich mich in einem Kerker befand und sich ein Vampir an mir labte? Ich rümpfte die Nase und vergrub mein Gesicht in der weichen Bettdecke. Einen weiteren Blick in den Spiegel würde ich gewiss nicht verkraften. Schluchzend wiegte ich mich in den Schlaf und verfiel meiner Verzweiflung.

Sain hielt sein Versprechen und besuchte mich jedes Mal, wenn er sich nach mir verzehrte. Seine gierige Art ließ mich Wünsche hegen, die ich nie wagte auszusprechen. Innerlich hoffte ich, dass meine Qualen bald endeten und ich dem unendlichen Schlaf verfallen würde.

Wieder betrat er meine Zelle und stürzte sich auf mich. Ohne Bedenken tastete er sich vor und genoss die Wärme meiner Schenkel. Seine Hand knetete meinen Busen. Ich stieß die Luft aus, wehrte mich aber nicht. Wenn ich eins in all der verstrichenen Zeit gelernt hatte, dann waren es die Folgen von Widerworten. Die Schläge, die Bisse und sein erbarmungsloser Hass, der schnell in eine Art sexuellen Trieb umschwenkte. Nein, um diese Frage zu klären: Mehr als Berührungen hätte ich keinesfalls zugelassen. Er forderte keine sexuellen Handlungen und dafür war ich ihm überaus dankbar. Jedoch fürchte ich mich davor, zu einer Frau zu werden. Als Objekt seiner Begierde, würde er mich vollständig zu seiner Untergebenen machen. Mich verführen und mir Nächte schenken, die mich erbeben lassen würden.

Mürrisch schüttelte ich meinen Kopf. Er bemerkte sofort, dass mich etwas beschäftigte. Neugierig musterte er mich und roch an meinem blonden Haar.

Seine Finger drückten auf die winzige Wunde an meinem Hals, die kaum verheilt, erneut aufgerissen wurde. Er genehmigte sich einen köstlichen Schluck und wischte sich das Blut aus den Mundwinkeln. Erschöpft lag ich vor ihm. Zielstrebig riss er sich mit seinen Fängen zwei Löcher in sein Handgelenk und drückte die dunkelrote Flüssigkeit, die seinen Arm hinablief, auf meine Lippen. Der metallische Geschmack breitete sich in meinem Mund aus und ich würgte, schaffte es aber keinesfalls mich zu übergeben.

„Das wird deinen Kreislauf in Schwung bringen. Du musst wissen, Vampirblut hat eine besondere Wirkung auf Menschen. Es kann eure Wunden heilen und sorgt für manch gute Stimmung im Schlafzimmer“, scherzte er.

Mit starrem Blick versuchte ich seiner Aussage zu folgen. Alles in mir sträubte sich seine Nähe zu akzeptieren. Er konnte meine Angst spüren, die meinen Körper erzittern ließ, mein Herz zum Rasen brachte und meinen Magen schmerzhaft zusammenzog.

„Faye, wie lange wollen wir das durchgehen? Ich werde dich keinesfalls töten. Du bist mein Spielzeug, mein Besitz und ich habe vor, dich für die nächsten Jahre hier zu behalten. Bei guter Führung können wir natürlich über einen Platz in meinem Haus reden. Aber dort befinden sich weitere Vampire und ich möchte nicht riskieren, dass sich ein anderer von dir ernährt!“

Seine Augen funkelten, als meine Lippen einige Worte formten.

„Ich sehne mich nach frischer Luft, den Sonnenstrahlen und dem süßen Obst, das auf den Bäumen in unserem Garten verdorrt“, nuschelte ich Gedankenverloren.

Sain packte mich im Nacken und rüttelte an mir. Er wollte mich zurück in die Realität holen, da ich mich allzu oft in eine Phantasiewelt flüchtete, um seiner Manipulation zu entkommen.

„Was ist mit dir? Ich habe das Gefühl, wir entfernen uns voneinander. Eine so innige Beziehung sollte nicht wegen kindischen Träumereien scheitern“, entgegnete er eindringlich.

Sein verschmitztes Grinsen weckte in mir das Verlangen, ihn leiden zu sehen. Abrupt richtete ich mich auf, stieß ihn zu Boden und warf mich auf ihn. Bevor ich überhaupt verstand, dass mein Körper fremdgesteuert handelte und lediglich meinem gebrochenen Willen Ausdruck verlieh, hockte ich bereits auf ihm. Sein dunkles Haar formte sein Gesicht zu etwas Menschenähnlichem, was allerdings durch die Weinrote Iris durchbrochen wurde. Seine Miene war wie versteinert und trotz der Tatsache, dass er damit gewiss nicht gerechnet hatte, blieb er die Ruhe selbst. Erstaunt und ein wenig überrascht, fügte er sich in meine Bewegungen ein.

„Unglaublich, ein Tropfen Vampirblut und dein Temperament kocht über“, setzte er lachend an.

Plötzlich fühlte ich mich unbesiegbar und hätte ihm am liebsten gezeigt, wie sehr ich unter seiner Herrschaft gelitten hatte. Regungslos lag er unter mir und beobachtete mich. Seine Fänge leuchteten in dem dunklen Gesicht.

„Für heute hast du genug getrunken!“, fauchte ich und setzte mich auf.

Gediegen kehrte ich zum Bett zurück und nahm in einer verspielten Pose darauf Platz. Sain räusperte sich.

„Kleines, du gibst hier keine Befehle.“

Er unterstrich diese Aussage mit einem wütenden Knurren. Ich hingegen, zuckte lediglich mit den Schultern und ignorierte seine weitere Anwesenheit. Ich strich die Falten auf meinem Kleid gerade, steckte mir eine nervende Strähne hinter mein Ohr und musterte ihn. Sain stieß einen Fluch aus. Er wollte mich packen, hatte sogar seine Hand nach mir ausgestreckt, als er mit einem entschiedenen Lächeln nachgab und kehrt machte. Der Vampir verließ das Zimmer und als er die Tür in die Freiheit öffnete, erwischte er meinen Cousin davor, welcher verstört durch das Schlüsselloch gelugt hatte. Seine gesamte Miene verriet, wie sehr es ihn traf, mich in solch einer Lage vorzufinden. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund formte einige Worte, die ich keineswegs verstehen konnte und ein Zittern legte seinen Körper lahm, als hätte ihn Sain betäubt. Der Vampir funkelte meinen Cousin erbost an, zog ihn an sich und packte ihn wie eine Katze im Nacken. Von Schmerz überwältigt, wehrte sich Shane gegen den festen Griff, kam allerdings nicht frei. Die Tür fiel ins Schloss und obwohl mich diese Szene regelrechnet benebelte und ich normalerweise schreiend aus meiner Haut gefahren wäre, schockierte es mich wenig, was mit Shane geschah. Er konnte mir keine Hilfe sein und mir dies einzugestehen, könnte die trügerische Wahrheit verblassen lassen.

Gleichgültig kuschelte ich mich an die Kissen und dachte an die schmackhaften Äpfel, die ich früher so gerne gegessen hatte. Meine Freiheit war unerreichbar, so viel stand fest. Dennoch hegte ich zum ersten Mal starke Gefühle und konnte sie kaum unter Kontrolle bringen. Der Hass brodelte in meinen Gedärmen, wie eine giftige Säure. Dabei handelte es sich um das Vampirblut, was mich zu einem Übermenschen machte. Die Wunde an meinem Hals verschwand, der Grind löste sich auf und die Narbe nahm die Farbe meiner Haut an. Nichts würde einem Außenstehenden verraten, dass ich bereits seit zwei Monaten als Gefangene im Keller hauste. Nichts, außer der Tatsache, dass Shane soeben das Geheimnis und somit die Verschleierung um meine Person gelüftet hatte.

 

Der Abend sollte mir neue Erkenntnisse bringen. Wie eine Besessene ließ ich meine Wut an der Tür aus, in der Hoffnung sie würde meinen Kerker öffnen. Schon bald verwandelte sich meine Euphorie in Verzweiflung und ich gab mich trotz der Stärke des Vampirblutes geschlagen. Müde sank ich in mich zusammen und schloss meine Lider. In meinen Träumen wurde ich von den Taten von Sain verfolgt und zitterte am ganzen Körper.

Das Knirschen des Türknaufs riss mich aus dem Schlaf. So empfindlich waren meine Ohren schon lange nicht mehr gewesen. Wollte Sain sich für mein ungehobeltes Verhalten rächen?

Geschockt verkroch ich mich unter dem Bett und betete um Vergebung. Mit schlotternden Gliedmaßen klammerte ich mich an die Decke und zog sie als Sichtschutz herab. Natürlich würde der Vampir sofort mein Versteck ausfindig machen, dennoch fühlte ich mich in der Dunkelheit sicher.

Schritte waren zu vernehmen. Eine Person, die keinesfalls mit der Statur von Sain übereinstimmte, lief auf das Bett zu.

„Faye? Wo bist du?“, wisperte eine Stimme.

Sofort machte mein Herz einen Purzelbaum vor Glück und eh ich mich versah, eilte ich aus meinem Zufluchtsort und fiel meinem Gast um den Hals. Die Umarmung wurde erwidert. Der Jugendliche mit dem wehleidigen Blick, streichelte behutsam über meinen Kopf und flüsterte mir beruhigende Worte zu. Kein Zweifel, er war gekommen, um mich aus meinem Verließ zu befreien.

„Shane! Shane!“, jubelte ich und küsste ihn auf die Wange.

Mit bebenden Lippen stand ich ihm gegenüber. Ich rieb mir die Augen und vergewisserte mich, dass dies keiner meiner Träume war.

„Cousinchen, wir haben keine Zeit für eine Plauderrunde. Komm mit mir. Ich bringe dich hier raus!“

Auf diese Sätze hatte ich so lange gewartet. Mit einem breiten Grinsen folgte ich ihm und ließ sämtliche Qualen der letzten Wochen hinter mir.

Die Stufen waren ein kleines Hindernis, wenn man bedachte, dass sie mich in die Freiheit führten.

Oben angekommen, wurde ich herumgerissen und in die Küche gebracht. Shane war die Nervosität deutlich anzusehen. Tiefe Augenringe zeichneten sein Bubenhaftes Gesicht. Als er seinen Arm nach einem Rucksack ausstreckte, gab sein Oberteil einen Ausschnitt seiner Hüfte frei. Blaue Flecken, Schürfwunden und ein Verband, der hinauf bis zu seinen Rippen reichte, zierten seine Haut.

„Shane“, setzte ich an und berührte seine Schulter.

Der Jugendliche zuckte zusammen.

„Was ist mit dir passiert?“

Shane schaute auf und reichte mir einen verstaubten Rucksack. Meinen Rucksack. Eine Schultasche, die mich bereits früher durch jeden Schlammassel begleitet hatte. Das leuchtende Grün des Stoffes, wechselte sich mit dem dunklen Himmelsblau von Shanes Iris ab. Er wirkte dünn, ein wenig ausgemergelt und geschunden. Bei jedem leisen Geräusch erschrak er, versuchte allerdings diese neue Angewohnheit vor mir zu verbergen.

„Mit mir ist alles okay. Mach dir keine Gedanken, ich werde dich hier rausholen“, stammelte er und packte mir Vorräte ein.

Er blockte ab. Wieso konnte er sich nicht überwinden und mit mir über das Erlebte sprechen?

Während er beschäftigt in der Küche verharrte, entfernte ich mich von ihm. Mir stand nur ein Wrack dessen gegenüber, was er früher gewesen war. Hatte er diese Bürde meinetwegen auf sich genommen? Wenn ja, wie kam es, dass ich mich kaum verändert hatte und er zu einer völlig anderen Person geworden war? Seine Aura erschien mir kränklich und grau, als hätte er stumm gelitten und nirgends, außer in meinen Armen, Zuflucht gefunden. Mein Vater war das Monster, was uns zu trennen vermochte und ausgerechnet Sain trieb einen Keil zwischen uns. Die Furcht, die an Shanes Gliedern nagte und ihn wie einen Besessen wirken ließ, erzählte mir mehr über seine Situation, als er es jemals preisgeben würde. Shane war schon immer ein Knabe weniger Worte und als Jugendlicher schweigsam wie nie. Er futterte seine Sorgen in sich hinein, folgte dem negativen Beispiel seiner Mutter und ertränkte seine Gedanken und Albträume im Alkohol. Mit gerade mal achtzehn Jahren war er fähig sämtlichen Vorrat an Schnaps in dieser Villa aufzuspüren, wie ein abgerichteter Hund. Seine Treue galt ausgerechnet mir – seiner Cousine und in einem Moment wie diesen, fühlte ich mich damit überfordert. Meine Rettung setzte seine Gesundheit aufs Spiel. War ich also bereit, mein Leben über das seinige zu stellen? Immerhin war Shane wie ein Bruder für mich, stets an meiner Seite und dermaßen loyal und liebevoll, dass nur er mich verstand.

Zielstrebig begab ich mich auf leisen Sohlen in das Arbeitszimmer meines Vaters. Mir war klar, dass Shane es niemals riskiert hätte, mich zu befreien, wenn William und Sain zu Hause gewesen wären. Der schwarze Schrank, der mir einst mein Leben zerstörte, forderte meine Neugierde heraus. Ich stahl einige der Akten und eine Blutprobe, die beide als überaus wichtig galten. Sorgfältig verstaute ich meine Beute unter meinem Kleid und klemmte die Blutprobe zwischen meinen BH. Sobald ich den Rucksack von Shane erhalten würde, wären diese Dinge mein Druckmittel, um meiner Vergangenheit zu entkommen.

Ich machte kehrt und verließ den Raum des Schreckens, an welchen ich keine guten Erinnerungen hatte. Shane wartete bereits an der Hintertür und winkte mich zu sich. Er überreichte mir meinen Rucksack und drückte mich fest an sich. Sein warmer Atem streifte in unregelmäßigen Abständen meinen Nacken. Die winzigen Härchen bäumten sich auf. Sollte dies unser Abschied sein? Gekränkt tätschelte ich seine Seite.

„Pass auf dich auf. Lauf so schnell du kannst und schau nicht zurück. An diesem Ort gibt es für dich keine Zukunft“, wisperte er.

Tränen sammelten sich in seinen Augen. Er wischte sie beiseite und schenkte mir ein künstliches Lächeln. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken ihn zurück zu lassen.

„Komm mit mir“, bat ich und ergriff seinen Arm.

Shane befreite sich und schüttelte abwehrend seinen Kopf.

„Ich muss bleiben und alles versuchen, um deine Sicherheit zu gewehrleisten.“

Verwirrt stellte ich mich ihm gegenüber.

„Was soll das heißen? Fürchtest du dich nicht vor Vaters Zorn? Du lässt mich laufen. Außer dir ist niemand im Haus, er wird es herausfinden und dich bestrafen. Sieh nur, was er mir angetan hat!“, rief ich.

Shane seufzte.

„Das ist unwichtig. Ich nehme es in Kauf und kann dich warnen, sobald er dich jagen lässt. Flieh, bevor es zu spät ist“, drängte er und schob mich durch die Hintertür.

Sofort stieg mir der Geruch von frisch gemähtem Gras in die Nase und ließ meine Lunge frohlocken. Die saftigen Äpfel baumelten an den Obstbäumen und die bunten Blumen schenkten dem Garten eine einzigartige Farbenpracht. Im selben Moment erkannte ich, warum Shane bereit war so viel zu opfern. Seine Fürsorge, seine Befürchtungen, sein Verhalten. Alles deutete nur auf einen Entschluss hin: Er hatte sich dem Willen meines Vaters bereits gebeugt.

„Shane, ist es wahr?“, japste ich.

„Was meinst du?“

Shane schloss die Tür und deutete auf den Wald, der in der Ferne in einem matten Grün leuchtete. Er wollte, dass ich seiner Bitte nachkam.

„Arbeitest du für meinen Vater?“

Die Frage löste in meiner Magengegend ein mulmiges Gefühl aus. Shane schluckte unsicher.

„Tatsache? Wie kannst du das tun?“, kreischte ich und warf seine Almosen auf den Boden.

Der Rucksack sackte vor seinen Füßen zusammen und wurde von ein wenig Dreck besudelt.

„Faye, das ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um deinen Standpunkt zu vertreten. Aber ja, ich erledige die Geschäfte von William und erhalte dafür meinen Lohn“, gab er geknickt zu.

„Schläge, Blutergüsse und Schürfwunden? Das soll dein Lohn sein?“

Meine Stimme überschlug sich. Ich war empört über seine Handlungen.

„Ich hatte keine Wahl“, versicherte er mir.

„Man hat immer eine Wahl!“, fuhr ich ihn schroff an.

„Meine Mutter hat mich in diese Lage gebracht. Ihr Alkoholkonsum, die Gerichtskosten, die Gläubiger. Ich sollte ihren Schlammassel begleichen, ohne einen Cent in der Tasche“, berichtete er.

Konnte ich ihn wirklich verurteilen, weil er Partei ergriffen hatte, um das Leben seiner Mutter vor einem schlimmen Ausgang zu bewahren?

„Wie hat dich mein Vater überreden können, zu seinem Lakai zu werden?“

„Er meinte, ich könnte durch seine Hilfe Geld verdienen und die Schulden meiner Mutter tilgen.“

Shane berührte meine Wange und wischte mir eine Träne von der Haut.

„Du hast dich also auf ihn eingelassen, weil Tante Emma dir einen Berg aus Sorgen hinterlassen hat? Warum? Wieso konntest du dich seinem Bann nicht einfach entziehen?“

Shane räusperte sich.

„Was sollte ich deiner Meinung nach tun? Meine Mutter musste zur Entziehungskur und das schon zum dritten Mal. Irgendwann werden die Kosten nicht mehr übernommen. Dein Vater bot mir einen Ausweg zu einem fatalen Preis, der mir allerdings erst genannt wurde, als ich dich leiden sah.“

Er verkrampfte sich und zerrte mich behutsam mit sich.

„Wo soll ich denn jetzt hin?“, fragte ich.

Der Jugendliche zögerte. Er wusste keine Antwort.

„Mach Berlin zu deinem Zufluchtsort. Dich dort aufzuspüren, ist schwierig“, meinte Shane überzeugt.

„Versprich mir, dass du dich meinem Vater widersetzen und fliehen wirst! Ansonsten werde ich nicht ohne dich gehen“, sagte ich ernst.

Shane nickte. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Versprochen.“

Lügner! Wir beide ahnten, dass er dazu keineswegs in der Lage war. Vorsichtig drückte ich ihn an mich, fuhr durch sein Haselnussbraunes Haar und hinterließ salzige Tränen auf seinem Oberteil. Ich presste meine Hand auf die Stelle seines Herzens, dann wandte ich mich ab.

„Lebe wohl. Eines Tages werden wir uns widersehen. Ich warte auf dich, in der Hoffnung, dass wir uns in die Arme schließen und endlich frei sein werden.“

Ich stoppte meine Worte und verabschiedete mich mit einem Luftkuss, der ihn niemals erreichen würde. Shane drehte mir den Rücken zu und verschwand in der Villa, die mir so manchen Albtraum beschert hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte ich los und ließ mein altes Leben hinter mir.

 

Schnaufend erreichte ich den angrenzenden Wald. Meine Beine waren es nicht mehr gewöhnt, einen solchen Sprint auf langer Strecke hinzulegen. Keuchend lehnte ich mich gegen einen der Bäume. Bald würde ich Friedrichshagen, am großen Müggelsee, erreichen. Ich musste durchhalten!

Knack.

Ein Geräusch weckte meine Aufmerksamkeit. Instinktiv duckte ich mich und verbarg meine Erscheinung im Gebüsch. Irgendjemand folgte mir. Ich musste mein Druckmittel schleunigst loswerden und am besten an einem Ort verstecken, wo es niemand finden konnte.

Meine Fingernägel gruben sich in den Boden und entfernten erst das Laub der Oberfläche und danach die feuchte Erde. Nur ein kleines Loch und die Liste wäre sicher. Die Blutprobe und die Mappen verstaute ich in einem Beutel, welcher zuvor ein Brötchen beherbergt hatte. Ich gab alles in das Erdloch und verdeckte es, so gut es mir möglich war. Zum Schluss markierte ich den Untergrund mit einer roten Blüte, die ich neben meinen Schuhen gefunden hatte.

Ich warf meinen Kopf in den Nacken, zog die Luft ein und hetzte weiter, ohne stehen zu bleiben. Der Wind schlug mir Blätter und Äste ins Gesicht, die ihre Spuren hinterließen. Steine wurden zu Stolperfallen und der Sauerstoff zu einem stechenden Fluch, der meine Lunge langsam in Stücke riss. Zumindest fühlte es sich genauso an.

Die erste Straße tauchte vor meinen Augen auf. Erleichtert sprintete ich um die nächste Ecke. Am liebsten hätte ich den Asphalt unter meinen Füßen geküsst, so glücklich war ich über die vor mir liegende Zivilisation.

Ein Stöhnen direkt hinter mir, ließ mich erschaudern. Ich war nicht allein, meine Verfolger hatten aufgeholt. Hastig stürzte ich nach vorn und verschanzte mich hinter einem Müllcontainer in einer schmalen Gasse. Die Hauswände waren mit Graffiti verziert. Der Geruch von Abfall lag mir in der Nase und ich musste mir ein Würgen unterdrücken.

Der Schatten des Sonnenunterganges verhüllte meine Gestalt. Die Dunkelheit breitete sich aus. Noch war ich keinesfalls sicher. Die Lakaien meines Vaters hatten meine Spuren verfolgt und lauerten in der Finsternis. Shane hätte niemals so viel riskiert, wenn er sich dessen bewusst gewesen wäre. Möglicherweise hatte mein Vater einige Wachen zurückgelassen, die zu spät realisierten, dass mir eine Flucht geglückt war. Ich würde mich keinen Millimeter rühren. Mein Schweigen sollte mir als Schutz dienen. Doch, dass mich ausgerechnet mein Herzschlag verraten würde, konnte keiner ahnen.

Plötzlich waren Schritte zu hören und sie versetzten mich in Alarmbereitschaft. Stille umhüllte mich. Eine Person suchte die Gasse ab. Schnüffelnd wie ein Hund, musterte er die Gegend und blieb schließlich an einem der Müllcontainer hängen.

Zitternd zog ich meine Knie an meinen Bauch heran. Ich drückte meine Finger auf den Mund, hielt ihn verschlossen und stockte den Atem. Sollte meine Freiheit wirklich so kurzlebig sein?

„Komm raus, meine Kleine. Ich weiß, dass du hier bist. Ich kann dein Blut pulsieren hören. Dein Herz rast und selbst, wenn du schweigst, wirst du dich keinesfalls in Sicherheit wiegen können!“, raunte der Fremde.

Ein stattlicher, junger Mann mit pechschwarzem Haar stand mir gegenüber. Die bleiche Haut, die vor allem durch das Licht der Straßenlaterne in ein helles Grau getaucht wurde, brachte seine rote Iris zum Leuchten. Die spitzen Vampirfänge ragten aus seinem Mund hervor und lechzten nach Blut. Seine Gier lag in seinen Augen verborgen und wurde unterstrichen durch seine Miene, die keine Ausflüchte zuließ. Da stand er, direkt vor mir und leckte sich über seine Lippen. Mit einer ungeheuerlichen Kraft schob er den Müllcontainer zur Seite, welcher mit einem lauten Knall an einer der Hauswände zum Stehen kam.

„Da bist du ja“, stellte er fest.

Grob packte er mich an den Haaren und zerrte mich zurück auf die Beine. Unter Schmerzen richtete ich mich auf und fügte mich seinem Willen. Der Vampir schleifte mich weiter, fort von der belebten Straße, die sich hinter mir befand. Dort wartete Hilfe, die allerdings meine Schreie nie hören würde.

„Lass mich los“, zischte ich und schlug mit meinen Fäusten auf ihn ein.

Der Vampir lachte beherzt und warf mich in die nächste Ecke. Müllsäcke federten meinen Fall ab, dennoch landete ich unsanft auf meinen Knien und konnte deutlich spüren, wie aus einer aufgerissenen Wunde Blut strömte.

„Das riecht köstlich“, gab mein Verfolger zu.

Er führte eine blitzschnelle Bewegung aus und stand auf einmal neben mir. Seine Hände umklammerten meinen Hals und drückten erbarmungslos zu. Die spitzen Fänge kamen meiner Kehle näher. Ein stechender Schmerz jagte durch meine Adern und benebelte meine Sinne. Man müsste meinen, ich hätte mich an die Qualen gewöhnt, doch dieser Vampir kannte die Sanftheit von Sain nicht. Er riss mir förmlich mein Fleisch von den Knochen, nur um an das süße, metallische Elixier zu kommen.

„Verflucht, du schmeckst gut. Sain hat mir zwar befohlen, dich lebend zu ihm zu bringen, dennoch kann dir in der verstrichenen Zeit ein Unglück widerfahren sein“, stammelte er besessen und leckte über das dünne Rinnsal der roten Flüssigkeit.

Eine mollige Wärme breitete sich auf meinem Oberkörper aus. Erst vereinnahmte sie meinen Hals, später mein Schlüsselbein und meine Brust. Mir war klar, dass das Feuer, was meine Glieder lähmte, bald erlöschen würde. Innerlich bangte ich um mein Leben, aber äußerlich flehte ich, dass er es endlich beenden würde! Ich war es leid, ständig eine Mahlzeit für ein solches Monster abzugeben.

Mit wackeligen Beinen klammerte ich mich an ihn. Und als ich gerade dachte, dass hier das Spiel enden würde, schossen Funken einer zerstörten Lampe herab und der Vampir verschwand in der Dunkelheit. Müde sackte ich in mich zusammen und lehnte mich schwer atmend an die kühle Wand eines Hauses. Der feuchte Untergrund schmiegte sich an meine Kleidung, als würde er sich nach meinem Ableben verzehren.

Ein groß gewachsener Mann tauchte vor meinen Augen auf. In seinen Händen ruhte ein Pflock, an seinem Gürtel einige Schusswaffen und per Halterung an seinem Knöchel, ein Dolch.

Wie eine Furie sprang der Vampir aus seinem Versteck und attackierte fauchend den Fremden. Der Mann ließ sich nach hinten fallen und rammte dem Blutsauger den hölzernen Pflock in die Brust. Strauchelnd wich das Monster zurück und sprach Flüche aus, die in meinen Ohren summten.

„Mädchen, schau weg!“, befahl mir mein Retter. Benommen folgte ich seiner Forderung und schloss meine Lider. Im nächsten Moment vernahm ich ein Röcheln, das schon bald ich ein Schluchzen überging. Ängstlich öffnete ich meine Augen und erblickte einen abgeschlagenen Kopf, der in aller Ruhe über den Boden rollte und direkt vor meinen Füßen zum Stehen kam.

Schockiert beobachtete ich wie der Vampir zu Asche zerfiel. Unter Qualen färbte sich seine bleiche Haut in ein Abbild von dem grauen Inhalt einer Urne. Er wurde zu dem, was seit mehreren Jahren auf ihn gewartet hatte. Die Totenruhe galt auch für die mystischen Wesen.

Entsetzt und gleichzeitig zufrieden, dass mein Angreifer das Zeitliche gesegnet hatte, richtete ich mich auf. Das war meine Chance um zu fliehen, um meine Freiheit zu genießen, um meinen Ketten zu entkommen.

Schwankend verließ ich mich auf meinen Körper. Nicht einmal meine Arme konnten ein Zittern unterdrücken. Dieser Bastard von einem Vampir hatte zu viel getrunken und ich musste mich nun mit den Konsequenzen seiner Gier auseinandersetzen.

Der Schatten in meinem Rücken musterte mich schweigend. Ich fürchtete mich davor in sein Gesicht zu blicken. Er war mir unheimlich. Nicht einmal die Tatsache, dass ich ihm womöglich mein Leben verdankte, konnte mich beruhigen.

Plötzlich umfing mich ein Gefühl von Schwäche. Schwärze breitete sich vor meinen Augen aus und nahm mir beinahe jegliche Sicht. Als hätte man mir unter den Füßen den Boden entrissen, sank ich hinab auf den kalten Asphalt der Gasse. Doch der vermutete Aufprall blieb aus. Stattdessen landete ich in den Armen meines Retters, der mich verwundert betrachtete und vorsichtig hochhob.

„Hab keine Angst, jetzt bist du in Sicherheit“, sagte er.

Diese Stimme! Irgendwie kam sie mir vertraut vor.

 

 

Sanft schmiegte ich mich an seine warme und muskulöse Brust. Mir war anfangs nicht klar gewesen, was ich da tat, bis ich seinen Herzschlag spürte und panisch aufschreckte.

Der Fremde schaute mitfühlend zu mir hinab und eilte schweigend mit mir in seinen Armen auf einen Wagen zu. Ein schwarzer Mercedes leuchtete mir am Straßenrand entgegen. Er legte mich auf den Beifahrersitz, schnallte mich an und schloss die Tür. Obwohl ich Einspruch einlegen wollte – immerhin entführte er mich – war ich zu schwach, um zu fliehen.

Mit einem verschmitzten Grinsen setzte er sich hinter das Lenkrad und trat auf das Gaspedal. Nur verschwommen konnte ich ihn mustern, um wenigstens zu erkennen, wie mein Entführer und gleichzeitig Retter aussah.

Er war mindestens 1,80m groß, hatte dunkle, leicht gelockte Haare und enzianblaue Augen, die mich stark an die Tiefe des Ozeans erinnerten. Sein Gesicht war hell, wie der Rest seiner Haut und vor seiner Brust hing eine kleine Kette. Da sein blaues Hemd ein Stückchen aufgeknöpft war, erkannte ich sowohl über seinem Schlüsselbein, als auch an seinem Hals einige Narben. Auf mich wirkte er wie ein Mann, der eine schwere körperliche Arbeit ausrichtete, denn an seinen Handflächen erblickte ich einige Risse und Blasen.

Von der Autofahrt hatte ich kaum etwas mitbekommen. Auch jetzt schwankte mein Verstand zwischen dem Glauben an Harmonie und der Angst dem Fremden gegenüber.

Er hatte die Wagentür vorsichtig geschlossen und mich nicht eine Sekunde abgesetzt. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt mir, dem Häufchen Elend in seinen Armen. Vor einem großen Fabrikähnlichen Haus blieb er stehen.

„Ich bringe dich in mein Loft. Dort kann ich deine Verletzungen versorgen.“

Das in einem seltsamen Gemisch aus orange und braun leuchtende Backsteinhaus, wirkte von außen geräumig und durch die wunderbaren Fenster lichtdurchflutet. Mein Retter verschwand sofort im Treppenhaus und jagte die Stufen hoch, als würde ihn jemand verfolgen.

 

Er stieß die angelehnte Tür, die zu meiner eigenen Überraschung nicht verschlossen war, mit seinem Fuß auf und stolzierte hinein. Etwa fünf Schritte vor uns, befand sich ein dünnes Holzregal, was eine Abgrenzung zwischen Küche und Essecke darstellen sollte. Dahinter leuchtete mir eine Couch entgegen, die aus einem schwarzen Leder bestand. Links davon erstreckte sich der Küchenbereich, der abermals durch eine Theke abgetrennt wurde. Davor hatten vier Menschen auf den dazugehörigen Barhockern Platz. Rechts von der Eingangstür befand sich eine Glasvitrine mit sonderbaren Errungenschaften. Ein altes Buch mit goldenem Umschlag, ein Dolch verziert mit roten Kristallen, ein silberner Kelch mit saphirblauen Einkerbungen und einige Waffen, die aus den Mittelalterzeiten stammen könnten.

„Ich hole den Erste Hilfe Koffer“, sagte er und verschwand in einer Nebentür, die sich als Fliesenbedecktes Bad herausstellte.

Neben dem ovalen Spiegel über dem Waschbecken, befand sich ein kleiner Schrank. Der Mann durchwühlte alles, fluchte mehrmals und fand schließlich, wonach er gesucht hatte. Zaghaft kam er auf mich zu. Er schien mich keineswegs verschrecken zu wollen. Immerhin hatte er den Vampir geköpft, ihn auf eine brutale Art und Weise aus dem Leben gerissen. Dabei konnte er nicht wissen, dass meine Dankbarkeit eigentlich größer war, als meine Furcht. Die Betonung hierbei lag auf `eigentlich`. Denn obwohl ich ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre, machte mich seine Art misstrauisch. Welcher Fremde würde erst einen Mord begehen und anschließend das Opfer eines Angreifers mit zu sich nach Hause nehmen? Hinzu kam der Altersunterschied von mindestens zehn Jahren. Er machte mich nervös und ich wagte es nicht, ihn zu fragen, wieso er mich hergebracht hatte.

Noch immer spürte ich eine gewisse Schwere, die meine Glieder lähmte. Hätte mich meine Angst nicht wach gehalten, wäre ich sicher schon bald in mich zusammengesunken. Aber das durfte keinesfalls geschehen, denn ich wollte unbedingt erfahren, wer er war und was er von mir wollte.

Vorsichtig streckte der Mann seine Finger nach mir aus. Er hielt sich zurück, näherte sich mir mit Bedacht. Doch diese Tatsache konnte meine Reaktion nicht verhindern. Ich wich zurück, versuchte mich stumm von ihm zu distanzieren, um diese Situation erst einmal einschätzen zu können.

„Was hast du?“, fragte er sanft und suchte mit mir Blickkontakt.

„Bitte“, begann ich, unterbrach aber sofort meine eigenen Worte.

„Ich will dir helfen, Kleines“, meinte er und streckte mir seine Hand entgegen.

Entgeistert hockte ich vor ihm auf der Couch und schlang meine Arme um meinen Körper. Die Erlebnisse der vergangenen Zeit, hatten ihre Spuren auf mir hinterlassen und ich war keineswegs bereit einem Fremden blind mein Vertrauen zu schenken. Andererseits bedrängte er mich nicht und wartete geduldig auf mein Entgegenkommen. Wie sollte ich mit ihm umgehen? Wie ihn ansprechen, oder darum bitten, mich frei zu lassen? War ich überhaupt seine Gefangene, oder wollte er sich tatsächlich um mich kümmern?

„Du brauchst mich nicht fürchten. Wenn ich dir hätte etwas antun wollen, würdest du jetzt bereits nicht mehr leben“, brummte er ernst und stand hastig auf.

Erschrocken über eine so schnelle Regung, riss ich meinen Kopf in die Höhe und musterte ihn gespannt.

„Kleine, ich erklär dir jetzt wie das ablaufen wird: Ich verarzte dich und danach kannst du meinetwegen diese Wohnung verlassen und ich bringe dich zurück zu deinem Zuhause, wo du in Sicherheit bist.“

Meine Augen weiteten sich. Ich spürte das Brennen auf meiner Iris und wiederholte das Wort `Zuhause` mehrere Male. Ich konnte unmöglich zurückkehren. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich in dieser Welt auf mich allein gestellt war und nirgends Hilfe erwarten konnte. Da kam mir mein Retter in den ledernen Klamotten und mit dem Waffengürtel gerade recht.

„Ich kann nicht zurück“, konterte ich kleinlaut.

Verwundert schaute er zu mir hinüber. Er hatte einen gewissen Abstand zwischen uns gebracht und griff nun beherzt nach einer Bierflasche, die auf dem Fensterbrett in der Sonne stand. Er nahm einen kräftigen Schluck und stöhnte.

„Ich hasse warmes Bier“, entgegnete er.

„Wieso kannst du nicht zurück?“, harkte er nach.

Anfangs befürchtete ich, er würde mein Wispern nicht vernommen haben.

„Das ist meine Angelegenheit. Ich habe Sie nicht darum gebeten mir zu helfen“, rief ich harscher als gewollt.

Der Fremde zwang sich zu einem Lächeln und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Interessant. Darf ich das mal eben zusammenfassen? Ich finde also ein kleines Mädchen bei aufkommender Dunkelheit, allein in einer Gasse. Sie wird angegriffen, beinahe umgebracht und scheinbar von niemandem vermisst. Sie selbst sehnt sich aber auch nicht nach ihrer Familie. Das bringt mich zu zwei Vermutungen: Erstens, du bist ein Streuner, der von zu Hause weggelaufen ist, weil Mama und Papa es dir nicht Recht machen konnten, oder zweitens und das ist wahrscheinlicher, du bist einfach lebensmüde, dich in dieser Gegend herumzutreiben.“

Ich starrte ihn an.

„Das war mehr als geschmacklos“, tadelte ich ihn und setzte mich auf.

Der brennende Schmerz an meiner Kehle ließ mich zusammenzucken und meine Finger wanderten automatisch zu der Wunde hinauf. Ich spürte deutlich wie das Blut langsam mit Trocknen begann.

„Mag sein, da du mir allerdings nicht antwortest, muss ich anscheinend kreativ werden und mir etwas zusammenreimen“, erklärte er.

Er setzte sich neben mich und begann ohne Vorwarnung mit einem feuchten Tupfer meine Wunde zu säubern.

„Raus mit der Sprache, Kleines. Was ist passiert?“

Er verlangte nach einer Antwort und das, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich ihm die Vampire erklären sollte.

„Das haben Sie doch gesehen, ich wurde angegriffen“, gab ich zu verstehen und rutschte ein Stück beiseite.

Sein Lächeln ging in ein Schmunzeln über. Anschließend presste er seine Lippen so fest aufeinander, dass lediglich ein dünner Strich zu erkennen war. Er rang mit sich. Er wollte es aus mir herausquetschen, wusste aber scheinbar nicht wie er die Sache angehen sollte.

„Na schön. Ich habe keine Zeit für diese Spielchen. Letzte Chance: Entweder du erzählst mir, was genau geschehen ist, oder du kannst dich von mir aus gerne vom nächsten Hochhaus stürzen, denn da draußen wirst du eine wandelnde Zielscheibe sein. Wer auch immer es auf dich abgesehen hat, sie werden zurückkehren und nach dir suchen!“, sagte er und stand auf.

Er deutete auf den Ausgang und überließ mir die Wahl. Ich erhob mich, würdigte ihn keines Blickes und stolzierte davon.

Als ich die Tür schon beinahe erreicht hatte, vernahm ich seine Stimme.

„Dummes Mädchen, du rennst in den sicheren Tod“, japste er, wollte mich aber nicht aufhalten.

Nervös drückte ich die Klinke nach unten.

„An deiner Stelle würde ich diese Wohnung nicht verlassen!“, keuchte er.

„Soll das eine Drohung sein?“, drang es aus meinem Mund.

Der Fremde schüttelte seinen Kopf.

„Keineswegs, eher ein Tipp. Wenn du da raus gehst, ehe deine blutenden Wunden verschwunden sind, werden dich die Vampire finden und in Stücke reißen. Vampire sind immerhin die perfekten Jäger. Sie geben ihre Beute niemals auf.“

„Es ist wohl zu spät dafür, zu behaupten, dass es so etwas wie Vampire nicht gibt, korrekt?“, fauchte ich und öffnete die Tür.

Sofort stand er neben mir, drückte seine Handfläche gegen das Holz und versperrte mir den Weg.

„Wieso willst du ein solches Risiko eingehen, wo ich dir Schutz bieten kann?“

Sein Blick durchbohrte mich, sodass ich beinahe keine Luft mehr bekam. Ich starrte ihn an, forderte ihn durch meine neckische Art heraus.

„Ich kenne Sie nicht und soll Ihnen vertrauen? Wer ist hier dumm?“, konterte ich und versuchte unter seinem Arm hindurch zu schlüpfen.

„Sei nicht albern und überdenke deine törichte Entscheidung. Sobald du dieses Haus verlässt, werde ich dich diesen Raubtieren überlassen“, versicherte er mir.

Ich zögerte keine weitere Sekunde. Seine Worte klangen in meinen Ohren wie eine reine Lüge und das, obwohl mein Herz mir offenbarte, dass es die Wahrheit war. Ich hatte keine Ahnung, was Berlin für mich bereithalten würde, oder ob ich in meiner Verfassung irgendwo Fuß fassen könnte. Fakt war allerdings, dass ich keinesfalls bei einem Mörder verweilen wollte.

Auf einmal spürte ich seine Finger an meinem Arm. Sie legten sich darum, drückten behutsam zu und zerrten mich gegen meinen Willen zurück in seine Wohnung. Da war er also, der Moment, der mir alles abverlangen sollte. Der Psychopath direkt neben mir, nahm mir die Macht über meine Entscheidung und meine Freiheit. Die Tür fiel ins Schloss und eh ich mich versah, fand ich mich auf seiner Couch wieder. Ich schrie so laut ich konnte. Ihn kümmerten seine Nachbarn scheinbar nicht, immerhin ließ er meinen Wiederwillen zu.

„Bitte, lassen Sie mich einfach gehen“, appellierte ich an sein Gewissen.

Der Fremde fuhr sich durch seine dunklen Locken, strich sie nervös zurück und runzelte die Stirn.

„Was mach ich jetzt nur mit dir?“, rief er Gedankenverloren und jagte mir damit einen Schauer über den Rücken.

„Bitte“, wimmerte ich und drückte mir einige Tränen heraus, um ihn von meiner Furcht zu überzeugen.

Insgeheim jedoch, hatte ich mich bereits nach einem griffbereiten Gegenstand umgeschaut, um mich, wenn nötig, verteidigen zu können.

„Hör auf, mich anzuflehen. Ich sagte dir bereits, dass ich dir nur helfen will“, schrie er lautstark und brachte mich unweigerlich zum Schweigen.

Die Stille hielt für einen kurzen Moment.

„Was Sie da tun, nennst sich Freiheitsberaubung!“, erklärte ich ihm.

Der Mann sah mich an und ein Grinsen schob sich auf seine Lippen. Er brach in Gelächter aus und klopfte sich auf den Oberschenkel.

„Das ist verdammt noch mal nicht witzig. Ich will sofort gehen. Lassen Sie mich hier raus. Hilfe, so ein Irrer hält mich in seiner Wohnung gefangen!“, kreischte ich und sprintete hinüber zur Tür.

Ich rüttelte an ihr. Scheinbar hatte er sie ohne mein Wissen verschlossen.

„Faye, beruhige dich!“

Seine Worte umfingen mich wie eine Ohrfeige. Erstaunt schaute ich zu ihm hinüber. Seiner Miene war eine gewisse Milde zu entnehmen. Er litt. Mein Name hatte ihn aus der Fassung gebracht und dennoch war er derjenige, der ihn ausgesprochen hatte.

„Woher kennen Sie mich?“, fragte ich zaghaft und lehnte mich an das Holz.

Der Mann griff sich an die Stirn und massierte seine Schläfen.

„Nur so nebenbei, ich bin Mick Velkan“, brachte er heraus und ließ sich auf einen Stuhl in der Essecke sinken.

„Mick“, wiederholte ich.

Der Name sagte mir nichts.

„Faye, du bist in Gefahr und darfst diese Wohnung keinesfalls ohne mich verlassen“, begann er.

„Aber warum?“, verlangte ich zu erfahren.

„Weil ich ein Jäger bin und es zu meiner Aufgabe gehört, dich zu schützen.“

„Ein Jäger? So ein Unsinn“, stammelte ich.

Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Vampire sind Wesen der Nacht. Ähnlich wie Werwölfe sind sie von der Dunkelheit abhängig. Sie ernähren sich von dem Blut eines Menschen, weil sie selbst keines in ihrem Körper produzieren können. Früher waren sie scheu und lebten zurückgezogen, wenn die Sonne aufging, doch heute ist es ihnen möglich unter den Sterblichen zu verweilen. Ihre Gene haben sich verändert und aus ihnen eine noch tödlichere Bestie gemacht. Man kann Vampire nur auf drei Arten wirklich eliminieren. Entweder man verbrennt sie, schlägt ihnen den Kopf ab, oder gibt ihnen eine Überdosis von dem Blut eines Toten. Auch ein zu hoher Silbergehalt könnte wie Gift wirken. Ein Pflock allein würde sie nicht in das ewige Grab befördern. Außerdem können sie die Menschen bezirzen und glauben lassen, was auch immer sie wollen. Verstehst du nun, worauf ich hinaus will?“

Ich schluckte.

„Nicht wirklich“, gestand ich ihm.

Ich dachte an die Szene in der Gasse. Der rollende Kopf, das viele Blut und der tote Vampir, dessen Augen mich angestarrt hatten. Mein Magen rumorte. Dieses Mal jedoch, war es die Übelkeit, die nun auch meinen Mund zum Schweigen brachte. Würgend eilte ich auf das Bad zu. Beinahe nichts kam meine Speiseröhre hinauf. Mick hielt mir dennoch sofort die Haare aus dem Gesicht. Für diese Geste war ich ihm überaus dankbar.

„Alles wieder ok bei dir?“, fragte er sanft.

Dem Schwächeanfall nahe, lehnte ich mich gegen seine Schulter. Die Angst nagte an meinen Gliedern. Ich konnte mich kaum bewegen und mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich meinem Vater tatsächlich entkommen war.

„Danke, es geht mir gut.“

Mick schüttelte aufgebracht seinen Kopf.

„Lügnerin. Dir geht es überhaupt nicht gut.“

Vorsichtig holte er mich zurück auf die Beine.

„Wann wirst du mir die Wahrheit verraten?“, warf er ein und schaute mich erwartungsvoll an.

„Wie wäre es, wenn du erst einmal deine Karten offen legst“, forderte ich, schmiegte mich aber weiterhin an ihn.

Mick führte mich zurück in sein Wohnzimmer und half mir dabei, auf der Couch Platz zu nehmen.

„Ich kenne deine Familie und beobachte sie schon eine ganze Weile. Ich denke, du weißt ganz genau, wieso ich das tue. Immerhin haben sich bereits vor langer Zeit Vampire in euer Leben geschlichen und für einen Jäger wie mich, gehört es dazu, die Menschen zu schützen. Dein Vater hat sich darauf eingelassen, aber du und dein Cousin, ihr habt keinen Vertrag unterschrieben, der euch zu Sklaven der Blutsauger macht“, berichtete er mir.

„Mein Vater hat einen Vertrag unterzeichnet?“, entfuhr es mir.

Mick nickte.

„Ein Freund hat mich auf eure Familie angesetzt. Irgendwann fiel einmal dein Name und somit wusste ich von Anfang an, wen ich in der Gasse vor mir hatte und dass es von höchster Wichtigkeit war, dich zu schützen“, erklärte er gestikulierend.

„Ja, aber warum? Was ist an mir so besonders?“, wollte ich wissen.

„Das Blut, das in deinen Adern fließt. Faye, du entstammst einer Familie, deren Geschichte viele Geheimnisse beinhaltet. Glaub mir, ich bin bereits seit Jahren dabei, das Rätsel um euer Erbe zu lösen, allerdings ist es schwerer als vermutet.“

Ich räusperte mich.

„Vor wem fliehst du, Kleines?“, fragte er.

Meine Lippen bebten.

„Vor meinem Vater“, konterte ich und schaute ihm tief in seine blauen Augen.

„Dein Vater war all die Jahre ein rechtschaffender Mann. Was hat dich also dazu getrieben, seine Villa zu verlassen und somit die Gefahr einem Vampir zum Opfer zu fallen, in Kauf zu nehmen?“

Er wartete gespannt auf eine Antwort. Mick schien von meinem Vater viel zu halten, deshalb würde ihn die grausame Wahrheit sicher überraschen. Konnte ich sie ihm wirklich anvertrauen? Für wen arbeitete er? Welcher so genannte `Freund` hatte Mick auf meine Familie angesetzt? Mir erschien sein Interesse unnachvollziehbar, sodass ich zögerte.

„Was ist nun?“, harkte er weiter nach.

Er drängte mich förmlich dazu, ihm alles zu beichten.

„Wir haben uns gestritten“, begann ich und suchte nach einer passenden Lüge.

Mick zog die Luft ein, als wäre sie seine persönliche Droge. Er ergriff meine Hand und knetete sie. Ein wohltuendes Gefühl umspielte meine Haut und ich entspannte mich.

Seine Miene hatte etwas Ehrliches und Aufopferungsvolles an sich. Die dunklen Augenbrauen, die blaue Iris, die wohl geformten Lippen, die Wangenknochen und das spitze Gesicht. Sein Blick durchlöcherte mich förmlich und trotzdem fühlte ich mich sicher. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass er solch eine Wirkung auf mich ausübte? Ich seufzte.

„William Stuart ist ein Mann, der seine eigenen Prinzipien verraten hat. Als er zum ersten Mal seinen Partner mit nach Hause brachte, weckte dessen Erscheinung meine Neugierde. Damals konnte ich nur Vermutungen aufstellen und glaubte nicht an die Existenz von Vampiren. Ich forschte nach, verglich die Merkmale und entschied mich, endlich die Wahrheit über meinen Vater und dessen Arbeit zu erfahren. Um dies zu erreichen, musste ich mich in sein Zimmer schleichen. Dort fand ich einige Unterlagen und Mappen, die mir sein Geheimnis offenbarten“, setzte ich an.

„Was hast du gefunden?“

Ich schnaubte verachtend.

„Akten von Menschen, fein säuberlich nach Alter und Blutgruppe sortiert. Ich las mir ihre Namen durch, übersetzte die unterschiedlichen Sprachen, konnte mir aber nichts zusammenreimen. Mein Vater bemerkte, dass ich ohne seine Einwilligung seinen Raum betreten hatte und beorderte mich zu sich. Er drängte mich zur Einsicht, doch ich gab meinen Spionageeinsatz nicht zu. Sein Partner verlor irgendwann die Kontrolle und eines führte zum anderen. Plötzlich stand mir ein hasserfüllter Vampir gegenüber, der seine Fänge stolz präsentierte und keine Furcht vor den Konsequenzen empfand.“

Mick legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter.

„Was passierte dann?“

„Mein Vater stellte mich vor die Wahl und erklärte mir seinen Geschäftszweig. Er belügt die hilflosen Flüchtlinge und gaukelt ihnen eine Zukunft vor. Dabei landen sie als lebendige Blutbank in den Haushalten von Vampiren und werden wie Vieh an diese Blutsauger verfüttert. Ich weigerte mich über das Leben eines fremden Menschen zu entscheiden und so nahm er mir meine Freiheit.“

Ein Schluchzen entkam meiner Kehle, ich konnte es nicht unterdrücken.

„Er sperrte mich in unserem Keller ein. Eine dunkle Kammer, mit massiven Wänden wurde zu meinem Gefängnis. Anfangs dachte ich, er wäre etwas über das Ziel einer normalen Bestrafung hinausgeschossen, doch als er immer seltener kam, wurde mir langsam klar, dass ich keine Menschenseele mehr auf meiner Seite hatte. Sein Vampirpartner bekundete sein Interesse an mir und da ich meine Meinung nicht änderte, übergab er mein Leben diesem Monster.“

Meine Stimme brach ab. Ich wirkte so weinerlich, dass ich den Versuch Hass und Trauer zu unterdrücken, unterließ. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich mich diesem Fremden anvertraute. Es tat gut, mit jemandem darüber zu sprechen.

„Wie konnte er nur?“, die Worte waren einfach raus.

Aber nicht meine Lippen brachten sie zu Stande. Es war Mick, der mich entgeistert betrachtete und wütend seine Einrichtung auseinander nahm.

„Dieser Bastard! Du bist seine Tochter!“, schrie er und riss eine Vase vom Tisch.

Er hatte sich so schnell erhoben, dass ich blinzeln musste, um festzustellen, ob ich es mir nur eingebildet hatte.

Ich erschrak für einen kurzen Augenblick, versuchte ihn aber anschließend zu beruhigen.

„Das ist unwichtig. William, ist nicht länger mein Vater“, konterte ich.

Mick schaute mir in die Augen, so tief wie es noch keiner zuvor getan hatte. Ich glaubte, er könnte meine Gedanken lesen, denn er starrte mich nur erbost an.

„Es ist vorbei. Meine Tage in dem Zimmer sind gezählt. Verstehst du nun, warum ich nicht zurück kann? Wir haben es nicht nur mit einfachen Vampiren zu tun, sondern mit einer Organisation, die mit Menschen handelt und über Leichen geht!“

Fürsorglich strich er an meiner Wange entlang. Mick hatte solch eine Ausstrahlung, dass er förmlich meine Sinne benebelte. Das Erzählte verblasste und eh ich mich versah, kuschelte ich mich an ihn und genoss seine Nähe. Der Jäger schien überfordert mit dieser Situation, drückte mich aber dennoch an sich. Ein leichtes Zittern kroch seinen Arm herauf. Es übertrug sich auf mich, sodass ich aufsah und ihn neugierig musterte.

„Tut mir leid, es ist nur schon eine Weile her, dass sich jemand für mich interessiert hat“, gab ich kleinlaut zu.

Micks Miene war wie erstarrt, dennoch presste er mich weiter an sich. Schützende Hände umfingen mich und hoben mich empor.

„Er wird dir nicht mehr wehtun. Mach dir keine Sorgen, hier vermutet dich keiner.“

Egal, was mich in naher Zukunft auch erwarten würde, fürs Erste, schenkte ich meine Hoffnung einem Fremden, denn er schaffte es, mit meinem Herzen zu spielen. Ich war mir nicht sicher, ob es an der Tatsache lag, dass er sein Leben als Jäger beschritt, oder weil ich das Gefühl nicht loswurde, dass wir uns schon einmal begegnet waren. Ich vertraute ihm, blind und unvoreingenommen.

 

Am Vortag hatte sich nicht mehr viel zugetragen. Ich hatte mir eine warme Dusche genehmigt, ein Shirt von Mick übergezogen und anschließend meinen lang ersehnten Schlaf nachgeholt - natürlich in seinem Bett. Er war der Überzeugung, mir würde es besser bekommen, nicht die Couch zu nutzen, da die Rückenschmerzen sonst vorprogrammiert wären.

Am nächsten Morgen wurde ich liebevoll von Mick geweckt. Sofort stieg mir der Duft von Kakao und frisch gebackenen Brötchen in die Nase. Kurz darauf sprang die Tür auf und Mick stand im Rahmen. Er balancierte ein Tablett mit vielen Köstlichkeiten. Vorsichtig setzte er es auf meiner Bettdecke ab und machte wieder kehrt.

„Ist das etwa alles für mich?“

Er nickte.

„Du musst schnell wieder zu Kräften kommen“, antwortete er.

„Und wie war die Nacht auf der Couch?“, fragte ich ihn und grinste frech.

Mir war es keinesfalls entgangen, dass sein Nackenbereich verspannt wirkte. Er knetete seine linke Schulter und verzog amüsiert den Mund.

„Das gefällt dir, was? Ich opfere mich für die junge Maid und erhalte Spott!“

Er lächelte.

„Ich hatte darauf bestanden die Couch zu nehmen. Selbst schuld“, stichelte ich und biss beherzt in das belegte Brötchen hinein.

„Lecker“, schnalzte ich mit der Zunge.

Mick ging hinüber zu seinem Schrank und holte sich Wechselsachen hervor. Noch im Zimmer entledigte er sich seinem Shirt und sein muskulöser Körper kam zum Vorschein. Vor Erstaunen verschlug es mir die Sprache. Ohne Zweifel, Mick schien entweder einer bewegungsreichen Arbeit nachzukommen, oder er trainierte in seiner Freizeit. Seine Haut hatte eine mediterrane Bräune vorzuweisen und brachte den Anhänger um seinen Hals zum Strahlen.

Als er sich umdrehte und sein Shirt gegen ein graues Hemd gewechselt hatte, erkannte ich ein Lächeln auf seinen Lippen. Zum dahinschmelzen.

„Was ist?“, wollte er wissen, als ich ihn anstarrte wie ein Groupie.

Kauend versuchte ich mich vor einer Antwort zu drücken. Nun kam er gediegen auf mich zu und setzte sich auf die Bettkante. Wie eine Katze betrachtete er mich mit seinen leuchtenden, blauen Augen.

Vorsichtig beugte er sich vor. Er spielte mit mir, dessen war ich mir bewusst. Hatte er bemerkt, dass meine Phantasie mit mir durchgegangen war und ich schmachtend vor ihm saß?

Mick streckte seine Finger nach mir aus und kam näher. Ich legte das Brötchen beiseite und konzentrierte mich allein auf ihn. Er strich an meiner Haut entlang, fuhr an meinem Hals hinab und stoppte an der Wunde, die der Vampir hinterlassen hatte.

„Diese Wesen können nur zerstören“, flüsterte er und schüttelte seinen Kopf.

„Wie meinst du das?“, verlangte ich zu erfahren.

„Nichts. Ich denke, es wird schnell verheilen. Die Narben dieser Nacht kannst du mit Stolz tragen, denn du hast diesen Bastard überlebt“, gab er mir zu verstehen.

„Ich werde sie mit Furcht tragen, das ist ein Unterschied“, korrigierte ich ihn und zuckte mit den Achseln.

Ich zog meine Beine an meinen Bauch heran und umschlang sie mit meinen Armen.

„Faye, du musst lernen mit deiner Angst umzugehen, lass dich nicht von ihr beherrschen. Ich werde dir gerne dabei helfen. Diese Welt ist dein Zuhause und ob du willst oder nicht, es liegt an den Blutsaugern, ob sie dir eine Zukunft gewähren oder dich töten“, meinte er und setzte sich auf.

Er richtete seinen Kragen und deutete auf das Tablett.

„Bis ich genau weiß, was ich mit dir anstelle, wirst du hierbleiben und dich ausruhen. Ich habe etwas zu erledigen und werde gegen Abend zurück sein. Im Kühlschrank findest du alles, was du brauchst. Ruf niemanden an, bestell dir keine Pizza. Jeglichen Kontakt zur Außenwelt solltest du vermeiden!“

Ich nickte, denn ich wusste, dass er Recht hatte. Obgleich mein Verlangen mich beinahe dazu trieb, die Nummer meines Cousins zu wählen, nur um zu erfahren, ob es ihm gut ging.

„Hab verstanden“, konterte ich und griff erneut nach dem Brötchen.

Mick räusperte sich und eilte auf die Tür zu.

„Keine Sorge, irgendwann wirst du es verstehen“, gab er von sich, bevor er mich verließ.

Ich richtete mich überhastet auf und schaute ihm nach.

„Was werde ich verstehen?“, hauchte ich und hätte nur zu gerne seine Antwort vernommen.

Mick war bereits verschwunden und lediglich das Klicken des Schlosses war zu vernehmen. Dieses Geräusch brannte sich in meine Gedanken und erinnerte mich an mein Gefängnis im Keller der Villa. Ich erschauderte und schob das Essen beiseite. Vielleicht würde mir eine Mütze Schlaf dabei helfen, diesem Mick mehr zu vertrauen? Immerhin erduldeten wir einander, ohne uns zu kennen. Allerdings war es mein Anliegen Mick zu benutzen. Mal ehrlich, ich hatte kein konkretes Ziel oder einen Zufluchtsort. In Berlin wartete kein Funken Hoffnung auf mich, weshalb ich gezwungen war, dem Fremden mein Vertrauen zu schenken.

Ich ließ mich rückwärts auf sein Bett fallen und schloss meine Augen. Ich summte das Lied, was meine Mutter mir einst vorgesungen hatte und wiegte mich in den Schlaf. Ich konnte deutlich meine warmen Tränen spüren, die dem Erlebten Ausdruck verliehen, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Ich wollte mir nicht den Kopf über diesen Mick zerbrechen, dafür war ich viel zu erschöpft. In erster Linie überwältigte mich die Freude über meine Freiheit, dass ich alles andere verdrängte, sogar die Gefahr, die der Fremde mit sich brachte.

 

Das laute Hupen eines Autos holte mich zurück aus meinen Träumen. Zur Abwechslung hatte ich tief und fest geschlafen, ohne mit meiner Vergangenheit konfrontiert zu werden. Ein Blick auf den Wecker direkt neben mir, verriet mir, dass ich den halben Tag verpasst hatte. Der späte Nachmittag brachte meinen Magen erneut zum Knurren, sodass ich verschlafen aufstand und den Kühlschrank plünderte. Viel hatte mir Mick nicht da gelassen und ich fragte mich ernsthaft, ob seine Lebensmittel für uns beide reichen sollten, oder er es vorzog, auswärts zu essen. Neben etwas Gemüse und Brotaufschnitt fand ich im Gefrierfach auch eine große Ladung meiner Lieblingseissorte, welche Schokoeis mit Keksteigstückchen enthielt. Ich schnappte mir das Eis mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und suchte eine Weile vergeblich nach einem Teelöffel. Als ich jedoch keinen finden konnte, umklammerte ich die Suppenkelle, die gerade so in die Eispackung passte. Der Fernseher gegenüber der Couch war schnell eingeschaltet und so genoss ich das zart schmelzende, süße Eis und schaute mir einige Serien an.

Gelangweilt schleckte ich die Kelle ab und wischte über meine Mundwinkel. Nach einer halben Stunde hatte ich die Packung beinahe leer geräumt und meine Zunge kribbelte mit jedem weiteren Bissen. Immer wieder schaute ich zwischen der Uhr über der Essecke und der Tür, hin und her. Was sollte ich mit all der Zeit anfangen, jetzt, wo ich wieder auf den Beinen war und es mir halbwegs gut ging? Ich beschloss das Geschirr zu spülen, was sich dank meiner Fressorgie am Morgen angehäuft hatte. Ich drehte das Radio laut auf und trällerte einige Lieder. Obwohl meine Stimme grauenvoll schräg klang, versuchte ich das Radio zu übertönen. Und es gelang mir, zum Ärger der Nachbarn, die sicher gar nicht wussten, wie ihnen geschah.

Während ich dem Hausputz verfiel und alles schrubbte, was nicht angewachsen war, bemerkte ich zum ersten Mal die Kammer direkt neben seinem Schlafzimmer. Eine eiserne Tür, anders als bei den restlichen Räumen, lockte meine Neugierde heraus. Ich hatte allerdings mittlerweile gelernt, wo mich dieses Verlangen hinbrachte und ich dachte an meinen Vater und seine Drohungen bezüglich seines Arbeitszimmers zurück. Was auch immer sich hinter dieser Tür verbarg – es konnte einfach eine Abstellkammer sein – ich beschloss es zu ignorieren. Ich schwang mich auf die Couch und warf ab und an einen misstrauischen Blick über meine Schulter. Mein Herz schlug wild gegen meine Brust, als ich mir bereits die seltsamsten Dinge vorstellte, die sich dahinter befinden könnten. Vielleicht handelte es sich um ein Zimmer voller Waffen, immerhin war er ein Jäger. Oder er sammelte dort all sein Wissen in Form von alten Schriften und Büchern? Ich suchte nach einem neuen Programm und stieß auf die Werbung zu einem recht bekannten Horrorfilm. Augenblicklich lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Was, wenn es eine Folterkammer war? Bleich huschte ich erneut zu der Tür hinüber und presste mein Ohr an das Metall. Kalt und glatt schmiegte es sich an meine Haut. Was hatte ich auch erwartet zu hören? Ich rollte mit den Augen und ein Seufzer entkam meiner Kehle. Ein Lächeln schob sich auf meine Lippen und ich wendete mich ab. Im selben Moment war ein trügerisches Knacken zu vernehmen und ich wirbelte herum. Mick stand im Rahmen und beobachtete mich mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck.

„Ist die Abstellkammer wirklich so interessant?“, prostete er los und schlug sich auf den Oberschenkel.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich habe mich lediglich gefragt, was sich wohl dahinter verbergen könnte“, konterte ich kleinlaut und wich ihm aus.

„Ich dachte, du würdest schlafen, deshalb habe ich leise gemacht, um dich nicht zu wecken“, erklärte er und warf seinen Hausschlüssel achtlos auf das kleine Bücherregal.

„Nein, ich habe auf dich gewartet“, gab ich zu.

Mick betrachtete mich, schien meinen verschmierten Schokoladenmund zu bemerken und starrte sofort auf die Eispackung, die leer auf dem kleinen Tisch stand. Enttäuscht vergrub er seine Hände in den Taschen.

„Das war eigentlich nicht für dich gedacht“, brummte er.

„Entschuldige“, japste ich.

„Na gut, dann gibt es eben kein Eis zum Nachtisch“, sagte er und ließ sich auf der Couch nieder.

Ich setzte mich zu ihm, in der Hoffnung mehr über ihn zu erfahren. Mick schien daran allerdings nicht interessiert zu sein. Er schaltete einen Film ein und verfolgte die Komödie. Ich hingegen, kuschelte mich an das weinrote Kissen heran und vergrub mein Gesicht an der Couch. Die Müdigkeit nagte auf einmal an meinen Gliedern und ich glaubte, dass die Tatsache meines vollen Bauches nicht ganz unschuldig daran war. Schnarchend zog es mich in meine Träume und ich versank in einer Welt, in der ich von den Vampiren gejagt wurde.

 

Dunkels, schütteres Haar nahm mir jegliche Sicht. Jemand beugte sich über mich, umklammerte meinen Körper und hielt mich eisern an sich gepresst. Es fiel mir schwer zu atmen. Eine kühle Brise streifte meine Haut und wich sofort einem molligen Gefühl, als würde Wasser über meinen Körper fließen.

Endlich schaffte ich es, mich nach oben zu kämpfen und den Fremden von mir zu schubsen. Ich erblickte den Himmel, der vor Entsetzen Tränen vergoss. Dicke Tropfen segelten auf die Erde hinab und vermischten sich mit all dem Blut der Opfer. Ich konnte die Flüchtlinge direkt vor mir sehen. Das dunkle Mädchen winkte mir zu. Sie wirkte erheitert, regelrecht glücklich, dabei lauerte in ihrem Rücken die Gefahr. Ich wollte sie warnen, wollte schreien, als sich einer der Vampire an ihr zu schaffen machte, doch meinen Mund verließ kein einziger Ton. Das Mädchen mit den verspielten Zöpfen, ging still unter und erlag dem Durst eines Vampirs.

Erschrocken sprang ich einige Schritte zurück und beobachtete das Szenario von weitem. Jeder einzelne dieser Flüchtlinge wurde erlegt wie Vieh und ich war machtlos im Angesicht des Todes. Plötzlich spürte auch ich jemanden in meinem Rücken. Ich brauchte nicht raten, denn ich wusste, um wen es sich handelte. Sain stand mir gegenüber, mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen und besudelt von Blut. Er deutete auf das Häufchen Elend in der Ecke, was er soeben erledigt hatte. Mein Herz bekam einen Tritt verpasst und endlich schaffte es der Schrei über meine Lippen. Ein Zittern durchdrang meinen Körper und ich fiel vor der zerrissenen Leiche meines Cousins auf die Knie. Der feuchte Schlamm des Untergrundes presste sich an meine nackten Beine. Das helle Kleid, was meine Taille umspielte, färbte sich mit dem Blut von Shane, während ich mich zu ihm legte, seine Hand berührte und meinen Gefühlen freien Lauf ließ. Sein hellbraunes Haar war verklebt, das Licht in seinen azurblauen Augen war erloschen und seine Brust hob und senkte sich nicht mehr. Er hatte seine letzten Atemzüge damit verschwendet, gegen Sain zu kämpfen und war kläglich gescheitert. Ich war davon überzeugt, dass er wegen meiner Flucht sein Leben verloren hatte und drückte ihn schluchzend an mich. Als ich aufsah, erblickte ich Sain, der mich mit viel Schwung zurück auf die Beine holte. Seine weißen Fänge schossen hervor und seine Finger landeten auf meinem Körper. Sie wanderten forschend darüber, strichen über jede Unebenheit und machten es sich schließlich auf meinem Gesäß bequem. Allein die Tatsache, dass mir Sain den letzten Menschen auf der Welt genommen hatte, den ich über alles liebte, machte dies hier zu einem Albtraum. Ich brauchte keinen Weg zu wählen, denn ich hatte mich bereits entschieden, wie meine Zukunft aussehen sollte. Welche Zukunft? Lieber würde ich sterben, bevor mich Sain noch ein einziges Mal berühren dürfte. Geschwind erkämpfte ich mir meine Freiheit, drückte ihm meinen Ellenbogen in den Bauch und rannte fort. Als hätte mich die Erde verstanden, tat sich in weiter Ferne ein Abgrund auf. Dies war mein Ziel. Ich wollte sterben und zu meiner Mutter und meinem Cousin zurückkehren. Sollte dies wirklich mein Schicksal sein, so würde ich es schweigend annehmen.

Sain sprintete mir keuchend nach und versuchte mich zu erreichen. Auf den letzten Metern jedoch, schaffte ich es ihm zu entkommen. Ich stieß mich von den Klippen ab und starrte lediglich einen winzigen Augenblick in die gähnende Tiefe. Dann ließ ich mich fallen und segelte hinab wie eine Feder. Als würde hier die Zeit keineswegs vorherrschen, als wären meine Qualen unendlich, als wäre mir kein Ausweg erlaubt.

 

Schwer atmend erwachte ich. Micks Stimme bohrte sich in meine Gedanken, doch ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was geschehen war. Der Traum erschien mir als real und nun blickte ich mich orientierungslos um und erkannte, dass ich das Kissen verkrampft festhielt und auf den Boden gerollt war. Mick hatte mich scheinbar an sich gezogen und meinen Kopf vor einem Aufprall bewahrt.

„Alles in Ordnung bei dir? Faye?“, fragte er immer wieder.

Er strich an meiner Wange entlang und schaute besorgt zu mir hinab. Ich nickte schwach und richtete mich in seinen Armen auf.

„Ein Albtraum“, brachte ich hervor.

Mick half mir dabei mich aufzusetzen, ließ mich aber keinen Moment aus den Augen.

„Das war weit mehr als ein einfacher Albtraum. Du hast einen Namen geschrien, panisch um dich geschlagen und meine halbe Einrichtung auseinander genommen.“

Er deutete auf das, sich hinter der Couch befindende Bücherregal. Die Vasen, sein Schlüssel und mehrere Bücher hatten meinen Traum scheinbar nicht unbeschadet überstanden.

„Sorry“, brummte ich.

„Wir sollten wirklich darüber reden“, verlangte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Über was?“, fragte ich.

„Über diesen Shane, der dir am Herzen liegt und über Sain, der dich jagt“, erwiderte Mick.

Ich holte tief Luft.

„Shane ist mein Cousin, dank ihm konnte ich vor Sain und meinem Gefängnis fliehen. Nun befürchte ich, dass Sain ihm etwas antun könnte. Ich will ihn nicht verlieren!“, konterte ich.

„Verständlich“, warf Mick ein.

„Ich verspreche dir, ich werde einen Freund auf ihn ansetzen. Er wird sich etwas umhören und nach deinem Cousin Ausschau halten.“

Ich starrte Mick verwundert an. Eh er sich versah, fiel ich ihm vor Dankbarkeit um den Hals. Schließlich erhob er sich und stolzierte zu den Einkaufstüten hinüber, die er zuvor mitgebracht hatte.

„Das ist für dich“, sagte er und warf sie mir vor die Füße.

Ein Kleid rutschte hervor. Neugierig öffnete ich sie und entdeckte mehrere Oberteile, Hosen und Kleider, die er scheinbar für mich gekauft hatte.

„Was ist das?“, erkundigte ich mich.

„Denkst du ernsthaft, ich lasse dich weiterhin in diesen Lumpen herumlaufen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, bemerkte ich verlegen und hielt mir das Kleid an die Brust.

Von der Länge her schien es perfekt zu passen, auch wenn mir der Stil ein wenig altmodisch und verspielt erschien.

„Wie wär’s mit einem Dankeschön?“

Ich lächelte.

„Danke“, hauchte ich.

 

Erst zur Mittagszeit erwachte ich aus einer langen Traumphase. Mick hatte mir einen Tee vor dem Schlafengehen zubereitet und Gott sei Dank hatte ich dadurch, scheinbar keinen Albtraum gehabt. Die Ruhe selbst, schlüpfte ich in eines der neu gekauften Kleidchen hinein und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Gähnend stolzierte ich an Mick vorbei und ging im Bad meiner morgendlichen Hygiene nach.

Mittlerweile lebte ich seit knapp einem Monat hier und trotzdem wusste ich kaum etwas über meinen Gastgeber. Er duldete meine Anwesenheit, ließ mich aber oft allein. Als Jäger schien er kaum die Zeit zu finden einem normalen Job in der Menschenwelt nachzugehen, was mich schon mehr als einmal misstrauisch gemacht hatte. Dennoch entschied ich mich dazu, es langsam angehen zu lassen, den Micks Loft war mein einziger Zufluchtsort.

Als ich das Bad verließ, brachte ich ein leises „Morgen“ hervor.

„Du kannst nicht jeden Tag in der Wohnung bleiben, da versäumst du dein Leben“, stellte er fest und reichte mir ein Glas Milch.

Dankbar nahm ich es entgegen und setzte es an meine Lippen heran.

„Was sollte ich da draußen wollen? Um vor Sain in Sicherheit zu sein, müsste ich Deutschland verlassen. Erst dann wage ich mich wieder auf die Straße“, konterte ich und wischte mir den Milchbart von der Haut.

„Wie sieht es bei dir mit Schule aus?“, fragte er neugierig.

„Mein Vater hat mich abgemeldet und meinem Direktor eine plausible Lüge aufgetischt“, erklärte ich ihm und ließ mich an der Theke auf einem Barhocker nieder.

„Schule ist wichtig für deine Zukunft und wir sollten ernsthaft nach einer Lösung für dieses Problem suchen“, warf er ein und wartete geduldig auf eine Reaktion von mir.

„Versteh mich nicht falsch – ich liebe die Schule – aber ich fürchte mich vor meinem Vater“, antwortete ich.

Mick seufzte.

„Tut mir leid, dass du es mit mir so schwer hast. Danke, dass du mir hilfst damit umzugehen“, stammelte ich.

Mick zog eine Augenbraue in die Höhe.

„De Nada“, antwortete er. Ich runzelte die Stirn.

„Was bedeutet das?“

Mick nahm sich eine Schürze vom Hacken.

„Nichts zu danken“, erklärte er mir.

„Ist das Spanisch?“, fragte ich verwundert und gleichzeitig erstaunt.

Er bestätigte meine Vermutung.

„Ich bin viel herumgekommen und habe mir so manche Sprache angeeignet. Spanisch ist wirklich interessant und der Klang der Worte faszinierend. Du könntest diese Sprache in der Schule lernen, wenn du sie weiterhin besuchen würdest.“

Versuchte er mich etwa zu ködern, damit ich meine Meinung änderte?

„Ich habe es nicht so mit Spanisch. Meine Familie lernte mir allerdings schon sehr zeitig Englisch, da wir ursprünglich aus Amerika hier hergezogen sind. Mein Vater übernahm nach dem Tod von Opa sein Erbe und ich denke, das war der einzige Grund die Staaten zu verlassen.“

Der Jäger suchte einige alte Kochbücher heraus. Der Tresen wirkte auf mich wie die Essensausgabe in einer Schulcafeteria, nur, dass alles stilvoller eingerichtet war.

„Deshalb heißt du also Faye? Ist dieser Name überhaupt typisch für Amerika?“

Verlegen schüttelte ich den Kopf.

„Nein, keine Ahnung, was sich meine Mutter dabei gedacht hat. Aber Shane erkennt man in Deutschland wohl sofort.“

„Untypische Namen zeichnen einen starken Charakter aus“, sagte er.

„Möchtest du etwas essen? Die Kochbücher liegen parat“, fügte Mick hinzu.

Ich berührte meinen Bauch, rieb darüber und nickte.

„Ja gerne, Nudeln wären toll.“

Mick holte Pfannen und Töpfe hervor und zauberte mir eine Mahlzeit. Ich hingegen schaute ihm gespannt dabei zu, da ich es in meiner Kindheit stets vorzogen hatte, mit meiner Mutter zu kochen und ich an die vielen wunderbaren Stunden mit ihr erinnert wurde. Nach einer halben Stunde präsentierte er mir mein Mittag und ich schlang das Essen hinunter, als hätte ich seit Monaten nichts zwischen die Zähne bekommen. Zu den Nudeln gab es eine Tomatensauce, gewürzt mit Zwiebeln und Pfeffer. Er hatte etwas Dosenfleisch und Gemüse angebraten und zusammen mit viel Goudakäse darüber gegeben.

„Willst du etwa nichts?“, fragte ich und kaute munter weiter.

„Nein, danke. Ich muss sowieso gleich verschwinden und zu einem Treffen gehen. Ein befreundeter Jäger verlangt nach mir und da möchte ich ungern nach Knoblauch riechen.“

Vielleicht wollte er aber auch nur seine Freundin treffen? Immerhin war er ein gutaussehender Mann, so jemanden würde wohl keine Frau von der Bettkante stoßen. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass er bei all dem Jägerdasein keine Zeit für eine Freundin fand. Ich meine, man beachte einfach seinen durchtrainierten Körper, die fantastischen blauen Augen, die dunklen Brauen, die sich zumeist hinter seiner Lockenpracht verbargen und die Grübchen, wenn er lächelte. Er war der Typ Mann, der einen zu schützen vermochte und einen auf Händen trug. Wie kam es also, dass er ausgerechnet mit mir – einem minderjährigen Mädchen – so viele Stunden verbrachte?

Ich errötete bei dieser Vorstellung und stopfte mir einen weiteren Löffel Spaghetti in den Mund. Ich sollte wirklich aufhören so viele Filme und Serien zu schauen, die machten mich beeinflussbar.

„Wann wirst du zurück sein?“

Mit großen Augen schaute ich ihn an.

„In ein, zwei Stunden. Mach dir keine Sorgen.“

Das sagte er so leicht. Seufzend warf ich meine blonden Locken über die Schulter, da mich die Strähnen im Gesicht verrückt machten.

„Ich schau derweil fern“, schlug ich vor.

„Eine andere Möglichkeit hast du nicht“, konterte er.

Mick griff sich seine Sachen und verabschiedete sich von mir. Die Tür fiel ins Schloss und ein unbehagliches Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Allein. Etwas beunruhigte mich. Es mochte an dem Tag liegen, denn der Sonnenschein erinnerte mich an die Stunden meiner Flucht. Vielleicht schlug mir aber auch lediglich die große Portion Spaghetti auf den Magen.

 

Treu wartete ich auf Micks Rückkehr, denn eine andere Freude, als seine Präsenz, war mir in meinem Leben nicht geblieben. Mein Blick fiel immer wieder auf das Telefon neben der Essecke und ich spielte mit dem Gedanken, einen Anruf zu tätigen. Ich musste einfach erfahren, ob es Shane gut ging. Die wöchentliche Bestätigung von Mick war mir nicht genug. Mir fehlte mein Cousin und die Tatsache, dass er mich in meinen Träumen verfolgte, machte es nicht besser. Mick hatte mir verboten sein Telefon zu nutzen und dennoch wählte ich die Handynummer von Shane. Ich nahm den Hörer in meine Hand und presste ihn fest an mein Ohr heran. Ich wollte kein einziges Wort von ihm versäumen, auch wenn ich ihm nicht antworten könnte.

„Hallo? Hier Shane Stuart“, sagte er am anderen Ende.

Mein Herz schlug gegen meine Brust und ein unbeschreibliches Glücksgefühl jagte durch meinen Körper.

„Wer ist da?“, harkte er nach.

Ich schwieg. Lediglich mein aufgeregtes Keuchen war zu vernehmen.

„Faye, bist du es?“, fragte er sanft.

Mit Tränen in den Augen legte ich auf. Ich huschte zur Couch hinüber und ließ mich auf die Kissen sinken. Es ging ihm gut. Allein, dass er meinen Namen ausgesprochen hatte, mit so viel Sehnsucht in der Stimme, ließ mich innerlich vor Freude schreien. Irgendwann würden sich unsere Wege kreuzen und ich würde ihn wiedersehen.

Ich beschloss dem Fernsehprogramm eine Weile zu folgen und lenkte mich mit einer Comedyserie ab.

Schließlich wurde es dunkel und ich schloss müde meine Lider. Dem Halbschlaf verfallen, spürte ich auf einmal seine Berührung. Ich bemerkte, wie er mir liebevoll durchs Haar strich und mich dann vorsichtig zum Bett trug. Ich ließ alles geschehen und gaukelte ihm weiterhin vor, ich würde fest schlafen. Ich fühlte einen Luftkuss, den mir Mick entgegenhauchte und der meine Stirn erreichte.

„Ihr Menschen seid so verletzlich. Solch kostbare Geschöpfe, die nur so kurz leben dürfen“, flüsterte er vor sich hin.

Etwas Warmes streifte mich und das Verlangen danach zu greifen war geweckt. Ich wartete bis Mick dieses Zimmer verlassen hatte und wischte mir den seltsamen Tropfen aus dem Gesicht. Er schmeckte salzig, sodass es sich um eine Träne handeln musste und ich mir die Frage stellte, wie er diese Worte meinte und was ich ihm bedeutete. War es tatsächlich nur Nächstenliebe, oder verband uns etwas, worüber ich nicht Bescheid wusste?

 

Ein Albtraum hatte mich bereits in den frühen Morgenstunden geweckt. Vergeblich hatte ich in der Wohnung nach Mick gesucht, ihn aber nicht finden können. Schmunzelnd dachte ich an Mick, der mich am Abend in sein Schlafzimmer getragen und sicher vermutet hatte, ich würde schlafen. Stattdessen hatte ich jedes seiner Worte vernommen und nun ging mir seine Aussage nicht mehr aus dem Kopf.

Gelangweilt drehte ich eine Strähne zwischen meinen Fingern und griff nach einem belegten Brötchen, das er für mich im Kühlschrank hinterlassen hatte. Sehnsüchtig schlenderte ich zum Fenster hinüber und beobachtete die Menschen und ihr Treiben auf den Straßen Berlins. Es hatte durchaus Tage gegeben, an denen ich mein Gesicht an die Scheibe quetschte, von Furcht vereinnahmt und nach ihm Ausschau hielt. Nach einem Monat in der gleichen Wohnung und eindeutig zu viel Fernsehen, war ich kurz davor durchzudrehen. Mick war kein besonders guter Gesprächspartner und mir fehlte die Abwechslung in meinem Leben. Ich betrachtete das Kleid, was ich heute gewählt hatte und zupfte an der Spitze herum, die den unteren Rand verzierte. Das himmelblaue Kleid reichte bis zu meinen Knien und hatte Puffärmel, die mich an eine Prinzessin erinnerten. Es war dummerweise das letzte im Schrank, was ich anziehen konnte, weil Mick es keineswegs vorzog einmal die Woche die Waschmaschine anzuwerfen. Nie zuvor wurde eine solche Handlung von mir verlangt, doch ausgerechnet heute, stopfte ich all meine Kleidungsstücke hinein und versuchte mein Glück. Die Knöpfe waren eigentlich Idiotensicher, immerhin stand auf jedem ein Wort, was den Waschgang beschrieb. Da ich keine Ahnung hatte, wie viel Weichspüler ich hinzugeben sollte, hielt ich mich an die Regelung `Viel – hilft viel`. Danach kehrte ich in sein Wohnzimmer zurück und wartete auf seine Rückkehr.

Hibbelig spielte ich mit der Fernbedienung und malte mir erneut alle möglichen Dinge über das seltsame Zimmer in meinem Rücken aus. Es gab so viel, was ich über Mick nicht wusste und das ließ mein Vertrauen schwinden.

Natürlich fragte ich mich, was es mit seinem verschlossenen Zimmer, dem Jäger – Dasein und der Zeit, in der er einfach verschwand, auf sich hatte. Es brachte nichts sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn er würde es mir gewiss niemals offenbaren. Andererseits war ich keinesfalls bereit, mich in seine Angelegenheiten einzumischen. Ich hasste zwar seine Geheimnisse, die unmittelbar im Raum standen, trotzdem vermied ich es, ihn in die Enge zu treiben, um sie zu erfahren. Ich hatte durch das Erlebnis mit meinem Vater gelernt, meine Neugierde unter Kontrolle zu halten und würde auch bei Mick nicht einknicken. Im Grunde waren wir uns näher gekommen, als ich erhofft hatte. Er wusste scheinbar alles über meine Geschichte, ich hingegen, kannte lediglich seinen Job als Jäger, den er vorzugsweise nachts beschritt, wenn die Vampire am aktivsten waren. Oft kam er Blut besudelt nach Hause, duschte und schleppte sich mit kleineren Wunden durch die Wohnung. Am Morgen darauf fand ich zumeist seine zerrissene Kleidung, oder ganze Aschereste seiner Opfer. Es war zum verrückt werden. Da draußen gab es eine Welt, von der ich nicht das Geringste wusste und bei allem, was mit ihm geschah, wollte ich auch nichts darüber erfahren. Wieso war ich damals so blind für das Offensichtliche gewesen und hatte die Grausamkeit nicht erkannt? Sain war mein erster Vampir, den ich entlarvt hatte und trotzdem blieb dieses unbehagliche Gefühl in meiner Magengegend jedes Mal, wenn sich Mick mir näherte. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem seine Geheimnisse mein aufgebautes Vertrauen zerstören könnten und ich betete, dass es dazu niemals kommen würde.

Der schrille Ton der Klingel riss mich aus meinen wirren Gedanken. Langsam trottete ich zur Tür und schaute durch den Spion.

Ein Schatten mit breiten Schultern formte sich vor meinen Augen zu einem stattlichen Mann, der mir nicht unbekannt war. Zu meiner eigenen Überraschung handelte es sich keineswegs um Mick.

„Sain“, hauchte ich erschrocken.

Wie hatte er mich gefunden? Das war nicht möglich! Ich kniff mir in den Arm, um festzustellen, ob dies einer meiner Albträume war. Als seine Stimme sich jedoch erneut in meinen Kopf bohrte und der Schmerz in meinem Arm mich zurück aus meinen kranken Vorstellungen holte, stockte ich unweigerlich den Atem. Zaghaft entfernte ich mich von der Tür und eilte hinüber in die Küche. Ich riss die oberste Schublade auf und zog ein langes Messer heraus. Ich umklammerte den hölzernen Griff und hielt es verkrampft fest. Mir war klar, dass es mich keinesfalls vor dem Übergriff eines Vampirs schützen könnte, dennoch würde ich ihm nicht wehrlos ausgeliefert sein.

„Faye, ich weiß, dass du da drinnen bist! Glaubst du ernsthaft wir hätten nicht alles versucht, um dich zu finden? Das Telefon wurde abgehört und als du deinen geliebten Shane angerufen hast, brauchten wir nicht lange, um zu verstehen, dass nur eine Person eine solche Sehnsucht verspüren würde!“

Während dieser Bastard große Reden schwang, steuerte ich geradewegs auf das Bad zu. Leise schloss ich hinter mir die Tür. Dies war der einzige Raum, der für Sain ein zumindest kleines Hindernis darstellen würde. Barfuß setzte ich mich in die Badewanne und hielt das Messer zitternd in meinen Händen. Sollte er kommen, ich war bereit.

„Faye zum letzten Mal: Mach die Tür auf!“, schrie er erbost.

Ich ignorierte ihn.

Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken und verriet mir gleichzeitig, dass er die erste Hürde genommen hatte. Der Krach hatte sicher einige Nachbarn alarmiert und in meinem Innersten betete ich, dass sie die Polizei rufen würden.

„Wo bist du, mein kleiner Engel? Komm raus und lass uns spielen“, sagte er mit rauer Stimme und lief durch die Wohnung.

Ich konnte seine Schritte auf dem Parkett deutlich vernehmen und zog schaudernd meine Beine an meinen Körper heran. Ich lauschte dieser unverkennbaren Stille, die mich umgab und deutete jedes Geräusch als ein Zeichen seinerseits. Schließlich blieb der Vampir instinktiv vor dem Badezimmer stehen und klopfte an das Holz.

„Lass mich rein, Faye.“

Die Badewanne wurde zu meinem Vertrauten. Mit bebenden Lippen versuchte ich meine Lungen mit Luft zu füllen, aber mein Körper schien zu schwach zu sein. Das Entsetzen stand mir ins Gesicht geschrieben, als er mit einem Ruck die Tür aus den Angeln riss und seinen gierigen Blick auf mich richtete.

„Da bist du ja.“

Erstarrt schaute ich zu ihm hinüber.

„Lass mich in Ruhe!“, rief ich panisch.

„Wieso sollte ich? Laut deinem Vater habe ich alles Recht der Welt, dich zu holen, denn du gehörst mir“, konterte er.

In schnellen Schritten kam er auf mich zu. Seine Pupillen stachen besonders abscheulich hervor, denn sie erstrahlten in einem dunklen Rot.

Rot wie das Blut, was er sich von mir erbeuten wird, dachte ich.

„Verschwinde! Du Dreckskerl!“, schrie ich.

Meine Stimme brach ab und ging in ein Kreischen über. Kein Ton war deutlich zu verstehen. Von Wut gepackt, fuchtelte ich mit meinem Messer vor ihm herum. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es gegen jemanden von seiner Art nutzen könnte. Aber mich einfach so geschlagen zu geben, kam mir nicht in den Sinn.

„Komm schon, Kleines“, rief er und leckte mit seiner Zunge über die Zähne, welche soeben aus seinem Kiefer geschossen waren.

„Bleib mir fern!“, zischte ich.

Sain näherte sich mir mit solch einer Geschwindigkeit, dass ich blindlings meine Klinge in sein Fleisch grub. Ich erwischte ihn am Arm und er durchlitt nicht einmal ansatzweise jenen Schmerz, den er mir in den Wochen zugefügt hatte.

„Miststück! Das hättest du nicht tun sollen!“, keuchte er und drückte auf die Wunde.

Nur einen Augenblick später war seine Haut bereits verheilt. Meine Attacke hatte mir keine Pluspunkte eingebracht. Wie ein Tier kam er Zähnefletschend auf mich zu. Sein schwarzes Haar strich er mit jedem Schritt ordentlicher zurück. Um mich einzuschüchtern, zerlegte er gekonnt Micks Einrichtung. Der erste Stuhl flog gegen die Wand und zerbrach unter all der Last. Der Glastisch verteilte sich auf dem Boden. Irgendwann spürte ich einen Widerstand in meinem Rücken und wusste, dass es kein Entrinnen mehr gab.

„Bitte! Warum hilft mir denn keiner! HILFE!“, schrie ich so laut ich konnte.

Im nächsten Moment landeten seine Finger auf meinen Lippen, die mich sofort zum Schweigen brachten. Schluchzend wand ich mich unter seinen Händen. Er drückte mich grob gegen die kalte Wand und riss an meiner Kleidung. Seine Fingernägel waren zu spitzen Waffen geworden und von seinen Zähnen wollte ich gar nicht erst anfangen. Ich versuchte ihn wegzustoßen, doch mein Wunsch nach Freiheit wurde nicht erhört. Vorsichtig strich er mein Haar zur Seite und legte meinen Hals frei. Seine Gier nach Blut konnte man in seinen Augen ablesen. Er verzehrte sich danach, mir erneut den Verstand zu rauben. Seine Fänge kamen meiner Kehle immer näher und schließlich durchbohrten sie meine Haut. Blut rann an der Wunde hinab und tropfte warm auf mein Kleid. Die helle Farbe des Stoffes vermischte sich mit dem dunklen Rot und erinnerte mich an eine Rose, die ihre blutigen Tränen vergoss. Der Geruch von Metall brannte sich in meine Erinnerungen. Wärme umfing mich, die allerdings keineswegs von ihm ausging. Ich spürte wie meine Beine den Halt verloren und ich regelrecht kämpfte, um bei Bewusstsein zu bleiben. Der Schock war zu viel und die Tatsache, dass ich ihm hilflos ausgeliefert war, machte es nicht besser.

Langsam verließen mich meine Kräfte. Ich wurde immer schwerer in seinen Armen. Sain genoss derweil meine Lebensenergie und schmatzte vor sich hin. Genüsslich leckte er über die Wunde und lächelte verachtend.

„Endlich bist du mein“, flüsterte er mir ins Ohr und zerrte mich fester an sich.

Ich hatte ihm nichts mehr entgegen zu setzen. Schlaff hingen meine Arme hinab. Die Bewusstlosigkeit nagte an meinen Gliedern. Gab es für mich überhaupt einen Grund weiterzuleben?

Shane! Wir wollten einander wiedersehen. Ich musste es zumindest versuchen, dieses Versprechen einzulösen.

Mick! Der Fremde, der mich behütet hatte und sich um mich sorgte. Sie waren in all der Zeit für mich dagewesen und hatten alles riskiert, um mich zu schützen. Sie bedeuteten mir die Welt und ich hatte mir scheinbar auch einen Platz in ihrem Herzen erkämpft. Sollte ich nun alles aufgeben?

„Mick“, hauchte ich.

Sain runzelte die Stirn. Er starrte hinab zu mir und stupste mein Kinn nach oben.

„Mick, wer? Etwa dieser Velkan?“, knurrte er und schüttelte mich, um eine Antwort zu erhalten.

Ich nickte benommen.

„Du glaubst nicht im Ernst, dass er dir helfen wird? Er ist ein mieser Verräter! So etwas wird in unseren Kreisen bekanntlich mit dem Tode bestraft!“

Zitternd entgegnete ich: „Was meinst du mit Verräter?“

Sain wischte sich das Blut aus den Mundwinkeln.

„Wie kannst du das nicht verstehen? Oh, hat er seinem kleinen Liebling etwa nicht erzählt, wer er in Wirklichkeit ist? Köstlich! Darüber könnte ich Stundenlang lachen. Nun Faye, dein Mick hat ein Geheimnis. Hast du dich denn nie gefragt, warum er nicht mit dir isst, selten schläft und oft ohne Vorwarnung verschwindet?“

Ich schluckte und kämpfte gegen das Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung an.

„Was willst du mir damit sagen?“, erkundigte ich mich.

„Mick ist nicht besser als ich. Im Gegenteil, er nahm dich auf, um dich genauso zu benutzen, wie ich es im Moment tue. In seinen Augen warst du lediglich eine Puppe, ein verwirrtes Kind ohne Heimat.“

Ich stockte den Atem.

„Was soll das bedeuten? Sag schon!“, flehte ich.

Als ob ich nicht bereits eine wage Vermutung hätte. Doch ich wollte die Worte aus seinem Mund erfahren. Sain kannte sein Geheimnis und er war bereit, es mit mir zu teilen. Allerdings wurde mir langsam bewusst, dass es nichts Gutes sein konnte, wenn er so erpicht darauf war, es zu verkünden.

Sain strich an meiner Wange entlang und ein Lächeln entblößte seine besudelten Fänge.

„Er ist ein Vampir“, antwortete Sain grinsend und fuhr mit seinem Finger über meine Lippen, die ich vor Wut zusammenpresste, sodass sie zu einem dünnen Strich wurden und meinem Gesicht Ausdruck verliehen.

Der Schmerz der Täuschung jagte durch meinen Körper, meine Haut brannte und mein Herz pochte wild gegen meine Brust. Konnte das wahr sein? War Mick tatsächlich eine dieser grausamen Kreaturen? Ich erschauderte, zwang mich dazu Sain weiterhin anzusehen, in der Hoffnung, dass ihn eine Lüge verraten würde. Der Arbeitskollege meines Vaters musterte mich belustigt. Er hatte sichtlich Gefallen an meinem Elend gefunden und war stolz darauf, mir soeben meinen letzten Hoffnungsfunken entrissen zu haben. Ein Schluchzer entkam meiner Kehle. Ich wusste nicht wie ich darauf reagieren oder damit umgehen sollte. Ich hatte Mick mein Vertrauen geschenkt und die Zeit war mein Zeuge für seine Zuneigung. Ich dachte wirklich, er würde es ernst mit mir meinen, seinen Schutz aus Nächstenliebe anbieten. Ich kannte seine Hintergründe nicht und fragte mich in diesem Moment, ob es falsch war, meinen Instinkt zu ignorieren.

„Das kann nicht sein“, wimmerte ich den Tränen nah.

Mit bebenden Händen stemmte ich mich gegen Sain, für welchen ich jedoch keinen Gegner darstellte. Ich wusste, dass ich keine Hilfe von Mick erwarten könnte und fragte mich, ob er mich früher oder später genauso benutzt hätte, wie es Sain zu tun pflegte. Liebten es diese Monster, aus mir eine Marionette zu machen? Immerhin konnte ich die Fäden ihrer Kontrolle regelrecht spüren und mich ihnen keineswegs wiedersetzen. Ich war schwach, unfähig mich in dieser Welt zu behaupten. Wie auch, wenn es mir nie jemand gezeigt hatte.

Sain hob mich in seine Arme und legte mich auf der Couch ab. Er betrachtete mich schweigend, genoss meine Trauer und Verzweiflung, die meine Glieder nervös zittern ließ. Ich wollte es ihm keineswegs zu einfach gestalten und dennoch gab ich mich auf. Ich war enttäuscht, immerhin hatte ich soeben den letzten Gefährten verloren. Mein Vater hatte mich verraten, Shane war zurück geblieben und sogar Mick hatte aus mir eine Närrin gemacht.

Sain beugte sich über mich, fuhr über die Wunde, die er hinterlassen hatte und strich meine Locken von meinem Kleid. Neugierig fummelte er an dem Stoff herum und zog den unteren Zipfel nach oben. Er entblößte meine nackten Beine und mein rosa Höschen.

„Süß“, murmelte er.

Meine Locken verneigten sich vor meinem klebrigen Blut und die Spitzen verfärbten sich. Sie passten sich ihrer Umgebung an.

„Wie schade, ich habe alles besudelt“, meinte er und küsste mich an einigen Stellen meines Körpers, wo es mir mehr als unangenehm war. Ich spürte seine weichen Lippen auf meiner Haut, sie berührten mich unnachgiebig und sanft, dann wieder grober und fordernder. Bisse folgten, spielerisch und keineswegs dem Durst verfallen. Er tastete sich vor, wollte mich erforschen und herausfinden, ob ich bereit war, in seinen Armen zu zerbrechen.

„Wie konnte er nur...?“, wisperte ich Gedankenverloren.

Meine Stimme klang so kränklich, dass Sain kurz aufsah, um auch sicher zu gehen, dass ich noch lange genug leben würde.

Lächelnd wischte er meine Tränen beiseite und drückte anschließend meine Handgelenke in die Kissen. Gefangen unter seinem Gewicht, hielt ich die Luft an und schloss vor Entsetzen meine Lider. Sein Atem streifte meine Kehle und ich zuckte unweigerlich zusammen.

Plötzlich war ein Schrei zu vernehmen und der Druck auf meine Gliedmaßen verschwand.

„Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr!“, rief Mick.

Er hatte Sain am Kragen gepackt und quer durch die Wohnung geworfen. Ein lauter Knall verriet mir, dass dabei erneut etwas zu Bruch gegangen war.

„Faye!“

Zitternd richtete ich mich auf und verdeckte meinen entblößten Körper. Ein Wimmern entkam meiner Kehle, ich konnte es nicht unterdrücken. Mick starrte mich verbissen an. Er schaffte es nicht, die richtigen Worte zu finden, denn er wusste, dass sein Geheimnis durch den Eindringling gelüftet worden war. Sein Blick streifte mich und betrachtete jede Verletzung, die mir Sain zugefügt hatte. Mick brauchte all seine Kontrolle, um ihm nicht sofort das Herz aus seiner Brust zu reißen. Stattdessen formte sich seine Miene zu einem Ebenbild von Milde, seine Brauen wurden eine Einheit und brachten seine enzianblaue Iris zum Leuchten.

„Faye, bitte gib mir eine Chance, es dir zu erklären.“

Als er einen Schritt in meine Richtung machte, sprang ich auf und wich vor ihm zurück. Ich war keineswegs bereit, mich ihm zu stellen. Ich huschte hinter die Reste der Essecke, falls man diese noch als solche bezeichnen konnte und brachte Abstand zwischen uns. In seinen Augen lag eine besondere Tiefe verborgen, als würde er unter meiner Reaktion leiden. Ich taumelte an die nächste Wand und versuchte mich zu fangen, doch meine Beine konnten mein Gewicht scheinbar nicht länger tragen und ich sank zu Boden. Ich schmiegte mich an die zerstörte Einrichtung, wischte meine Tränen beiseite und schaute verbissen zu Mick hinüber, der mir nun den Rücken zu drehte und sich Sain zuwandte.

Ein Angriff ließ nicht lange auf sich warten. Sain hatte diese Situation und unser unerwartetes Aufeinandertreffen ausgekostet. Bewaffnet mit einem für mich anfangs undefinierbaren Gegenstand hetzte er auf Mick zu. Die Splitter einer Holzlatte segelten durch die Luft, als wären sie leichte Federn und landeten vor meinen nackten Füßen. Erschrocken hielt ich mir die Augen zu und versteckte das Gesicht hinter meinen Armen. Ich stand mitten in dem Kampfgebiet zweier Vampire, die sich um ihren Besitz stritten.

Mick fing sich wieder und rappelte sich auf. Er stieß mit seinem Fuß in dessen Kniekehle und der Vampir stürzte daraufhin unbeholfen auf den Untergrund. Sain ließ sich nach hinten fallen, um Micks Attacke auszuweichen, allerdings gelang ihm das nicht. Die Wucht des Schlages traf ihn mitten im Gesicht, sodass seine Wange regelrecht aufplatzte und sich sein dunkles Blut auf den Boden ergoss. Er wischte es beiseite, als wäre nichts geschehen und steuerte auf Mick zu. Dieser fing seine Arme ab, musste allerdings dennoch einige Tritte in Kauf nehmen. Aneinandergepresst kamen sie auf mich zu. Ich robbte in Richtung Tür und verkroch mich hinter dem ehemaligen Bücherregal, was mir Schutz bot, als sie ihrer Wut freien Lauf ließen.

Auf was genau wartete ich eigentlich? Egal wer siegen würde, ich wäre dennoch eine Gefangene in ihrer Welt. Es blieb also nur eine Möglichkeit: Ich musste fliehen und ihre Kampflust ausnutzen.

Mutig tastete ich mich an der Wand entlang und zog mich an einer Stehlampe nach oben. Als ich zu den beiden hinüber sah, erkannte ich Mick, der keuchend auf dem Teppich lag und nach Luft rang.

Geschwind schlich ich an den Kontrahenten vorbei. Sain schaffte es nicht, Mick unter seinem Gewicht festzuhalten. Der Vampir überrumpelte meinen Verfolger und schleuderte ihn gegen die Glasvitrine. Das laute Geräusch ließ mich zusammenfahren. Ein greller Schrei kam über meine Lippen und sofort wurde ich wieder zu einem begehrten Objekt ihrer Begierde. Beide schauten hinüber zu mir. Ihre Augen leuchteten wie die einer Katze, welche gerade ihr Leckerli ausgemacht hatte.

Jetzt aber nichts wie weg, dachte ich.

Ich rannte los, musste allerdings meinen Übermut zügeln, da mir durch den Blutmangel meine Reserven verwehrt wurden. Plötzlich griffen zwei starke Hände nach mir, ich schaffte es nicht einmal die erste Treppenstufe zu erreichen. Grob wurde ich nach hinten gerissen und an eine der beiden Personen gedrückt. Die Kälte, die von seinem Körper ausging, versetzte meinem Herzen einen Tritt.

„Lass sie ihn Ruhe!“, schrie Mick voller Hass und stürzte sich auf Sain, der mich nun als sein persönliches Schutzschild präsentierte.

Micks Zähne schossen aus dem Oberkiefer heraus und er fauchte erbost. Sein Faustschlag verfehlte leider sein Ziel. Er musste sich zurückhalten, sonst hätte er mich verletzen können und anscheinend war er nicht so herzlos, wie ich alle anderen Vampire in Erinnerung hatte.

„Sain, sei kein Narr, lass das Mädchen gehen“, bat Mick und senkte seinen Blick.

Seine Miene wurde sanftmütiger und er versuchte es scheinbar mit Unterwerfung.

„Oh, das werde ich, nur wird sie mit mir kommen. Verstehst du es nicht, Mick? Faye gehört ganz allein mir, das hat ihr Vater so entscheiden und in unserer Welt müsstest du am besten wissen, dass man diese Regeln und Gesetze nicht mit Füßen tritt.“

Sain drückte mein Kinn ein Stück in die Höhe und deutete mit dem Zeigefinger auf die Bissmale an meinem Hals. Er leckte mit seiner Zunge darüber und gab ein Stöhnen von sich.

„Du widerst mich an“, zischte Mick.

Sain drehte mich in seinen Armen und strich an meiner Wange entlang. Sein Blick durchbohrte mich und langsam bekam ich weiche Knie. Die Gaben eines Vampirs gingen weit über seine übermenschlichen Kräfte hinaus. Er bezirzte mich durch seine bloße Erscheinung, brachte mein Innerstes zum Erbeben. Sämtliche Gefahr, die von ihm ausging, verblasste. Er erschien mir als normal, als eine Person, der ich mein Vertrauen schenken könnte. Ich schüttelte meinen Kopf, versuchte sein Bild aus meinen Gedanken zu bekommen, doch ich konnte mich nicht befreien.

„Nimm endlich deine Finger von ihr!“, knurrte Mick und kam gediegen näher. Er schlich sich wie eine Raubkatze an, darauf bedacht, die gewünschte Beute nicht dem Gegner zu überlassen.

Sain lachte und ignorierte Mick, der sich voller Zorn auf ihn warf, mich an meinem Handgelenk packte und grob zur Seite stieß. Er entriss mich so schnell den Klauen dieser Bestie, das ich kaum mitbekam was geschah. Ich glitt zu Boden und rollte mich zusammen. Die Glassplitter der Vitrine bohrten sich in meine Haut und hinterließen ihre Spuren. Von Angst zerfressen, starrte ich auf die Vampire. Mick hatte gezögert und mich verschont. Warum? Besaß er möglicherweise eine Seele, im Gegensatz zu den anderen Monstern, die sich Vampire schimpften?

Zaghaft richtete ich mich auf. Sain hatte es geschafft sich Mick zu wiedersetzen und schien ihn nun an einer tödlichen Stelle gepackt zu haben. Er drückte ihn gegen die Wand, direkt neben dem leeren Rahmen, wo sich einst die Tür befunden hatte. Mick sah mitgenommen aus. Sein Oberteil war zerrissen, seine nackte Brust entblößt. Blut rann an seiner Haut hinab und tränkte seine Jeans mit dem vertrauten roten Farbton. Seine dunklen Locken hüpften wild umher, bei jedem Schlag, den er einstecken musste, schienen sie sich zur Wehr zu setzen. Sie verliehen seinen Augen mehr Ausdruck, wodurch außerdem seine zusammengepressten Lippen zur Geltung kamen. Er rang mit sich, wollte scheinbar zurückschlagen, konnte sich aber nicht aus Sains Griff befreien.

„Jetzt wirst du sterben, Mick, wie du es schon damals hättest tun sollen“, jubelte Sain und hielt ein abgebrochenes Holzstück in die Höhe. Bevor seine Hand hinabsinken und er Micks Schicksal besiegeln konnte, mischte ich mich in das Geschehen ein und warf meinen Fluchtversuch über Bord.

„Du Idiot! Man kann Vampire nicht mit einem Pflock ermorden“, sagte ich mutig.

Ich dummes Schaf war der Überzeugung, dass ich Mick etwas schuldete.

„Wie bitte?“, fauchte Sain und musterte mich fragend.

Ich hatte einen Plan, zumindest dachte ich das. Micks Waffe, die er vorzugsweise mit Silberkugeln bestückte, lag direkt vor mir. Ich hatte sie bereits mehrere Male angestarrt und verzweifelt auf ein Wunder gehofft. Natürlich war ich mir bewusst, dass sie keineswegs auf mich zufliegen würde, doch nun hatte ich einen Ansporn, mich näher an den Löwen heranzuwagen.

Geschwind rutschte ich über den Parkettboden und umklammerte die Waffe, die mein Beschützer nicht ziehen konnte. Stur richtete ich sie auf Sain und drückte ab, ohne eine Sekunde zu zögern. Nichts geschah.

„Wie dämlich bist du eigentlich? Die Waffe ist nicht entladen“, lachte Sain.

Er hatte den Sinn hinter der Aktion nicht verstanden. Es war nie mein Ziel ihn anzugreifen, ich brauchte lediglich seine Aufmerksamkeit. Mick zwinkerte mir zu und überrumpelte den verwirrten Sain. Er hatte durch meinen Versuch das Unmögliche erreicht: Er konnte sich befreien. Der Vampir schrie auf, als Mick seine Fänge in seinen toten Körper bohrte. Widerspenstig schlug er auf den vermeintlichen Jäger ein. Urplötzlich hatte sich Sain wieder gefangen und huschte in Windeseile aus der Wohnung hinaus. Im Treppenhaus blieb er kurz stehen und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.

„Das wirst du bereuen“, keuchte er.

Mick hatte Stärke bewiesen und Sain dadurch verunsichert.

„Du kannst sie nicht vor ihrem Schicksal beschützen! Erst Recht nicht vor dem Einfluss ihres Vaters. Immerhin hat sie etwas, dass ihm gehört. Er bevorzugt es, sämtliche Zeugen zu beseitigen. Faye wird mir gehören, so oder so!“

Der Vampir machte kehrt und noch ehe Mick ihn sich hätte schnappen können, war er im Nichts verschwunden.

Benommen ließ ich die Waffe fallen und vernahm deutlich den Ton, der durch meine Gedanken hallte, als sie auf die Scherben traf. Sofort eilte der Vampir auf mich zu und streckte seine Hand nach mir aus.

„Nicht!“, rief ich ernst und fasste mir an die Schläfe.

Mein Kopf schmerzte. Die Bisswunden hatten mittlerweile aufgehört zu bluten.

„Lass es mich erklären“, bat er.

Doch ich wich ihm aus. Mit letzter Kraft rannte ich an ihm vorbei und verschwand, wie unser gemeinsamer Gegner zuvor.

Wütend stieß ich die Tür auf und hielt schützend meine Hand vor die Augen, da mich das Licht der gegenüberliegenden Straßenlaterne blendete. Meine Tränen nahmen mir beinahe jegliche Sicht und das unterdrückte Schluchzen, raubte mir kurzzeitig den Atem. Sollte ich wirklich gehen? Aber wohin? Ich war nirgendwo willkommen oder in Sicherheit. Mick schien die einzige Person zu sein, auf die ich mich verlassen konnte und gerade er hatte mich hintergangen und ein solches Geheimnis verschwiegen.

Auf einmal presste er mich an sich. Seine Arme umschlangen meine Hüfte und ließen mich nicht mehr fort.

„Faye, bitte bleib bei mir“, sagte er sanft.

Ich seufzte und wischte mir die Tränen aus den Augen.

„Dafür gibt es keinen Grund. Du hast mich belogen. Du weißt, dass ich Angst vor Vampiren habe und diese Bestien aus tiefstem Herzen hasse.“

Meine Stimme brach ab.

Langsam lockerte sich sein Griff und ich kam frei. Gekränkt musterte er mich.

„Wie sollte ich dir davon erzählen? Wärst du nicht sofort weggelaufen? Ich brauchte dein Vertrauen, um dich schützen zu können.“

Verwundert starrte ich ihn an.

„Was? Aber du kennst mich nicht einmal“, konterte ich und fuhr mit den Fingerspitzen über eine Wunde an meinem Arm.

„Besser, als du denkst“, erwiderte er und schenkte mir ein Lächeln.

Seine Fänge blitzen hervor und ich machte einen Satz zurück.

„Entschuldige. Faye, es war nie meine Absicht dich zu verletzen. Im Gegenteil. Ich kenne deine Familiengeschichte besser als du selbst und jedes dunkle Geheimnis, brachte mich tiefer in den Abgrund der Vampirszene. Du warst so hilflos und brauchtest jemanden. Dein kindliches Schmunzeln erinnerte mich an einen Geist aus meiner Vergangenheit, den ich vor langer Zeit verloren habe. Bitte, komm mit mir nach oben und ich verspreche dir, ich werde dir alles erklären.“

Er stoppte und öffnete die Tür. Der Vampir zwang mich nicht ihm zu folgen und ließ mir einige Minuten, um eine Entscheidung zu fällen. Vielleicht war ich ihm gegenüber ungerecht, schließlich hatte er mir nie ein Leid zugefügt und sich rührend um mich gekümmert.

Vorsichtig schaute er ein letztes Mal um die Ecke und sagte: „Meinetwegen kannst du mich hassen, verachten, was auch immer, denn ich kann nicht ändern, was ich von Natur aus bin. Aber lass mich wenigstens dich beschützen, denn Sain wird nicht eher ruhen, bis du durch seine Einwirkung gestorben bist!“

Geschockt über solch ehrliche Worte, lehnte ich mich an den Zaun vor dem Eingangsbereich und dachte nach. Sollte ich es wagen? Gab es für mich überhaupt eine Zukunft oder war Mick meine einzige Chance?

Ich legte meine Hand über die Stelle meines Herzens und schwieg. Ich lauschte dem vertrauten Rhythmus und senkte meinen Blick. Was sollte nun aus mir werden? Die Tür kam mir mit jeder verstrichenen Minute weiter entfernt vor. Als würde meine Zeit für eine klare Entscheidung schwinden. Sollte ich ihm folgen und Gefahr laufen, von der Bestie in seinem Innersten verschlungen zu werden? Immerhin hatte ich seit Wochen mit ihm unter einem Dach gelebt, ohne dass er sich jemals an mir vergriffen hatte. Konnte man bereits von Vertrauen sprechen, auch wenn die Lüge einen Keil zwischen uns trieb? Ich war verwirrt, hin und her gerissen zwischen Richtig und Falsch. Ich kam mir so naiv vor. Dennoch trottete ich schließlich zurück in seine Wohnung. Ich atmete tief ein und nahm all meinen Mut zusammen. Ich klopfte an den Türlosen Rahmen seines Lofts.

Mick war gerade dabei etwas Ordnung in seine zerstörte Wohnung zu bringen. Als er mich bemerkte, schaute er auf.

„Heißt das, du bleibst?“, drang es aus seinem Mund.

Ich nickte. Er fuhr sich durch das dunkle Haar und kam in schnellen Schritten auf mich zu.

„Du bist nach wie vor ein Jäger und mein Beschützer. Aber in dir steckt auch die Seele eines Vampirs, vor der ich mich fürchte. Sobald ich auf eigenen Beinen stehen kann, werden sich unsere Wege trennen“, meinte ich überzeugt.

Mick verstand, was ich ihm damit sagen wollte, zweifelte aber an meinem Ausspruch.

„Ich werde mich um dich kümmern und dir genügend Freiraum lassen. Keine Geheimnisse mehr“, versprach er mir.

Meinte er das wirklich ernst? Was würde er mir offenbaren, nun da die erste Hürde überwunden war? Ich kannte sein wahres Ich, was er stets versucht hatte vor mir zu verbergen. Dies würde viele Schwierigkeiten mit sich bringen, soviel stand fest. Darüber hinaus hatte er meine Familiengeschichte mit der Vampirszene in Verbindung gebracht. Meine Neugierde wuchs. Vielleicht könnte ich mit seiner Hilfe herausfinden, warum es mein Schicksal war, in einer Welt beherrscht von Blut, leben zu müssen.

 

Impressum

Texte: Copyright by Marie-Luis Rönisch
Bildmaterialien: Cover made by Serena Schwinge, Model: Marie Ex
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2010

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