Jonas kam zu sich wie nach einem Sturz durch Welten. Sein Kopf pochte, sein Magen rebellierte, als hätte er im Zentrum eines rotierenden Mahlwerks gelegen. Er lag auf etwas Weichem – vielleicht einem Bett, vielleicht auch nur einer Illusion. Um ihn herum flirrten Farben, grelle, pulsierende Schleier, die in die Augen schnitten wie Glas.
Ein Geruch hing in der Luft, so intensiv, dass er ihn zu schmecken glaubte: aufdringlich, süßlich, schamlos. Es war kein Parfüm, es war ein Befehl. Ein Duft, der nicht verlockte, sondern forderte. Seine Gedanken wollten fliehen, doch sie waren zäh wie Honig, festgehalten von etwas Unsichtbarem.
Musik vibrierte durch den Raum. Nicht Musik im eigentlichen Sinne, eher ein Klangfeld, sphärisch, fremdartig, befehlend. Jonas hatte das Gefühl, auf einer rotierenden Scheibe zu liegen. Die Welt schwankte. Zeit existierte nicht mehr. Alles war Jetzt. Alles war Zwang.
Aus dem Nebel um ihn herum formten sich Arme, Nebelschwaden mit Fingern, die ihn streichelten, drückten, tasteten. Unanständig. Eindringlich. Ohne Gesicht, ohne Ziel. Sie waren einfach da. Er wollte fliehen, aber sein Körper war nicht sein.
Dann – plötzlich – ein grelles Aufreißen. Eine Tür. Licht. Bewegung.
Ein Wesen trat ein. Hochgewachsen, so schmal, dass es fast durchsichtig wirkte. Das Gesicht: maskenhaft, wie das eines tiefseetauglichen Fisches. Gelbliche, volle Lippen bewegten sich lautlos, als würde der Fisch keine Luft bekommen. Die Augen: eine Mischung aus Empörung und Verstörung. Jonas wusste nicht, ob es ihn sah oder durch ihn hindurchblickte.
Hinter dem Wesen: weitere Gestalten. Keine war menschlich. Formen, Farben, Silhouetten, die nicht beschrieben werden konnten. Stimmen flackerten durch die Luft wie elektrisches Fläckern. Er verstand nichts. Nur das Gefühl: Ich bin hier nicht willkommen.
Jonas wollte die Augen schließen, sich fliehen in die Ohnmacht, in das Nichts.
Aber dann kam der Schatten.
Ein massiger Körper trat vor. Ein Wesen, das an einen Stier erinnerte – doch ohne Hörner. Der Hals breit wie ein Stamm, die Muskeln unter einem metallisch schimmernden Anzug gespannt. Keine Mimik, kein Wort. Nur Kraft. Er packte Jonas wie eine Puppe, hob ihn hoch, schleuderte ihn aus dem Raum.
Ein Gang. Dunkel. Pulsierend. Die Wände lebten. Oder bebten. An ihnen lehnten Gestalten – wartend, lechzend, zitternd. Wie Junkies vor dem Kick. Ihre Gesichter – keine. Ihre Körper – formbar. Ihre Gegenwart – unerträglich.
Jonas wurde eine Treppe hinabgerissen. Jeder Schritt ein Schlag gegen sein Körper. Schmerzhaft. Real. Die Welt war ein wabernder Alptraum.
Dann – Licht.
Eine Tür glitt auf. Wie von Geisterhand. Dahinter: Straßen. Geräusche. Bewegung. Tageslicht.
Mit einem letzten Ruck schleuderte der Stier ihn hinaus. Jonas flog. Fiel. Landete im Staub. Keuchte.
Um ihn herum: Stimmen. Hektik. Eine Stadt. Aber es waren keine Menschen.
Er lag mitten in einer fremden Welt.
Jonas Vellner saß in seinem Wagen, geparkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Kanzlei Eckner & Spielig.
Es war früher Abend. Die Straßenlaternen begannen zu flimmern, während sich das Licht des Tages langsam in einen dunstigen Dämmer hüllte.
Der Motor war längst aus, die Heizung nur noch Restwärme. Auf seinem Schoß lag die Kamera – schwer, wie eine Verlängerung seiner Hände. Der Riemen war lose um sein Handgelenk geschlungen. Vertraut. Fast wie ein altes Versprechen.
Er wartete. Beobachtete. Atmete langsam.
Irgendwann würde Jörg Spielig aus dem Gebäude treten. Immer zwischen 17:20 und 17:35. Dann folgten drei bis fünf Aufnahmen – diskret, aus der immer gleichen Position. Mit Zeitstempel. Beweismaterial für seine Klientin, die Woche für Woche bezahlte, um zu erfahren, dass sich nichts änderte.
Er kannte Spieligs Bewegungen inzwischen besser als seine eigenen.
Der Mann verließ die Kanzlei, ging mit seinem leicht steifen Gang zu seinem gepflegten Audi. Dann zum Supermarkt zwei Straßen weiter. Holte Brot, Milch, Käse – kleine Dinge. Nie zu viel. Immer mit Blick auf eine imaginäre Einkaufsliste.
Laut seiner Frau fragte er sie jeden Tag, ob sie noch etwas brauche.
Zweimal wich er von der Routine ab: Ein Friseurbesuch. Ein Mittagessen mit einem Geschäftspartner.
Auch diese Termine hatte er seiner Frau mitgeteilt. Die hatte wiederum Jonas informiert.
Ein unauffälliger Mann. Ein geradliniges Leben.
Neun Tage war das nun so.
Ein Wochenende lag dazwischen. Auch da: keine Auffälligkeiten. Kein Umweg. Kein Treffen. Kein Doppelleben.
Jonas hatte den Verdacht, dass der Fall genau das war, was er am häufigsten beobachtete:
eine Ehe, in der nicht mehr viel war – außer Erinnerung, Misstrauen und stille Entfremdung.
Vielleicht irrte sich die Frau.
Vielleicht sah sie etwas, das nicht mehr existierte. Einen Hauch Parfüm, der nichts bedeutete.
Eine Kälte, die sie selbst mitverursacht hatte.
Vielleicht fehlte ihr einfach das, was einst war – eine Wärme, die sie nun in den Blicken anderer Frauen zu erkennen glaubte.
Vielleicht wollte sie nur wissen, ob es vorbei war.
Was wirklich zwischen ihnen lag, war nicht Jonas’ Sache.
Er war Beobachter. Kein Richter. Kein Retter.
Er würde weitermachen, solange sie bezahlte.
Die Stunden im Auto vergingen langsam.
Zeit dehnte sich aus, wenn nichts geschah – aber genau das war sein Metier:
die Lücken zwischen den Ereignissen.
In diesen Stunden war es still. Nicht nur draußen, sondern auch in ihm.
Und wenn es still wurde, kamen die Gedanken.
Nicht laut – eher wie Schatten auf der Netzhaut. Bilder von Menschen, die an ihm vorübergingen, ohne ihn zu sehen.
Jonas beobachtete Menschen. Nicht aus Neugier. Nicht, weil er Antworten suchte.
Er tat es, weil er sich am Leben anderer betäuben konnte.
Ihre Bewegungen. Ihre Mimik. Ihre kleinen Routinen – sie waren wie ein Ersatzstoff.
Wie Nikotin für jemanden, der längst vergessen hat, wie Rauchen schmeckt – aber nicht, wie es sich anfühlt, die Hand zu beschäftigen.
Er fotografierte Gesichter. Zoomte sie heran.
Studierte Falten, Augenringe, zuckende Lider.
Er glaubte manchmal, lesen zu können, was sie nicht aussprachen.
Aber was er sah, war nie Trost. Nur Bruchstellen.
Das Leben der anderen war seine Droge.
Nicht berauschend. Nur betäubend.
Wenn er abends in seine Wohnung zurückkehrte –
eine Einzimmerwohnung im dritten Stock eines grauen Blocks in Fechenheim –
war es nicht anders.
Die Heizung funktionierte nur teilweise.
Das Licht war kalt. Die Wände nackt.
Auf dem Tisch lagen zwei Teller – von denen er immer denselben benutzte.
Neben dem Sofa: ein leerer Platz, wo einmal ein Sessel stehen sollte. Aber nie kam.
Er warf sich aufs Sofa, das seine Form kannte.
Klappte den Laptop auf. Serien. Immer dieselben.
Wiederholungen, die keinen Widerstand leisteten.
Folge um Folge. Staffel um Staffel.
Fremde Leben, fremde Sorgen, fremde Schicksale.
Er sah ihnen zu, damit er das eigene nicht denken musste.
Und wenn er den Bildschirm endlich zuklappte, saß er oft noch im Dunkeln.
Keine Musik. Kein Ton.
Nur das Flackern einer einzigen Kerze auf dem Fenstersims.
Sein einziger Trost. Sein stiller Begleiter.
Dann trank er.
Einen Schluck. Zwei.
Billiger Whiskey, der nicht schmeckte – aber wirkte.
Er nannte ihn seinen Schlaftrunk.
Wie ein altes, absurdes Ritual.
Und irgendwann fiel er in einen Schlaf, der keiner war.
Darin: Gesichter. Bewegungen. Bilder.
Fetzen von Dingen, die er gesehen hatte.
Und ein Gesicht – ein bestimmtes Gesicht –, das immer wieder auftauchte.
Nur halb. Mal verzerrt. Mal im Schatten. Immer mit Schmerz.
Nicht vergessen. Nur versteckt.
Manchmal hörte er in der Dunkelheit ein Röcheln.
Kein Fernsehton. Kein Nachbar.
Etwas Tieferes.
Und dann wusste er:
Es ist noch da.
Es ist immer noch da.
Jonas betrat das Gebäude unweit der Innenstadt, in dessen viertem Stock er sich tageweise ein kleines Büro gemietet hatte.
Er nahm die Treppe. Nicht, weil der Aufzug defekt gewesen wäre – sondern weil er sich das Treppensteigen angewöhnt hatte. Ein selbstverordnetes Fitnessprogramm.
Sein körperlicher Zustand war mäßig. Zu viel Sitzen, zu wenig Bewegung – Berufskrankheit.
Oben angekommen blieb er kurz stehen, lehnte sich an das Geländer, holte tief Luft. Als sein Atem sich beruhigt hatte, griff er in die Jackentasche und holte das kleine Namensschild hervor.
Er betrachtete es einen Moment lang. Jonas Vellner – darunter in schlichter Schrift: Privatdetektiv.
Ein kleines Ritual. Und ein stiller Anflug von Stolz.
Gut gemacht, Junge, dachte er. Immerhin – du bist Privatdetektiv.
Nicht der schlechteste, wie er fand. Vergleichsmöglichkeiten hatte er keine – nur die Detektive aus den Serien, die er nachts verschlang.
Natürlich war das Hollywood. Das hier war Frankfurt. Realität, nicht Dramaturgie.
Er wusste um seine Fähigkeiten. Er war ein guter Beobachter, ein stiller Leser von Zeichen.
Aber das Selbstbild war getrübt – zu wenige Klienten, zu viele freie Tage.
Er schob das Schild in den kleinen Schuber neben der Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete.
Der Raum war wie immer: tadellos.
Frisch gestrichen, ruhig eingerichtet, mit nüchternem Charme. Die Klienten bekamen einen ordentlichen ersten Eindruck.
Im Empfangsbereich standen zwei Sessel, ein kleiner Tisch, einige Bilder mit Naturmotiven an den Wänden. Alles unaufdringlich. Professionell.
Hinten eine kleine Teeküche – benutzte er nie. Außer für Kaffee.
Für den kleinen Hunger: Snickers. Immer griffbereit. Das reichte.
Links vom Empfangsbereich lag ein kleines Bad. Rechts führte eine Tür in das eigentliche Büro.
Er mochte den Ort. Alles war funktional. Er musste sich um nichts kümmern. Reinigung war inklusive – er zahlte anteilig mit.
8 Uhr 40.
Gleich würde eine neue Klientin erscheinen. Die einzige heute.
Er ging ins Bad und warf einen Blick in den Spiegel.
Er kämmte sein leicht gewelltes, blondes Haar – pflegeleicht, solange er es nicht wachsen ließ.
Dann entdeckte er einen neuen Pickel unter dem linken Mundwinkel. Entzündet.
Er zwang sich, ihn nicht zu berühren. Auf dem Rücken hatte er noch mehr davon. Wahrscheinlich die Ernährung.
Zuviel Schokolade. Zu wenig Wasser.
Er musste sich mal was aus der Apotheke holen.
Die Kleidung war seine Geschäftskleidung: saubere Jeans, ein schlichtes Hemd, darüber ein Pullover.
Der Vier-Tage-Bart war montags frisch gestutzt – sein wöchentlicher Versuch, gepflegt zu wirken.
Noch ein prüfender Blick.
Vorzeigbar, sagte er sich.
Er ging zurück in den Empfangsbereich, nahm seine Jacke vom Tresen, hängte sie ordentlich auf. Dann lehnte er sich an die glatte Kante des Tresens.
8 Uhr 50.
Er war immer noch nervös, wenn er Klienten empfing.
Gleich müsste es so weit sein.
Es klingelte pünktlich um neun Uhr. Jonas drückte die Taste der Sprechanlage.
„Ja“, brachte er knapp hervor.
„Guten Morgen, Lina Baumann. Ich habe einen Termin.“
Ihre Stimme klang wie am Telefon – vorsichtig, zurückhaltend.
„Ja, kommen Sie bitte hoch.“ Er betätigte den Türöffner.
„Welcher Stock?“ – fast entschuldigend.
„Oh, sorry. Natürlich – vierter.“
Bleib ruhig, Junge. Nur ein ganz normaler Termin.
Er versuchte, sich eine Haltung zu befehlen, die Souveränität ausstrahlte. Gleichzeitig lockerte er Schultern und Nacken, ließ die Arme kreisen, schüttelte sie aus.
Ein idiotisches Ritual. Gut, dass niemand es je zu Gesicht bekam.
Es klopfte zaghaft.
Er öffnete.
Lina Baumann stand vor ihm.
Sie hielt ihre Handtasche fest an sich gepresst, die Schultern leicht nach oben gezogen. Große, klare Augen.
Ein Kribbeln schoss seinen Rücken hinauf, als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt.
Jonas starrte sie einen Moment zu lange an.
„Äh, bitte… kommen Sie herein.“
Fast hätte er gestottert.
Er trat zur Seite, sie ging kerzengerade an ihm vorbei, angespannt.
„Sie können mir Ihren Mantel geben, wenn Sie möchten.“
Die Worte kamen automatisch, fast zu leise.
In seinem Inneren wuchs eine seltsame Unruhe – mehr als sonst.
Ein Druck breitete sich in seiner Brust aus, nicht stechend, aber unangenehm.
Hitze stieg auf.
„Danke, ich behalte ihn an.“
Auch mit Mantel nahm er wahr, wie schmal sie war – fast zu zart.
Höchstens fünfzig Kilo. Vielleicht weniger.
Jonas fragte sich, ob sie aß.
Ob sie konnte.
Er schloss aus der Tatsache, dass sie den Mantel nicht ablegte, dass ihr oft kalt war. Oder dass sie sich schützte.
Sie senkte den Blick. Wartete.
„Bitte hier entlang.“
Er deutete auf die Tür zu seinem Büro.
Sie ging voraus.
Ihr Gang war leichtfüßig, aber gespannt.
Von hinten betrachtete er ihr kräftiges braunes Haar – ein paar Strähnen standen keck zur Seite. Ungebändigt.
Wieder dieses Kribbeln.
Etwas an ihr bringt etwas in mir zum Vibrieren.
Reiß dich zusammen. Du musst das professionell durchziehen.
„Bitte, nehmen Sie Platz.“
Sie setzte sich, sah sich kurz im Raum um. Fast erwartete er eine Frage – etwa nach einer Sekretärin. Aber sie blieb stumm.
„Möchten Sie einen Kaffee?“
Er hoffte auf ein Ja. Einen Vorwand, den Raum zu verlassen.
„Ja, gerne. Schwarz, bitte.“
Sie lächelte – kaum merklich, aber mit den Augen. Und es war schön.
Zart. Wahr.
Er verließ das Büro und ging zur kleinen Küche.
Er war oft nervös bei Frauen. Aber das hier war anders.
Sie nimmt mein Innerstes und schüttelt es wie ein Würfelbecher.
Was sprach ihn so sehr an ihr an?
Sie war hübsch – ja. Aber das war es nicht allein.
Es war ihre Zerbrechlichkeit. Etwas in ihr wirkte, als hielte sie sich selbst zusammen.
Wie eine Vase mit einem feinen Riss, die man mit bloßen Händen umschließt, damit sie nicht zerbricht.
Ihre Haltung, ihre Stimme, ihre Bewegungen – alles war ein stummer Hilferuf.
Und dieser kam bei ihm mit voller Wucht an.
An der Kaffeemaschine stehend atmete er langsam ein und aus.
Die Brust war immer noch eng.
Nur Nervosität, sagte er sich. Du kennst das. Das geht vorbei.
Es ist ein Job. Du verhältst dich professionell.
Sie ist nur eine Klientin.
Er nahm die Tasse, schloss kurz die Augen – dann ging er zurück ins Büro.
Es war still, als der Kokon sich öffnete.
Nicht die Stille der Abwesenheit, sondern die schwebende Erwartung vor einem ersten Ton. Ein Dutzend Gestalten hatte sich im Halbkreis versammelt, in schillernden Gewändern, die im Licht der beiden Monde perlten. Kein Laut, kein Zucken. Nur ihr Blick, der sich auf die pulsierende Hülle richtete, die sich jetzt öffnete wie eine zerbrechliche Frucht.
Ein silbriger Schleier löste sich. Dann kam ein Arm hervor. Zart. Schlank. Wie von Licht gezeichnet. Und dann: Nimaya.
Sie trat hinaus wie aus einem Traum, ihre Haut noch glänzend vom Inneren des Kokons, ihre Bewegungen tastend, als würde sie zum ersten Mal von Schwerkraft berührt. Sie war schmal, fast durchscheinend, mit einem Gesicht wie aus Atem und Licht geformt. Ihre Augen, groß und dunkel, blickten in die Welt wie in ein Wunder.
Und die Gemeinde trat vor.
Die "Weiblichen" – jene unter den Gedill, deren Gaben in Empathie, Heilung und Intuition lagen – reichten ihr die Hände. Die "Männlichen" standen wache, wie ein innerer Kreis aus stiller Kraft. Nimaya wurde empfangen. Umarmt. Gesegnet.
Doch inmitten der Freude überkam die älteste der Anwesenden ein Zögern.
Shaalyn, eine Gedill von hohem Zyklus, die viele hundert Transformationen gesehen hatte, senkte den Kopf, als sie Nimaya berührte. Dann hob sie ihn wieder und ihr Blick war schmal, forschend.
"Sie ist rein," sagte sie. "Aber nicht vollständig."
Ein Raunen ging durch die Versammelten. Nimaya stand nun aufrecht, zwischen ihnen, doch die Worte trafen sie wie Wind gegen junge Haut.
"Etwas fehlt", sprach Shaalyn leise. "Nicht in ihrer Gestalt, sondern tief im Innern. Als wäre ein Teil von ihr... noch nicht geboren."
Die anderen Gedill blickten einander an. Sie kannten diese Mangelerscheinung, selten, aber nicht unbekannt. In solchen Fällen war die Entwicklung nicht beendet. Ein Impuls musste folgen – eine Begegnung, ein Ereignis, ein Rufen aus einer anderen Sphäre.
Nimaya spürte nichts davon. Sie war neu. Sie war wach. Und die Welt lag offen vor ihr wie ein Lied, dessen Melodie sie noch nicht kannte. Aber in einem Winkel ihres Bewusstseins vibrierte etwas. Fern. Wie ein verlorener Ton.
Sie war geboren.
Doch noch nicht ganz erwacht.
Jonas stellte die Kaffeetasse vor Lina ab. Der Unterteller klirrte leicht gegen die Tischkante.
Er räusperte sich.
„Also, Frau Baumann... wie kann ich Ihnen helfen?“
Seine Stimme klang ruhig. Gelernt ruhig.
Er hatte sich vorbereitet – innerlich die Mauer hochgezogen.
Das ist nur ein Fall. Keine Frau. Kein Mensch. Nur ein Auftrag.
Er blickte auf den Rand ihrer Tasse. Nicht in ihre Augen. Die Konzentration auf Details half. Immer.
Lina hielt die Tasse fest. Sie wirkte, als müsste sie sich an ihr festhalten, um nicht fortgetragen zu werden.
Ihre Hände waren schmal, fast durchsichtig. Der Löffel in ihrer Hand zitterte kaum merklich.
„Es geht um meinen Mann.“
Ihre Stimme war leise.
Sie setzte an, stoppte. Atmete durch.
„Ich glaube, er hat jemandem etwas angetan.“
Jonas hob eine Augenbraue, zwang sich, weiter auf die Tasse zu sehen.
Abschnitt eins: Anlass. Bleib sachlich.
„Haben Sie dafür Anhaltspunkte?“
Sie nickte kaum sichtbar. „Ich... bekam einen Anruf. Vor vier Wochen. "
Sie blickte kurz auf, dann senkte sie den Blick wieder.
„Eine Frau. Ich kannte sie nicht. Ihre Stimme war panisch. Sie sagte nur: ‚Ihr Mann ist gefährlich. Er ist ein Sadist. Bitte verlassen Sie ihn. Er wird Sie zerstören.‘ Dann legte sie auf.“
Jonas notierte mechanisch ein Stichwort – nur zum Schein.
In seinem Innern regte sich etwas.
Panik, verdrängt. Atem flach.
Er drückte die Füße fester auf den Boden.
Boden spüren. Punkt fixieren.
Sein Blick ruhte jetzt auf dem Knopf ihres Mantels. Dunkelgrau, matt. Er zählte die Nähte.
„Und Sie wissen nicht, wer die Frau war?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Keine Nummer, kein Name. Nur diese Stimme. Voller Angst.“
„Was haben Sie danach getan?“
Seine Stimme war kühl.
Abschnitt zwei: Reaktion. Halte Abstand.
„Ich... war geschockt. Aber ich konnte nicht mehr weghören.
Eine Woche später habe ich sein Arbeitszimmer durchsucht. Ich hatte so ein Gefühl...“
Ihre Stimme wurde leiser, brüchiger.
„In einer Box... ganz hinten im Regal... lag eine Kette. Eine Frauenkette. Silber. Und da war Blut dran.“
Jonas sah zum ersten Mal auf. Kurz. Ihre Augen waren leer vor Angst.
Er senkte den Blick sofort wieder.
Ein Fall. Nur ein Fall.
„Was haben Sie dann getan?“
„Ich... bin einfach raus aus dem Zimmer. Ich konnte nicht atmen. Ich...“
Sie schluckte.
„Am nächsten Tag wollte ich ein Foto machen. Aber... sie war weg. Einfach weg. Ich habe überall gesucht.“
Jonas legte den Stift zur Seite. Er spürte, dass er sich verkrampfte.
Das Gespräch war zu still für das, was sie sagte. Zu sachlich für das, was es bedeutete.
Er zwang sich, die Struktur zu halten.
„Sie haben keine Beweise?“
„Nein.“ Ihre Stimme war kaum hörbar.
„Deshalb bin ich hier.“
Stille.
Jonas nickte langsam.
„Was genau erwarten Sie von mir?“
„Ich... weiß es nicht. Ich brauche nur... Gewissheit. Ich muss wissen, was wahr ist.“
Sie blickte ihn jetzt an. Direkt. Zum ersten Mal.
„Ich bin nicht verrückt. Oder?“
Er hielt den Atem an.
Das war der Moment, in dem die Mauer kurz bebte.
Ein Gesicht, halb im Schatten. Schmerz darin.
Ein Bild flackerte auf, und er wusste nicht, woher.
Er blinzelte, atmete aus. Langsam.
Dann sagte er:
„Nein. Sie sind nicht verrückt.“
Als Jonas nach Hause kam, war es später Nachmittag. Die Straßen waren noch feucht vom Regen, aber es hatte aufgehört.
Der Wind trug den Geruch von nassem Laub und kaltem Metall heran.
Er blieb einen Moment stehen.
Vor dem Hauseingang stapelten sich Möbelstücke. Sperrmüll.
Ein paar zerschlissene Stühle, ein zerbrochener Schreibtisch, Regalbretter – und ein Sofa.
Nicht irgendeines.
Ein fast neues, dunkelblaues Zwei-Sitzer-Sofa mit schmalem Holzrahmen, klaren Linien, kaum abgenutzt.
Er ging näher heran. Strich mit der Hand über die Lehne. Der Stoff war sauber, fest, fast unberührt.
Er sah es an.
Dann dachte er an seines – das alte, ausgesessene Ding in seinem Wohnzimmer, dessen Polster sich längst in die Form seiner Einsamkeit eingefügt hatten.
Er konnte darauf sitzen, stundenlang. Und genau das war das Problem.
Er legte die Hand in die Hüfte, stand einen Moment schweigend da.
Wie krieg ich das da rauf? Und das alte runter?
Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür. Zwei junge Männer kamen heraus, trugen einen hohen, weißen Schrank die Stufen hinab.
Sie lachten, schoben sich gegenseitig beim Tragen, fluchten leise, als eine Ecke am Geländer hängenblieb.
Dann stellten sie das Möbelstück zum Haufen.
Jonas hob eine Hand.
„Hey, ist das alles Sperrmüll?“
Einer der beiden nickte.
„Ja, morgen früh ist’s weg.“
Jonas zögerte kurz.
„Das Sofa da – gehört das euch?“
„Nö, stand in der alten WG von ’nem Kumpel. Ist noch voll okay, aber keiner braucht’s.“
Jonas trat einen Schritt näher.
„Also... wenn ich das nehme... kein Problem?“
„Gar nicht. Willste’s hochtragen?“
„Ja. Aber ich müsste erst mein altes runter...“
Er stockte, schob die Hände in die Jackentasche.
„Wär’s euch zwanzig wert? Pro Nase?
Die beiden sahen sich an, grinsten.
„Klar, warum nicht. Machen wir.“
Fünf Minuten später wuchteten sie gemeinsam Jonas’ altes Sofa aus der Wohnung.
Der Aufzug war zu klein, also Treppen.
Es ging schneller als gedacht. Sie scherzten, einer machte einen Spruch über das „Großvater-Sofa“. Jonas musste lächeln.
Nicht gezwungen. Echt.
Dann das neue Stück.
Zwei Etagen. Einmal ein kleiner Kratzer an der Wand – sie lachten wieder.
Schließlich stand es da.
Dunkelblau, schlicht.
Fremd. Neu.
Jonas bedankte sich. Gab jedem einen Schein. Sie verabschiedeten sich mit einem kurzen Schulterklopfen.
Als die Tür ins Schloss fiel, war es still.
Er blieb stehen.
Sah das Sofa an.
Ging nicht gleich los, sich zu setzen.
Etwas war anders.
Noch kaum spürbar – aber anders
Jonas saß auf dem neuen Sofa.
Es war noch ungewohnt fest, die Polster gaben kaum nach.
Anders als das alte – das ihn immer wie eine Vertiefung empfangen hatte, in die man fiel, wenn man nicht aufpasste.
Dieses hier zwang ihn, gerade zu sitzen.
Vor ihm der Laptop. Der Couchtisch war leer, der Raum aufgeräumt, fast karg.
Es war still. Nur das gleichmäßige Tropfen des Regens an der Fensterbank war zu hören.
Er wählte Linas Nummer.
Sie nahm ab – mit Video.
Ihr Gesicht erschien im Fenster.
Blass, ruhig, gefasst – aber mit diesem Schatten in den Augen, der ihm bereits vertraut war.
„Hallo“, sagte sie.
„Hallo Frau Baumann“, erwiderte er, sachlich. „Ich hätte ein paar Fragen, wenn es recht ist.“
Sie nickte. „Natürlich.“
Er schaltete den Ton in sich zurück.
Es ist ein Fall. Nur ein Fall. Sie ist nur eine Klientin.
Er konzentrierte sich auf ihre Worte – nicht auf ihr Gesicht.
„Mich interessiert, mit wem Ihr Mann regelmäßig beruflich oder privat Kontakt hat. Menschen, die ihm nahe stehen. Namen, Funktionen – alles, was Ihnen einfällt.“
Lina dachte kurz nach.
„Also... da ist Uwe Krämer. Er ist Projektleiter bei einem großen Bauunternehmen, mit dem Thomas oft zusammenarbeitet.“
Jonas notierte.
„Dann Christian Bentner – den kennt er schon ewig. Die beiden haben zusammen studiert.“
„Und privat?“
„Hm... selten. Vielleicht noch Michael Rohde. Architekt wie er. Sehr ehrgeizig.“
Sie machte eine kurze Pause, rieb sich mit zwei Fingern über die Stirn.
„Dann wären da noch zwei Frauen.
Eine heißt Sandra Keller – sie arbeitet als Innenarchitektin. Früher waren die beiden oft zusammen unterwegs... Thomas meinte, es sei rein geschäftlich.“
Sie hielt inne.
„Und dann... Vanessa König. Sie ist Immobilienmaklerin. Sehr präsent, sehr... auffällig. Ich glaube, sie flirtet mit ihm. Thomas sagte, sie sei einfach so.“
Sie lächelte schmal – ohne Freude.
„Vielleicht sehe ich Gespenster.“
Jonas zögerte kurz, dann fragte er:
„Glauben Sie, eine von den beiden könnte die Frau gewesen sein, die Sie angerufen hat?“
Lina überlegte, runzelte die Stirn.
„Sandra glaube ich nicht – sie ist um die 55, ihre Stimme ist ganz anders.“
Sie sah kurz zur Seite.
„Wenn überhaupt, dann Vanessa. Ihre Stimme ist jünger. Aber ich weiß es nicht – ich war zu aufgewühlt.“
Sie sah wieder direkt in die Kamera.
„Ich bin mir nicht sicher.“
Jonas nickte langsam. Notierte.
Dann drehte sie sich zur Seite, um ein Glas Wasser zu holen.
Eine Strähne fiel ihr ins Gesicht.
Sie hob die Hand und strich sie zurück – ganz beiläufig.
Doch durch den Rahmen des Videofensters wirkte die Geste wie durch echtes Glas.
Ein Bild schob sich in sein Bewusstsein, so klar, dass es ihn traf wie ein Schlag.
Fensterglas. Ein Mädchen. Dieselbe Bewegung.
Er sah sich selbst. Vierzehn. Hinter dem Vorhang.
Das Fernglas an den Augen.
Sie, auf dem Bett. Lesend. Still. Schön.
Braunes Haar, das sie mit genau dieser Bewegung zurückstrich.
Die Erinnerung war kein Gedanke – sie war ein Angriff.
Ein Einschlag. Direkt in sein System.
Jonas’ Herz begann zu rasen.
Die Brust zog sich zusammen, flach und heiß.
Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Blinzelte. Sprach nicht.
Lina blickte nicht auf. Sie trank einen Schluck, stellte das Glas ab.
Dann sah sie ihn wieder an.
„Brauchen Sie sonst noch etwas?“
Jonas zwang sich, zu antworten.
„Nein. Das... reicht fürs Erste.“
Jonas saß auf der Fensterbank seines Kinderzimmers.
Vierzehn Jahre alt.
Das Fernglas in der Hand.
Draußen war es dämmrig, das Licht grau und weich, der Himmel schwer.
Im Haus war es still.
Er liebte diese Zeit am Fenster.
Wenn sich hinter jedem Fenster Leben abspielte, das nichts mit ihm zu tun hatte – und er doch daran teilhaben konnte.
Aus sicherer Entfernung.
Ohne Gefahr.
Das mittlere Haus gegenüber hatte neue Bewohner.
Seit Tagen hatte er Kisten und Möbel gesehen, einen Lieferwagen, ein Umzugschaos.
Heute war das Fenster im ersten Stock beleuchtet.
Und sie war da.
Das Mädchen.
Vielleicht sechzehn oder siebzehn.
Schlank, selbstbewusst. Bewegungen, die frei wirkten – als wäre sie allein auf der Welt.
Sie trug ein weites T-Shirt, ihr braunes Haar fiel offen über die Schultern.
Sie stellte eine Tasse ab, setzte sich auf ihr Bett, nahm ein Buch.
Fing an zu lesen.
Jonas hielt das Fernglas ruhig.
Er war gefangen.
Nicht von Neugier, nicht von Begehren – es war mehr.
Etwas an ihr strahlte einen inneren Raum aus, in dem er sich sicher fühlte.
Sie wusste nicht, dass er sie sah.
Und doch war sie ihm in diesem Moment näher als irgendwer sonst.
Sie trat manchmal ans Regal neben dem Schreibtisch. Holte Papier, Stifte.
Setzte sich wieder.
Er sah sie oft zeichnen. Den Kopf leicht schräg geneigt, vollkommen versunken.
Stundenlang.
Kein Radio. Kein Fernseher. Nur sie, ein Blatt und ihre Hand.
Und manchmal, am nächsten Tag – hing ein neues Blatt an der Wand.
Immer an derselben Stelle.
Links vom Fenster, genau dort, wo das Licht der Tischlampe es streifte.
Und wo Jonas es mit dem Fernglas sehen konnte.
Nie scharf genug, um Details zu erkennen.
Aber genug, um Formen zu erahnen.
Eine Figur. Eine Szene. Etwas, das vielleicht Flügel hatte.
Er wusste nie, was es genau war.
Aber er wartete darauf.
Manchmal tagelang.
Und wenn sie ein neues aufhängte, war das wie ein Gruß.
Wie ein Zeichen.
Als hätte sie ihm – dem Unbekannten da draußen – etwas sagen wollen.
Er hatte sich das oft eingeredet.
Wusste natürlich, dass es Unsinn war.
Aber in einer Zeit, in der alles in ihm laut war, waren diese Zeichnungen still.
Und genau das hatte ihn gerettet.
Er kam von nun an jeden Abend ans Fenster.
Wartete.
Ob das Licht anging.
Ob sie da war.
Manchmal war sie es. Manchmal nicht.
Aber er – war immer da.
Sie tanzte einmal im Zimmer, lautlos.
Ein anderes Mal telefonierte sie und lachte.
Dann wieder saß sie nur da und starrte ins Nichts.
Er wusste nicht, wer sie war. Aber er glaubte, sie zu erkennen.
Und dann – ein Abend, der sich einbrannte.
Sie trat ans Fenster.
Sah nach draußen.
Ihr Blick ging über die Straße – dann direkt zur Seite.
Zu ihm.
Jonas’ Herz setzte aus.
Ein Schock durchzuckte ihn.
Er riss das Fernglas vom Gesicht, duckte sich hinter die Wand.
Verharrte dort, reglos.
Kein Atemzug.
Hat sie mich gesehen?
Er wagte sich in dieser Nacht nicht mehr ans Fenster.
Aber am nächsten Abend war er wieder da.
Und am übernächsten.
Und heute?
Heute sitzt sie ihm gegenüber.
Kein Fenster dazwischen. Kein Fernglas. Keine Unsichtbarkeit mehr.
Nur sie.
Und er – nackt, innerlich.
Und er weiß noch immer nicht,
ob sie ihn damals gesehen hat.
Nur, dass er sich seitdem nie wieder jemandem so nahe gefühlt hat –
ohne dass es jemand wusste.
(Während sie es sehr wohl wusste.
Das Fernglas lag noch immer auf dem Couchtisch.
Jonas hatte es aus einer der alten Kisten gezogen, in denen er Dinge verstaut hatte, die zu viel waren für den Alltag.
Manches war nutzlos geworden, anderes nur zu nah.
Er nahm es wieder in die Hand, ließ es durch die Finger gleiten, als müsste er sich langsam herantasten.
Die Gummierung war an den Kanten leicht abgegriffen. Eine Linse hatte einen kaum sichtbaren Sprung.
Er hob es an, ohne hinauszusehen. Nur die Bewegung. Nur die Erinnerung.
Er saß eine Weile still.
Dann stand er auf, ging zum Fenster, zog den Vorhang nur halb zur Seite.
Er hob das Fernglas, sah hinaus.
Nicht weil er etwas suchte – sondern weil er jemand war, der durch das Fernglas etwas gefunden hatte.
Damals.
Er erinnerte sich an das Gefühl, als er sie zum ersten Mal sah.
Lina.
Er wusste damals nicht, dass sie so hieß.
Für ihn war sie nur das Mädchen im Fenster.
Ein Bild, das er immer wieder hervorgeholt hatte, wenn alles in ihm zu laut wurde.
Nach Toms Tod war es das einzige gewesen, das ihn nicht überforderte.
Sie war still.
Und in ihrer Stille war ein Trost.
Sie schrie nicht, stellte keine Fragen.
Sie war einfach da.
Durch das Fernglas konnte er sie holen – näher, als jeder andere ihm je gekommen war.
Nähe, ohne Berührung.
Sicherheit, ohne Sprache.
Damals hatte er sich oft gewünscht, sie würde ihn sehen.
Aber nur ein bisschen. Nur so, dass sie ihn nicht ansprechen würde.
Denn was hätte er sagen sollen?
Er wäre stumm geblieben.
Wie immer.
Aber durch das Fernglas hatte er Worte. Innere.
Er konnte sie beobachten, ihre Bewegungen, ihre Ruhe.
Manchmal schloss er die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, einfach neben ihr zu sitzen.
Still. Ohne etwas erklären zu müssen.
Jetzt war sie zurück.
Nicht das Mädchen im Fenster.
Eine Frau.
Und das Gefühl kam wieder.
Das alte Gefühl.
Von Geborgenheit.
Von einer Nähe, die er nicht verstand, aber suchte.
Er stellte das Fernglas ab.
Es blieb auf dem Tisch liegen, wie ein offenes Kapitel.
Er ging zum Handy.
Kurzes Zögern. Dann tippte er ihre Nummer ein.
Es klingelte.
„Hallo?“
„Frau Baumann? Jonas Vellner hier. Ich hätte eine Bitte.“
„Ja?“
„Ich würde mir gern das Haus ansehen. Den Ort, an dem Ihr Mann lebt, arbeitet. Seine Umgebung... um mir ein Bild zu machen.
Solange er noch nicht zurück ist, wäre das vielleicht eine gute Gelegenheit.“
Kurze Pause.
„Ja... das klingt sinnvoll.“
„Wäre heute Nachmittag möglich?“
„Ja. Kommen Sie einfach vorbei.“
Jonas legte auf.
Stellte das Handy neben das Fernglas.
Beide lagen da, wie zwei Wege zur gleichen Tür.
Jonas griff zur Jackentasche und tastete nach dem kleinen Metallzylinder.
Ein prüfender Blick.
Das Spray war da.
Er steckte es zurück. Kein Gedanke daran, nur die Gewissheit, dass es da war.
Ein kurzer Griff in eine Welt, die er selten erwähnte.
Dann stieg er ins Auto.
Fechenheim.
Sein Viertel.
Bröckelnder Putz, abgestellte Einkaufswagen, der Geruch von Imbissbuden.
Die Straßen hatten Namen, die sich keiner merkte. Die Häuser wirkten, als hätten sie sich aneinandergelehnt, um nicht zu fallen.
Hier wohnte man, wenn man nichts mehr wollte – oder nichts mehr bekam.
Er fuhr los.
Die Straßen wurden breiter. Grüner.
Baumreihen, gepflegte Einfahrten, saubere Gehwege.
Dann die ersten Häuser mit Sicherheitskameras.
Tore mit Gegensprechanlagen.
Automatische Außenbeleuchtung.
Taunus.
Er sah es.
Aber er fühlte es auch.
Hier lebten Menschen, die nie auf die Idee kämen, ein Fernglas auf ein fremdes Fenster zu richten.
Die Welt war zu ihnen gekommen, nicht umgekehrt.
Jonas fuhr weiter.
Die Landschaft öffnete sich, dann wieder Hecken, Mauern.
Gärten mit Springbrunnen, Villen mit dunklen Scheiben.
Seine Gedanken drängten sich durch die Windschutzscheibe zurück in ihn hinein.
Lina.
Damals.
Wie oft hatte er am Fenster gesessen, die Augen auf ihr Zimmer gerichtet.
Eine Stunde. Zwei. Jeden Abend. Fast ein Jahr lang.
Dann war sie verschwunden.
Die Fenster blieben dunkel.
Die Vorhänge fielen.
Ein LKW stand vor dem Haus.
Dann nichts mehr.
Er hatte nicht gewusst, dass man jemanden verlieren konnte, den man nie gekannt hatte.
Ein Loch tat sich auf, leise, tief.
Kein Sturz. Nur ein Gleiten nach unten.
Und irgendwann stand er in Fechenheim.
Mit sich selbst. Und dem alten Sofa.
Jetzt war sie wieder da.
Er hatte geglaubt, sie vergessen zu haben.
Aber das stimmte nicht.
Er hatte nur aufgehört, daran zu denken.
Jetzt war alles wieder da.
Die Wärme.
Und das andere.
Plötzlich wurde ihm schwindlig.
Der Blick verschwamm. Die Finger verkrampften sich um das Lenkrad.
Ein inneres Ziehen in der Brust.
Flach, heiß.
Keine Luft.
Er zog das Auto auf die Seite. Zog die Handbremse.
Beugte sich vor, riss das Spray aus der Tasche, atmete aus, dann ein – ein Hub.
Stille.
Langsam kehrte der Atem zurück.
Er saß still da.
Hielt das Spray noch in der Hand.
Starrte durch die Windschutzscheibe auf das ruhige Straßenbild.
Du hast sie wiedergefunden, dachte er.
Deinen Trost. Deinen Ort. Deine Geschichte.
Und gleichzeitig war da etwas anderes.
Nicht so laut.
Nicht so leicht.
Dämonen, die nicht vergaßen, wo sie wohnten.
Er hatte sie mitgebracht. Oder sie waren nie ganz fort gewesen.
Er legte das Spray auf den Beifahrersitz.
Dann fuhr er weiter.
Jonas stand vor dem Haus.
Schwarzer Stein, klare Linien, große Fenster, wenig Verspieltes.
Alles an dem Gebäude schien sagen zu wollen: Ich bin durchdacht. Ich bin gewollt. Ich bin überlegen.
Natürlich hatte Thomas es selbst entworfen.
Das sah man sofort.
Jonas blickte hinauf zu den Fenstern im oberen Stock.
Die Fassade spiegelte den Himmel, verzerrte ihn leicht.
Kalt, dachte er.
Zweckmäßig.
Stark – und leer.
Die Tür öffnete sich.
Lina.
Ohne Mantel.
Nur in einem schlichten, grauen Pullover.
Sie wirkte fast durchsichtig.
Die Schultern zu schmal. Die Wangen zu eingefallen.
Ihre Bewegungen waren vorsichtig – als müsste sie gegen einen inneren Widerstand ankommen.
Etwas zog sich in Jonas zusammen.
Ein Schmerz, nicht stechend, aber tief.
Er erinnerte sich an das Mädchen von damals.
Das Licht in ihrem Gesicht.
Die Wärme, die von ihr ausging – selbst durch Fensterglas.
Und jetzt?
Er trat ein.
Der Eingangsbereich war offen, weit. Beton, Glas, dunkles Holz.
Kein einziges Bild an der Wand. Keine Pflanzen. Keine Unordnung.
Nicht einmal Schuhe im Flur.
Jonas ging langsam weiter, blickte sich um.
Er sah sich um – suchte, ohne zu wissen, wonach genau.
Früher hatte sie gezeichnet. Hatte ihre Bilder aufgehängt, als wollten sie atmen.
Jetzt: keine Bilder. Keine Linien, keine Farben, keine Spuren.
Keine Bücher. Keine Ecken, die lebten.
Nur Design.
Nur Thomas.
Wie ein Vogel in einem Käfig aus Glas und Beton.
Und der Sauerstoff reichte nicht mehr.
Jonas folgte ihr ins Wohnzimmer.
Sie rief aus der Küche:
„Ich habe Kaffee gemacht. Und Kuchen, ich habe ihn heute Vormittag noch gebacken.“
Ein kurzer Moment der Wärme durchfuhr ihn.
So beiläufig gesagt – und doch fühlte es sich an wie Fürsorge.
Für ihn.
Er wusste, das war vielleicht naiv.
Aber er erlaubte sich, es zu glauben.
Er setzte sich an den Tisch.
Der Stuhl war hart, aber der Raum um ihn herum wurde weicher.
Etwas war da – in ihm.
Ein Wunsch.
Oder ein Befehl.
Du musst sie retten. Du musst das tun. Für sie. Für dich.
Er ließ den Blick durch das Wohnzimmer wandern.
Regale, Gläser, ein stilisiertes Gemälde.
Dann – fast unscheinbar – auf der Fensterbank:
Ein kleines Holzpferd.
Jonas fror innerlich ein.
Abgewetzt. Kindlich.
Kaum passend zu den klaren Linien des Hauses.
Er stand auf. Ging näher.
Das Pferd war dunkelbraun, eine Mähne aus ausgefranster Schnur.
Er hatte es gesehen. Oft.
Damals.
Jeden Abend, wenn er sie beobachtet hatte, hatte es da gestanden.
Mal links. Mal rechts. Mal ganz vorn an der Scheibe.
Er hatte sich eingebildet, sie bewege es absichtlich.
Ein stummes Zeichen – nicht für ihn. Nicht bewusst.
Aber irgendwie doch.
Und jetzt – stand es wieder dort.
Genau an der Stelle, wo es damals gestanden hatte, an einem dieser Abende, die sich in ihn eingebrannt hatten.
Wie ein Gruß durch die Zeit.
Er spürte ein Zittern in den Fingerspitzen.
Vielleicht war es Zufall.
Oder ein Fehler in der Innenarchitektur.
Aber vielleicht auch nicht.
Vielleicht hatte sie es nie weggelegt.
Vielleicht hatte auch sie gespürt,
dass da jemand war.
Damals.
Still.
Und jetzt wieder.
Der Kaffee war heiß, der Kuchen weich, beinahe zerbrechlich.
Jonas nahm einen Bissen, lobte ihn kurz – und fragte dann, fast beiläufig:
„Wie lange kennen Sie Thomas eigentlich?“
Lina sah kurz zur Seite.
„Drei Jahre. Wir haben uns auf einer Veranstaltung kennengelernt, eine Vernissage. Er war sehr... charmant damals. Selbstsicher. Einer, der wusste, wie man wirkt.“
Sie machte eine kleine Geste mit der Hand, als wolle sie das Bild korrigieren.
„Ich war beeindruckt.“
Jonas nickte.
„Und irgendwann wurde mehr daraus?“
„Ja...“
Sie trank einen Schluck Kaffee.
„Es ging schnell. Ich war auf der Suche nach etwas Verlässlichem. Er hatte diese... Klarheit. Diese Weltgewandtheit. Er sagte, er brauche keine Ehe, er halte das für überholt.
Aber ich... ich hätte es mir gewünscht. Damals jedenfalls.“
Jonas erinnerte sich an ihr erstes Gespräch bei ihm im Büro.
Sie hatte von ihrem Mann gesprochen, nicht von ihrem Lebensgefährten.
Er sagte nichts dazu.
„Ich dachte, vielleicht ändert er irgendwann seine Meinung. Aber stattdessen wurde er... kühler.“
Jonas lehnte sich zurück.
„Seit wann merken Sie das?“
„Die letzten sechs Monate vielleicht. Da war... etwas. Er blieb höflich, kontrolliert. Immer korrekt.
Aber es war, als würde hinter der Oberfläche etwas brodeln.
Ich konnte es nicht benennen. Nur fühlen.“
Sie hielt inne.
„Seine Zärtlichkeit war... irgendwie leer.
Er war ganz da – und gleichzeitig nicht bei mir.“
Jonas wollte etwas sagen, fragte aber nicht.
Nicht, woher sie kam.
Nicht, was davor war.
Das wäre kein professionelles Interesse gewesen.
Also schwieg er.
Er blickte sich im Raum um.
Dann fiel sein Blick wieder auf das kleine Holzpferd auf der Fensterbank.
„Darf ich fragen – das Pferd da...?“
Er zeigte hin.
„Es wirkt fast zu verspielt für dieses Haus.“
Lina sah hinüber, lächelte schmal.
„Das ist alt. Eine Erinnerung an meine Kindheit. Ich hab es als kleines Mädchen mal im Fenster gehabt.
Ich weiß gar nicht mehr, warum ich es damals behalten habe.“
Jonas fühlte, wie sein Puls kurz stockte.
Er sagte nichts.
„Es gehört irgendwie zu mir“, fügte sie leise hinzu.
„Manche Dinge legt man nicht ab.“
Sie sah ihn an, als würde sie etwas suchen in seinem Blick.
Vielleicht Verständnis. Vielleicht nur einen ruhigen Moment.
Jonas hielt dem Blick stand.
Wollte etwas sagen – wusste aber nicht was.
„Und dann... war da dieser Anruf“, sagte sie nach einer Pause.
Ihre Stimme wurde noch leiser.
„Vor vier Wochen. Eine Frau. Sie klang... panisch.
Sie sagte, ich solle vorsichtig sein.
Dass Thomas gefährlich sei.
Sie hat seinen Namen gesagt. Und sie klang, als hätte sie Todesangst.“
Jonas schwieg.
„Ich hab das Gespräch immer wieder im Kopf. Diese Stimme.
Zwei Tage später hab ich seine Sachen durchsucht.
Ich hatte so ein... Drängen in mir.
Und ich habe etwas gefunden. Eine Schachtel, in seinem Arbeitszimmer.
Darin war eine Halskette. Blutverschmiert.“
Jonas sah sie an.
„Ich war wie erstarrt. Hab die Schachtel sofort wieder geschlossen.
Am nächsten Tag wollte ich ein Foto machen. Da war sie weg.
Aber das habe ich Ihnen ja, glaube ich, schon erzählt.“
Jonas sagte leise:
„Und dann ist er verreist.“
„Genau. Am Wochenende danach. Geschäftsreise, wie immer.
Ich... habe mir krankes Verhalten ausgedacht. Ich wollte Abstand.
Ich esse kaum noch. Tue so, als sei ich angeschlagen.
Er glaubt mir. Oder tut so. Ich weiß es nicht.“
Sie sah ihn an.
„Ich kann nicht ewig so tun. Und wenn er zurückkommt...
Ich weiß nicht, was dann passiert.“
Jonas schluckte.
In ihm arbeitete etwas.
Etwas Altes. Und etwas Neues.
Sie hatte Angst.
Und er wollte etwas tun.
Aber was – und wie – wusste er noch nicht.
Wäre es für Sie in Ordnung, wenn ich mir auch seine privaten Räume ansehe?“
Jonas’ Stimme klang ruhig, fast beiläufig.
„Das Schlafzimmer, vor allem den Schrank. Und danach vielleicht sein Arbeitszimmer.“
Lina zögerte kurz, dann nickte sie.
„Ja. Natürlich. Wenn Sie glauben, das hilft.“
Sie gingen gemeinsam in den ersten Stock.
Der Flur war hell, das Licht kühl.
Das Schlafzimmer lag zur Gartenseite hin – groß, fast zu groß.
Ein Bett mit metallischem Rahmen, zwei Nachttische, ein raumhoher Schrank, alles in gedeckten Tönen.
Eine sterile Klarheit.
Keine Kissen, keine Decke aufgeschlagen, nichts Persönliches.
Es sah aus wie ein Ausstellungsraum.
Jonas ließ seinen Blick schweifen – suchte instinktiv nach etwas von ihr.
Ein Buch, eine Tasse, eine Spur.
Nichts.
Dann sah er auf dem linken Nachttisch eine dunkelblaue Mappe.
Er deutete darauf.
„Gehört die Thomas?“
Lina schüttelte den Kopf.
„Nein, die ist von mir. Ich zeichne manchmal. Da sind nur ein paar Skizzen drin.“
Jonas nickte, sagte nichts.
Er hätte sie gern gesehen.
Vielleicht mehr über sie erfahren, über das, was sie sah – was sie empfand.
Aber das hätte seine Rolle gesprengt.
Stattdessen trat er an den Schrank.
„Haben Sie hier schon nachgesehen?“
„Ja“, sagte sie leise.
„Die unteren Fächer. Kartons, Schachteln, alles unten im Schrank. Auch die Kleidung. Ich hab alles durchgeschaut. Aber da war nichts.“
Jonas nickte, dann öffnete er die Türen.
Sortierte systematisch.
Jetzt war er wieder ganz Profi.
Keine unnötigen Fragen. Keine Kommentare.
Er arbeitete sich durch Hemden, Hosen, Sakkos, griff in Taschen, prüfte Etuis, Mappen.
Konzentriert, schweigend.
Nach zwanzig Minuten, beim Durchsehen einer Schublade, fand er es.
Ein gefalteter Zettel, eingeklemmt zwischen zwei Gürtel.
Er entfaltete ihn vorsichtig.
Eine Telefonnummer. Ohne Namen.
Ohne Kontext.
Er hielt ihn hoch.
„Sagt Ihnen das etwas?“
Lina trat näher.
Blickte auf die Zahlen.
Schüttelte langsam den Kopf.
„Nein... Ich glaube nicht. Aber...“
Sie schwieg. Dann sah sie ihn an.
Ihr Gesicht hatte sich verändert.
Die Wangen leicht gerötet, die Augen aufmerksamer, lebendiger.
Nicht vor Angst – sondern wegen der Möglichkeit.
Dem ersten Hinweis. Dem ersten Fund.
„Vielleicht gehört sie zu der Frau vom Anruf“, sagte sie leise.
„Vielleicht...“
Jonas steckte den Zettel vorsichtig in seine Jackentasche.
„Ich werde versuchen, etwas darüber herauszufinden.“
Lina nickte. Ihr Blick blieb an ihm hängen.
Eine Mischung aus Hoffnung – und etwas anderem.
Vielleicht Dankbarkeit.
Vielleicht auch nur Erschöpfung.
Jonas trat einen Schritt zurück.
Spürte, wie nah sie ihm war.
Und sagte nichts.
Das Arbeitszimmer lag am Ende des Flurs.
Schlichte Holztür, mattes Glas. Jonas blieb einen Moment stehen, bevor er eintrat.
Lina schloss hinter ihnen leise die Tür.
Der Raum war aufgeräumt, fast nüchtern.
Ein großer Schreibtisch, zwei breite Regale voller Aktenordner, ein Rollcontainer mit drei schweren Schubladen, ein Schrank. Auf dem Tisch stand ein hochwertiger Bildschirm, daneben ein Laptop. Alles war exakt positioniert – wie in einem Katalog.
Es roch leicht nach Papier und Metall.
Jonas sah sich um, konzentriert.
Hier war das Zentrum von Thomas’ Ordnung, seiner Kontrolle, seinem Denken.
Und vielleicht auch: seinem Versteck.
„Haben Sie hier schon nachgesehen?“
„Ein bisschen. Die Schubladen aufgezogen. Nichts Auffälliges.“
„Haben Sie sie herausgenommen?“
Lina runzelte die Stirn.
„Herausgenommen? Nein. Warum sollte ich?“
Jonas antwortete nicht, sondern beugte sich über den Rollcontainer.
Zog die erste Schublade auf. Dann komplett heraus.
Nichts.
Die zweite: schwer, klemmte ein wenig. Auch sie leer.
Die dritte war am schwersten.
Er musste ruckeln, dann löste sie sich mit einem dumpfen Klick.
Und da – hinten an der Wand, fast unsichtbar –
ein weißer Umschlag.
Mit zwei dünnen Klebestreifen befestigt.
Jonas griff hinein, löste ihn vorsichtig.
Ein einzelner Schlüssel lag darin. Klein. Unscheinbar.
Kein Etikett. Kein Hinweis.
Er drehte sich zu Lina um und hielt den Umschlag hoch.
„Das war gut versteckt.“
Lina trat näher, beugte sich über seine Schulter.
„Was... ist das? Ein Schlüssel? Woher...?“
„Hinter der untersten Schublade. Auf der Rückwand.“
Sie riss die Augen auf.
„Oh mein Gott. Das hätte ich nie gefunden. Wie haben Sie das...“
Jonas zuckte leicht mit den Schultern.
„Routine.“
Lina trat einen Schritt zurück, ihre Augen glänzten.
„Das ist unglaublich. Erst diese Nummer – und jetzt das.
Ich hab den richtigen gewählt, ganz sicher.
Sie sind wie in so einer Serie, wissen Sie? So ein echter Detektiv.“
Sie lachte, zum ersten Mal fast befreit.
Jonas lächelte verhalten.
Aber innerlich regte sich etwas.
Eine Mischung aus Freude – und einer leisen Enttäuschung.
Ich hab den richtigen gewählt...
Warum hatte sie das gesagt?
Weil er professionell war?
Effektiv?
Oder war da mehr?
Er hatte gehofft – insgeheim, kindisch –
dass sie ihn erkannt hatte.
Dass er nicht einfach irgendein Name war auf einer Internetseite.
Dass sie sich erinnerte.
An ein Fenster. An einen Blick.
An einen stillen Beobachter.
Aber natürlich...
das war Unsinn.
Ein Fantasiegebilde, an dem er sich festhielt wie ein Kind an einem Stück Holz im Wasser.
Er steckte den Schlüssel in seine Tasche.
„Ich versuche herauszufinden, wozu er gehört.“
Lina nickte.
„Ich hatte ein gutes Gefühl, Sie zu wählen.“
Jonas antwortete nicht.
Sein Blick glitt noch einmal über die Regale voller Aktenordner.
Reihenweise. Beschriftet. Sortiert.
Er wusste, dass er dort Wochen verbringen könnte – ohne Ergebnis.
„Die Akten... die kann ich nicht alle durchsehen. Das wäre wie in einem Archiv ohne Ausgang.“
Er sah sie an.
„Und wahrscheinlich bringt es keine Einsichten. Diese beiden Funde – die Nummer und der Schlüssel – das ist... ein Geschenk. Die beste Spur, die wir haben.“
Lina nickte langsam.
Etwas in ihrem Gesicht war weicher geworden.
Wir sollten raus hier“, sagte Jonas.
„Nur ein bisschen Luft. Abstand gewinnen.“
Lina sah ihn an, kurz unsicher – dann nickte sie.
„Das klingt gut.“
Sie fuhren gemeinsam in die Stadt, ein kleines Restaurant in einer Seitenstraße. Keine Kellner mit Krawatte, keine aufgesetzte Stimmung. Ein Ort, an dem man atmen konnte.
Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster.
Lina zog ihren Mantel aus, Jonas spürte einen kurzen Moment von etwas Alltäglichem – fast Normalem.
Sie bestellten Pasta und Wein. Nichts Kompliziertes.
Während sie auf das Essen warteten, begann Lina zu fragen.
„Was machen Sie jetzt mit der Nummer?“
„Ich werde sie anrufen. Sehen, wer sich meldet.“
„Und wenn keiner rangeht?“
„Dann... recherchiere ich weiter. Die Nummer rückverfolgen. Vielleicht bekomme ich heraus, zu wem sie gehört.“
Sie nickte, wirkte nachdenklich.
Dann zeigte sie auf Jonas’ Jackentasche.
„Und der Schlüssel? Wozu könnte der gehören? Ein Schließfach? Ein Lagerraum?“
„Kann sein. Vielleicht auch ein zweiter Wohnsitz. Oder was ganz anderes.“
Sie beugte sich ein wenig vor.
„Wie findet man so was raus? Ich meine – ohne gleich überall einzubrechen?“
Jonas lächelte.
„Ich kenne jemanden vom Schlüsseldienst.
Der hat Ahnung von Schlössern und Schließsystemen. Vielleicht erkennt er, wozu der passt.“
Lina sah ihn an, die Augen glänzten.
„Das könnten wir doch gleich morgen früh machen, oder?“
Jonas zögerte einen Moment.
Wir.
Das Wort hallte nach.
Es fühlte sich gut an.
Zu gut.
Er nickte.
„Klar. Morgen früh. Ich rufe ihn an.“
Das Essen kam. Sie begannen zu essen, und für einen Moment war da Ruhe.
Keine dunklen Gedanken. Kein Thomas. Kein Schlüssel.
Nur zwei Menschen, die miteinander sprachen.
Lina stellte noch mehr Fragen.
Wie geht man mit solchen Fällen um?
Was darf man? Was nicht?
Jonas beantwortete alles.
Sachlich – und doch war da eine Wärme in seiner Stimme, die sonst nie da war, wenn er über seinen Beruf sprach.
Sie lachte zwischendurch. Machte Bemerkungen.
Und er merkte, wie sich etwas in ihm aufrichtete.
Nicht aus Stolz – sondern aus Nähe.
Sie war an seiner Seite.
Wie eine Partnerin.
Natürlich war das alles unprofessionell.
Er wusste es.
Ein Detektiv bindet keine Klientin in seine Ermittlungen ein.
Er bleibt distanziert, kontrolliert, objektiv.
Aber er konnte nicht anders.
Er wollte nicht anders.
Lina öffnete die Tür.
Sie sah blass aus, aber gefasst.
Jonas wollte gerade etwas sagen, da bemerkte er, dass sie die Tür schon wieder zufallen lassen wollte – halb unbewusst, halb aus Instinkt.
„Warten Sie“, sagte er schnell.
„Lassen Sie heute bitte Ihr Handy hier.“
Sie sah ihn verwirrt an.
„Mein... Handy? Warum?“
„Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Falls Thomas irgendetwas auf Ihrem Gerät installiert hat. Tracking, oder so.“
Ein besorgter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.
„Aber... ich hatte es gestern bei mir. Im Büro.“
„Ich weiß. Deswegen fahren wir jetzt erstmal irgendwohin, wo man in Ruhe reden kann. Ich brauche einen Kaffee. Und ein Brötchen. Kommen Sie?“
Lina zögerte nur kurz, dann nickte sie und verschwand im Flur. Als sie zurückkam, hatte sie keine Tasche dabei.
„Okay“, sagte sie leise.
„Das Handy liegt im Wohnzimmer.“
Sie gingen zum Auto.
Die Fahrt verlief ruhig. Jonas fuhr konzentriert, aber innerlich arbeitete es in ihm.
Er wollte, dass sie sich sicher fühlte.
Und dass sie ihm vertraute.
„Ich habe etwas für Sie besorgt“, sagte er nach einer Weile.
Er griff in das Seitenfach der Mittelkonsole und reichte ihr ein schlichtes, neues Handy.
„Nur meine Nummer ist eingespeichert. Von jetzt an kommunizieren wir nur darüber.“
Lina nahm es in die Hand.
„Aber was sage ich, wenn Thomas nachfragt...?“
„Neben meinem Büro ist ein Internist. Sie könnten sagen, Sie waren zu einer Untersuchung wegen Ihrer Beschwerden.
Das passt zu Ihrer Zurückgezogenheit seit dem Anruf und dem Fund der Kette.
Ach ja – und Sie sollten noch heute einen realen Termin vereinbaren. Dann ist alles nachvollziehbar.
Beim zweiten Besuch hängen Sie den Terminzettel einfach an den Kühlschrank.“
Lina nickte langsam.
Sie verstand.
Und sie fühlte sich offenbar auch gesehen.
„Er ist so... selbstsicher“, murmelte sie.
„Ich weiß nicht, ob er überhaupt an so etwas wie Überwachung denkt.“
„Das ist gut möglich“, antwortete Jonas.
„Aber wir denken lieber für ihn mit.“
Sie fuhren in ein kleines Café, das Jonas kannte. Unauffällig, freundlich.
Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke, bestellten Kaffee, ein Croissant für sie, Brötchen für ihn.
Eine Weile schwiegen sie. Es war kein unangenehmes Schweigen.
Dann hob Lina den Blick.
„Und jetzt? Was machen wir als Nächstes?“
„Ich rufe die Nummer jetzt an.“
Jonas zog sein Handy hervor, stellte auf Laut und wählte die Nummer.
Ein Freizeichen. Dann:
„Hi Leute, hier ist die Melanie. Bin gerade nicht zu erreichen, sprecht was Nettes aufs Band, ich meld mich. Tschüss...“
Piep.
Jonas legte auf.
„Jetzt wissen wir immerhin, wie sie heißt“, sagte er.
„Melanie.“
Lina starrte auf die Tischplatte.
„Und wenn sie zurückruft...?“
„Dann habe ich eine Geschichte.“
Jonas nickte langsam, wie jemand, der innerlich bereits Optionen durchgespielt hatte.
„Ich sage, dass ich ihre Nummer im Handy gespeichert hatte – unter Melanie. Und dass ich nicht mehr wusste, wer sich dahinter verbirgt.
Ich frage dann, aus welchem Stadtteil sie kommt.
Und... ich erwähne, dass ich gerade mit meiner Frau Lina unterwegs bin – vielleicht ergibt sich ein Treffen.“
Lina hob den Blick. Ihre Augen suchten seinen.
„Ihre... Frau?“
Jonas versuchte, es zu entschärfen.
„Nur als Tarnung. Ein Paar wirkt harmlos. Vertraut. Das könnte ihr helfen, sich auf ein Treffen einzulassen.“
„Ja... stimmt“, sagte sie leise.
„Und wenn sie nicht darauf eingeht...?“
Jonas sah sie ernst an.
„Dann sage ich ihr die Wahrheit.
Ich warne sie vor Thomas Baumann.“
Lina schluckte.
Jonas spürte, wie sich die Welt für einen Moment verengte.
Nur noch sie zwei.
Ein stilles Bündnis.
Sie fuhren schweigend durch das morgendliche Frankfurt.
Der Himmel war wolkenverhangen, die Straßen glänzten vom nächtlichen Regen.
Jonas konzentrierte sich aufs Fahren. Lina starrte aus dem Fenster, als würde sie dort draußen nach etwas suchen, das ihr Halt geben konnte.
Zuerst fuhren sie zu seinem Bürogebäude.
Jonas zeigte auf den Eingang nebenan.
„Dort ist die Praxis. Dr. Harbeck. Ein erfahrener Internist, sehr diskret. Ich geh mit rein.“
Lina nickte, stieg aus.
In der Praxis war es ruhig. Zwei Patienten saßen im Wartezimmer, vertieft in ihre Handys.
Lina meldete sich an.
„Ich hätte gern einen Termin – vielleicht für nächste Woche? Eine Kontrolle, leichte Beschwerden.“
Die Sprechstundenhilfe war freundlich, professionell.
„Mittwoch 10:30 Uhr wäre möglich.“
Lina nickte.
„Passt.“
Sie bekam einen kleinen Zettel mit dem Termin – schlicht, mit Stempel und Uhrzeit.
Als sie wieder auf der Straße standen, sah Jonas sie an.
„Den hängst du an die Pinnwand in der Küche. Gut sichtbar. Wenn Thomas zurückkommt, sieht er: du bist in Behandlung.“
Sie nickte.
„Ich weiß nicht, wie ich ihm begegnen soll. Ich kann mich nicht mehr... normal verhalten. Nicht nach allem.“
„Du musst auch nicht. Du bist krank – und das ist jetzt sogar glaubhaft.
Du hast sichtbar abgenommen, wirkst angeschlagen. Der Arzt hat dir Ruhe verordnet. Und jetzt hast du sogar zwei Termine.“
Er machte eine kurze Pause.
„Wir brauchen nur noch einen Urinbecher aus der Apotheke. Den stellst du ins Bad. Für Mittwoch.
Das rundet das Bild ab. Du brauchst Distanz – und die bekommst du. Glaubhaft.“
Sie sagte nichts, aber ihr Blick sprach Bände.
Ein Moment der Stille, in dem sich etwas zwischen ihnen verdichtete.
Sie besorgten den Becher in der nächstgelegenen Apotheke, danach fuhren sie weiter.
Das Geschäft des Schlüsseldienstes lag in einer Seitenstraße, ein schmales Ladenschild, verstaubt, kaum auffällig.
Jonas’ Bekannter, ein Mann Ende fünfzig mit ölverschmierten Fingern und scharfem Blick, begrüßte ihn mit einem Kopfnicken.
„Zeig mal her.“
Jonas legte den Schlüssel auf die Theke.
Der Mann nahm ihn in die Hand, wog ihn, drehte ihn unter der Lampe.
„Kein Haustürschlüssel“, murmelte er.
„Und auch kein Postfach.
Die Kerben sind zu grob. Der Schliff zu kurz. Ich würde sagen: Garagentor. Oder Lagerhalle. Vielleicht ein Sicherheitsschrank.“
„Kannst du ihn nachmachen?“
„Klar. Gib mir einen Tag.“
„Morgen Mittag?“
„Passt.“
Sie verabschiedeten sich vom Schlüsseldienst-Mann, gingen zurück zum Auto.
Lina öffnete die Beifahrertür, hielt aber noch einen Moment inne.
„Es fühlt sich gut an... nicht nur zu warten“, sagte sie leise.
„Danke.“
Jonas sah sie an.
„Wir machen das zusammen. Schritt für Schritt.“
Sie nickte, stieg ein.
Als sie vor Linas Haus ankamen, blieb Jonas noch kurz im Wagen sitzen, während sie ausstieg.
„Ich ruf dich später an. Über das neue Handy.“
„Okay.“
Sie wandte sich zur Tür, blieb noch einmal stehen.
„Ich... bin froh, dass du der bist, der du bist.“
Jonas wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Er sah ihr hinterher, bis die Tür ins Schloss fiel.
Dann blieb er noch einen Moment sitzen.
Allein. Und doch nicht mehr so ganz.
Jonas fuhr durch den grauen Vormittag. Die Stadt schien noch nicht ganz wach.
In seinem Kopf hallte das letzte Telefonat mit Lina nach – ihre Stimme war leise gewesen, erschöpft.
Er erinnerte sich, wie sie gesagt hatte, sie freue sich, dass jemand endlich mit ihr sprach, ohne etwas zu fordern.
Und dass sie es schätze, wenn jemand einfach bleibt.
Er hatte sich dabei ertappt, wie er sich ausmalte, sie in einem anderen Kontext zu treffen – ohne Auftrag, ohne Thomas.
Ein Gedanke, der ihm Angst machte, weil er sich gut anfühlte.
Er bog von der Landstraße in den Taunus ab.
Das Viertel war sauber, aufgeräumt, die Häuser groß, architektonisch auf Wirkung gebaut.
Jonas fühlte sich in seiner alten Jacke plötzlich fehl am Platz, wie ein Besucher aus einer anderen Welt.
Die Einfahrt zu Linas Haus lag vor ihm. Er lenkte den Wagen langsam die kleine Steigung hinauf.
Und erstarrte.
Vor dem Haus stand ein schwarzer SUV – groß, glänzend, protzig.
Ein Mann stieg gerade aus, groß, dunkel gekleidet, mit einem Aktenkoffer in der Hand.
Jonas wusste es, bevor er es wusste.
Thomas.
Er trat auf die Bremse.
Der Mann sah direkt in seine Richtung.
Zum ersten Mal sah Jonas in seine Augen – und verstand Linas Angst.
Dieser Mann ließ keine Widersprüche zu.
Jonas zwang sich zur Ruhe.
Er öffnete die Tür, stieg aus, hob kurz die Hand wie ein Bekannter auf Irrwegen.
Thomas blieb stehen, sah ihn an.
„Kann ich helfen?“, fragte er. Die Stimme war ruhig, aber etwas lag darunter – eine Spannung, die Jonas sofort spürte.
„Oh, sorry“, sagte Jonas.
„Ich dachte, das wär die Nummer 36. Bin falsch abgebogen.“
Thomas trat einen Schritt näher.
„36 ist zwei Häuser weiter unten.“
„Klar, mein Fehler. War mit den Gedanken woanders“, sagte Jonas.
Ein halbgespieltes Lächeln. Ein Winken.
„Kennen Sie den in 36?“, fragte Thomas.
Er musterte Jonas, nicht aggressiv, aber spürbar prüfend.
„Nein, nicht persönlich. Ich... sollte was abgeben. Aber egal.“
Jonas ging langsam zum Auto zurück, stieg ein.
Er nickte noch einmal, drehte das Fenster herunter.
„Wünsche einen schönen Tag.“
Thomas sagte nichts.
Er sah ihm nach, als Jonas rückwärts die Einfahrt hinunterfuhr.
Langsam. Kontrolliert. Aber innerlich brannte alles in ihm.
Als er außer Sicht war, bog er in eine Nebenstraße und parkte.
Hände am Lenkrad.
Er wartete.
Dann griff er zum Handy.
Keine Nachricht von Lina. Keine Erklärung.
Er schrieb:
„Ich war eben kurz da. Thomas ist zurück. Warum hast du mich nicht gewarnt?“
Er wartete.
Keine Antwort.
Er tippte eine zweite Nachricht.
„Bist du okay?“
Wieder nichts.
Er legte das Handy beiseite, griff es wieder, sah aufs Display.
Nichts.
Die Minuten zogen sich. Die Geräusche der Straße, das Klopfen seines eigenen Pulses.
Sein Gedankenkarussell setzte sich in Bewegung.
War Thomas schon länger zurück?
Hatte er etwas bemerkt?
War Lina in Gefahr?
Er versuchte sich einzureden, dass alles okay ist.
Vielleicht kann sie gerade nicht ans Telefon.
Aber sein Körper glaubte ihm nicht.
Seine Finger waren kalt, seine Gedanken liefen im Kreis.
Er war draußen – und sie war wieder drinnen.
Mit ihm.
Lina öffnete das Fenster einen Spalt weiter. Kühle Morgenluft strömte herein und streifte ihre Wangen. Oben im Schlafzimmer war es stickig gewesen, das Lüften tat gut. Sie stellte sich vor, wie die frische Luft das Alte hinausspülte – das Unausgesprochene, die Angst, die Spannung.
Jonas wollte sie gleich abholen. Sie war spät dran. Ihre Haare waren noch nicht gemacht, das passende Oberteil lag irgendwo im Wäschekorb, und im Bad stand ihr Schminktäschchen offen auf dem Waschbeckenrand.
Zwischen dem Schlafzimmer und dem kleinen Bad ging sie hin und her, zog eine Bluse hervor, verwarf sie wieder, schlüpfte in eine andere. Sie wirkte zu hell. Eine dritte – zu eng. Der Spiegel zeigte ihr eine erschöpfte Frau, aber sie versuchte sich zu sammeln. Nur noch ein bisschen Concealer, ein wenig Wimperntusche, dann wäre sie fertig.
Sie hörte ein Geräusch.
Ein Wagen. Motor. Langsam. Die Auffahrt.
Ein leises Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Jonas. Pünktlich, wie immer. Sie ging zum Fenster, wollte es schließen, damit der Raum sich nicht zu sehr abkühlte.
Dann sah sie ihn.
Und erstarrte.
Nicht Jonas.
Thomas.
Sie rührte sich nicht. Stand einfach nur da, den Griff des Fensters in der Hand, wie eingefroren. Ihr Blick haftete an seinem Gesicht, als könnte sie durch pures Starren bewirken, dass er sich in Luft auflöste.
Er stieg aus, griff routiniert zum Kofferraum. Seine Bewegungen wirkten kontrolliert wie immer – ruhig, effizient, durchdacht.
Alarm.
Jonas. Jonas könnte jeden Moment hier sein!
Sie drehte sich abrupt um, lief los, rannte die Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal. In der Mitte stolperte sie, fing sich mit der Hand am Geländer, dann weiter.
Das Handy.
Das neue, das Jonas ihr gegeben hatte. Es lag auf dem Sofa, ganz offen, fast achtlos.
Sie erreichte es – und blickte gleichzeitig durch das große Fenster zur Einfahrt.
Jonas fuhr gerade vor.
Sie keuchte auf, fühlte, wie sich ein Schrei in ihrer Kehle sammelte, aber nicht herauskam. Nur ihr Atem ging stoßweise. Ihre Finger klammerten sich um das Handy, während ihr Blick Jonas’ Gesicht streifte.
Er hatte ihn gesehen.
Er wusste.
Und er reagierte.
Wie beiläufig stieg Jonas aus. Spielte den Verirrten, den Unaufmerksamen. Seine Körpersprache war entspannt – zu entspannt. Lina konnte kaum glauben, wie souverän er die Szene meisterte.
Thomas stand da, sein Blick prüfend, regungslos, die Arme locker am Körper, aber sein Nacken leicht gespannt. Wie ein Tier, das wittert.
Dann stieg Jonas wieder ein, fuhr rückwärts aus der Einfahrt.
Er war weg.
Lina presste sich die Hand auf die Brust. Ihr Herz raste. Ein Zittern durchlief ihre Knie.
Was, wenn Thomas das Handy findet? Was, wenn er misstrauisch ist? Sie musste es verstecken – jetzt.
Sie zog ihren Mantel vom Haken, schob das Handy tief in die Innentasche und schloss die Knöpfe darüber.
Dann fiel ihr der Terminzettel ein.
Der Arzt. Die Tarnung.
Sie holte ihn aus ihrer Handtasche, ging in die Küche und pinnte ihn mit einem kleinen Magneten an den Kühlschrank – gut sichtbar, beiläufig. Dann erinnerte sie sich an den Urinbecher.
Nicht vergessen.
Wieder die Treppe hoch. Ins Bad. Der Becher stand im Schrank, noch eingepackt. Sie riss die Verpackung auf und stellte ihn neben das Waschbecken. Unauffällig, aber sichtbar.
Wie eine Schauspielerin, die ein Bühnenbild arrangiert.
Sie blieb einen Moment im Bad stehen, atmete tief ein, dann aus. Ruhig. Ganz ruhig.
Sie hörte Schritte draußen. Koffer. Gepäck.
Sie ging nach unten.
Langsam.
Jeder Schritt bedacht.
An der Haustür hielt sie inne. Atmete noch einmal tief durch, dann öffnete sie.
Thomas stand draußen, hatte bereits drei Koffer auf den Kiesweg gestellt. Er lächelte – nicht freundlich, eher korrekt.
„Du bist schon da…“, sagte sie leise und trat hinaus.
„Früher Flug. Das Handy war weg. Ich konnte dich nicht erreichen.“
Sie umarmten sich flüchtig, ein Kuss auf die Wange. Nichts davon fühlte sich echt an.
„Ich hab mich erschrocken“, sagte sie.
„Ich dachte… du wärst jemand anders.“
„Wer war das gerade in der Einfahrt?“
Lina spürte, wie ihr Atem stockte.
„In der Einfahrt?“
„Ein Mann im Wagen. Schwarzer Kombi. Der ist hochgefahren, dann gleich wieder rückwärts raus. Ich hab ihn nur von hinten gesehen.“
Sie zwang sich zu einem Nicken.
„Ach so… keine Ahnung. Vielleicht jemand, der sich in der Adresse geirrt hat.“
Thomas sah sie einen Moment zu lange an.
„Ich dachte schon, jemand wollte zu dir.“
„Zu mir?“ Sie versuchte zu lachen, aber es klang gezwungen.
„Nein, wieso? Ich erwarte niemanden.“
Er trat näher.
„Du hast dich zurechtgemacht. Was hast du vor?“
Sie blinzelte. Hatte sich zu weit zurückgelehnt. Falsche Körpersprache.
Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft. Dann fiel ihr etwas ein – etwas, das sie schon mal erwähnt hatte.
„Ich… wollte zu Andrea in die Galerie. Wir wollten die Ausstellung besprechen. Ich hatte’s dir gesagt… glaube ich.“
Er nickte langsam.
„Stimmt. Du sagtest was davon.“
Aber seine Stimme war kühl, abwartend. Sein Blick glitt an ihr hinab – prüfend.
„Kommst du dann später wieder, oder bleibst du in der Stadt?“
„Nur ein, zwei Stunden. Danach bin ich wieder da.“
Er sagte nichts mehr. Drehte sich um, ging in den Flur und hob den ersten Koffer an.
Lina blieb stehen, versuchte ruhig zu atmen. Ein falsches Wort. Ein falscher Blick.
Und doch – sie hatte überstanden. Diesen Moment.
Gerade so.
Jonas saß im Wagen, die Hände lose am Lenkrad, der Blick leer auf die Frontscheibe gerichtet. Der Motor war aus, aber das Display des Bordcomputers leuchtete wie ein Mahnfeuer. Keine neue Nachricht.
Er wartete. Schon seit zwanzig Minuten.
Immer wieder sah er auf das neue Handy. Keine Meldung. Kein Signal. Kein Lebenszeichen von Lina.
Zuerst hatte er gedacht, sie brauche etwas Zeit. Vielleicht konnte sie nicht schreiben. Vielleicht war Thomas bei ihr. Vielleicht war sie einfach vorsichtig – zu Recht.
Aber mit jeder Minute, die verstrich, krochen sie zurück:
Die Zweifel.
Die Unsicherheit.
Die alten Stimmen.
Du hast dir zu viel eingebildet. Du warst nur eine Zwischenstation. Ein Mittel zum Zweck.
Jetzt ist Thomas wieder da. Und du? Du sitzt im Auto wie ein Schuljunge, der zu spät zum Tanzabend kam.
Er presste die Zunge gegen den Gaumen, versuchte sich zu fangen. Aber es war, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen – und alles, was er sich an Selbstsicherheit mühsam aufgebaut hatte, rann wieder ab.
War es das jetzt?
Hatte er sich getäuscht?
Diese Blicke, diese Nähe, der Kuchen, das Pferd am Fenster – hatte er mehr gesehen, als da war?
Vielleicht war sie einfach höflich gewesen.
Oder schlimmer:
Vielleicht war sie genauso einsam wie er. Und er war eben da. Zufällig. Austauschbar.
Er lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Die Kälte des Glases half kaum gegen die Wärme, die sich hinter den Augen angestaut hatte.
Er fühlte sich wie damals.
Wie nach dem Umzug nach Frankfurt.
Wie nach dem Tag, an dem Lina einfach weg war.
Weg. Einfach weg.
Sein Blick fiel auf das Handy. Er nahm es in die Hand, starrte auf den schwarzen Bildschirm.
Da – ein Ton.
Ein Vibrieren.
Er fuhr auf.
Endlich.
Aber es war nicht Lina.
Nicht ihre Nummer.
Unbekannt.
Eine lange Nummer – aus einer anderen Region.
Er atmete einmal tief durch, versuchte, seine Stimme zu ordnen, und nahm ab.
„Vellner.“
Eine Männerstimme.
Klar, ruhig, etwas kratzig.
„Guten Tag. Mein Name ist Konrad Westermann. Sie hatten die Nummer meiner Tochter angerufen.“
Jonas richtete sich im Sitz auf.
„Ihre Tochter?“
„Ja. Melanie Westermann. Ich habe ihr Handy. Es war ausgeschaltet, sie hat es anscheinend vergessen. Die Nummer Ihres Anrufs war die einzige, die nicht aus unserem Bekanntenkreis stammt. Ich dachte, ich frage mal nach.“
Jonas spürte, wie sein Detektivinstinkt gegen den inneren Aufruhr ankämpfte.
„Verstehe. Ich hatte versucht, eine Melanie zu erreichen. Es ging um eine Information. Dürfte ich fragen – ist Ihre Tochter… in Ordnung?“
Ein kurzer Moment Stille.
Dann:
„Sie ist fort. Seit vier Wochen. Einfach verschwunden.“
Lina fuhr. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Ihr Blick lag starr auf der Straße, aber ihr Kopf war noch im Haus. Bei der Umarmung. Bei seinem Blick. Bei der Frage.
„Du hast dich zurechtgemacht. Was hast du vor?“
Wie sie gestammelt hatte. Wie sie sich gerettet hatte.
Noch war nichts passiert. Noch nicht. Aber es fühlte sich an, als laufe ein unsichtbarer Countdown.
Sie verließ die Bundesstraße, bog in eine Seitenstraße ab. Irgendwo musste sie halten, kurz durchatmen, überlegen, was der nächste Schritt war. Jonas würde sicher in der Nähe sein – oder zumindest hoffen, dass sie sich meldete. Sie fuhr ein Stück weiter, zwischen Feldern und leeren Grundstücken. Dann sah sie einen schwarzen Wagen am Straßenrand.
Jonas.
Sie hielt, parkte knapp dahinter. Beide stiegen fast gleichzeitig aus.
Für einen Moment stand Lina einfach nur da und sah ihn an.
Wie kann es sein, dass ich genau in diese Straße biege?
Sie hatte sich nicht orientiert. Nicht überlegt, wohin. Einfach abgebogen. Und jetzt – Jonas.
Auch er zögerte kurz, als er sie sah.
Ein Hauch von Verwunderung huschte über sein Gesicht.
Natürlich. Sie findet mich. Oder ich sie.
Er wusste nicht, was er mehr glaubte – dass sie ihn gesucht hatte. Oder dass irgendetwas zwischen ihnen dafür sorgte, dass sie einander immer wieder fanden.
Ohne Absprache. Ohne Navigation.
Einfach so.
Dann ging er auf sie zu.
„Alles okay?“
Lina nickte, spürte aber, dass sich ihre Stimme beim Reden selbst kontrollierte.
„Er kam einfach. Ohne Ankündigung. Ich war oben, dachte, du wärst es. Dann hab ich ihn gesehen.“
„Und?“
„Ich bin runtergerannt. Hab dich gesehen. Du warst schon in der Einfahrt. Ich konnte dich nicht mehr warnen.“
Jonas nickte langsam, fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Er war noch ganz im Film, die Szene lief offenbar wieder und wieder in seinem Kopf ab.
Er dachte kurz an den Anruf. An die Stimme von Konrad Westermann. „Meine Tochter ist seit vier Wochen verschwunden.“
Er überlegte, es Lina zu erzählen – jetzt gleich. Aber etwas in ihm hielt ihn zurück. Vielleicht war es ihr blasser Teint. Vielleicht der Druck der letzten Stunden. Vielleicht war es einfach das Gefühl, dass jetzt nicht der richtige Moment war.
Nicht jetzt. Später.
„Wie bist du weggekommen?“
„Ich hab ihm gesagt, ich hätte einen Termin mit Andrea. In der Galerie. Ich hatte das mal erwähnt – aber es war nichts Konkretes. Jetzt hab ich’s als Ausrede genommen.“
Sie lächelte schwach.
„Hat funktioniert. Erstmal.“
Jonas nickte.
„Galerie? Du malst?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ja.“
Mehr sagte sie nicht. Und er hakte nicht nach.
Er war wieder bei der Sache. Die Mechanismen liefen.
„Okay. Dann fahren wir jetzt auch wirklich zur Galerie. Ruf Andrea an. Sag ihr, du kommst gleich. Und sag ihr auch, was Sache ist – also dass sie, falls Thomas anruft, bestätigen soll, dass ihr einen Termin habt.“
„Und wenn sie nicht im Atelier ist?“
„Dann soll sie sagen, sie hätte’s vergessen. Hauptsache, keine Lücke im System.“
Sie nickte, holte das Handy aus ihrer Jackentasche.
„Ich hab mein eigenes Handy zu Hause gelassen. Das, was Thomas kennt.“
Jonas blieb kurz still. Dann schüttelte er leicht den Kopf, aber mit einem Anflug von Anerkennung.
„Das ist gut. Sehr gut sogar. Falls Thomas dich trackt, wird er feststellen, dass dein Handy im Haus ist. Das verschafft uns Spielraum. Du kannst ihm später erklären, du hättest es in der Aufregung vergessen mitzunehmen.“
Lina wählte Andreas Nummer. Jonas trat ein paar Schritte zur Seite, starrte auf ein paar Ackerfurchen neben der Straße.
Er fühlte sich wieder wie in einem seiner Serien. Nur dass das hier echt war.
Zu echt.
Sie beendete das Gespräch.
„Sie ist im Atelier. Ich hab’s ihr erklärt – halbwegs. Sie macht mit. Fragt aber natürlich, was los ist.“
„Erzähl es ihr später. Jetzt fahren wir hin. Du mit deinem Wagen, ich hinterher.“
Sie nickte. Dann, fast zögerlich:
„Danke, dass du so ruhig bleibst.“
Er sah sie an, erwiderte nichts. Aber in seinem Blick lag ein Satz, der nicht ausgesprochen wurde.
Ich bleib ruhig, solange du bei mir bist.
Thomas saß still auf dem Sofa, den dampfenden Kaffee in der Hand, die Augen auf den geöffneten Laptop gerichtet. Er hatte den Tracker geöffnet, fast schon aus Gewohnheit – und jetzt blieb sein Blick auf dem kleinen blinkenden Punkt hängen.
Ihr Handy war noch im Haus.
Ein kurzer Stich – nicht aus Eifersucht. Nein. Aus einem wachsenden Unbehagen. Hatte sie es absichtlich zurückgelassen? Oder war es einfach vergessen worden?
Er tippte mit dem Finger auf die Tischkante. Wenn Lina etwas konnte, dann war es Kontrolle über Details. Sie vergaß selten etwas. Besonders nicht ihr Handy.
Vielleicht lag es noch in ihrem Atelier. Vielleicht hatte sie in der Hektik einfach nicht daran gedacht. Vielleicht.
Er trank einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. Er erinnerte sich genau, wie er das Trackingprogramm installiert hatte. Damals, vor ein paar Monaten. Sie hatte ihm in der Küche ihr Handy gereicht, während sie Gemüse schnitt. Er sagte, er müsse schnell eine Nummer nachsehen, sein eigenes Gerät läge oben im Büro. Sie hatte ihn nicht einmal angesehen. Vertrauen. Oder Naivität.
Innerhalb weniger Sekunden war alles erledigt gewesen. Das Programm hatte sich diskret eingenistet, mit einem falschen Icon, das aussah wie ein harmloser Kalender.
Er dachte an den Mann in der Einfahrt. Dunkler Wagen. Frankfurter Nummer. Die gespielte Verwirrung, das zu schnelle Zurückweichen. Zu professionell. Kein Irrtum.
Er stand auf, ging zum Sideboard und griff nach seinem Handy. Mit ruhigen Bewegungen wählte er eine Nummer, die er seit Jahren nicht mehr angerufen hatte. Die Leitung knackte, dann meldete sich eine tiefe Stimme mit rauem Unterton.
„Thomas altes Haus. Lange nichts von dir gehört.“
Thomas lächelte leicht. „Sven. Ich brauche eine kleine Recherche.“
„Was für eine Art klein?“
„Eine Kennzeichenabfrage. Und alles, was du über den Halter herausfinden kannst.“
„Privat oder beruflich?“
„Privat.“
Eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung. Thomas hörte ein Feuerzeug klicken. Dann: „Klar. Schick mir das Kennzeichen. Dauert nicht lange.“
Thomas tippte es ein. Genau wie er es sich gemerkt hatte. Schnell, zuverlässig, souverän.
„Und, Thomas? Was ist los? Klingt nicht wie ein Versicherungsfall.“
Thomas blickte aus dem Fenster, wo die Sonne langsam hinter den Bäumen versank. „Sagen wir… ich will nur wissen, ob ich richtig liege.“
„Verstanden.“
Er legte auf. Kein weiterer Kommentar. Kein überflüssiges Wort.
Thomas stellte das Handy neben sich, atmete durch. Er hatte einen Schritt getan. Einen ersten – aber entscheidenden. Bald würde er wissen, mit wem er es zu tun hatte. Und ob Lina glaubte, etwas verbergen zu können.
Er war nicht eifersüchtig. Er war aufmerksam.
Denn Kontrolle bedeutete: nicht überrascht zu werden.
Sie hatten einen Parkplatz in einer ruhigen Seitenstraße gefunden, keine drei Gehminuten von Andreas Galerie entfernt. Weil sie getrennt gefahren waren, konnten sie unterwegs nicht sprechen. Jetzt standen sie sich auf dem Gehweg gegenüber.
„Bevor wir reingehen“, sagte Jonas leise, „wir sagen ihr folgendes: Du vermutest, Thomas hat eine Affäre. Mehr nicht.“
Lina nickte. „Andrea kennt Thomas kaum. Nur beruflich. Das reicht als Erklärung.“
Jonas spürte, wie konzentriert Lina war. Fast professionell. Aber in ihren Augen lag diese angespannte Müdigkeit, die von innen kam.
Sie klingelten. Andrea öffnete – und stockte leicht, als sie Jonas sah.
„Oh – hallo!“
„Hallo Andrea“, sagte Lina. „Das ist Jonas. Ich wollte nicht allein kommen.“
„Ah… okay. Kommt rein.“
Sie führte sie ins Wohnzimmer. Es war geschmackvoll eingerichtet, ein paar ihrer eigenen Bilder hingen an der Wand, großflächige Acrylgemälde, kräftige Farben.
„Möchtet ihr etwas trinken?“
„Nur ein Wasser, danke“, sagte Lina. „Wir bleiben nicht lange.“
Andrea verschwand in die Küche, kam mit zwei Gläsern Wasser zurück, setzte sich und sah Lina direkt an.
„Also… was ist los?“
Lina atmete durch. „Ich wollte dir nochmal danken. Für heute Morgen. Dass du das so selbstverständlich übernommen hast.“
Andrea zuckte die Schultern. „Klar. Aber es klang irgendwie… dringend.“
„War es auch.“
Lina blickte zu Jonas. „Ich habe Jonas engagiert. Er ist Privatdetektiv.“
Andrea hob die Augenbrauen. „Oh. Okay.“
Jonas nickte knapp. Andrea wirkte bemüht, Haltung zu bewahren, aber ihr Blick glitt immer wieder kurz zu ihm – als müsse sie sein Gesicht einordnen.
„Ich vermute… dass Thomas mich betrügt“, sagte Lina ruhig. „Ich weiß es nicht sicher. Aber irgendetwas stimmt nicht. Seit Monaten.“
Andrea sah auf das Glas in ihrer Hand, fuhr mit dem Finger eine Spur an der Kante entlang.
„Also… dass ihr Probleme habt, hab ich schon gemerkt. Du warst irgendwie… verändert in letzter Zeit.“
„Ich hab es niemandem erzählt. Auch dir nicht. Aber es macht mich fertig. Ich musste etwas unternehmen.“
Andrea nickte langsam. Zu langsam.
„Und… Jonas beobachtet ihn jetzt?“
„Ein paar Tage lang. Vielleicht ist da gar nichts. Vielleicht bild ich’s mir ein. Aber ich halte es nicht mehr aus.“
„Und was glaubst du, wer… also, falls da jemand ist…“
Lina zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
Andrea presste die Lippen zusammen, als wolle sie etwas sagen – und hielt es dann zurück.
Jonas beobachtete das alles genau. Da war etwas. Nicht nur Mitgefühl. Nicht nur Überraschung. Da war Beklemmung. Und Angst.
„Ich habe Thomas gesagt, dass ich ein, zwei Stunden bei dir bin wegen der Ausstellung“, sagte Lina. „Falls er sich meldet – bitte bleib bei der Geschichte.“
„Natürlich.“ Andreas Stimme war wieder einen Tick zu schnell. „Das ist kein Problem. Ich sag das so.“
Jonas registrierte das Zucken in ihrem Mundwinkel. Und wie ihre Finger sich ineinander verschränkten. Fester, als nötig.
Ein paar Minuten später standen sie wieder draußen.
Beide schwiegen, gingen nebeneinander her zu ihren Autos. Keine Worte.
Lina, weil sie noch mit allem kämpfte, was sich seit dem Morgen ereignet hatte. Ihr Inneres war ein Wirbel.
Jonas, weil er seinen Verdacht noch für sich behalten wollte.
Andrea verbarg etwas.
Und Jonas wusste: Er musste es herausfinden.
Aber nicht heute. Noch nicht.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Lina leise.
Sie standen neben ihren Autos, die Köpfe noch voller Eindrücke. Jonas blickte zurück zur Galerie. Genau in diesem Moment fuhr ein Wagen direkt davor aus der Parklücke – perfekte Gelegenheit.
„Wir holen als Nächstes den nachgemachten Schlüssel ab“, sagte er ruhig.
Lina wurde blass. Der Schlüssel. Daran hatte sie nicht mehr gedacht. Ihre Augen weiteten sich, dann sackte sie leicht zusammen. Jonas reagierte sofort, fing sie auf, hielt sie fest.
„Ganz ruhig. Alles gut“, murmelte er.
Er sah sich um, entdeckte eine Bank am Straßenrand und trug sie beinahe dorthin. Vorsichtig setzte er sie auf die kühle Holzfläche.
„Geht’s?“
„Ich brauche nur einen Moment“, flüsterte sie. Ihre Finger krallten sich in die Bank, als müsste sie sich an der Welt festhalten.
Jonas nickte. „Ich parke meinen Wagen hier direkt vor der Galerie. Ich lasse ihn da stehen und fahre dann mit deinem Auto weiter. Bin gleich zurück, ja?“
Sie nickte noch einmal stumm.
Jonas ging zu seinem Wagen, fuhr langsam in die frei gewordene Parklücke. Das war Glück gewesen – direkt vor der Galerie, mit optimaler Empfangsposition.
Er öffnete das Handschuhfach und nahm ein kleines Gerät heraus – das Empfangsgerät, das mit der Wanze unter Andreas Tisch verbunden war. Er schaltete es ein. Eine grüne LED blinkte dezent. Die Verbindung stand.
Während des Gesprächs zwischen Lina und Andrea hatte er einen seiner üblichen Tricks genutzt. Er hatte sein Handy scheinbar ungeschickt fallen lassen – ein kurzer Griff unter den Tisch, ein Handgriff – und die Wanze haftete jetzt am inneren Eisenfuß des Tisches. Unsichtbar, aber empfindlich.
Andrea war nervös gewesen, das hatte Jonas sofort bemerkt. Wenn sie Thomas anrufen würde – und das war wahrscheinlich –, würde er vielleicht nicht hören, was er sagte, aber Andreas Part würde aufgezeichnet. Vielleicht war sie mehr als nur eine Bekannte. Vielleicht war sie seine Affäre.
Er schloss das Handschuhfach, blickte noch einmal auf das flimmernde Signal. Dann stieg er aus, überquerte die Straße und ging zu Lina zurück.
Er machte sich Sorgen um sie. Und gleichzeitig wurde ihm bewusst: Es war lange her, dass er sich um jemanden Sorgen gemacht hatte.
Andrea war außer sich.
Kaum hatte sich die Tür hinter Lina und diesem Mann geschlossen, begann sie auf und ab zu laufen. Drei Schritte zur Wand, dann zurück zum Sofa. Stehen bleiben. Hände an den Kopf. Wieder los. Ihr Herz raste, die Kehle wie zugeschnürt.
Ein Detektiv. Lina hatte wirklich einen Detektiv engagiert.
Und sie hatte… beinahe… sie wäre fast kollabiert. Als Lina das Wort Affäre aussprach – ganz beiläufig, ohne konkreten Vorwurf – war ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ihre Knie hatten gezittert. Ihr war schwindlig geworden. Sie hatte kaum noch zugehört, nur genickt, mitgespielt, irgendwie reagiert. Lina hatte es nicht bemerkt – aber der Detektiv?
Der hatte sie angesehen. Nicht offen. Aber ruhig, wachsam. Ein Blick, der durch alles hindurchsah. Wie eine Röntgenaufnahme. Sie fühlte sich durchleuchtet, nackt.
Andrea griff nach ihrem Handy, wählte Thomas’ Nummer. Ihre Finger zitterten. Es dauerte nur zwei, drei Sekunden – dann nahm er ab.
„Andrea.“
„Thomas – ich… sie war hier. Lina war hier.“ Ihre Stimme überschlug sich fast. „Und sie war nicht allein. Da war ein Mann bei ihr.“
Stille.
Dann seine Stimme. Ruhig. Klar. Fast seelenlos.
„Was für ein Mann?“
„Sie sagte, er sei ein Detektiv. Sie… sie vermutet etwas. Ich weiß nicht, ob sie alles weiß – aber sie hat das Wort Affäre gesagt. Nur angedeutet, aber es war da. Und das hat gereicht. Mir ist speiübel. Ich hab das nicht mehr lange durchgehalten. Ich glaube, ich bin total blass geworden.“
„Was hat sie genau gesagt?“
„Nichts Konkretes. Nur, dass sie das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt. Dass sie Klarheit will. Und dass sie ihn deshalb engagiert hat. Aber dieser Mann, Thomas…“ Sie schluckte. „Der hat mich angesehen, als wüsste er Bescheid. Als würde er’s spüren. Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde – aber ich hatte das Gefühl, der weiß mehr.“
„Wie sah er aus?“
„Blond. Nicht besonders groß. Bart. Gepflegt, aber leger gekleidet. Er war ruhig. Höflich. Aber sein Blick – der war gefährlich ruhig. So jemand, der nicht viel sagt, aber alles mitbekommt.“
Thomas schwieg einen Moment. Dann:
„Und sonst? Hat sie dir noch etwas gesagt? Über mich? Über euch?“
„Nein, nichts weiter. Nur das mit dem Verdacht – das reichte aber schon. Ich dachte, ich kippe gleich um. Thomas, was ist, wenn sie es weiß? Wenn sie es nur nicht ausspricht, weil sie mich nicht in eine blöde Situation bringen will?“
„Bleib ruhig. Du hast alles richtig gemacht. Wenn sie noch mal fragt, dann sag einfach, du willst dich da nicht einmischen. Und wenn der Detektiv zurückkommt – bleib neutral. Sag so wenig wie möglich.“
„Und wenn er mir Fragen stellt? Wenn er nochmal auftaucht? Ich meine – der weiß doch jetzt, wer ich bin.“
„Er wird nicht wiederkommen.“ Thomas’ Stimme wurde kälter. „Ich kümmere mich darum.“
Andrea zögerte. Ihre Stimme war jetzt ganz leise.
„Und… was ist mit uns?“
Thomas antwortete ohne Zögern.
„Wir müssen vorsichtig sein. Erstmal. Bis der Detektiv weg ist.“
Dann legte er auf.
Andrea stand noch immer da, das Handy in der Hand. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Ihr Herz schlug wild.
Sie wusste nicht, was ihr mehr Angst machte: Linas Ahnung. Oder Thomas’ Reaktion.
Der Kellner hatte sie vorhin gefragt, ob sie etwas essen wollten. Lina hatte schnell abgewinkt, und er wollte jetzt auch nichts essen. Er musste dringend mit ihr reden.
Sie saßen in einem kleinen Lokal in einem ruhigeren Viertel, das Jonas kannte. Es war unauffällig, gemütlich, mit schummrigem Licht und weichen Polstern. Jonas hatte diesen Ort gewählt, weil es hier niemanden interessierte, wer man war oder worüber man sprach. Ein Ort zum Luftholen – oder zum Nachdenken.
Lina saß ihm gegenüber, ein Glas Wasser vor sich, aus dem sie kaum trank. Ihre Augen waren müde, ihre Haltung eingefallen. Sie wirkte zerbrechlich, mehr als jemals zuvor.
Er selbst fühlte sich hin- und hergerissen. Ein Teil in ihm wollte sie einfach nur beschützen, für sie da sein, sie nie wieder alleinlassen. Ein anderer Teil – der Detektiv, der Vernünftige – wusste, dass es besser war, Abstand zu gewinnen. Für sie. Und für sich. Aber der Gedanke, sie jetzt in dieser Verfassung aus den Augen zu verlieren, war kaum zu ertragen.
„Wir müssen das alles jetzt gut strukturieren“, sagte er schließlich, so ruhig wie möglich. „Damit nichts auffliegt. Damit du sicher bleibst.“
Lina nickte nur. Ihre Schultern waren gesenkt, ihr Blick wanderte durch den Raum, ohne sich zu fokussieren.
„Thomas wird vermutlich am Montag wieder ins Büro gehen, oder?“
„Ja… meistens geht er montags.“
„Gut.“ Jonas nahm einen Schluck Wasser. „Dann bringst du den Schlüssel an genau dieselbe Stelle zurück. Der Umschlag klebt schon dort, so wie ich ihn gefunden habe. Du musst nur den Schlüssel wieder reinstecken, den Umschlag schließen und die Schubladen zurückschieben. Ganz ruhig, ganz systematisch. Er wird nichts bemerken.“
„Ich hab Angst“, sagte sie leise. „Aber… ich glaub, ich schaff das.“
„Du schaffst das“, sagte er sanft. „Ganz sicher.“
Ein paar Sekunden vergingen.
„Wegen heute Nachmittag – wir kaufen gleich noch Lebensmittel ein, okay? Und vielleicht ein paar Malutensilien. Wenn Thomas fragt, kannst du sagen, du warst nach dem Treffen mit Andrea noch einkaufen. Du brauchtest dringend noch Material für die Ausstellung.“
Sie nickte.
„Und dann… verbringst du so viel Zeit wie möglich in deinem Atelier. Isoliere dich dort, wenn du kannst. Sag ihm, du brauchst Rückzug und Ruhe zum Arbeiten. Es ist ja nicht gelogen.“
Lina schwieg.
„Wir telefonieren einmal am Tag. Immer zur gleichen Zeit. 16 Uhr. Nur über das neue Handy. Keine Anrufe aus dem Haus oder aus der Galerie. Geh kurz raus, zum Park. Drei Minuten zu Fuß.“
„Ja“, sagte sie tonlos. „Drei Minuten.“
„Wenn’s nicht geht, schick mir vorher eine Nachricht. Aber kein spontanes Anrufen. Kein Risiko.“
Er merkte, wie sehr sie kämpfte. Ihre Hände umfassten das Glas so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Jonas wollte sie berühren – einfach nur ihre Hand nehmen, ihr zeigen, dass sie nicht allein war. Aber er tat es nicht. Noch nicht.
„Ich weiß, ich hab dich zu sehr hineingezogen“, sagte er schließlich. „Ich hab das unterschätzt. Ich dachte, wir schaffen das zusammen, aber ich hätte dich mehr schützen müssen.“
Lina hob den Kopf. Ihre Augen waren glasig, aber klar. „Ohne dich… hätte ich gar nichts geschafft.“
Sie sah ihn an. So, wie ihn schon lange niemand mehr angesehen hatte. Nicht wie einen Detektiv. Nicht wie einen Retter. Sondern wie einen Menschen, dem man vertraute.
„Danke, dass du da bist“, sagte sie.
Wie zärtlich sie sprach. Es zerriss ihm das Herz. Jonas räusperte sich, seine Stimme klang ungewohnt weich.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er. „Ich bleibe an deiner Seite.“
In diesem Moment wusste er: Auch wenn er sich zurücknehmen musste – er würde sie nicht allein lassen. Nicht jetzt. Nicht mehr.
Thomas saß auf dem dunkelgrauen Ledersofa, die Beine übereinandergeschlagen, in der Hand eine Espressotasse. Er trank nicht. Der Kaffee war längst kalt. Seine Gedanken kreisten, klar und zielgerichtet wie ein Messer, das durch warmes Fleisch glitt.
Andrea hatte sich verraten. Nicht direkt, nicht mit Worten – aber er hatte es gespürt. Dieses leichte Zittern in der Stimme, das übertriebene Bemühen um Normalität. Sie hatte Angst. Und wenn sie Angst hatte, konnte man sie steuern. Für ihn war das nicht neu – Menschen in Angst waren leichter zu handhaben als Menschen in Liebe.
Er stand auf, ging ein paar Schritte durch das Wohnzimmer. Der Raum war minimalistisch eingerichtet, fast steril. Wie ein Schachbrett, das nur auf den nächsten Zug wartete.
Die Situation war ernst – aber nicht bedrohlich. Noch nicht. Wenn Andrea die Nerven behielt, würde Lina keine Beweise finden. Und dieser Detektiv? Der war ein Problem. Aber eines, das sich lösen ließ. Wie alle Probleme. Thomas’ Stärke war es, nie zu überreagieren. Er analysierte, beobachtete, wartete ab – bis er zuschlug.
Er griff zum Telefon, suchte Svens Nummer. Während es wählte, dachte er kurz daran, wie sehr er sich auf diesen Mann verlassen konnte. Sven war diskret, effizient, loyal – jedenfalls solange das Geld stimmte.
„Na, du hast es aber eilig“, meldete sich Svens Stimme, halb belustigt.
Thomas’ Stimme blieb ruhig. „Ich hab noch ein Anliegen. Technisch diesmal.“
„Was brauchst du?“
„Ich will wissen, ob meine Frau in meinem Haus irgendwelche Gespräche führt. Mit wem, wie oft. Telefonate, auch Gespräche im Raum – wenn möglich.“
Sven schwieg einen Moment. Dann: „Ich hab was Kleines. Erkennt ein- und ausgehende Anrufe, speichert Nummern und Zeit. Lässt sich auch als Wanze nutzen. Mikro ist drin. Wird getarnt an der Leitung oder Dose installiert.“
„Perfekt.“ Thomas nickte, obwohl ihn niemand sehen konnte. „Wie lange brauchst du?“
„Sag mir Bescheid, wenn sie nicht da ist. Ich bin in einer Stunde bei dir. Und in zwei Stunden wieder weg. Machen wir drei, großzügig.“
„Gut. Ich melde mich.“
Er wollte auflegen, als Sven sagte: „Ich hab übrigens schon was rausgefunden. Wegen dem Typen.“
Thomas schwieg, ließ Sven erzählen.
„Privatdetektiv aus Frankfurt. Fechenheim. Keine Website, kein Büro – mietet sich tageweise irgendwo ein. Keine offiziellen Verbindungen. Scheint ein Einzelgänger zu sein. Vom Typ her eher still, vergraben. Ich würd sagen: Ein gebrochener Mann.“
Thomas lächelte kaum merklich. „Du bist Gold wert, Sven. Immer ein Stück weiter als alle anderen.“
Sven lachte leise. „Sag ich doch.“
Thomas trat ans Fenster, sah in den grauen Himmel. Dann sagte er ruhig: „Es sieht so aus, als hätte meine Frau ihn engagiert. Gegen mich.“
„Tja. Und was willst du jetzt tun?“
Thomas drehte sich vom Fenster weg, blieb stehen. Seine Stimme war ruhig. Beinahe freundlich.
„Kannst du ihn für mich loswerden?“
Sven schwieg kurz.
„Kein Problem“, sagte er dann. „Ich kümmere mich darum.“
Thomas legte auf, ohne sich zu bedanken.
Er setzte sich wieder auf das Sofa, lehnte sich zurück. Alles verlief nach Plan. Die Kontrolle war fast vollständig wiederhergestellt. Nur ein paar Züge noch – dann war die Partie entschieden.
Nachdem Lina in ihren Wagen gestiegen war und den schweren Heimweg angetreten hatte, trottete Jonas langsam zu seinem parkenden Auto.
Seine Gedanken kreisten nur um Lina.
Lina war der Mittelpunkt seines Lebens geworden.
So, wie damals Tom es gewesen war.
Mit Lina war Licht in sein Leben gekommen. Wärme. Hoffnung.
Und ein kleines Pflänzchen Zuversicht begann zu wachsen.
Lina war für ihn aufgegangen wie eine Sonne.
Und wäre da nicht die ständige Sorge um ihre Sicherheit und ihren fragilen Zustand gewesen – ja, was dann?
Konnten sie zusammenfinden?
Als Freunde?
Als Paar?
Echte Liebe?
Liebe.
Jonas hatte diesen Gedanken längst begraben.
Er hatte nicht mehr viel vom Leben erwartet.
Er war längst zu einem Trinker geworden, der nur noch zum nächsten Schluck ansetzte – nur um seinen Betäubungspegel im Normbereich zu halten.
Aber jetzt… jetzt wuchs etwas in ihm.
Das spürte er ganz deutlich.
Alles, was ihn die letzten Jahre am Leben erhalten hatte, war nur Ersatz gewesen.
Existenz im Schatten.
Doch nun war er ins Licht getreten.
Und er wusste, wofür er diese neue Kraft einsetzen musste.
Lina befreien.
Ja – und er würde jetzt damit anfangen.
Er stieg in sein Auto.
Auf dem Beifahrersitz lag das Aufnahmegerät.
Er hatte es auf höchste Qualitätsstufe eingestellt.
So konnte er klarere Aufnahmen bekommen, bis zu acht Stunden am Stück.
Jetzt drückte er die Stopptaste.
Die Aufnahme wurde unterbrochen.
Fünf Stunden Material waren gesichert.
Jonas spulte an den Anfang zurück, schloss die Kopfhörer an und ließ die ersten Minuten laufen.
Schritte.
Geflüster.
Andrea fluchte.
Zehn Minuten lang.
Jonas konnte nur ahnen, wie sehr ihr Gedankenkarussell auf Hochtouren lief.
Dann Stille.
Sie stand oder saß.
Plötzlich hörte er sie leise sprechen:
„Thomas… Ich… Sie war hier. Lina war hier. Und sie war nicht allein. Da war ein Mann bei ihr.“
Ein Kribbeln durchfuhr Jonas.
Sie telefonierte mit Thomas.
Pause.
„Sie sagte, er sei ein Detektiv... Sie… sie vermutet etwas. Ich weiß nicht, ob sie alles weiß, aber sie hat das Wort Affäre gesagt. Nur angedeutet – aber es war da. Und das hat gereicht. Mir ist speiübel… Ich hab das nicht mehr lange durchgehalten. Ich glaube, ich bin total blass geworden.“
Pause.
Ein leises Schluchzen von Andrea.
„Nichts Konkretes. Nur das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dass sie Klarheit will. Deshalb hat sie ihn engagiert. Aber dieser Mann, Thomas…“
Pause.
„Der hat mich angesehen, als wüsste er Bescheid. Als würde er es spüren. Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde. Aber ich hatte das Gefühl, der weiß mehr.“
Pause.
„Blond, nicht besonders groß, Bart, gepflegt, aber leger gekleidet. Ruhig, höflich – aber sein Blick... Der war gefährlich ruhig. So jemand, der nicht viel sagt, aber alles mitbekommt.“
Pause.
„Nein, nichts weiter. Nur das mit dem Verdacht. Aber das reichte schon. Ich dachte, ich kippe gleich um.“
Pause.
Dann – fast ein Flüstern:
„Thomas, was ist, wenn sie es weiß? Wenn sie es nur nicht ausspricht, um mich nicht in eine blöde Situation zu bringen?“
Längere Stille.
Dann hörte Jonas, wie Andrea hastig aufstand.
Eine Tür schlug gegen die Wand.
Ein Toilettendeckel wurde hochgerissen.
Und dann – würgend, schluchzend – übergab sich Andrea.
Lina parkte den Wagen und stieg aus. Schon auf der Auffahrt spürte sie die Kälte, die von diesem Haus ausging. Es hatte sich längst verändert, war kein Zuhause mehr – nur noch eine Bühne, auf der sie eine Rolle spielte. Eine Rolle, die sie zermürbte.
Sie öffnete die Haustür. Eine schwere, beinah greifbare Stille empfing sie. Ihre Gedanken rasten. Wohin sollte sie gehen? Was sollte sie tun? Thomas würde sie niemals freiwillig gehen lassen. Er würde Wege finden, sie zu halten – fester als je zuvor.
Eine unsichtbare Macht lag über ihr, schwer und drückend. Es war nicht Liebe. Es war Besitz.
Sie zwang sich, die Jacke an die Garderobe zu hängen, zwang sich, normal zu wirken. Dann hörte sie es – das leise Kratzen eines Stifts auf Papier. Er war da.
Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen. Thomas saß am Schreibtisch, den Rücken gerade, den Kopf leicht geneigt. Er sortierte Papiere, machte sich Notizen, als wäre nichts gewesen.
Er blickte kurz auf, als er sie kommen sah.
„Hab dich eher erwartet“, sagte er ruhig.
Seine Stimme klang neutral, fast freundlich. Aber sie kannte ihn besser. Es war diese kontrollierte Freundlichkeit, hinter der sich etwas Dunkleres verbarg.
„Nach dem Treffen mit Andrea bin ich direkt zu meinem Auto. Und dann... hatte ich die Idee, noch ein paar Sachen einzukaufen. Lebensmittel, Malutensilien“, sagte sie, bemüht, ruhig zu klingen. „Ich wollte dich anrufen, aber... ich hab mein Handy vergessen.“
Sie atmete flach. „Ich dachte erst, ich rufe von einem Festnetz aus an, aber dann fiel mir ein, dass du gesagt hast, du hättest dein Handy auch verloren... Also hab ich es gelassen.“
Thomas nickte nur langsam, als müsste er das erst verarbeiten.
„Bin ziemlich erledigt“, fuhr sie hastig fort. „Irgendwas stimmt nicht mit mir. Ich war schon beim Arzt. Mittwoch hab ich einen weiteren Termin.“
Sie sah, wie sein Blick kurz aufflackerte – fast unmerklich. Aber da war es: ein winziger Funke. Er wusste von dem Zettel am Kühlschrank. Aber er wusste noch viel mehr.
Thomas schwieg. Keine Mimik. Keine Bewegung. Nur diese kalte Präsenz, die den Raum füllte wie Frost, der langsam in alles kroch.
Lina rang sich ein Lächeln ab. „Ich leg mich rüber ins Atelier. Muss eh noch die Sachen verstauen. Wir können ja morgen reden.“
Thomas lächelte. Ein höfliches, totes Lächeln.
„Natürlich“, sagte er. „Ruh dich aus.“
Sie drehte sich um, ging den Flur entlang, kam am Wohnzimmer vorbei – und blieb abrupt stehen.
Etwas lag auf dem Boden. Direkt unter dem Fenster.
Ihr Holzpferd.
Es lag da, der Kopf sauber abgetrennt, ein Stück vom Körper entfernt. Die zarten Beine verdreht, als hätte es sich noch im Sturz gewehrt.
Ein eisiger Schauer kroch ihren Rücken hoch. Ihre Kehle schnürte sich zu.
Sie stand einfach nur da und starrte.
Ein Schritt in die Kälte. Noch einer. Und wieder einer.
Die Kälte zog sie hinein, erbarmungslos
Jonas fuhr durch die dunklen Straßen der Stadt. Das Orange der Laternen schob sich streifenweise über die Windschutzscheibe, das Geräusch der Reifen klang gedämpft auf dem nassen Asphalt. Er saß tief in seinem Sitz, die Hände locker am Steuer, und dachte nach.
Er musste Lina da rausbekommen. Irgendwie. Aber er wusste auch, dass er sie nicht drängen durfte. Es musste ihre Entscheidung sein, aus freiem Willen. Alles andere würde nicht halten, nicht standhalten gegen das, was noch kommen konnte. Morgen. Morgen würde er beim verabredeten Telefonat um sechzehn Uhr die Wahrheit aussprechen. Alles, was er über Thomas und Andrea wusste. Der Betrug, der Verrat. Der Beweis, der keinen Zweifel mehr ließ.
Und dann… dann würde er hören, wie sie reagierte. Wenn sie Anzeichen zeigte, wenn sie sagte, sie könne nicht mehr in diesem Haus bleiben – dann würde er ihr versprechen, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um ihr zu helfen. Um sie zu beschützen.
Er bog in seine Straße ein und fuhr langsam an den parkenden Wagen vorbei, auf der Suche nach einer Lücke. Dabei streifte sein Blick im Vorbeifahren den dunklen Eingang des Hofes neben seinem Hauseingang. Etwas blitzte auf. Eine Zigarette. Glomm kurz auf und verschwand wieder im Dunkel.
Jonas’ Instinkt schlug sofort Alarm. Es war zu dunkel, um eine Gestalt klar zu erkennen, aber jede Faser seines Körpers spannte sich an. Das war kein harmloser Passant. Kein Nachbar, der spät heimkehrte. Etwas stimmte hier nicht. Er fuhr noch einige Meter weiter, fand eine Parklücke, zog den Wagen langsam hinein.
Sein Puls hatte angezogen. Routiniert griff er ins Handschuhfach und holte den kleinen Elektroschocker hervor, den er immer griffbereit hatte. Er legte ihn in seine Jackentasche, tastete kurz nach, ob er ihn schnell erreichen konnte. Sicher.
Mit einem kurzen Atemzug sammelte er sich, stieg aus und schloss den Wagen ab. Sein Blick ging sofort zum Hauseingang.
Alles ruhig. Zu ruhig.
Er ging los. Jeder Schritt kontrolliert. Keine hektischen Bewegungen, kein Zögern. Seine Sinne auf Anschlag.
Es war noch nicht vorbei. Das spürte er. Nicht einmal annähernd.
Die Straße lag still vor ihm. Kein Licht in den Fenstern. Kein Laut. Nur sein Herzschlag.
Er ging nicht direkt auf seinen Hauseingang zu, sondern wechselte auf die gegenüberliegende Straßenseite. So hatte er ihn im Blick – den Torbogen, der in den dunklen Innenhof führte. Sein Hof. Sein Eingang. Sein Zuhause. Doch jetzt wirkte er wie das Maul eines Raubtiers. Offen. Schwarz. Lautlos lauernd. Bereit, zuzuschnappen.
Die Zigarette, die er vorher in der Hand des Mannes gesehen hatte, war längst ausgegangen. Aber das war egal. Er wusste längst, dass da jemand wartete.
Kein Detektiv, der ihn beschatten sollte. Die kamen morgens, bei Tageslicht, mit Abstand und Notizblock. Nein. Der da im Schatten wartete, hatte andere Absichten. Gewalt. Einschüchterung. Eine Botschaft von Thomas Baumann.
Jonas blieb stehen. Seine Finger tasteten in der Jackentasche. Der Elektroschocker. Er zog ihn langsam heraus, hielt ihn eng am Körper. Keine Show. Kein Zögern. Wenn der Kerl sich rührte, würde er blitzschnell zuschlagen. Ohne Gnade.
Er ging weiter. Langsam. Jeder Schritt ein leiser Countdown. Noch drei Meter. Noch zwei. Dann blieb er stehen.
Nichts. Kein Laut. Keine Bewegung. Nur Dunkelheit, dicht und schwer wie Öl.
Aber er wusste, dass er da war. Spürte ihn. Die Präsenz – wie Druck auf der Brust. Jonas wartete. Hörte auf den Wind, auf Schritte, auf das Zittern seiner Nerven.
Dann kam der Angriff.
Ein dunkler Schatten löste sich aus dem Schwarz – ein Körper, groß wie ein Baum, schnell wie ein Tier. Die Wucht, mit der er aus der Deckung sprang, überrollte ihn. Jonas hob den Elektroschocker reflexhaft, zielte in Brusthöhe.
Zu spät.
Die Faust traf seinen Arm mit der Kraft eines Vorschlaghammers. Der Schocker schleuderte über den Asphalt, klirrte gegen einen Randstein und blieb dort liegen wie ein zerbrochenes Spielzeug.
Die zweite Faust kam aus der anderen Richtung – direkt in seinen Magen.
Die Welt brach zusammen.
Luft – weg. Alles verkrampfte sich. Sein Körper klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Er sackte zu Boden, keuchend, krampfend. Ein hässliches Geräusch kam aus seiner Kehle – kein Schrei, kein Wort. Nur ein Japsen.
Sein Nervensystem stürzte ab. Überforderung. Überreizung. Ein Befehl aus alten Tagen: Flieh. Versteck dich. Oder stirb.
Aber es gab kein Entkommen. Nicht hier. Nicht jetzt.
Er lag da – in der Kälte, am Boden. Über sich den Schatten, schwer und brutal. Und in seinem Innern – ein Gefühl, das er kannte, das ihn nie ganz verlassen hatte: Todesangst.
Keine Angst vor Schmerzen.
Sondern die nackte, uralte, kalte Angst zu sterben
Die Welt war kalt geworden. Kein Licht, keine Geräusche – nur der schneidende Schmerz in seiner Seite und die pochende Angst in seinem Nacken. Der Schläger hatte ihn wie ein Beutestück in diesen dunklen Hofdurchgang gezerrt. Jonas spürte die Wand im Rücken, den kalten Beton unter sich, den Schweiß auf seiner Stirn gefrieren. Die Nacht war plötzlich ganz nah – als wolle sie ihm auf die Schultern steigen und ihn zerdrücken.
Das Tier stand vor ihm. Ein Turm aus Fleisch und Gewalt, der sich nun langsam in die Hocke begab – wie ein Jäger, der sich Zeit nahm, um mit seiner Beute zu sprechen. Der Lichtschein vom Hof traf halb sein Gesicht: die gebrochene Nase, die Narbe über dem linken Auge, das selbstgefällige Lächeln. Sein Atem roch nach Wodka, aber seine Augen waren glasklar. Kein Rausch. Nur Berechnung.
„Du hast Glück, Schnüffler“, sagte er, das R rollte wie ein Knurren. „Du kriegst eine Chance, heil hier rauszukommen.“
Jonas’ Atem ging stoßweise. Seine Arme zitterten, als wollten sie gleich nachgeben. Die Panik hatte sich wie ein dunkles Tier in ihm eingenistet. Er spürte, wie sein Brustkorb arbeitete, pumpte, kämpfte. Noch war alles unter Kontrolle. Noch.
„Du lässt die Lady in Ruhe. Auftrag beendet, verstehst du?“ Der Russe schnippte mit den Fingern. „Peng. Ende der Geschichte.“
Er grinste. Nicht freundlich. Nicht menschlich. Dieses Grinsen gehörte jemandem, der wusste, wie Angst schmeckt – und sie liebte.
„Was du dir ausdenkst… ist mir egal. Familiäre Gründe, Burnout, Schnupfen, vielleicht hast du ein Kind in Kanada, das krank ist. Deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.“
Jonas wollte etwas sagen, aber sein Hals war trocken. Er spürte, wie seine Lippen zuckten – und wie der Russe nur darauf wartete, dass er sprach, um ihm das Wort im Mund umzudrehen.
„Aber solltest du auf die dumme Idee kommen, weiter zu schnüffeln…“ Der Hüne zog die Ärmel seiner Jacke zurück. „…dann zeig ich dir was.“
Er streckte ihm beide Fäuste entgegen. Die Knöchel waren Narbenlandschaften. Keine glatte Stelle. Nur verhärtete, blassrote Haut, als hätte sie nie aufgehört zu bluten.
„Sehen nicht gut aus, oder?“ Der Russe grinste. „Früher hab ich sie mir bei jedem Schlag aufgerissen. Immer wieder. Schmerzhaft. Nervig.“
Er griff in seine Jacke, holte ein Paar Lederhandschuhe hervor – rot, abgewetzt, mit Gebrauchsspuren an den Fingern. Eine Naht hatte sich gelöst.
„Die hier… machen es leichter. Ich kann fester zuschlagen. Und meine Hände bleiben heil.“ Er zog sie langsam über die Finger – wie ein Ritual. „Und das Rot? Passt gut zum Blut.“
Jonas’ Welt begann zu kippen. Das Sichtfeld wurde enger, die Geräusche dumpfer. Er kannte dieses Gefühl. Die Luft – sie ging ihm aus. Er nestelte an seiner Jacke. Das Spray. Wo war das Spray?
„Was ist los? Krämpfchen?“ Der Russe beobachtete ihn interessiert – als wäre er ein Insekt in einem Glas. Dann beugte er sich vor, durchsuchte grob Jonas’ Taschen. Seine Bewegungen waren schnell, aber kontrolliert.
Er fand das Spray. Hielt es ihm vors Gesicht. Schwenkte es wie eine Trophäe.
„Aha. Dein Zaubermittel.“ Er drehte es in den Fingern, musterte es wie etwas Wertvolles. Dann – überraschend sanft – reichte er es Jonas.
„Ich bin kein Unmensch.“
Jonas griff danach. Seine Finger schlossen sich darum wie um einen Rettungsring im Sturm. Er schaffte es kaum, es richtig zu halten. Die Hände taub vor Angst. Endlich führte er es zum Mund, drückte ab – ein Zischen, ein brennender Stoß. Der erste Atemzug ging ins Leere. Der zweite traf. Und der dritte… brachte ihn zurück.
Der Russe war längst aufgestanden, hatte sich abgewandt. Ging langsam aus dem Hofdurchgang – die Schritte schwer, genussvoll, wie ein Mann, der wusste, dass er gewonnen hatte.
„Wir sehen uns nicht wieder, Schnüffler“, sagte er über die Schulter hinweg. „Denn wenn doch… schlag ich dich zu Brei.“
Dann war er verschwunden.
Jonas saß noch immer da. Das Spray fiel ihm aus der Hand. Er hörte nur sein Herz. Und seinen Atem. Und die Angst, die in ihm tobte wie ein Sturm ohne Richtung. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er aufstand.
Und der Weg in seine Wohnung war länger als je zuvor.
Jonas schloss die Wohnungstür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die Stille war drückend, fast greifbar. Seine Hände zitterten, der Schlüsselbund klirrte leise. Er atmete flach, jeder Atemzug schien mühsam, als würde die Luft selbst Widerstand leisten.
Er ließ sich langsam zu Boden sinken, den Kopf gegen die Tür gelehnt. Die Bilder des Überfalls flackerten vor seinem inneren Auge auf: der Russe, die plötzliche Gewalt, der Schmerz. Sein Herz raste, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Der Asthmaanfall hatte ihn ausgelaugt, seine Bronchien brannten, jeder Atemzug war eine Qual.
Mit Mühe rappelte er sich auf und schleppte sich ins Wohnzimmer. Dort griff er nach der Flasche Whisky, die auf dem Sideboard stand. Ohne zu zögern, schenkte er sich ein Glas ein und trank es in einem Zug aus. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, doch er verspürte kaum etwas. Er wollte betäuben, vergessen, nicht fühlen.
Er setzte sich auf das Sofa, starrte ins Leere. Die Wohnung, einst sein Rückzugsort, fühlte sich nun fremd und bedrohlich an. Jeder Schatten schien sich zu bewegen, jedes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Die Sicherheit war ihm genommen worden, nicht nur draußen, sondern auch hier, in seinem eigenen Zuhause.
Er stand auf und ging ins Badezimmer. Vor dem Spiegel betrachtete er sein Gesicht: blass, eingefallene Wangen, dunkle Ringe unter den Augen. Der neue Pickel im linken Mundwinkel war das geringste seiner Probleme. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, doch die Erschöpfung blieb.
Zurück im Wohnzimmer ließ er sich erneut auf das Sofa fallen, zog die Decke über sich. Die Dunkelheit umhüllte ihn, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Stattdessen kreisten die Gedanken: Hätte er anders reagieren können? Hätte er den Überfall verhindern können? Die Selbstvorwürfe nagten an ihm.
Die Nacht verging in einem Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf. Albträume suchten ihn heim, der Überfall wiederholte sich immer wieder in seinem Kopf. Schweißgebadet wachte er auf, das Herz raste, die Atmung flach und schnell.
Am Morgen fühlte er sich wie gerädert. Der Tag begann, doch er hatte keine Kraft, ihm entgegenzutreten. Er blieb liegen, starrte an die Decke. Die Welt draußen schien weit entfernt, unerreichbar. In seinem Inneren herrschte Chaos, ein Sturm aus Angst, Scham und Ohnmacht.
Er wusste, dass er Hilfe brauchte, doch der Weg dorthin schien unüberwindbar. Die Isolation, die er sich selbst auferlegt hatte, wurde zur Falle. Er war gefangen in seinem eigenen Trauma, unfähig, einen Ausweg zu finden.
Lina wachte auf, ohne wirklich geschlafen zu haben. Der Morgen war grau, als hätte sich der Himmel mit ihrer inneren Welt abgestimmt. Sie richtete sich langsam auf, fröstelte und zog die Decke enger um sich. Das Atelier war still. Kein Geräusch drang von draußen herein. Nur ihr eigener Atem, ihr pochender Herzschlag – wie ein Echo ihrer Unruhe.
Sie war hierher geflüchtet. Thomas hatte nicht gefragt, wo sie schlief, und sie hatte es ihm nicht gesagt. Das Atelier – ihr Rückzugsort, ihr sicherer Raum, so gut es eben ging. Die Couch war unbequem, aber das war egal. Hauptsache, Abstand. Hauptsache, Luft.
Sie stand auf, fröstelte erneut, ging barfuß über den kalten Boden zum Fenster und schob die Vorhänge beiseite. Die Scheibe war leicht beschlagen. Sie strich mit dem Handrücken darüber, als wolle sie die Dunkelheit in sich selbst wegwischen.
Lina wusste nicht mehr, wie viele Tage sie sich schon hierher verkroch. Das Atelier war das Einzige, was ihr noch gehörte – zumindest fühlte es sich so an. Ein verwinkelter Anbau am Haus, den Thomas kaum betrat. Für ihn war es ein unnötiger Raum, eine Laune ihrer künstlerischen Phase, die er tolerierte wie man Unkraut am Wegrand toleriert, solange es sich nicht ausbreitete.
Der Raum war warm vom gestrigen Malen. Überall standen Farbtuben, Skizzen, leere Tassen, angefangene Leinwände. Der Geruch von Terpentin und Ölfarben hing in der Luft. Der alte Holzboden knarrte vertraut, die Fenster trugen Licht herein wie stille Komplizen. Hier konnte sie atmen. Zumindest manchmal.
Sie zündete die kleine Leselampe an der Staffelei an. Ihr Blick fiel auf das Bild, das sie gestern weitergemalt hatte. Es war fast fertig.
Ein Junge, vielleicht dreizehn oder vierzehn, stand hinter einem Fenster. In der Hand hielt er ein Fernglas, sein Blick ging hinaus – beobachtend, neugierig, aber auch suchend. Es war ein stilles Bild. Niemand sonst war zu sehen. Nur der Junge und das Fenster, durch das er in die Welt sah.
Lina setzte sich auf den Hocker, betrachtete das Bild lange. Dann nahm sie den Pinsel auf, strich einige Linien nach, schattierte das Glas, den Fensterrahmen. Malen bedeutete Rückkehr zu sich selbst. Wenn sie malte, war da ein Ort in ihr, der ruhig wurde. Ein Ort, der nicht fragte, nicht forderte. Nur war.
Und dieser Junge… dieser Junge war real. Er war nicht erfunden. Er war Erinnerung.
Damals, vor so vielen Jahren, hatte sie ihn bemerkt. Erst nur als Schatten am Fenster gegenüber. Dann als stillen Begleiter. Er hatte sie beobachtet – und sie hatte es gespürt. Nicht unangenehm. Im Gegenteil. Es war ein sehnsuchtsvoller Blick gewesen, fast wie eine heimliche Geste von Zuneigung.
Sie hatte es ihm leicht gemacht, dachte sie jetzt. Hatte Bilder an die Wand gehängt, kleine Szenen, die sie für ihn zeichnete. Ein Pferd, eine Landschaft, ein Gesicht mit geschlossenen Augen. Und natürlich das Holzpferd, das sie auf das Fensterbrett stellte – und immer wieder ein klein wenig anders platzierte. Eine geheime Sprache. Für ihn. Für diesen Jungen mit dem Fernglas.
Er hatte ihr das Gefühl gegeben, gesehen zu werden. Und das war damals alles gewesen. Mehr, als sie irgendwo sonst bekam.
Ein Klopfen. Zuerst leise. Dann ein zweites Mal, energischer. Ihr Herz setzte aus.
Sie stellte den Pinsel weg, wischte sich schnell die Hände an einem Lappen ab. Langsam ging sie zur Tür. Sie wusste, wer es war, noch bevor sie öffnete.
Thomas trat ein, ohne ein Wort zu sagen.
Er trug seinen Mantel, die Haare etwas zerzaust vom Wind. Sein Blick glitt durch den Raum, dann zu ihr. Er musterte sie einen Moment zu lang. Dann kam er näher.
Lina spürte, wie sich ihr Körper verkrampfte. Ihre Schultern zogen sich unwillkürlich hoch, ihre Hände schlossen sich zu Fäusten. Sie wich nicht zurück, aber sie wusste: Jede seiner Bewegungen war eine Drohung. Auch die langsamen.
Er legte seine Hände auf ihre Schultern.
„Du bist kalt“, sagte er leise.
Lina spürte nichts als Druck. In ihrem Inneren begann ein Bild zu wachsen – seine Hände wanderten nach oben, schlossen sich um ihren Hals, drückten zu. Sie sah es förmlich vor sich. Spürte den Luftmangel, den stummen Schrei. Doch er tat nichts. Seine Hände ruhten nur. Dann ließ er sie los.
Sein Blick fiel auf das Bild an der Staffelei.
„Für Andreas Ausstellung?“, fragte er beiläufig.
„Ja“, log Lina.
Er trat näher, betrachtete das Bild.
„Was soll das sein?“, fragte er. „Ein Junge mit Fernglas? Romantischer Kitsch.“
„Kindheitserinnerung“, sagte sie. „Ein Junge aus der Nachbarschaft. Ich glaube, er hat mich immer beobachtet.“
„Gruselig“, sagte Thomas. Aber sein Ton blieb ruhig. Kalkuliert. „Du meinst, er war verliebt in dich?“
Lina antwortete nicht. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Nein, dachte sie, er war nicht gruselig. Er war Licht in einer dunklen Kindheit.
Thomas nickte nur. Dann: „Ich muss nochmal ins Büro. Heute wird’s später bei mir.“
Sie sagte nichts. Er ging zur Tür, drehte sich noch einmal um.
„Mal nicht zu viel. Du siehst erschöpft aus.“
Dann war er weg.
Als die Tür ins Schloss fiel, sackte sie in sich zusammen.
Es war, als hätte sich ein Ring aus Stacheldraht um ihren Brustkorb gelöst. Die Luft kehrte zurück. Ihr Herz pochte wild. Der Geruch von ihm war noch im Raum. Sie öffnete das Fenster, stieß ihn hinaus.
Sie setzte sich wieder auf den Hocker. Starrte das Bild an.
Der Junge war immer noch da. Er sah sie an. Er war bei ihr geblieben. All die Jahre. Als wüsste er, dass sie ihn brauchen würde.
„Jonas…“, flüsterte sie.
Ein einziges Wort, gefüllt mit Sehnsucht, Hoffnung, Angst.
„Bitte… rette mich.“
Jonas hatte keine Ahnung, wie spät es war. Die Rollläden waren halb heruntergelassen, nur ein schmaler Lichtstreifen fiel auf den Fußboden. Staubpartikel tanzten im trüben Licht. Der Raum war still. Trostlos still.
Er lag auf dem Sofa – dem neuen, das er vom Sperrmüll gerettet hatte. Ironie des Schicksals: Es sah noch immer aus wie neu. Er hingegen nicht. Er fühlte sich wie etwas, das man auf die Straße gestellt hatte.
Sein Blick war leer. Die Lider schwer. In der rechten Hand hielt er eine leere Flasche. Die zweite stand auf dem Tisch. Halbvoll. Noch. Aber nicht mehr lange.
Er war gefallen. Wieder.
Lina war in Gefahr. Und was hatte er getan? Nichts. Gar nichts. Kein Plan. Kein Mut. Nur Flucht. In sich selbst. In den alten Trott. In den alten Schmerz.
Sein Kopf war schwer, die Gedanken laut. Zu laut. Sie überschlugen sich, trampelten durch ihn hindurch, als gäbe es keine Grenze mehr zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Tom.
Der Name kam einfach so. Kein Kontext. Kein Bild. Nur ein dumpfer Klang, der sich wie ein Messer durch seinen Brustkorb schob.
Er hatte versagt. Damals. Und heute.
Was hatte er sich eingebildet? Dass er Lina retten könnte? Dass er ein Held war? Dass er all die Jahre, all die Narben, den Schmerz einfach abschütteln könnte wie Staub von einem Mantel?
Er lachte. Kurz. Trocken. Es klang hohl. Wie eine Farce.
Er war kein Held. Kein Retter. Kein Mann, auf den man sich verlassen konnte.
Er war nur Jonas Vellner. Ein gescheiterter Detektiv. Ein Mann mit einem Fernglas und einem kaputten Herzen.
Die Flasche kippte zur Seite. Ein paar Tropfen liefen an seinen Fingern entlang. Kalt. Klebrig.
Langsam richtete er sich auf, taumelte in die Küche, öffnete den Schrank über der Spüle und holte die dritte Flasche heraus. Ungeöffnet. Noch. Er stellte sie auf die Arbeitsplatte, betrachtete sie lange. Fast ehrfürchtig.
Er wusste, was das war: sein altes Muster. Die Selbstzerstörung, die sich anfühlte wie Erlösung.
Trinken, um zu vergessen. Trinken, um zu verschwinden.
Es war der einfachste Weg. Der einzige, den er kannte.
Er nahm ein Glas. Goss ein. Setzte sich auf den Boden, die Wand im Rücken.
Wie ein Kind.
Wie damals, als er nach Toms Tod im Schrank saß. Mit geschlossenen Augen. Und der Hoffnung, dass alles von allein verschwand.
Nur war er jetzt nicht mehr acht Jahre alt.
Und doch genauso hilflos.
Er sah auf das Fernglas auf dem Couchtisch. Es lag da wie ein Mahnmal.
Lina.
Wie hatte er je glauben können, dass er gut für sie war? Dass er irgendetwas für sie tun konnte?
Er hatte ihr Hoffnung gemacht. Und gleichzeitig einen Schatten in ihr Leben getragen.
Thomas war zurück. Und Jonas war nicht stark genug, um zu bleiben.
Nicht stark genug, um sie zu schützen.
Nicht mal stark genug, um bei Verstand zu bleiben.
Er hatte geglaubt, sie zu erkennen. In der Bewegung. Der Strähne. Dem Blick.
Er hatte geglaubt, das Leben gäbe ihm eine zweite Chance.
Aber das Leben tat das nicht.
Nicht ihm.
Er hob das Glas und trank. Langsam. Schluck für Schluck. Jeder davon ein kleines Vergessen.
Die Zeit verlor sich.
Er wusste nicht, ob Minuten vergingen oder Stunden.
Er wusste nur: Er war wieder da, wo er immer endete.
Allein.
Mit dem Rauschen im Kopf.
Mit den Stimmen, die ihm sagten: Du bist zu nichts nütze. Du wirst sie zerstören – wie du alles zerstörst. Geh. Geh einfach.
Er rollte sich auf die Seite. Das Glas entglitt seinen Fingern, blieb heil.
Er schloss die Augen.
Irgendwo in der Ferne klopfte der Regen an die Fensterscheibe. Oder war es sein Herz?
Er wusste es nicht mehr.
Ein leises Bild kam ihm –
Er dachte an ihre Stimme.
An das, was sie gesagt hatte:
„Ich bin froh, dass du der bist, der du bist.“
Ein Stich. Tief.
Sie wusste nicht, wer er war.
Er war nicht der, den sie sah.
Er war der, den er selbst nicht mehr aushielt.
Das war keine Pause mehr. Kein Rückzug.
Das war Kapitulation.
Er lag da. Regungslos. Die Flasche in der Hand.
Und das Letzte, was er dachte, bevor der Schlaf ihn holte, war:
Vielleicht ist sie wirklich besser dran – ohne mich.
Lina wartete. Fünf Minuten. Zehn. Fünfzehn. Eine halbe Stunde.
Nicht, weil sie glaubte, dass Thomas etwas vergessen hatte und zurückkehrte. Thomas vergaß nie etwas. Sein Leben war eine einzige präzise Abfolge von Handlungen, ein Uhrwerk, das sich selbst regierte.
Früher hatte sie das bewundert. Es hatte ihr Halt gegeben. Verlässlichkeit. Sicherheit.
Heute wusste sie: Das war keine Stärke gewesen. Es war ein Netz. Und sie war darin gefangen.
Thomas’ Ordnung hatte sich in ihr Leben gefressen. Zuerst in die Abläufe. Dann in ihre Gedanken. Dann in ihre Haut.
Wie Frost, der sich erst auf die Fensterscheiben legt – und irgendwann bis ins Herz vordringt.
Sie war ausgekühlt.
Nur Jonas brachte Wärme. Hoffnung. Ein Gefühl von Leben.
Daran klammerte sie sich jetzt.
Sie durfte nicht scheitern.
Mit dem Schlüssel in der Hand ging sie ins Arbeitszimmer.
Jeder Schritt ein Mantra: Du kannst das. Ruhig bleiben. Alles wie besprochen.
Sie atmete tief durch, beugte sich über den Schreibtisch. Erste Schublade. Die ließ sich leicht ziehen.
Die zweite – da war Widerstand. Ihr Herz pochte, aber sie wusste: Jonas hatte sie auch nur mit Mühe rausbekommen.
Sie ruckelte. Einmal. Noch mal.
Die Schublade sprang heraus.
Erleichterung flackerte auf.
Jetzt die dritte.
Sie klemmt.
Natürlich.
Sie versuchte es mit Kraft, aber die Mappen und Unterlagen in der Schublade waren schwer. Thomas’ ganze Welt in Plänen. Berechnungen. Strukturen.
Sie nahm alles vorsichtig heraus. Legte sie genau so auf dem Schreibtisch ab, wie sie lagen.
Dann – endlich – bekam sie die Schublade leer und raus.
Sie ging auf die Knie. Das Herz pochte bis in die Fingerspitzen.
Jetzt nur noch – der Umschlag.
Sie blickte in den Hohlraum.
Leer.
Kein Umschlag.
Ein kalter Schlag ging durch sie hindurch.
Sie schaute noch einmal. Linke Ecke. Rechte Ecke. Nichts.
Sie griff hinein, tastete alles ab. Kein Papier. Kein Klebeband. Kein Schlüssel.
Sie starrte in das leere Dunkel, wie in einen Abgrund.
Dann kam der Gedanke – der eine, klare, grausame Gedanke:
Thomas hat es entdeckt.
Sie ließ sich auf den Boden sinken. Die Hände zitterten.
Das war es.
Er wusste es.
Er wusste, dass sie in seinen Dingen war.
Dass sie ihm nicht mehr glaubte.
Dass sie ihm folgte.
In ihrem Kopf begann alles zu rasen. Wie hatte er es gemerkt? Wann?
Was wusste er?
War es Zufall gewesen? Hatte er kontrolliert?
Oder hatte er sie durchschaut – längst?
Sie hörte plötzlich nichts mehr, nur noch das Rauschen des eigenen Bluts.
Panik griff nach ihr.
Sie hatte keine Zeit. Keine Erklärung. Keine Ausrede.
Sie hatte einen Krieg erklärt.
Und Thomas hatte es verstanden.
Thomas saß in seinem SUV. Die Stadtgrenze von Frankfurt glitt an ihm vorbei. Noch zwanzig Minuten bis zum Büro.
Er fuhr konzentriert, ruhig. Und dachte nach.
Lina.
Sie hatte es wirklich gewagt.
Ihm nachzustellen.
Ein Lächeln zuckte über seine Lippen – kühl, fast mitleidig.
Wie töricht sie war. Und wie durchschaubar.
Zorn war da, ja – spürbar wie eine Flamme, die nach Nahrung suchte.
Aber sie würde kein Feuer entfachen. Nicht bei ihm.
Nicht bei Thomas Baumann.
Er wusste, wie man eine Flamme kontrollierte.
Wer die Kontrolle verlor, verlor die Macht. Und Macht war etwas, das er niemals abgab.
Sie hing sich an diesen Detektiv wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz.
Sie dachte, sie sei klug. Dachte, sie könnte ihn überlisten.
Fast rührend.
Er wusste längst, was passiert war.
Der Schnüffler hatte den Umschlag gefunden, den Schlüssel kopiert – und geplant, ihn unbemerkt zurückzulegen. Alles perfekt.
Bis auf einen einzigen Fehler: seine frühzeitige Rückkehr.
Thomas’ Hände lagen ruhig auf dem Lenkrad.
Heute Morgen hatte er den Umschlag aufgesucht.
Leer.
Ein Schlag, ja. Aber einer, den man in eine Waffe verwandeln konnte.
Er hatte den Umschlag entfernt. Kein Wort verloren.
Nur eine beiläufige Bemerkung in Linas Richtung – dass er ins Büro müsse.
Er hatte sie allein gelassen.
Mit ihrer Angst.
Ihrem Wissen.
Ihrem Schweigen.
Er genoss die Vorstellung, wie sie jetzt zu Hause saß – starr vor Furcht, vielleicht im Begriff, den Schlüssel zurückzulegen, in der Hoffnung, es wäre unbemerkt geblieben.
Was sie nicht wissen konnte:
Er wusste längst Bescheid. Und er würde es nie ansprechen. Kein Wort. Kein Vorwurf. Keine Diskussion.
Sie würde mit der Angst leben – und nie wissen, wie viel er tatsächlich wusste.
Das war Macht.
Die wahre.
Er griff zum Handy, wählte Svens Nummer. Keine fünf Sekunden – dann war er dran.
„Na, Thomas. Ich hab schon auf deinen Anruf gewartet.“
„Wie sieht’s aus?“
„Ich hab zwei Männer auf ihn angesetzt. Gestern Abend kam einer an ihn ran – direkt vor seiner Haustür. Hat ihn abgefangen. Und ordentlich Druck gemacht. Glaub mir, das hat gesessen. Der Detektiv ist K. O., wenn du mich fragst. Ich wette, er wird Lina in den nächsten Tagen von sich aus absagen.“
Thomas schwieg. Dann:
„Und der andere?“
„Hängt weiter an ihm. Ein Profi. Verfolgt seine Schritte. Falls er noch was im Schilde führt, kriegen wir’s mit.“
Thomas nickte, mehr zu sich selbst.
„Gut. Aber es gibt noch was.“
„Sag’s.“
„Falls Lina – wider Erwarten – zu ihm geht... ich will, dass sie abgefangen wird. Kein Zufall mehr. Kein Risiko. Das muss enden.“
Sven zögerte.
„Das ist machbar. Aber der Typ, der ihn beobachtet, ist nicht der richtige dafür. Ich müsste den von gestern wieder dazuholen.“
„Tu es.“
„Das wird was kosten.“
„Geld spielt keine Rolle.“
Thomas beendete das Gespräch.
Dann legte er das Handy beiseite, griff fester ans Lenkrad.
Ein Anflug von Zufriedenheit schlich sich in seine Miene.
Alles lief nach Plan.
Thomas hatte sich nichts anmerken lassen.
Kein Wort. Kein Blick. Kein Vorwurf.
Er wusste es – das war sicher. Und doch: kein Streit, keine Konfrontation, kein Versuch, etwas aus ihr herauszuholen. Einfach nur Schweigen. Ein Schweigen, das lauter war als jede Anschuldigung. Es war das Schweigen eines Mannes, der längst wusste, wie das Spiel ausging – und es trotzdem weiterspielte.
Lina saß am Fenster im Atelier. Der Himmel war grau, unbewegt. So wie alles in ihr.
Warum sagte er nichts?
Warum keine Aussprache? Kein ehrliches Wort?
Sie hätte es nicht gekonnt. Nicht als Erste. Dafür war er zu kalt. Zu kontrolliert. Zu übermächtig.
Diese letzten Monate… es war, als hätte jemand langsam das Feuer gelöscht. Kein Streit. Keine lauten Worte. Nur das langsame Abkühlen eines Hauses. Und eines Herzens.
Doch der Umschlag. Der verdammte Umschlag. Das hätte der Wendepunkt sein müssen.
Er wusste, dass sie davon wusste. Er musste es wissen. Das hätte der Moment sein können – ein ehrliches Gespräch, eine Entscheidung.
Stattdessen?
Ein Spiel.
Ein Katz-und-Maus-Spiel. Und sie war die Maus. Klein. Zittrig. Verstummt.
Die Angst war nicht mehr diffus – sie war überall. In ihren Fingern, in ihrer Brust, in jeder Falte ihres Denkens. Die Vorstellung, dass er zurückkam und so tat, als sei nichts gewesen, brachte sie an den Rand.
Sie musste hier raus. Jetzt. Noch heute.
Sie griff nach ihrem Handy. Keine Uhrzeit mehr, keine 16-Uhr-Verabredung. Jetzt.
Sie wählte Jonas’ Nummer. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Freizeichen.
Mailbox.
Sie rang nach Luft. Und sprach.
„Jonas… ich… es ist was passiert… bitte ruf mich an, ich… ich muss mit dir sprechen. Es ist wichtig.“
Sie legte auf. Ging im Atelier auf und ab. Rang mit sich. Dachte nach – aber jeder Gedanke endete im selben Labyrinth: Angst.
Sie rief wieder an. Mailbox. Diesmal erzählte sie ihm vom Umschlag. Dass sie weiß, dass Thomas weiß. Ihre Stimme zitterte.
„Ich hab so eine Angst. Er spielt mit mir, Jonas. Ich… ich halt das nicht aus.“
Wieder Minuten. Keine Antwort.
Die Uhr an der Wand tickte. Die Angst nagte. Kein Jonas.
Sie rief wieder an. Und wieder. Und sprach nichts mehr auf.
Sie konnte nicht mehr. Ihre Beine gaben nach. Sie rutschte an der Wand hinab, saß verkrümmt am Boden, die Arme um sich geschlungen, die Stirn auf die Knie gepresst.
Die Tränen kamen leise, dann schneller, dann unaufhaltsam.
Sie nahm das Handy, mit zitternden Fingern, wählte noch einmal. Die Mailbox sprang an.
Sie sprach.
Leise.
Zerbrochen.
„Jonas… ich kann nicht mehr. Ich bin leer. Ohne Kraft. Ich… ich kann keine einzige Stunde mehr hier bleiben. Ich muss weg. Bitte hilf mir. Du bist mein einziger Halt. Ohne dich…“
Ein Schluchzen zerschnitt ihre Worte.
„… ohne dich glaube ich, verliere ich mich ganz. Du hast mir Mut gemacht. So viel Mut. Ich konnte mit dir sogar wieder lachen. Weißt du das? Ich hab mich lebendig gefühlt. Bei dir.“
Eine lange Pause.
„Bitte… steh mir bei. Ich fahre jetzt. Nach Frankfurt. Ich kann hier nicht bleiben. Ruf mich zurück. Bitte. So schnell wie du kannst.“
Ihre Stimme war kaum noch hörbar.
„Danke, Jonas. Danke…“
Sie legte auf.
Und blieb sitzen.
Ein zerbrechlicher Mensch in einem stillen Raum – aber in ihr, da war gerade etwas zerbrochen. Oder geboren worden. Vielleicht beides.
Lina war in Alarmbereitschaft. Jeder Muskel stand unter Strom, als hätte sie sich innerlich längst verabschiedet. Es war keine Flucht aus Panik, sondern ein geplanter Rückzug – so rational, wie es eben geht, wenn das Herz rast und der Atem flach bleibt.
Sie stand im Schlafzimmer. Der große Rucksack lag geöffnet auf dem Bett. Fünfzig Liter – mehr Platz war nicht. Fünfzig Liter, um ein ganzes Leben tragbar zu machen.
Sie begann mit dem Wichtigsten. Eine dunkelblaue Dokumentenmappe – darin alles, was zählte: Reisepass, Ausweis, Krankenkassenkarte, Verträge, Bankunterlagen, die Kopie eines alten Testaments. In diesem Punkt war sie durchorganisiert. Die Mappe verschwand ganz unten im Rucksack.
Dann die kleine Schublade in der Kommode. Erinnerungen. Fotos, ein zerschlissenes Poesiealbum, vergilbte Briefe, ein Schlüsselbund aus Kindertagen. Und das Holzpferd mit dem abgebrochenen Kopf. Einen Moment hielt sie beide Teile in der Hand, dann legte sie sie behutsam zwischen die Kleidung.
Ein paar T-Shirts, zwei Pullover, eine Jogginghose, Unterwäsche, warme Socken. Die Regenjacke – man wusste nie, wie lange man draußen sein würde. Ihre bequemen Turnschuhe, die sie sonst für Spaziergänge im Park trug. Alles rein. Schnell, aber bedacht.
Ihr altes Handy blieb auf dem Tisch liegen. Das neue, das Jonas ihr gegeben hatte, lag aufgeladen auf der Fensterbank. Sie griff danach, prüfte den Akkustand und steckte es in die Innentasche ihrer Jacke. Dieses Handy war ihre Verbindung zur Freiheit – zu Jonas.
Fast fertig. Sie ging noch einmal alles im Kopf durch. Vielleicht hatte sie etwas vergessen – aber jetzt war keine Zeit mehr für Listen.
Dann – das Geräusch.
Ein Motor. Langsam, schwer. Eine innere Stimme flüsterte sofort: Thomas.
Sie stürzte ans Fenster. Das Herz klopfte bis in den Hals. Durch den leichten Vorhang sah sie den schwarzen SUV in die Einfahrt rollen.
Nein. Nein. Nicht jetzt. Es war zu früh. Sie hatte gedacht, sie hätte noch Zeit.
Panik schoss durch sie hindurch. Sie wich vom Fenster zurück, stieß beinahe gegen die Kommode. Die Vordertür war keine Option. Nicht mit dem Rucksack auf dem Rücken. Er würde sofort alles verstehen – die Flucht, den Verrat, die Vorbereitung. Alles auf einen Blick.
Der Garten. Die Mauer.
Sie schwang den Rucksack über die Schulter, rannte aus dem Schlafzimmer. Kein Blick zurück. Kein letzter Gruß ans Atelier. Keine Umarmung für das Haus. Sie hatte es innerlich längst verlassen.
Unten im Flur: das leise Klicken der Türklinke – Thomas’ Schlüssel im Schloss.
Die Mauer. Wie?
Not gebar eine Idee.
Die Stehleiter.
Sie riss die Tür zur Abstellkammer auf, schnappte sich die kleine Klappleiter. Ohne sich umzusehen, lief sie weiter, die Leiter unter dem Arm. Sie riss die Hintertür zur Terrasse auf – und stürmte in den Garten.
Lina rannte. So schnell sie konnte. Der Rucksack schlug ihr gegen den Rücken, die Trittleiter unter dem Arm war schwer, unhandlich – egal. Sie keuchte, spürte, wie ihr Brustkorb brannte. Aber sie lief weiter. Weiter. Weiter. Ihr Körper schrie nach Pause, nach Sauerstoff, nach Halt – aber es gab keinen Halt. Kein Nachdenken. Nur das: Weg.
Ihr Denken war längst ausgeschaltet. Das sympathische Nervensystem hatte übernommen. Reptiliengehirn. Flucht oder Kampf. Flucht. Keine Sekunde gezögert. Nicht bei Thomas.
Ihr Herz pochte wie ein Schlaghammer. In ihrem Innern war ein Trommler erwacht – dumpfer Rhythmus, schneller werdend, schneller, schneller. Das Adrenalin peitschte sie wie eine Galeerensklavin. Noch ein Schritt. Noch ein Takt. Noch ein Peitschenhieb.
Die Mauer kam in Sicht. Endlich. Sie konnte sie sehen – sehen, nicht erreichen. Noch nicht. Die Leiter schlug gegen ihre Seite, ein Schmerz, irgendwo, aber sie ignorierte ihn. Der Rucksack schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden, aber sie hielt durch. Sie sah die Mauer – ihre Mauer – und sie wusste, das war ihr Ausgang. Ihr letztes Hindernis. Ihr Sprung aus dem Käfig.
Sie warf die Leiter von sich – mit aller Kraft, als wollte sie sie durchbrechen. Die Metallbeine schlugen gegen den Stein, kippten zur Seite. Der Rucksack? Weg damit. Ein Ruck über die Schulter, ein Schwung – und er segelte über die Mauer wie ein Spielzeug. Kein Gewicht mehr. Nichts hatte mehr Gewicht.
Sie stellte die Leiter auf, beinahe im Lauf, sprang darauf, zwei Stufen, drei – dann der Absprung. Kein Zögern. Keine Berechnung. Sie flog. Landete mit dem Bauch auf der Kante der Mauer. Schmerz durchzuckte sie, irgendwo im Unterleib. Egal. Sie spürte ihn kaum. Nur das Jetzt.
Hände an der Kante. Fest. Rutsch nicht ab. Nicht jetzt.
Rechtes Bein drüber. Rutschen. Ziehen. Alles, was geht.
Sie saß. Rittlings auf der Mauer. Ein Reiter auf der Grenze zwischen Gefangenschaft und Freiheit.
Dann das linke Bein. Ein Ruck. Sie war oben. Ganz oben.
Unten: der Gehweg. Ihr Rucksack. Wie ein wartender Hund.
Sie peilte. Atmete einmal. Dann sprang sie.
Lina brauchte einen Moment, um wieder Luft zu bekommen. Die Hände auf die Knie gestützt, der Oberkörper vornübergebeugt, als müsste sie sich vor der Welt verneigen. Ihre Lunge brannte. Ihr ganzer Körper bebte. Ihre Knie waren weich, jeder Schritt schien plötzlich zu viel.
Zwei Jungs standen ein Stück weiter auf dem Gehweg und hatten alles gesehen. Der eine ließ einen Basketball rhythmisch aufs Pflaster prallen, als sei nichts gewesen. Lina richtete sich langsam auf, schnaubte durch. Die Panik saß ihr weiterhin im Nacken.
Sie sah sich um. Die nächste Kreuzung – zu weit. Thomas wusste jetzt Bescheid. Der Alarm hatte in dem Moment ausgelöst, in dem sie oben auf der Mauer war. Die Drucksensoren waren empfindlich. Thomas würde keine Sekunde zögern. Er war keiner, der hinterherlief. Er würde seinen Wagen nehmen. Und die Straßen absuchen. Eine nach der anderen. Berechnend. Zielstrebig.
Ein Gedanke blitzte in ihr auf. Sie sah zu den beiden Jungs.
„Hey!“
Die beiden schauten auf. Der Basketball kam zum Stillstand.
„Ihr wollt doch zum Basketballplatz, oder?“
Sie nickten, kichernd, ein wenig verwundert.
Lina griff in ihren Rucksack, zog ihr Portemonnaie heraus, fischte zwei Zehner hervor und drückte jedem einen Schein in die Hand.
„Wenn ein Wagen hält und der Fahrer euch fragt, ob ihr eine rennende Frau gesehen habt – sagt ihm, sie ist in Richtung Habsburgerstraße gelaufen und dann links abgebogen. Habt ihr das?“
Die Jungs grinsten, freuten sich über das schnelle Geld und zogen los. Einer von beiden ließ den Ball noch einmal laut auf den Asphalt knallen, als Zeichen, dass sie ihren Auftrag verstanden hatten.
Lina hatte keine Zeit zu verlieren.
Sie überquerte schräg die Straße und lief zügig, aber nicht auffällig, auf das Haus von Frau Reichert zu. Unauffälligkeit war jetzt alles. Kein Rennen mehr. Keine Hektik. Thomas würde suchen, und er würde gut suchen.
Frau Reichert kannte sie gut. Eine ältere Dame mit scharfem Verstand und weichem Herz. Lina hatte ihr vor Monaten ihre entlaufene Katze zurückgebracht, seitdem verband sie eine leise, fast zärtliche Bekanntschaft. Sie war ein paar Mal auf einen Kaffee dagewesen, hatte kleinere Besorgungen für sie gemacht. Es war nie viel, aber genug, dass ein stilles Vertrauen zwischen ihnen gewachsen war.
Sie bog auf das Grundstück ein, öffnete das kleine Gartentor, nahm den Weg um das Haus herum. Weg von der Straße, raus aus der Sichtachse. Im hinteren Garten stand Frau Reichert auf der Terrasse. Sie trug Handschuhe und war gerade dabei, eine Topfpflanze umzutopfen.
„Oh! Lina“, sagte sie erschrocken, „ich hab das Klingeln nicht gehört.“
„Ich hab nicht geklingelt“, sagte Lina leise und trat auf sie zu.
Ohne zu fragen, nahm sie Frau Reichert in den Arm. Nur einen Moment. Einfach halten.
Die alte Dame blieb still, erwiderte die Umarmung mit zögernder Wärme.
„Mädchen… was ist denn los?“
Lina flüsterte: „Kann ich kurz bleiben? Nur ein bisschen. Ich erklär’s dir später.“
Frau Reichert nickte, ohne weiter zu fragen.
Und Lina wusste – für diesen einen Moment war sie in Sicherheit.
Thomas betrat das Haus und blieb einen Moment stehen. Die Stille war anders. Nicht wie sonst.
Er zog die Jacke aus, hängte sie mechanisch an die Garderobe und ging in die Küche. Der Griff zur Kaffeemaschine – wie immer. Die Abläufe gaben ihm Sicherheit. Ordnung. Kontrolle. Die Maschine blubberte, füllte die Tasse. Er hob sie an die Lippen, blies kurz über den Rand – und in diesem Moment vibrierte seine Smartwatch.
Ein Alarmsignal. Jemand ist über die Mauer.
Thomas erstarrte. Dann, ganz ruhig, drehte er sich zur Terrassentür, trat zwei Schritte vor. Durch die Scheibe sah er die Leiter, die noch an der Gartenmauer lehnte.
Es dauerte keine zwei Sekunden. Er verstand sofort.
Sie war geflohen. Sie wollte gehen, doch seine Ankunft ließ sie kopflos fliehen.
Über die Mauer. Wie eine Gefängnisausbruch. Er lächelte innerlich. Er stellte sich ihre Panik vor, ihre Angst, dass er sie verfolgen würde.
Er nippte an seinem Kaffee. Genoss die Hitze, die ihm über die Zunge lief. Das war nicht sein Stil.
Stattdessen ging er ins Wohnzimmer, stellte die Tasse ab, begann systematisch das Haus zu durchsuchen. Ihre Jacke hing noch am Haken. Ihre Tasche war noch da, auch der Koffer. Aber der Rucksack fehlte.
Ein schneller Entschluss. Kein langfristiger Plan. Das war beruhigend. Sie war nicht vorbereitet. Nur ein Rucksack. Sie hatte Angst. Und Panik. Gut so.
Er griff nach der Jacke, tastete die Innentasche ab – fand ein Handy.
Er drehte es in der Hand. Schaltete es nicht ein. Musste er nicht. Ein zweites Handy, natürlich. Der Detektiv. Wie sie wohl kommuniziert hatten? Mit Vorsicht. Heimlich. Albern.
Ihr eigentliches Handy lag noch in der Küche. Zwei Handys – und keines war bei ihr.
Ein Fehler.
Sie war überstürzt geflohen. Konnte ihn jetzt nicht mehr telefonisch erreichen. Wer merkt sich schon Telefonnummern?
Zwei Optionen. Vellners Wohnung – oder sein Büro. Ohne Telefon, ohne Kontaktaufnahme, wären das die natürlichen Anlaufpunkte.
Bei der Wohnung hatte Sven schon jemanden positioniert. Gut. Dann fehlte nur noch das Büro.
Er griff zum Telefon. Wählte Svens Nummer. Keine Umschweife.
„Sie ist geflohen. Wahrscheinlich zu Vellner. Ich brauche einen zweiten Mann. Vor seinem Büro.“
Sven war, wie immer, vorbereitet. „Schick mir sofort ein Foto von ihr. Dann kümmere ich mich. Zwei Stunden und der zweite ist vor Ort.
Thomas nickte. „Sie hat kein Handy bei sich. Keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Entweder sie taucht auf oder falls sie doch vorher einen Treffpunkt ausgemacht haben sollten, wird Vellner sich in Bewegung setzen.
„Dann haben wir sie“, sagte Sven.
Thomas legte auf. Stille kehrte zurück. Er ließ sich auf das Sofa sinken. Ganz ruhig.
Er griff in seine Jackentasche – und zog einen kleinen, metallischen Gegenstand hervor. Ein Schlüssel. Eine exakte Kopie.
Der Schlüssel aus dem Umschlag.
Er betrachtete ihn einen Moment lang. Spürte, wie sich ein kaltes, triumphierendes Lächeln auf seine Lippen legte.
Bald.
Sehr bald.
Würde sich alles erfüllen, was er geplant hatte.
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2025
Alle Rechte vorbehalten