"Bedrückt dich irgendwas?" Marias Stimme ist sanft wie immer. Sie blickt entspannt aus dem Fenster und saugt die Farben der Landschaft in sich auf. Sie hat mir das einmal erklärt. Verstanden habe ich es nicht. Alles um sie herum, die Natur, hat eine Kraft und strahlt diese aus. Farben, Formen, Töne, Gerüche sind Sprachen die uns erreichen wollen, oder so ähnlich. Man muss diese Geschenke nur annehmen, sagt Sie. Ich tue solche Aussprüche nur als esoterisches Geplänkel ab und lache innerlich darüber. Maria weiß das und lässt nie locker mit Versuchen mich zu überzeugen mehr spirituell zu denken. Da stößt Sie bei mir aber auf Granit. Ich denke halt durch und durch wissenschaftlich. Für mich gibt es für alles eine Erklärung. Für Maria ist die Welt voller Wunder.
"Nein, mein Schatz, mache dir keine Sorgen, mir geht es gut. Ich denke nur über den Job nach. Ich will mich verändern. Wir haben ja schon darüber geredet. Es lässt mich halt nicht los. Vielleicht wird es in den Ferien für mich klarer, was ich machen will. Am Strand mit dir", füge ich hinzu und lächele. Sie fängt mein Lächeln wie ein Ball auf, spielt kurz damit herum und wirft es zurück.
In Wirklichkeit bin ich verzweifelt. Der Job ist im Grunde genommen perfekt. Wissenschaftler an der Universität von Princeton. Wer würde das nicht als Traumjob bezeichnen? Und doch bin ich nicht zufrieden. Ich bin 55 Jahre alt, habe eine tolle Frau, ein schönes Haus und keine Geldsorgen. Aber ich habe keinen inneren Frieden. Maria wird mich aufbauen. Das weiß ich. Schöne Spaziergänge im Sonnenuntergang werden die dunklen Wolken über meiner Seele vertreiben.
"Ich bin gespannt auf das Haus", sagt Maria und setzt dabei ihre Sonnenbrille auf. Es ist jetzt fast Mittags und wir müssten bald da sein. Das Navi im Auto führt mich sicher wie immer.
"Groß und protzig wird es sein. Du kennst doch Jennifer" Marias Freundin Jennifer hat uns ihr neustes Schmuckstück zur Verfügung gestellt. Ein Sommerhaus direkt am Meer.
"Jennifer und Paul haben zwar viele Häuser, aber es scheint nicht wichtig für sie zu sein. Jennifer hat ja dieses Kinderheimprojekt, wo sie viel Kraft reinsteckt" Maria macht eine Pause und sinnt nach
"Und, macht es sie glücklich?"
"Ich glaube schon. Sie wirkt auf jeden Fall so. Aber ihre Augen sagen manchmal etwas anderes. Vielleicht meinen viele Menschen, dass sie glücklich sind und doch scheinen sie immer auf der Suche zu sein nach dem größeren Glück. Eins das noch kommt. Vielleicht sind wir Menschen einfach so gestrickt."
Ich weiß, dass sie das auch sagt um mich zu ermuntern.
"Kann sein." Ich muss mich auf den Weg konzentrieren. Die nächste Abfahrt ist schon die, die zum Meer führt. Maria öffnet das Fenster und salzige Luft strömt hinein. Wir lieben beide diesen Geruch vom Meer. Maria fährt sich mit den Händen die Arme hoch und es sieht so aus, als creme sie sich mit der Salzluft ein.
"Meinst du, das ist es schon?" Maria reckt den Kopf um noch besser sehen zu können. Ich checke die Informationen auf dem Display und die Entfernung kommt hin.
"Ich denke schon. Das ist ja ein Palast." Das war nicht übertrieben. Mitten in den Dünen stand ein Haus das besser in die Kolonialzeit gepasst hätte. Ganz in weiß gehalten mit prächtigen Säulen im Eingangsbereich. Es erinnert mich ein wenig an das weiße Haus in Washington. Vielleicht die kleine Schwester davon.
"Oh Boy, da werden wir uns drin verlaufen" quietschte Maria.
"Würde mich nicht wundern, wenn uns eine kleine Dienerschaft begrüßen würde"
"Es gibt tatsächlich ein älteres Ehepaar, das in einem Anbau wohnt und sich um das Haus kümmert. Hab ich dir das schon erzählt?"
Wir biegen nochmals ab und fahren jetzt direkt auf das Haus zu. Man kann jetzt auch schon die Dünen sehen. Das Haus steht wirklich direkt vor dem Meer. Maria ist aufgeregt wie ein Kind und weiß gar nicht wo sie zuerst hinschauen soll. Der Weg endet auf einem Vorplatz mit reichlich Platz zum Parken und Wenden. Das Auto steht und Maria springt sofort hinaus.
Die Tür öffnet sich und das ältere Ehepaar erscheint. Ich steige auch aus, aber muss erst mal meine Beine strecken und mich recken. Ich mag diese langen Fahrten nicht. Und meine Blase drückt. Ich brauche erst einmal ganz schnell eine Toilette. Maria umarmt die Beiden. Typisch Maria. Ich schüttele den Beiden die Hände und stelle mich recht förmlich vor. Der Name des Mannes ist Carl und sein bauschiger Schnauzer verleiht ihm einen gemütlichen Eindruck. Seine Frau ist zwei Köpfe kleiner und scheint ein Energiebündel zu sein. Sie fuchtelt unentwegt mit den Armen und erklärt Maria das ganze Anwesen. Vom Aussehen her würde ich sagen lateinamerikanisch. Vielleicht Puerto Rico. Sie heißt auch Maria und ich glaube meine Frau wird sich prächtig mit ihr verstehen. Der Mann schaut mich an und versucht wohl meine Wünsche von den Augen abzulesen. Ich komme sofort zur Sache. Er erklärt mir wo ich die Toilette finden kann und öffnet mir die Tür.
Ich stürme die Treppe hinauf. Dabei habe ich kein Auge für die Inneneinrichtung. Einfach schnell zur Toilette.
Oben angekommen blicke ich in den langen Flur. Die dritte Tür links muss es sein. Die Toilette ist natürlich luxuriös und ich setze mich hin um mich zu erleichtern. Im Stehen pinkeln kam für mich nicht in Frage. Das hatte mir Maria beigebracht. Ich schmunzel. Jetzt geht es mir schon besser. Ich öffne die Tür und gehe zurück in den Flur. Verdutzt bleibe ich stehen.
Ich habe das ganz anders in Erinnerung. Der Flur hat sich verändert. Ein langer roter Läufer ziert den Boden. Der war vorher nicht dort. Ich bin mir ganz sicher. Die Tapete war auch eine andere. Die Bilder an den Wänden scheinen auch ausgewechselt geworden zu sein, während ich auf Klo war. Das kann doch nicht sein. Verwirrt stehe ich immer noch wie angewurzelt da, schaue immer wieder nach rechts und links in den Flur. Es ist auch so ungewöhnlich still, oder kommt es mir nur so vor. Vorsichtig gehe ich wieder den Flur entlang, zurück zur Treppe. Doch sie ist nicht mehr da. Ein Schrecken durchfährt mich. Ich habe das Gefühl, ich stehe am Abgrund und falle jeden Moment hinunter. Was geht hier vor?
Ich schleiche den Flur weiter hinunter. Dort vorne macht er eine Biegung. Es geht nach rechts. Ich sehe wieder Flur weiter hinten nach links abbiegt. Kann das überhaupt sein? Ich bin total verwirrt und mein Orientierungssinn war nie recht gut. Doch Moment, ich höre etwas. Eine leise Melodie. Auf einem Klavier gespielt. Ich habe die Melodie schon einmal gehört, aber kann sie nicht einen Komponisten zuordnen. Ich folge dieser Melodie.
Ich werde zu einer großen Flügeltür geführt. Von dahinter kommt die Musik. Ich drücke die Klinke und die Tür geht knarrend auf. Eine Bibliothek. Die Wände voller Bücher. Die Musik ist jetzt lauter. Sie kommt von hinten aus dem Raum. Dort ist eine Tür geöffnet. Ich laufe darauf zu. Im Vorbeigehen schaue ich auf die Bücher. Die Namen der Autoren sagen mir nichts. Ich schaue mir mehrere Bücher an. Sie sind alle in einer mir unbekannten Sprache geschrieben. Merkwürdig. Weiter zur Tür.
Eine Wendeltreppe erwartet mich. Sie geht nach oben. Ich schaue hinauf. Ziemlich weit nach oben. So hoch habe das Haus gar nicht eingeschätzt. Stufe für Stufe führt mich nach oben. Ich komme außer Atem. Das alles sieht aus als würde ich einen Turm erklimmen. Nackte Steinwände und ein eisernes Geländer. Was wird mich da oben erwarten. Die Musik spielt weiter. Immer die gleiche Melodie. Hört sie denn nie auf. Stetig nimmt die Lautstärke zu. Wie viel Zeit ist überhaupt vergangen?
Ich glaube mein Zeitgefühl ist auch durcheinander gekommen. Ich spüre einen starken Durst. Meine Kehle fühlt sich an, als hätte sie jemand mit Schmirgelpapier bearbeitet. Ich kämpfe mich weiter nach oben. Stufe für Stufe. Ich keuche die letzten Schritte. Die Musik ist jetzt ganz nahe. Ich erreiche eine Eisentür. Ich muss erst einmal verschnaufen und neue Kräfte sammeln, bevor ich mich daran mache die Tür zu öffnen. Langsam wird mein Atem wieder ruhiger. Ich versuche es. Die Tür geht leicht auf. Eine frische Brise empfängt mich und durchwirbelt mein Haar.
Ich trete ins Freie und bin überrascht das es Nachts ist. Als Erstes bemerke ich, dass keine Sterne zu sehen sind. Ich höre ganz laut die Musik die mich hierhin geführt hat. Wie im Surroundsytem wirbelt sie um mich herum. Ich sehe im Halbdunkel eine Art Brüstung, eine Mauer aus grobgehauenen Steinen, hinter der es unheimlich blau leuchtet. Zuerst bin ich unschlüssig, versuche mehr zu erkennen.
Ich wage mich vorwärts, taste mich zu der Mauer hin. Das Licht dahinter sprudelt und tanzt im Einklang mit der berauschenden Musik. Das Thema scheint seinem Höhepunkt entgegenzustreben. Das Licht wird so stark, dass ich meine Augen schützen muss. Dann erreiche ich den Rand der Brüstung und halte mich daran fest. Sehen kann ich noch nichts. Ich muss die Augen schliessen, so stark ist das Licht. Die Musik geht in eine Art Triumpfmusik über. Wunderschön und erhebend durchfließt sie mich. Jetzt kann ich mehr erkennen. Ich schaue nach unten und schaue auf das gesamte Universum. In diesem Moment weiß ich es einfach. Da unter mir liegt das vollständige Universum. Unzählige Welten sprudeln in einem Meer von Sternen. Sie sehen aus, als wären sie alle aufgeregt, als würde etwas Wunderschönes passieren. Die Musikfanfaren pulsten unentwegt um mich herum und dann geschah es. Die Geburt einer neuen Welt. Direkt unter mir. Rein wie ein Smaragd nahm es seinen Platz ein unter den Kostbarkeiten des Universums und dann falle ich in eine tiefe Schwärze...
Ich blinzele und versuche mich zu orientieren. Jemand sitzt vor mir und hält meine Hand. Es ist Maria. Jetzt wird ihr liebes Gesicht deutlich. Ich versuche zu begreifen, was passiert ist und richte mich auf. Maria drückt mich sanft zurück.
"Langsam mein Lieber. Bleib liegen"
"Wo bin ich?"
"Im Hospital. Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingejagt"
"Was ist passiert?"
" Du bist ohnmächtig geworden. Wir haben dich auf der Toilette gefunden und sofort den Notruf verständigt. Der Arzt sagt du warst dehydriert."
"Dehydriert?" ich denke an meine geschmirgelte Kehle. Ich bin an einem Tropf angeschlossen, der neben meinem Bett steht.
"Wie fühlst du dich?
"Ich fühle mich sehr wohl" und versuche ein Lächeln. Hatte ich phantasiert? War das alles nur ein Traum? Aber es war so real gewesen. Als wäre ich bei der Schöpfung dabei. Ein unbeschreibliches Gefühl.
"Kannst du dich an etwas erinnern?" Ja, das konnte ich. An alles. Nur, ich würde sehr nach Worten suchen müssen um das Geschehene zu beschreiben. Niemand hätte ich von diesem Erlebnis erzählt. Man würde mich für verrückt halten. Doch Maria konnte ich es erzählen und sie würde mir glauben. Ein unbeschreibliches Gefühl der Liebe durchströmte mich für Maria.
"Meine Liebe, ich möchte dir etwas wunderbares erzählen", und dann nehme ich wieder ihre Hand in meine.
" Ich habe eine Melodie gehört, die ich schon beinahe vergessen hätte, von der ich dachte, dass es sie nicht mehr gibt" Maria schaut mich neugierig an.
"Erzähl mir von dieser Melodie"
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2020
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