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Titelseite

Erster Entwurf zu ‚Der Tag, an dem mein Name wichtig wurde’

 

Von Severina Puls

 

Ab 12/19

 

Entschuldigt Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler, jedem schlüpfen mal Fehler durch die Augen und man sieht sie nicht. Sie werden aber definitiv noch korrigert.

Danke, dass ihr das lest!

 

Es ist leider noch nicht fertig, aber ich werde hier reinschreiben, wenn es soweit ist.

 

MFG Severina Puls

 

Neuer Inhalt hinzugefügt: 04.02.2022

Überarbeitet: 04.02.2022

Prolog

Die Luft war selbst bei Nacht sehr trocken in der ägyptischen Stadt Assuan; nicht einmal der Nil konnte gegen die ihn umgebenden Wüsten ankommen. Für Aurelia war es eine willkommene Abwechslung zum drückend feuchten Mitteleuropa. Da war es beinahe schade, dass sie ihren Auftrag in den kommenden Minuten abschließen und dann zügig abreisen würde.

Im Schutz der Dunkelheit und von Tüchern verhüllt hatte sie auf dem Dach eines niedrigen Hauses mit einer Waffe Stellung bezogen. In der unglaublichen Stille wartete sie geduldig, bis ihr Ziel ankommen würde um einen seiner Geschäftspartner zu besuchen. Auf dessen Haus hatte sie ihre Waffe und ihre Konzentration gerichtet, bereit ihren Auftrag ohne zu zögern durchzuführen. Denn das war der das einzige Zeitfenster, in welchem sie ihn erschießen und problemlos fliehen konnte.

Sie hörte wie ein Auto wenige Straßen entfernt anhielt, dann wie mehrere Personen aus dem Auto stiegen und die Türen zuknallten. Es war gleich soweit. Im Licht der Straßenlampen sah sie einen offensichtlich reichen Mann ums Eck kommen, das Gesicht mit einem Tuch verdeckt und von zwei starken Bodyguards beschützt. Doch egal wie sehr er versuchte seine Identität zu verbergen, sie erkannte ihn dennoch. Denn seit Tagen war sie ihm auf den Fersen und hatte ihn beobachtet; er konnte ihr nicht entkommen.

Durch das Zielfernrohr ihrer Waffe sah sie wie der reiche Mann an die Tür klopfte und der Geschäftspartner ihm aufmachte. Jetzt war der Moment da. Bei anderen Menschen würde der Herzschlag hochgehen, die Aufregung würde ihre Hände erzittern lassen und sie müssten sich zuerst beruhigen bevor sie schossen. Doch sie war nicht so ein Mensch, sie war seelenruhig und entspannt. Auftrag war eben Auftrag, und wenn ein Ziel nun zwischen ihr und ihrem Gehalt stand, musste dieses eben eliminiert werden. Es war eine klare Arbeit, und die führte sie mit Zielstrebigkeit und Konzentration aus; der Rest war irrelevant.

Endlich kam der Geschäftspartner einen Schritt aus der Tür heraus um den reichen Mann zu begrüßen. Perfekt, jetzt hatte sie alle im Visier.

Vier schnelle Schüsse zerschnitten lautlos die Luft zwischen ihr und dem Ziel.

Vier Leichen, die an Ort und Stelle zusammenklappten.

Auftrag erledigt.

Aurelia sammelte zügig alles ein, was als Beweismaterial dienen könnte und verwischte jedwede Spur. Noch waren die Straßen dunkel und leer, und sie machte sich auf die Stadt ungesehen und umgehend zu verlassen, bevor sich dieser Zustand ändern würde. Sie zog das Leinentuch um ihren Kopf weiter ins Gesicht und achtete auf ihre Fußabdrücke, damit man nichts mit ihr in Verbindung bringen konnte.

Ein Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen. Alles wurde perfekt durchgeführt, alle Ziele wurden ausgeschaltet, alles war unter ihrer Kontrolle. So mochte sie es. Als nächstes würde sie zu ihrem Boss gehen um das restliche Geld zu kassieren. Sie musste ihn nicht anrufen um ihm von der Fertigstellung des Auftrages zu berichten. Das würden die Nachrichtensender für sie übernehmen.

Als sie bereits einige Straßen weit gelaufen war hörte sie den lauten Schrei der Ehefrau des Geschäftspartners. Daraufhin gingen in den benachbarten Häusern die Lichter an und Menschen riefen wild durcheinander. Aber das interessierte sie nicht, denn sie war schon längst aus dem Zentrum des Geschehens verschwunden und stieg nun zu ihrem Kontakt in einen Jeep ein, damit er sie zum Flughafen fuhr.

1. Kapitel: Ein neuer Name

Nach mehreren Flügen und Umstiegen endlich in ihrer riesigen modernen Penthouse-Wohnung angekommen ging Aurelia erst einmal ausgiebig duschen. All die Zeit hatte sie eine Verkleidung getragen, aber vor allem die Perücke hatte sie gestört. Da sie ja wieder zuhause war, konnte sie sie ablegen und so aussehen wie sie wollte. Sie zog ihre normale Kleidung an, nämlich feine Stücke im Business-Stil, ließ ihre Haare offen und aß eine Kleinigkeit. Ägyptisches Essen war für die kurze Zeit sehr lecker gewesen, aber auf Dauer hätte ihr das mitteleuropäische gefehlt. Das war ein Vorteil an ihrer Arbeit. Sie sah verschiedenste Länder und Kulturen und aß auch verschiedenes Essen ohne dauerhaft daran gebunden zu sein. Bisher hatte sie zwar auch Einsätze gehabt, die über einen Monat dauerten, aber das waren dann doch eher die Ausnahmen.

Als sie fertig war mit allem nahm sie die arabische Zeitung, die sie unterwegs in einem Flughafen gekauft hatte und stieg damit ins Auto. Während ihr Chauffeur sie zu ihrem Boss fuhr blätterte sie durch die Seiten. Als sie im Bereich Wirtschaft den erwarteten Artikel sah lächelte sie zufrieden. ‚Arabischer Millionär in Ägypten erschossen‘ war die Überschrift, doch der Artikel darunter ließ ihre Zufriedenheit noch weiter steigern, bis es beinahe schon in Genugtuung mündete. Denn der Artikel handelte eigentlich von ihrer außerordentlichen Genialität und ihren überragenden Fähigkeiten. Er berichtete darüber, dass niemand gesehen, niemand verdächtiges festgenommen und keine einzige Spur zurückgelassen wurde. Alle Behörden wären ratlos und würden um Hilfe aus der Bevölkerung bitten. Die Familie wäre verzweifelt, seine Firmen würden kurzfristig im Chaos liegen und seine Aktien würden rasant sinken.

Mit einem tiefen Atemzug inhalierte Aurelia den Erfolg, der ihr aus der Zeitung entgegen strömte und verblieb darin einige Sekunden mit geschlossenen Augen. Ein leises Lachen entwich ihr. Sie liebte es, wenn man ihr Anerkennung zollte für das, was sie leistete. Auch wenn sie jedes Mal das Gleiche las in den Medien, es gab ihr trotzdem immer wieder eine Bestätigung.

Am Ende des Artikels stand, dass seine hinterbliebene Witwe zu einem Trauertag in ihrer Umgebung aufrufen und alle zu seiner Beerdigung einladen würde.
All diese dummen Menschen, dachte sie kopfschüttelnd. Ohne Horizont, ohne Ahnung. Wenn sie wüssten, dass er Waffen geschmuggelt hat um damit den Krieg zu befeuern, würden sie anders reagieren. Aber gut, sollen sie machen, was sie wollen. Solange es mich nicht betrifft interessiert es mich auch nicht.

Kurze Zeit später war sie bereits bei ihrer Firma angekommen. Es war ein Hochhaus-Komplex, mit der neuesten Technik ausgestattet und von oben bis unten auf das Strengste bewacht. Offiziell war ihr Arbeitgeber eine der führenden Unternehmen Mitteleuropas was Technik und Software im Finanzsektor anging, welcher sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft großen Einfluss ausübte. Inoffiziell sah es natürlich ganz anders aus, das war dann der Bereich in dem sie selbst tätig war.

Als sie im Konferenzraum ankam, saß ihr Boss bereits da und las eine Zeitung. Er sah aus wie ein typischer Geschäftsmann mittleren Alters. Etwas dicklicher, graue Haare, ein paar Falten im Gesicht, teurer Anzug und eine Rolex am Handgelenk. Also aufgeblasen, protzig und eigentlich im Inneren jämmerlich. Aber er zahlte schließlich ihr Gehalt, also sagte sie nichts.

„Sie haben den Auftrag zu meiner vollsten Zufriedenheit ausgeführt. Professionell und unbemerkt wie immer. Die zweite Hälfte des Geldes ist bereits überwiesen. Eine halbe Million Euro wie abgemacht auf das übliche Konto.“

„Gibt es bereits ein neues Ziel?“

„Nein. Ich melde mich bei Ihnen, wenn wir eins haben.“

Der Assistent des Bosses kam hektisch herein, nahm die Fernbedienung, schaltete den riesigen Fernseher ein und suchte einen Nachrichtensender. Dort berichtete eine Sprecherin über den in Ägypten getöteten Millionär aus Arabien.

„… Die Polizei hatte einige Verdächtige verhaftet, darunter auch wirtschaftliche Gegner des Opfers, jedoch mussten alle aufgrund von mangelnden Beweisen freigelassen werden. Die Untersuchung hält an und die örtlichen Behörden suchen weiterhin fieberhaft nach dem Täter. Das gestaltet sich ihrer eigenen Aussage nach als schwierig, da nichts am Tatort hinterlassen wurde was auf einen Täter deuten könnte.
Allerdings ist es nicht das erste Verbrechen dieser Art im arabischen Raum. Interpol bestätigte, dass es innerhalb der letzten drei Jahre mehrere solcher Anschläge auf mächtige und einflussreiche Personen gab, vereinzelt sogar auch in Amerika. Es war jedes Mal das gleiche Szenario: Keine Spur und keine Hinweise am Tatort, weshalb bis heute für diese Verbrechen niemand verhaftet und zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Für weitere Informationen haben wir hier den Pressesprecher von Interpol zu Gast. Herzlich Willkommen Herr Charlston.“

„Vielen Dank“

„Ich würde gleich zum Punkt kommen: Sie meinten in einer Pressekonferenz, dass Sie bereits eine Theorie bezüglich des Täters oder der Täter aufgestellt hätten.“

„Ja, das stimmt. Unsere Vermutung ist, dass das konkrete Durchführen der Morde einer Einzelperson zuzuschreiben ist, der Auftrag jedoch von mehreren Personen stammt. Da das aber nicht sicher bestätigt werden kann, wird in jede Richtung ermittelt, weshalb wir auch mit den örtlichen Behörden zusammenarbeiten“

„Wie kommen Sie auf diese Theorie?“

„Wir bei Interpol haben einige Experten was Profiling, Analyse und Spurensicherung angeht. Und sie alle kamen zum gleichen Ergebnis. Wäre eine Gruppe verantwortlich für die konkrete Durchführung der Morde, gäbe es mehr Beweise bzw. gäbe es überhaupt etwas. Man würde Muster erkennen können bei mehreren Personen, wie beispielsweise Gemeinsamkeiten bei Flugtickets, Bestellungen im Restaurant, Handydaten und viele weitere. Außerdem steigt die Wahrscheinlichkeit Spuren am Tatort zu finden mit der Anzahl der Personen, die dort waren. Wäre es aber eine einzige Person würde diese bezüglich Sicherheitschecks, elektronischen Spuren und in der Öffentlichkeit kaum auffallen. Außerdem sind solche Auftragsmörder, falls es sich um einen solchen handeln sollte, laut Statistik Einzelgänger. Sie leben allein, sie arbeiten allein, sie töten allein. Diese Erkenntnisse und viele weitere, die wir hier nicht nennen können, stammen vom jahrelangen Analysieren des Verhaltens und der Persönlichkeit von Verbrechern und fällt in den Bereich der Verhaltensanalyse, umgangssprachlich auch Profiling genannt. Dieser Bereich ist ein sehr nützliches Tool, in den allermeisten Fällen korrekt, aber nicht zu 100% unfehlbar. Deshalb stützen wir zwar unsere Haupttheorien darauf, ermitteln dennoch wie bereits erwähnt in alle Richtungen.“

„Und wieso sollte dann der Auftrag von jemand anderem stammen?“

„Die Person, die mordet, tut das höchstwahrscheinlich weil sie dafür Geld bekommt und ist am eigentlichen Opfer nicht interessiert. Es ist also wie bereits erwähnt ein Auftragsmörder. Es steckt kein persönliches Motiv dahinter, kein vorangegangener Kontakt zum Opfer, weshalb es uns Behörden so schwerfällt, eine Verbindung des Täters zum Opfer zu finden. Die Auftraggeber, und wir gehen hier gezielt vom Plural aus, haben ein hohes Interesse am Tod der Opfer und sind auch bereit, einiges dafür zu zahlen. Denn so professionell wie die Morde durchgeführt wurden muss einiges an Geld geflossen sein. Da die bisherigen Opfer, falls sie vom selben Täter getötet wurden, so verschieden und auf der Welt verstreut sind, können wir einzelne Personen, wie machtgierige Familienmitglieder, als potentielle Auftraggeber ausschließen. Es muss also eine Gruppe an Menschen sein, die auch international interagiert und vom Tod der Opfer profitiert. “

„Haben Sie bereits eine Ahnung, wer dahintersteckt? Eine Organisation? Eine terroristische Gruppe? Korrupte Politiker?“

„Terroristen können wir zu einer hohen Wahrscheinlichkeit ausschließen, da bisher kein einziges Bekennerschreiben oder –video aufgetaucht ist. Außerdem ist die Durchführung untypisch. Akteure aus Politik und Wirtschaft können wir nicht ausschließen, da es eben immer hochrangige, reiche und einflussreiche Personen waren, die umgebracht wurden. Mit ihrem Tod kamen große Veränderungen und Umbrüche in diese Bereiche hinein, und ich bin mir sicher, dass einige davon zum Vorteil der Auftraggeber ausgefallen sind. Es sind aber viel zu viele und unüberschaubare Faktoren, weshalb wir hier keine konkrete Spur finden konnten bisher.“

„Haben Sie einen Namen für den Mörder?“

„Namen geben wir nicht, da wir der Person nicht auch noch Genugtuung und Publikum verschaffen wollen“

„Es gibt unserer Information nach verschiedene Kreise, welche den Mörder als ‚Baron des Todes‘ bezeichnen. Viele Gefängnisinsassen verehren ihn beinahe und er ist zu einer ungreifbaren Mythos-Figur geworden. Was halten Sie davon?“

„Die Person ist und bleibt ein elendiger Mörder und hat nichts außer Lebenslänglich verdient. Und selbst das ist meiner Meinung nach noch zu gering“

„Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Informationen, Herr Charlston. Und nun kommen wir zu Nachrichten aus der Börse…“

Sie schaltete den Fernseher aus und lehnte sich mit einem triumphierenden Grinsen zurück.

‚Baronin des Todes‘ ist ein sehr schicker Name. Ich glaube, dass ich ihn behalten und meinen alten Namen abgeben werde.

Ihr Boss hob die Augenbrauen. „Wir sind berühmt. Und Sie offenbar auch“

„Danke“

„Uns ist ebenfalls positiv aufgefallen, mit welchem Eifer und mit welcher Zielstrebigkeit Sie ihren Zielen nachgehen. Sie lassen nichts aus und nehmen jede noch so unangenehme Situation auf sich, um Ihren Auftrag abzuschließen. Damit sind Sie von großem Wert für unsere Organisation. Aber lassen Sie sich das nicht zu Kopf steigen, denn niemand ist unersetzbar. Und nun gehen Sie. Wir melden uns“

Sie stand auf, ging hinaus und ließ sich von ihrem Chauffeur nach Hause fahren. Dort angekommen schaltete sie den Fernseher ein um sich zu entspannen. Beim Zappen zwischen den Kanälen stieß sie kurz auf die Nachrichten, als ihr wieder ihr neuer Name einfiel. Er hatte etwas, denn er klang so erhaben und mysteriös, weshalb er eigentlich genau zu ihr passte.

Der Name Aurelia war nämlich erfunden. Im Laufe ihres Lebens hatte sie bereits so viele Namen angenommen und verworfen, dass sie aufgehört hatte zu zählen. Zu jedem einzelnen davon hatte sie sich sogar eine Kartei angelegt, um keine Details mehr zu vergessen. Aber ein Name war ihr auch nicht wichtig, er brachte sowieso nichts und bestand nur aus Schall und Rauch. Manchmal überlegte sie wie sie wirklich hieß, aber sie machte sich keine allzu großen Mühen und vergaß es schnell wieder. Es machte sowieso mehr Spaß, wenn man sich seinen Namen selbst aussuchen konnte, da kam Abwechslung herein. Außerdem arbeitete sie in einem Bereich, in welchem Anonymität das Wichtigste war und ein Name immer Tod bedeutete. Also blieb sie vorerst bei ‚Baronin‘. Sie war gespannt, wie lange sie diesen Namen behalten würde, auch wenn sie sich wünschte, dass es so lange wie möglich wäre.

Entspannt seufzend legte sie die Füße hoch. Vorerst hatte sie ja frei und würde in der Zeit ihren diversen Identitäten nachgehen und sie aufrechterhalten.

 

Mitten in der Nacht wurde Aurelia von einem tobenden Sturm geweckt. Sie hatte das Fenster gekippt gelassen über Nacht, nun blies kalte und nasse Luft in ihr Schlafzimmer während der harte Regen gegen ihre Fenster schlug. Die Kälte und der Lärm hatten sie schließlich aus ihrem Tiefschlaf geweckt. Noch im Halbschlaf ärgerte sie sich darüber. Doch dann passierte etwas seltsames. Die Kälte und der Regen lösten in ihr ein seltsames Gefühl aus, wie eine starke Beklommenheit, wie ein fester Griff um ihre Eingeweide. Erinnerungen kamen hoch, die sie seit zwei Jahrzehnten verdrängt hatte. Erinnerungen, die kein Mensch haben wollte.

Sie sah, wie sie als kleines Kind schreiend und weinend auf einem Balkon gestanden und gegen die verschlossene Balkontüre gehämmert hatte. Es hatte ein ähnlicher Sturm wie jetzt getobt, sie hatte einfach nur in die warme Wohnung gewollt und das hatte sie immer und immer wieder geschrien. Aber sie war als Strafe draußen ausgesperrt worden, niemand hatte ihr öffnen wollen. Und obwohl alle sie gehört und alle gewusst hatten, dass es draußen kalt und gefährlich war für ein Kleinkind, hatte niemand sie beschützen und hereinlassen wollen. Niemand. Sie war erneut auf sich allein gestellt im Angesicht einer weiteren Grausamkeit.

Mit Tränen in den Augen schrak sie aus ihrem Halbschlaf auf und saß kerzengerade in ihrem Bett. Schweratmend stand sie auf, schloss die Fenster und legte sich zurück ins Bett. Sie vergrub sich tief in ihre Bettdecke während Tränen unkontrolliert über ihr Gesicht liefen und schließlich auf dem Kissen landeten. Nach ein paar Augenblicken, in denen sie die Schwäche zuließ, atmete sie tief durch und beruhigte sich. Sie wischte sich die Tränen weg, putzte ihre Nase und ließ wieder ihre harte Seite in den Vordergrund. Diese nämlich beruhigte sich damit, dass die Menschen aus ihrer Erinnerung schon lange nicht mehr lebten. Sie hatten ihre gerechte Strafe erhalten. Sie schloss die Augen und nach ein paar Minuten schlief sie wieder ein.

2. Kapitel: Prinzipien

Es war nachmittags, die Baronin befand sich in einem von diesen neuen und modernen Siedlungen in Amerika nahe New York, einer sogenannten Gated Community. Hier lebten einige Menschen in schicken Häusern, umringt von Mauern und Sicherheitskameras und machten ihre eigenen Regeln innerhalb des Geländes. Eigentlich ist es nur ein Rückzugsort für reiche Menschen, die den Lärm und die Platznot in den Städten nicht mochten.

Aber genau hier war nun einmal ihr Ziel, also war sie ebenfalls hier. Aufgrund vieler verschiedener Faktoren, die sie sorgfältig evaluiert hatte, war eine Strategie auf Entfernung, also mit Beschattung, Beobachtung und einem gezielten Schuss zur Abrundung, leider nicht möglich. Deshalb musste sie auf Nähe gehen und dank eines leerstehenden Hauses direkt neben dem des Ziels war dies perfekt möglich.

Die Baronin fuhr verkleidet und mit Sonnenbrille in ihrem Auto vor das leere Haus, stieg aus und schaute sich um. Eigentlich war es eine sehr schöne Gegend und sie konnte es tatsächlich nachvollziehen, dass manche Menschen hier gerne lebten. Es war sonnig, ruhig, sauber und vermutlich kannte jeder jeden in dieser Straße.

Sie ging in das leere Haus hinein und schaute sich ein wenig um, dann ging sie zu den Fenstern und musterte ihre Umgebung strategisch, unter anderem um zu wissen, wie alles hier aussah, wer alles eine Sicht auf das Haus ihres Zieles hatte und wie viel man tatsächlich durch die Fenster hindurch sah. Dann schaute sie durch ein Fenster in das Haus hinein, wo das Ziel wohnte. Sie versuchte auszumachen, wo welches Zimmer lag, wie viele Fenster es gab und ob man sie eventuell von der Straße aus sehen konnte. Nachdem sie sich eine gute Übersicht über diese und weitere Dinge verschafft hatte, konnte sie mit der nächsten Phase weitermachen und in die Nähe des Zieles gelangen. Dazu waren sehr große Fähigkeiten vonnöten, denn sie musste für sie ungewöhnliche Dinge tun und sich anders verhalten als sonst. Die Hauptaufgabe bestand also darin zu schauspielern, egal was passierte. Denn ein kleiner Fehler und das Ziel würde sofort merken, dass etwas nicht stimmte und könnte dann die Polizei anrufen. Außerdem musste man immer damit rechnen, dass etwas schief ging oder nicht nach Plan, da Menschen sich manchmal nicht so verhielten wie man es plante. Aber solchen Situationen konnte sie vorbeugen, indem sie ihre liebste Fähigkeit auspackte, nämlich die Manipulation. Aurelia liebte es, wenn sie Menschen dazu bringen konnte, das zu tun was sie wollte, ohne dass die betroffene Person es merkte. Diese Fähigkeit war für sie schon beinahe wie Kunst: filigran, gezielt und zutiefst befriedigend. Es war also insgesamt eine große Herausforderung und purer Nervenkitzel für die Baronin, da sie gerne schwierige Aufgaben meisterte und sich selbst dabei glänzen sah.

Aber man konnte nicht einfach so vor das Ziel treten und verlangen, dass es einen in die Nähe ließ oder wichtige Dinge verriet. Man musste eine Beziehung aufbauen und Vertrauen herstellen. Am besten trat man deshalb einer Person entgegen, indem man bereits viel über sie wusste und darauf einging, indem man eine mit der Person kompatible Rolle spielte. Deshalb hatte sie im Flugzeug genauestens die Akte des Ziels und dessen Familie studiert und sich alles eingeprägt. Psychologisch hatte sie sich bereits ein Profil erstellt von dem Ziel und dessen Frau und sich überlegt, welches Profil dazu passen würde um eben schnell Beziehung und Vertrauen aufbauen zu können. Da sie jetzt sowohl die Umgebung kannte, Faktoren und Risiken abgeschätzt und sich auf ihre neue Rolle vorbereitet hatte, konnte sie in die Nähe des Ziels gelangen.

Das Schauspiel konnte also nun beginnen. Vorhang auf.

Mit ihrem Handy in der Hand lief sie hinaus, schaute sich ahnungslos und verzweifelt um, dann entschied sie sich zögernd zu dem Haus ihres Ziels zu gehen und dort zu klingeln.

Nach kurzer Zeit öffnete eine freundliche Frau mittleren Alters. Sie hatte helle Haut, hellbraunes schulterlanges Haar und eine rundliche Statur. „Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?“

Die Baronin legte jede Freundlichkeit und süße Hilflosigkeit auf, die sie hatte.

„Guten Tag! Verzeihen Sie bitte die Störung. Aber ich heiße Elisabeth und wollte heute in das Haus hier nebenan einziehen. Jetzt habe ich aber einen Anruf bekommen, dass etwas bei meiner Umzugsfirma schief gegangen sei und der LKW mit meinen Sachen mit ein paar Tagen Verspätung eintreffen würde. Ich habe nichts hier bis auf meine Zahnbürste und wenigen Umziehsachen in meinem Auto. Jetzt dachte ich, dass ich einfach mal bei meinen zukünftigen Nachbarn klingeln kann um nach Hilfe zu fragen. Ich hoffe, dass ich Sie nicht gestört habe; aber ich bin wirklich verzweifelt im Moment“

Mitleid und Verständnis kamen ihr von der Frau entgegen. „Sie Arme! Kein Problem. Wir helfen Ihnen gerne! Sie brauchen vermutlich Essen, Trinken und ein Bett. Wir können Ihnen da alles geben! Sie sind hier herzlich willkommen. Kommen Sie gleich rein“

„Echt? Wow, vielen Dank! Das ist so nett von Ihnen! Dann ziehe ich ja neben den richtigen Nachbarn ein“

Die Frau öffnete die Tür ganz, sodass die Baronin eintreten konnte. Als sie sich im Flur befand und die Tür hinter ihr geschlossen wurde, nahm Aurelia ihre Sonnenbrille ab, da sie nun außer Gefahr war von den Nachbarn gesehen zu werden.

Das Haus war innen zwar nicht so modern eingerichtet, aber man merkte, dass es liebevoll gestaltet wurde, obwohl es für die Baronin ziemlich kitschig war. Insgesamt gab es sehr viel helles Holz, Fotos von irgendwelchen Festen mit Freunden und Familienmitgliedern, und überall waren Blumen.

„Mein Name ist übrigens Rachel. Ich wohne hier mit meinem Mann. Unsere beiden Kinder sind mittlerweile erwachsen und ausgezogen. Darf ich fragen, ob Sie auch verheiratet sind und ob Sie Kinder haben? Damit ich weiß, ob noch jemand kommt und wie viele Betten ich vorbereiten muss“ Die Frau war sehr freundlich und entgegenkommend.

„Ich bin zwar wie verheiratet, aber nur mit meiner Arbeit, also nur ein Bett für mich“ Sie grinste und zuckte dabei mit den Schultern.

„Ich verstehe. Was arbeiten Sie denn?“

„Management in einer größeren Firma“ Das war nicht einmal gelogen.

„Interessant. Oh, bin ich unhöflich. Ich verwickele Sie in ein Gespräch während wir hier im Flur stehen. Kommen Sie mit! Wir können in die Küche und ins Wohnzimmer gehen, dort ist es viel gemütlicher zum Reden! Dann kann ich ja gleichzeitig einen kleinen Rundgang machen.

Das hier ist der Flur, wie man erkennen kann. Wenn Sie hier entlang laufen kommen Sie in das Wohnzimmer. Dort ist es offen und eigentlich befindet sich dort auch der Essbereich“

Die Baronin empfand, dass die Gastfreundschaft der Frau aufdringlich war und sie ihre Freundlichkeit beinahe aufzwang. Damit musste sie leider zurechtkommen, auch wenn sie so viel Nettigkeit beinahe als ekelhaft betrachtete. Aber Rolle war Rolle, also spielte sie diejenige, die gerne all das annahm, was die Frau ihr gab und entgegenbrachte.

Als sie durch den Flur in das Wohnzimmer kamen, war es im gleichen Stil eingerichtet. Helle Möbel, helle Textilien, Bilder, Teppiche und viele Vasen mit Blumen bestückt. Es war so ziemlich das Gegenteil von ihrer schönen und modernen Penthouse-Wohnung, die aus sehr viel Glas, Marmor, Technik und eleganten Designermöbeln bestand. Aber gut, nicht jeder hatte Geschmack.

„So, von hier aus gelangt man in die Küche. Haben Sie Hunger? Möchten Sie Kaffee oder Tee? Nach dem ganzen Stress tut Ihnen das sicherlich gut“

Hunger hatte sie in der Tat, da sie die ganze Nacht geflogen und heute Vormittag in New York angekommen war. Sie hatte einen kleinen Snack gehabt, aber das war es auch schon.

„Ich nehme gerne das Essen und einen Kaffee“

„Sehr gerne, kommt sofort“

Sie war sich bewusst, dass sie gerade einiges an Spuren hinterließ, aber es gab Methoden, diese zu beseitigen.

Die Frau deckte schnell den Tisch während sie Reste vom Mittagessen in der Mikrowelle erwärmte, danach setzten sich beide hin.

Die Baronin wollte direkt mit Essen anfangen, aber die Frau hielt inne. „Wir beten immer zuerst vor dem Essen“

„Oh, ach so.“ Sie legte die Gabel beiseite.

„Danke Herr für das Essen und dafür, dass ich einen Gast hier habe! Lass uns eine schöne Zeit miteinander haben. Segne uns und das Essen und sei du ebenfalls hier Jesus. Amen“

Wenn sie nur wüsste..., dachte die Baronin während sie aß und dabei herzlich lächelte. Mein ganzer Aufenthalt hier dient nur dazu, deinen Mann umzubringen.

Diese Gedanken schob sie schnell beiseite, denn die Stimmung der Gedanken konnte sich auch auf den Körper übertragen und dann würde das Ziel bemerken, dass etwas nicht stimmte.

Deshalb konzentrierte sie sich auf die Frau, analysierte sie und reagierte genau so, wie sie ihr als Freundin gefallen würde um Vertrauen aufzubauen. Denn je mehr die Gastgeberin ihr vertraute, desto mehr Freiheiten würde sie haben und desto weniger würde sie unter Beobachtung stehen, was natürlich förderlich für den Auftrag war.

Die beiden Frauen aßen und unterhielten sich sehr nett miteinander über Leben, Sport, Politik und sonstige Themen. Da die Baronin im Voraus viel über ihr Ziel und dessen Frau in Erfahrung bringen konnte, war es ein leichtes, ihr eine Meinung zu den meisten Dingen vorzuspielen. Durch diese Taktik konnte sie sich das komplette Essen über auf die Frau einlassen und zu ihr eine Art Freundschaft aufbauen. Natürlich eine gespielte Freundschaft, denn richtige Freundschaften hatte sie nicht und wollte sie auch nicht.

Die Frau schaute auf die Uhr. „Mensch, es ist schon so spät! Die Zeit verging im Flug! Ich wollte noch so viel erledigen heute. Aber das war es mir Wert, es war wirklich ein wundervoller Abend. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mit jemandem so nett und lange geredet habe!“

Die Baronin lächelte. „Mir hat der Abend auch sehr gefallen! Vielen Dank für das köstliche Essen. Ich habe es sehr genossen“ Die beiden standen auf um den Tisch aufzuräumen.

„Nein, nein! Sie sind Gast hier bei mir! Und Gäste räumen nicht ab“

„Bitte, ich möchte mich Ihnen dankbar zeigen und helfen“

„Na gut, wenn Sie unbedingt möchten“

Sie räumten den Tisch ab, dann ging die Gastgeberin mit ihr die Treppen hoch.

„Hier im ersten Stock befinden sich die Schlafzimmer von meinem Mann und mir und den beigen ausgezogenen Kindern. Aber die habe ich umgestaltet zu Gästezimmern. Sie kriegen das linke Zimmer hier. Direkt hier rechts ist das Bad. Sie sagten, dass Sie alles bereits hätten, auch Handtücher?“

„Ja genau. Ein paar Sachen sind im Auto. Ich werde sie gleich holen, vielen Dank, soweit brauche ich nichts“

„Gerne. Wenn Sie sonst etwas brauchen dann melden Sie sich. Ansonsten können Sie den Fernseher anschalten oder DVDs schauen oder auch alles streamen, es ist alles vorhanden. Solange ich momentan hier alleine zuhause bin, habe ich kein Problem damit. Aber mein Mann ist sehr empfindlich was Lautstärke angeht. Wenn er also da ist, müssen Sie den Ton sehr leise machen“

„Wo ist er denn eigentlich? Da wir schon von ihm reden“

Laut den Recherchen ihrer Arbeitgeber, die immer exzellent und korrekt waren, hätte er heute Abend kommen müssen. Aber es ist bereits Nacht und er war immer noch nicht da. Das verzögerte ihren Auftrag zu ihrem Nachteil. Denn je länger sie hier blieb desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass etwas schief ging oder sie entdeckt wurde.

„Er ist noch auf einer Geschäftsreise und wird erst morgen Abend kommen. Wissen Sie, er ist Pastor und wurde in eine Gemeinde als Gastsprecher eingeladen“

Ach ja, der ‚Pastor‘ der Millionen Dollar an Umsätzen macht durch Betrugsmaschen. Nur um dann das Geld in verschiedene Lobbys zu pumpen und Politiker zu bestechen, damit er seine politischen Ziele erreicht und seinen Freunden Vorteile verschafft. Naja um ehrlich zu sein macht er es ziemlich schlau, das muss ich zugeben. Der Mann weiß wie es geht. Und eigentlich sind die Leute selbst schuld, wenn sie sich so einfach ausnehmen lassen, dachte die Baronin und schob es sofort wieder beiseite.

„Eigentlich wollte er heute Abend bereits da sein, aber er hat Migräne bekommen und ist dort geblieben. Morgen früh fährt er dann los“, sprach die Frau weiter.

„Ich kenne ein paar Personen, die Migräne haben, das ist richtig übel. In solch einem Zustand hätte er niemals fahren können“

Ein Paradebeispiel dafür, dass nicht immer alles nach Plan lief und man immer spontan bleiben und mehrere Möglichkeiten parat halten sollte.

„Heute Abend können Sie also in normaler Lautstärke Fernseher anschauen. Falls Sie möchten, wie haben auch eine Bibel im Nachtschränkchen. Während Sie die Sachen aus dem Auto holen, kann ich mich im Bad richten, danach gehört es Ihnen. Ich wünsche eine gute Nacht und dass Sie sich gut erholen können. Und erneut vielen Dank für den tollen Abend, es hat mir echt gefallen“

„Danke, Ihnen ebenso, und mir auch“ Die beiden Frauen lächelten sich herzlich zu, dann ging die Gastgeberin ins Bad.

Die Baronin lief zum Auto und holte die Dinge, die sie zum Übernachten benötigte. Die Utensilien für den Auftrag, wie beispielsweise eine Waffe, würde sie im Auto lassen, falls die Frau auf die Idee kommen sollte ihre Sachen zu durchsuchen. Man wusste ja nie. Die Baronin lief wieder hinein, machte sich im Bad fertig und ging dann in ihr Gästezimmer. Ihr Bett war sehr groß und gemütlich und direkt gegenüber des Bettendes befand sich ein Fernseher. Sie schaltete ihn ein und genoss die amerikanischen Programme für eine kurze Zeit, um ihren Kopf frei zu kriegen. Dann schaltete sie den Fernseher aus und machte sich daran, einen detaillierten Plan für die Beendigung des Auftrages zu erstellen aufgrund der Informationen, die sie durch den Aufenthalt in diesem Haus gesammelt hatte.

Auch wenn die Durchführung dieses Auftrages ein Nervenkitzel für die Baronin war, es war nicht ihre gewohnte und bevorzugte Art und Weise ein Ziel zu eliminieren. Aber in diesem Fall musste es leider so sein, denn das Ziel war immer in Gruppen unterwegs und dementsprechend selten allein vorzufinden. Tatsächlich war der einzige Ort, an dem er halbwegs allein war, sein zuhause. Und durch seine Verzögerung musste sie nun noch länger hierbleiben. Sie seufzte. Wenn das Ziel nicht bald kam würde sie anfangen blind um sich zu schießen. Es war grauenhaft mit dieser Frau. Deswegen arbeitete Aurelia sehr energisch und sorgfältig mehrere Pläne aus um sich verschiedene Türen offen zu halten, falls erneut etwas unvorhergesehenes auf sie zukam.

 

Den nächsten Tag verbrachte sie überwiegend mit der Gastgeberin. Sie redeten viel, lachten und hatten eigentlich eine schöne Zeit miteinander. Natürlich war diese schöne Zeit gefälscht, aber das wusste ja diese Frau nicht.

Langsam wurde es Abend und damit Zeit, dass das Ziel nach Hause kam. Auch wenn die Baronin so schnell wie möglich weg wollte von diesem Ort, blieb sie entspannt, denn es rannte ihr schließlich nichts davon und sowieso war sie die Herrin der Lage und in Kontrolle über allem.

Während sie mit der Frau gerade im Wohnzimmer saß, hörte sie ein Schlüsselklirren und daraufhin das Öffnen der Haustür. Das Ziel. Es war endlich da.

Der Mann kam ins Wohnzimmer herein und begrüßte herzlich seine Frau, die er offenbar sehr vermisst hatte. Dann schaute er sie lächelnd an.

„Guten Tag, ich bin James. Und Sie sind?“

„Ich bin Elisabeth, freut mich sehr“

Sie schüttelten sich die Hände. „Mich ebenso“, sagte er. „Woher kennt ihr euch?“

Seine Frau antwortete. „Sie ist unsere neue Nachbarin!“

„Ehrlich? Ah, dann wohnen Sie also im ehemaligen Haus der Fishers hier nebenan. Herzlich Willkommen in unserer Nachbarschaft“

„Vielen Dank. Ihre Frau hat mich bereits auf das Herzlichste empfangen“

Rachel nickte. „Ja, weißt du, ihre Umzugsfirma hat einen Fehler gemacht. Ihre Sachen werden erst in ein paar Tagen ankommen. Sie hat mich um Hilfe gebeten und ich habe sie für ein paar Tage bei uns aufgenommen. Ich hoffe, dass das auch für dich in Ordnung ist. Aber ich konnte sie nicht einfach so stehen lassen mitten im Nichts“

Der Mann winkte ab. „Alles in Ordnung, ich hätte genauso gehandelt. Das zeigt ein Mal mehr, was für eine liebevolle und fürsorgliche Frau ich geheiratet habe“ Er kniff ihr in die Backe und die beiden lachten. Normalerweise würde die Baronin bei so etwas ihr Gesicht angewidert verziehen, aber da sie in ihrer Rolle war lachte sie mit ihnen mit. „Da haben Sie absolut recht, sie hat mich wirklich gut behandelt und ich bin sehr dankbar dafür“

„Oh Schatz, möchtest du einen Kaffee? Oder einen Tee? Wir wollten uns sowieso gerade einen Tee machen“

Das Ziel nickte. „Ich bin wirklich sehr müde, aber einen Tee nehme ich gerne an. Such du mir einen aus, ich lasse mich gerne überraschen“

Die Frau stand auf und wollte in die Küche gehen, als die Baronin ihr folgte.

„Ich helfe mit!“

Während sie das Wasser kochen ließen, achtete die Baronin sehr darauf, wer welchen Tee nahm, damit sie sich einen aussuchen konnte, der komplett anders war und den man farblich unterscheiden konnte. Denn sie hatte noch etwas vor damit. Die Frau ging kurz aus der Küche hinaus um aufs Klo zu gehen, was der Baronin eine perfekte Gelegenheit gab, das Gift, welches sie in einem kleinen Fläschchen in ihrem BH trug, in den Tee der beiden Personen zu geben. Auch wenn die Frau nicht das Ziel war sondern nur der Mann, hatte sie sie trotzdem gesehen und wusste wie sie aussah. Dementsprechend musste diese auch beseitigt werden, denn sie hinterließ niemals Zeugen.

Sie brachte die Tassen auf einem Tablett zum Tisch und verteilte sie. Die Frau kam zurück und alle fingen an ihren Tee zu trinken. Kurze Zeit später hatten die beiden ihre Tassen fast vollständig leer getrunken. Die Baronin fand das merkwürdig, auch wenn sie sich das nach außen hin nicht anmerken ließ, denn eigentlich hätten beide schon längst von dem Gift sterben müssen. Sie hatte eine so hohe Dosis hineingetan, dass es eigentlich eine sichere Sache hätte sein müssen. Aber aus irgendeinem Grund wirkte das Gift bei ihnen nicht.

Das habe ich nicht kommen gesehen. Stimmt etwas mit dem Gift nicht? Ist es eventuell zerfallen, oder hatte ich es zu lange gelagert? Oder hat der Tee es irgendwie neutralisiert? Oder es braucht länger als sonst?

Die Baronin hatte so etwas noch nie erlebt weshalb ihr Inneres kurz ins Wanken geriet. Genau solche Momente waren die entscheidenden, wenn es darum ging die Fassade aufrecht zu erhalten. Also schob sie die irritierten Gedanken beiseite und trank genüsslich auch ihren Tee zu Ende.

Ich muss mir keine Gedanken machen. Ich bin ein Profi. Es gibt schließlich genügend andere Möglichkeiten, jemanden umzubringen. Auch wenn Gift hier das perfekte Mittel gewesen wäre…  Aber zum Glück plane ich immer mehr als benötigt ein, genau für solche Fälle. Dann muss ich eben Plan B ausführen.

Sie verbrachte mit ihnen noch den Abend, sie schauten ein wenig fern zusammen. Irgendwann ging der Mann hoch, um sich bettfertig zu machen. Das war eine gute Gelegenheit. Sie entschuldigte sich kurz bei ihrer Gastgeberin und lief hinaus zum Auto, um die Utensilien für Plan B zu holen. In einem Beutel mit Kleidung für den morgigen Tag versteckte sie eine Pistole mit Schalldämpfer, dann lief sie hinein und ging ebenfalls nach oben. Im Bad öffnete sie den Wasserhahn der Badewanne maximal um angeblich ein Bad zu nehmen. Dahinter steckte eigentlich die Tatsache, dass sie ein lautes Geräusch brauchte um den Schuss zu übertönen, denn selbst mit Schalldämpfer war es nicht vollständig lautlos.

Aurelia klopfte an der Schlafzimmertür und der Mann machte auf.

„Ja?“

„Tut mir leid, dass ich stören muss. Ich wollte die Badewanne volllaufen lassen, aber der Griff für das heiße Wasser klemmt und ich habe es nicht geschafft ihn zuzudrehen. Könnten Sie mir eventuell kurz helfen? Sie sind bestimmt stärker als ich, Sie kriegen das eher hin“

„Ja, gern“

Sie gingen zusammen ins Bad und während er sich ahnungslos über die Badewanne beugte um den Hahn zuzudrehen, holte sie ihre Waffe hervor und schoss im gnadenlos in den Hinterkopf. Er fiel sofort leblos mit seinem ganzen Oberkörper in das Wasser, welches sich nun tiefrot färbte. Daraufhin drehte sie alle Wasserhähne zu und lief nach unten. Die Frau hatte vor dem Fernseher nichts mitbekommen, sie saß lächelnd da und genoss nichtsahnend das Programm.

Mit großen, zügigen und selbstsicheren Schritten lief die Baronin in das Wohnzimmer hinein und zielte kurzum mit ihrer Waffe auf den Kopf. Ein Kurzer Schuss und die Frau brach tot auf dem Sofa zusammen.

Die Baronin ging durch eine Tür im Flur direkt in die Garage und holte alle Kanister Benzin, die sie finden konnte. Dabei ließ sie sich Zeit. Denn je später es wurde, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das Feuer, was sie bald legen würde, bemerkte. Dann ging sie nach oben, schloss alle Fenster und Rollläden, die zur Straße zeigten, damit man nichts sehen würde von außen. Die Fenster jedoch, die zum Garten und zum leeren Haus zeigten, ließ sie gekippt, damit das Feuer genügend Sauerstoff hatte zum Brennen. Sie entfernte alle Feuermelder im Haus, dann goss sie das Benzin aus und legte das Feuer, welches sich sehr schnell verbreitete und das Innere des Hauses verschlang. So würde sie alle Spuren vernichten, die sie hinterlassen hatte.

 

Die Baronin blieb für einen kurzen Augenblick stehen und betrachtete ihr Werk. Ein solches Feuer hatte eine schon fast beruhigende Wirkung auf sie, was paradox war. Denn sie liebte und brauchte Kontrolle bis ins kleinste Detail wohingegen ein Feuer alles andere als kontrollierbar war. Es hatte seinen eigenen Charakter, seine eigene Macht und fand immer seinen eigenen Weg. Vielleicht waren es genau diese Eigenschaften, die sie so sehr anzogen weil sie die ihren widerspiegelten.

Nach einem langen Augenblick seufzte sie, stieg ins Auto und fuhr weg. Das ganze Haus würde innen abbrennen bevor es jemand bemerkte, und selbst wenn jemand die Feuerwehr rief, würde das Haus bis diese eintraf komplett in Schutt und Asche liegen. Alle Fingerabdrücke vom leer stehenden Haus hatte sie bereits abgewischt. Alles war also erledigt, alles hatte funktioniert. Auftrag abgeschlossen, zwar über Umwege aber mit Perfektion wie immer.

Sie fuhr in die nächste größere Stadt in eine abgelegene Gegend und setzte das Auto in Brand. Dann lief sie schnell weg, änderte das Transportmittel und fuhr damit nach New York hinein. Dort angekommen, fuhr sie über Umwege zum Flughafen und kaufte sich eine Karte für den ersten Flieger, der nach Europa ging. Da sie noch 3 Stunden Zeit hatte, ruhte sie sich aus.

3. Kapitel: Erstes Zusammentreffen

Zwei Wochen später erhielt die Baronin eine Nachricht über einen neuen Auftrag, weshalb sie sich von ihrem Chauffeur zur Firma fahren ließ.

Im üblichen Konferenzraum ihres Bosses angekommen, hatte er bereits eine Akte auf dem Tisch liegen, die sein Assistent ihr überreichte. Sie öffnete sie und blätterte ein wenig durch die Seiten.

„Der geheime Rat hat ein neues Ziel für Sie ausgesucht. Dieses Ziel ist extrem wichtig und Sie müssen so sehr aufpassen wie noch nie zuvor. Fahren Sie alles aus was Sie haben und können um dieses Ziel so still und schleichend wie möglich zu eliminieren. Ihr Gehalt beträgt 5 Millionen Euro, die Hälfte jetzt, die Hälfte nach Beendigung des Auftrages. Und wie immer gilt: Werden Sie erwischt, sind wir raus“

Sie hob ungläubig eine Augenbraue in Anbetracht der Höhe des Honorars.

Das meiste davon wird der Risiko-Anteil sein. Ich habe sehr selten bisher so eine hohe Summe erlebt oder gehört, dass jemand anderes sie erhalten hat. Was stimmt da denn nicht?

Misstrauisch schaute sie zuerst ihren Boss an, dann in die Akte. So ein hohes Honorar war vermutlich für eine sehr wichtige und einflussreiche Person angesetzt. Was bedeutete, dass es sehr schwierig und sehr gefährlich werden könnte.

Ach was, ich versage nie. Ich habe bisher immer alles zur Perfektion gebracht. Dann wird das hier etwas schwieriger, aber trotzdem ist das kein richtiger Gegner für mich.

Die Baronin nickte, akzeptierte den Auftrag und nahm die Akte mit.
Als sie zuhause anfing die Akte durchzulesen, fiel ihr auf, wie sehr sie eigentlich die Geschicke der Welt veränderte. Sie hatte die Macht ganze Imperien von einer Minute auf die andere zu zerstören und Geschichte zu lenken.

Tatsächlich wird mir da der Name ‚Baronin‘ gerecht. Ich lenke und kontrolliere das Weltgeschehen. Ich habe Macht über Leben und Tod. Auch wenn die Aufträge vom geheimen Rat kommen, aber hätten sie nicht jemanden, der sie ausführt, könnten sie noch so viele Pläne schmieden und es würde nichts bringen.

Sie streckte sich. Es kann echt anstrengend sein, so viel Verantwortung der Welt auf den eigenen Schultern zu tragen. Aber naja, wer kann der kann.

Ihre Aufmerksamkeit lenkte sie wieder auf die Akte. Das Ziel befand sich diesmal in China. Es war die Frau eines sehr reichen Firmeninhabers, dessen Wert im siebenstelligen Bereich lag. Es sah insgesamt eigentlich harmloser aus als sonst. Wo war der Haken? Denn bei so einem hohen Honorar musste er irgendwo existieren.
Zwar gab es nichts, was sie bisher nicht erledigen konnte, aber dennoch musste sie vorbereitet in einen Auftrag hineingehen. Und wenn es eine Falle gab, musste sie wissen wann und wo sie zuschnappen würde. Während sie in der Akte weiterlas, stieß sie auf eine interessante Passage. Es gab eine Vermutung, dass die Frau in geheime Machenschaften verwickelt war, denn oft verschwand sie und niemand wusste wo sie gewesen war. Man folgte ihr zwar, aber sie hatte es bisher immer geschafft ihren Beschattern zu entwischen, sie wurde praktisch unsichtbar. Da sie sonst keine Gefahr darstellte und es keine Beweise gab, dass sie in schlimmeres verwickelt war, ließ man sie dann letztendlich in Ruhe.

Könnte es sein, dass das hier der Haken ist? Der Risiko-Faktor? Ist es etwas von der chinesischen Regierung? Deren Geheimdienst? Ich nehme es mal stark an. Wenn nicht einmal die Polizei, die die Frau beschattet hat, etwas davon wusste… Dann ist es etwas sehr geheimes. Das würde auch erklären, wieso sie so gut darin ist, ihre Verfolger abzuschütteln. Das kann man nur machen, wenn man geschult ist, wie eben vom Geheimdienst. Und wenn die mich in die Hände kriegen würden… ich wäre sofort erledigt.

Das muss es sein, ansonsten sehe ich nichts, was auf Gefahr deuten könnte, auch nicht beim Mann oder sonstigen Familienangehörigen.

Und was ist mit der Triade? Oder anderen Verbrechensorganisationen? Sie haben auch gute Mitglieder die geschult genug wären. Ah, da steht dass die Polizei das bereits sorgfältig überprüft und letztendlich den Entschluss gefasst hat, dass dies nicht der Fall sei. Aber das ist keine Garantie. Wobei, wenn ich mir das alles hier so durchlese, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass verbrecherische Aktivitäten der Grund sind weshalb sie ab und zu verschwindet.

Gut, wenn ich nichts konkretes weiß, dann muss ich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, es kann immer etwas Unvorhergesehenes kommen.

In der Akte befanden sich auch gleich ein Visum für China, ein gefälschter Pass, Flugtickets und zwei Briefe. Einer war für sie, der andere war an einen Chinesen adressiert. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Der geheime Rat wusste also von Anfang an, dass sie zusagen würde und hatte direkt alles auf ihren Namen vorbereitet. Eigentlich auf einen gefälschten Namen, aber mit ihrem Bild darauf. Und eigentlich war dieses Bild auch gefälscht, denn man konnte mit Makeup und guten Maskenbildner-Fähigkeiten einiges verändern. Zwar musste sie dann mit diesem veränderten Aussehen in China ein- und ausreisen, aber das war eben eine Notwendigkeit.

Sie öffnete und las den Brief, der an sie adressiert war. Darin stand unter anderem, dass der andere Brief an einen chinesischen Hotelbesitzer vor Ort gehen solle. Es war eine Art Aufforderung, dass der Chinese sie mit allem ausstatten solle, was sie bräuchte, inklusive Waffen, und sie kostenlos bei ihm in der teuersten Suite übernachten könne. Denn der Hotelbesitzer war ebenfalls Teil der Maschinerie des geheimen Rates und sei dementsprechend auch sehr auf Diskretion und Mitarbeit bedacht. Dort würde sie also alles nötige erhalten, um ihren Auftrag abzuschließen.

Das brachte ihr aber insgesamt mehr ein Runzeln ins Gesicht als ein Lächeln. Sowas hatte sie bisher noch nie erlebt, was die Vermutung noch mehr bestätigte, dass dieser Auftrag kein gewöhnlicher war und ein hohes Risiko barg. Natürlich beschwerte sie sich nicht über diesen Umstand, denn es war immer schön kostenlos in einer teuren Suite in einem noblen Hotel wohnen zu können. Aber dennoch hatte es einen Beigeschmack.

Als sie fertig war mit Daten sammeln, verbinden und interpretieren, überlegte sie sich eine Strategie, wie sie den Auftrag so gezielt und erfolgreich wie möglich durchführen könnte. Perfekte Arbeit setzte immer perfekte Planung voraus. Bis zum Flug hatte sie noch ein paar Tage Zeit dafür. Sie war schließlich nicht umsonst die gefürchtete und bewunderte Baronin.

 

Vier Tage später problemlos in China angekommen fuhr sie mit einem Taxi zu dem Hotel, dessen Freibrief sie hatte. Als sie dort ankam, sah sie ein großes, sehr prachtvolles und edles Gebäude, welches sich in einem sehr reichen Viertel befand.
An der Rezeption fragte sie nach dem Hotelbesitzer.

„Tut mir leid“, sagte die Rezeptionistin mit kaltem Lächeln höflich auf Englisch. „Er ist leider nicht hier. Kann ich Ihnen stattdessen helfen? Benötigen Sie etwas? Ich kann es Ihnen bringen lassen“

Die Baronin nahm den Brief aus ihrer Handtasche und zeigte ihn ihr. „Sagen Sie ihm, dass die Baronin hier sei“ Der Gesichtsausdruck änderte sich von einem höflichen Lächeln zu ernst, als die Rezeptionistin das Siegel auf dem Brief sah, und sofort rief sie jemanden an.

Wenige Minuten später kam ein Mann auf sie zu, der aussah wie ein Bodyguard; groß, breit gebaut, schwarzer Anzug, kurze Haare im Armeeschnitt. Für normale Menschen mag er furchteinflößend aussehen, aber nicht für sie, denn sie wusste, dass sie ihn mit drei Handgriffen erledigen konnte wenn sie wollte.

Er geleitete sie durch mehrere Gänge und Sicherheitstüren hindurch zur Tür eines riesigen Büros. Als sie eintraten, analysierte sie sofort das Zimmer bis ins Detail. Wo standen welche Gegenstände, wo lagen Kabel, wo befanden sich gefährliche Stolperfallen, was könnte man als potentielle Waffe benutzen. Nachdem sie damit fertig war, betrachtetes sie es im Allgemeinen. Im Zimmer gab es ein sehr großes Aquarium als Teil der linken Wand, eine kleine Minigolf-Strecke vor der rechten Wand, und eine komplett ausgestattete Cocktail-Bar an der hinteren Wand. Alles war mit modernsten Möbeln und vor allem Lichtern eingerichtet, denn Fenster gab es hier keine. Das hätte sie auch so gemacht, denn wenn es keine Fenster gab, konnte man auch durch keines hindurch erschossen werden. Mitten im Raum saß der Hotelbesitzer, ein kleiner Asiate in einem weißen Anzug, an seinem großen Schreibtisch und erwartete sie bereits. Auch wenn seine Äußerliche Erscheinungsform nicht darauf hindeutete, aber sie erkannte an unterschwelligen Zeichen, dass er gefährlich werden konnte und vermutlich an einem Punkt in seinem Leben den gleichen Beruf gehabt hatte wie sie. Dennoch unbeeindruckt setzte sie sich direkt gegenüber von ihm hin und überreichte ihm wortlos den Brief.

Der Besitzer las sich den Brief durch, nickte und sprach daraufhin auf Chinesisch zu seinem Bodyguard. Die Baronin verstand natürlich jedes Wort, da sie die großen Hauptsprachen der Welt fließend sprechen konnte. Aber sie musste es ja nicht gleich jedem zeigen. Denn so würde sie Dinge erfahren, die man ihr gegenüber nicht erzählen würde, was für sie natürlich einen Vorteil bot.

Der Bodyguard geleitete sie wieder hinaus und mit einem Aufzug direkt in eine Suite hinein. Die Räumlichkeiten waren unglaublich groß, wunderschön und sehr bequem ausgestattet. Es hatte mehrere Räume, zwei große Bäder und einen schönen Kamin. Der Bodyguard hielt ihr den Schlüssel hin und sprach auf Englisch weiter.

„Mit diesem Schlüssel gelangen Sie hierher. Sie steigen unten im Erdgeschoss in der großen Halle in Aufzug D ein, dann stecken Sie den Schlüssel ein und drehen ihn, dann fahren sie automatisch und direkt hoch.

Diese Fenster bestehen aus Panzerglas und sollten allen normalen Waffen widerstehen. Alles ist abhörgesichert und es wird rund um die Uhr ein Störsignal gesendet, sodass eventuelle Wanzen und Mikrofone nichts übermitteln können. Ich werde Ihnen nachher die Ausrüstung vorbei bringen“, erklärte der Bodyguard. „Außerdem ist das Rauchen in allen Räumen untersagt und offenes Feuer ist nur im Kamin erlaubt“

Sie nickte, woraufhin er ging um die Ausrüstung zu holen. Dann schaute sie sich in den Räumen um.

Daran könnte ich mich gewöhnen. Sehr nobel und vornehm. Ich kann die Zeit meines Auftrages voll und ganz genießen.

Damit konnte sie auch gleich anfangen, denn ihr Plan begann erst morgen früh.

Doch zuerst kam der Bodyguard wieder mit zwei großen Koffern und einer großen Tragetasche. Im ersten Koffer befanden sich Handfeuerwaffen, im zweiten Koffer Spionagegeräte der feinsten und verschiedensten Art, und die große Tragetasche enthüllte einen Granatenwerfer. Der Bodyguard ging direkt wieder.

Die Baronin schaute sich sehr zufrieden die Auswahl an und atmete die Überlegenheit ein. So viel Macht über Leben und Tod, so viel, was sie mit einem Schlag ändern kann. Selbstzufrieden und mit einem bösen Lächeln lehnte sie sich im Sofa nach hinten. So gefiel ihr das. Möge die Jagd beginnen.

 

Am nächsten Morgen um 11 Uhr befand sich die Baronin bereits in einem sehr noblen Café, trank Kaffee und las eine Zeitung. Doch die Fassade täuschte. Eigentlich beobachtete sie das ganze Cafe, analysierte jede Person und schaute, ob sich eventuell andere Beschatter oder sogar der Geheimdienst hier aufhielten. Sie prägte sich Fluchtwege und Hindernisse ein und überlegte sich, wie sie hier kämpfen könnte, wenn es dazu kommen sollte.

Dann endlich kam ihr Ziel hinein; eine Chinesin mit kinnlangen braunen Haaren, schmalem und minimal faltigem Gesicht und insgesamt von schmaler Statur. Sie trug feine und stilvolle Kleidung und kostbaren Schmuck. Offenbar war sie eine sehr fröhliche und heitere Person, denn sie trug durchgehend ein ehrliches Lächeln im Gesicht und war sehr freundlich zu anderen.

Das Café in dem sie waren hatte direkt beim Eingang eine Sicherheitskontrolle, denn es war nur für sehr reiche Leute gedacht, die Ruhe und Diskretion haben wollten. Die Baronin selbst hatte da durchgehen müssen und kam nur herein, als das Sicherheitspersonal ihr ganzes Bargeld und den ganzen Schmuck sah, den sie vorhin sehr teuer gekauft hatte. Man gönnte sich ja schließlich sonst nie etwas, außerdem war er von großer Bedeutung für den Auftrag.

Die Chinesin setzte sich an einen Tisch und bestellte beim Kellner. Vermutlich das gleiche wie immer, so wie sie es von ihren Kontoauszügen her wusste. Der Kellner ging zur Theke um die Bestellung durchzuführen.

Sie selbst legte die Zeitung beiseite und tat so, als würde sie ihren Kaffee genießen und Arbeit über ihr Handy erledigen, dabei aber beobachtete sie ihr Ziel genau.

Die Chinesin saß da, entspannt und voller Freude und wartete gemütlich auf ihre Bestellung. Eine alte Dame lief vorbei und ließ aus Versehen ihre offene Tasche fallen, weshalb sich der komplette Inhalt auf dem Boden verteilte. Die Chinesin sprang sofort auf, sammelte alles ein und überreichte es der alten Dame mit dem größten Lächeln, welches die Baronin jemals gesehen hatte. Dann sprach sie etwas zu der alten Frau, aber leider so leise, dass sie es nicht hören konnte. Die alte Dame ging glücklicher als vorher hinaus während sich die Frau zufrieden wieder hinsetzte.

Beinahe schon widerlich wie freundlich ihr Ziel war, sowas hatte sie auch bei ihrem letzten Auftrag erlebt. Ab einem gewissen Punkt konnte man es auch echt übertreiben und anderen aufzwingen. Sie wusste, dass es nette Menschen in der weiten Welt gab, aber diese waren meistens dumm und hatten keine Ahnung vom Leben. Oder sie waren tot. Denn wenn sie eine Ahnung hätten, wären sie nicht mehr so freundlich sondern würden verstehen, dass man nur durch Egoismus, Misstrauen  und Disziplin ans Ziel kam. Aber gut, es musste solche und solche geben damit das System funktionierte.

Das Ziel nahm einen Schreibblock aus ihrer Tasche hinaus und fing an einen Text zu verfassen, während sie Kaffee und Kuchen zu sich nahm. Als sie nach zwei Stunden fertig war, schloss sie ihren Block, zahlte und ging. Die Baronin hatte bereits gezahlt und lief ihr unauffällig nach.

 

Nachdem die Baronin ihr Ziel nun vier Tage beschattet hatte konnte sie nichts Außergewöhnliches an ihr erkennen. Mit größter Vorsicht hatte sie auch nach anderen Personen Ausschau gehalten, die ihr Ziel eventuell auch verfolgten. Aber da war niemand. Normalerweise würde sie jetzt langsam in die nächste Phase übergehen, nämlich aus dem bisher herausgearbeiteten Tagesablauf eine Situation zu konstruieren, in der sie ihr Ziel unbemerkt ausschalten konnte. Aber das Risiko war zu groß. 5 Millionen Euro würde man ihr nicht geben um eine reiche Hausfrau zu ermorden, das wäre ja dann beinahe für umsonst. Nein, da musste es etwas anderes geben. Solange sie das nicht herausgefunden hatte, würde sie sich nicht freiwillig in Gefahr begeben wollen. Denn wenn laut ihrer Theorie die Chinesin wirklich einer Organisation wie dem Geheimdienst oder ähnlichem angehörte, würde ihr Tod Rache nach sich ziehen. Wenn sie dann auch nur die geringste Spur am Tatort hinterließe, würde man sie bis an ihr Lebensende jagen. Deshalb musste sie extrem vorsichtig sein. Also folgte sie ihrem Ziel weiterhin; Geduld und Ausdauer waren ihr schließlich nicht fremd und sogar Teil ihrer besonderen Fähigkeiten. Denn nur wer solche Eigenschaften besaß, konnte Gefahren meiden und perfekt arbeiten. Alles andere vernebelte nur den Kopf und konnte einen zu Fall bringen.

Am nächsten Mittag verfolgte die Baronin ihr Ziel bis in einen schönen großen Park hinein, der an einem Teich lag. Sie saß bei sonnigem Wetter auf einer Parkbank, nur wenige Meter von ihrem Ziel entfernt, und tat so als würde sie ein Magazin lesen. Die Chinesin holte ihren Schreibblock heraus und schrieb wieder hinein, was offenbar ein schwieriger Prozess war, denn sie schrieb und strich durch, überlegte und runzelte die Stirn.

Was schreibt sie da? Entwickelt sie unauffällig geheime Pläne? Konstruiert sie etwas? Oder ist es nur ein blödes Tagebuch?

Dann hielt die Chinesin inne, schaute umher, packte ihren Schreibblock ein und stand auf. Die Baronin beobachtete wohin sie ging. Die Chinesin lief in ihre Richtung, vermutlich zu den Enten hinter ihr am Teich. Sie war vermutlich so übertrieben freundlich, dass sie selbst die Enten regelmäßig fütterte. Wie verblendet doch jemand sein konnte.

Sie schaute auf ihr Magazin und las darin, das war am unauffälligsten. Wenn das Ziel so nahe war, musste sie es nicht beobachten, wenn es nicht zwingend erforderlich war.

Dann spürte sie wie sich jemand zu ihr auf die Bank setzte; sie schaute auf und ihr Herz blieb beinahe stehen; denn es war ihr Ziel.

„Hallo, ich bin Lien. Wie heißen Sie?“ Sie hielt ihr freundlich die Hand hin.

Die Baronin war so überrascht und wortlos, dass sie beinahe ihre Fassung verlor. Noch nie in ihrer langjährigen Berufslaufbahn hatte ein Ziel sie angesprochen, ohne dass sie es vorher so gewollt hatte. Entweder hat sie ihre Ziele angesprochen oder Situationen erschaffen, in denen sie das Ziel dazu brachte sie anzusprechen. In jedem Fall aber war es geplant. Aber sowas hier hatte sie noch nie erlebt.

Wieso erlebe ich in letzter Zeit ständig etwas, was ich noch nie erlebt habe? Bin ich nachlässig geworden? Oder altmodisch? Was war los? Muss ich langsam in Rente gehen?

Die Gedanken überschlugen sich rasant während die äußere Zeit quälend langsam verging. In all den Momenten behielt die Chinesin aber weiterhin ihr Lächeln bei und störte sich nicht daran.

Der gefühlslose Profi geriet ins Wanken, die Emotionen entglitten ihr, aber sie nahm diese schnell wieder an die kurze Leine und raffte sich. Wie bereits festgestellt, war sie in jeder Situation Herrin der Lage und hatte immer einen Plan. Schließlich hatte sie sich geschworen, niemals wieder von einer Person beeinflusst zu werden, was hier beinahe passiert wäre.

Aber dann trat ein Gedanke auf.

Wieso spricht sie ausgerechnet mich an?

Die Alarmglocken ihres Instinktes schlugen wie wild. Also war das Ziel doch beim Geheimdienst. Wieso sollte diese ausgerechnet eine Europäerin mitten im Park ansprechen, die sie nicht kannte und die sie rein zufällig seit Tagen verfolgte um sie dann umzubringen? Die einzige Antwort war, dass sie beim Geheimdienst arbeitete, der sie im Auge behielt. Man hatte ihr die Information gegeben und nun sollte sie sie ansprechen, um ihr zu drohen oder um Informationen über den Arbeitgeber herauszufinden. Oder sie war so unglaublich gut geschult, dass sie es selbst herausgefunden hatte.

Ein normaler Mensch nämlich würde die Baronin niemals bemerken.

Oder sie hatte einfach jemanden ausgesucht um zu reden oder um nach einer Meinung zu fragen? Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es ausgerechnet sie traf?

Ich muss Ruhe bewahren und schauen was sie will. Nie etwas annehmen und Informationen preisgeben, ohne dass die Annahme bestätigt ist.

„Wieso fragen Sie?“ Die Baronin hielt weiterhin ihr Magazin in der Hand und machte nicht die geringste Anstalt auf das Händereichen einzugehen.

Die Chinesin lächelte sie an. „Ich habe eine Nachricht für Sie“

Also doch, Geheimdienst, oder Ähnliches. Dann ist die Nachricht von ihrem Boss.

„Ja?“ Die Baronin machte sich keine Mühe um Freundlichkeit, die war ja auch schließlich nicht nötig.

„Sie ist von Gott“

Bitte was?

Sprachlos blinzelte sie ein paar Mal. Damit hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Es war eine Spinnerin. Nachricht von Gott, natürlich. Was kam als nächstes? Eine Nachricht von ihrer Katze?

Ausgerechnet für mich. Also doch nur reiner Zufall.

„Sie lautet: ‚Du bist hier, weil du dein Ziel unerbittlich verfolgst. Aber das wird dir diesmal nicht gelingen, selbst wenn du deine ganze Kraft hinein steckst. Denn du trittst gegen mich an, den Allmächtigen; den Gott Abrahams, Isaacs und Jakobs; du kannst nicht gegen mich gewinnen. Alles ist in meiner Hand, deshalb wirst du scheitern. Am Ende wirst du mir aber dienen und für mich eintreten. Für deine Verfolgung wirst du viel für mich erleiden müssen, aber du wirst es mit Freuden tun, denn du wirst mein sein und mich lieben und mir treu sein. Und ich werde dich noch mehr lieben und all deine Wunden heilen und dir meine Herrlichkeit und Gnade zeigen‘. Das war die Botschaft. Außerdem soll ich dir mein Halstuch vor die Füße legen“ Die Chinesin zog ihr wunderschönes und sehr teures Halstuch aus und legte es der Baronin tatsächlich zu Füßen.

Die Baronin packte eine rasende Wut, wie sie es noch nie erlebt hatte. Als wäre sie ein Wespennest und das Ziel hatte gerade dagegen geschlagen. Ihr Herz raste, ihr Blutdruck schnellte in die Höhe und sie wollte der Chinesin nur noch an den Hals gehen. Sie hatte sich plötzlich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle, sie war wie komplett ausgewechselt. Ihre Überlegenheit und ihre Macht wurden überrannt von Zorn, Hass und Eitelkeit, die in ihr aufloderten und alles andere verbrannten.

Sie sprang auf und schrie aus voller Kehle „Verschwinde!“

Der ganze Park drehte sich zu ihnen um und es war still. Die Chinesin stand ruhig auf und ging, während die Baronin ihr Magazin auf die Parkbank schmetterte und dabei noch einmal laut aus tiefstem Inneren aufschrie.

Wie sehr würde sie die Frau genau jetzt mit bloßen Händen erwürgen. Die Frau hatte es definitiv zu weit getrieben.

Niemand, NIEMAND hat Kontrolle über mir! Ich bin zu gut in allem um unter jemandes Kontrolle zu sein! Und niemand schreibt mir vor, wen ich lieben soll und wann ich leiden soll oder sonst etwas! Ich! Ich bin diejenige, die alles unter Kontrolle hat und ihr eigenes Leben bestimmt. Ich allein. Und niemand sonst. Wie kann sie es nur wagen, mir so etwas zu sagen und zu meinen, dass sie Macht über mir hat? Und dass ich plötzlich jemandem dienen werde? ICH, die Baronin?

Das wird die Frau mir büßen. Ich will Rache für diese Unverschämtheit. Sie wird noch im Laufe dieser Woche sterben. Jedes einzelne Wort wird sie bereuen. Jedes einzelne davon.

Schnell hob sie das Halstuch auf, stürmte davon und schmiedete einen Plan. Die Frau und alles, was ihr lieb war, würden untergehen. Mal schauen, wer dann wen unter Kontrolle hatte.

4. Kapitel: Verfolgung

Im Hotelzimmer angekommen, recherchierte die Baronin im Internet über die Informationen, welche das Ziel ihr unbewusst in ihrer sogenannten Nachricht gegeben hatte und rief dann sofort ihre Kontaktperson an.

„Was gibt es?“

Die Baronin reif beinahe in das Telefon hinein. „Das Ziel ist eine Spinnerin aus einer jüdischen oder christlichen Kirche. Sie kam heute auf mich zu und hat mir einen Schwachsinn erzählt um mich zu beleidigen. Ich will Rache für ihre Frechheit und diese Spinnerei aus der Welt bringen“

„…“ Pause am anderen Ende. „Stimmt etwas nicht mit Ihnen? Ich habe Sie bisher noch nie so erlebt. Das ist interessant. So schlimm kann es nicht gewesen sein so sehr wie Sie wütend sind.“

„Oh doch, so eine Unverschämtheit und Demütigung habe ich noch nie im Leben erleiden müssen. Sie soll sterben samt allem, was ihr lieb und teuer ist“

„Was genau wollen Sie dann von mir? Sie sind vor Ort, und der Auftrag lautet sie so oder so umzubringen, es hat sich nichts geändert, außer dass Sie hier unnötig die Fassung verlieren und sich aufführen wie ein kleines Kind. Reißen Sie sich gefälligst zusammen. Sie sind ein Profi, erinnern Sie sich daran“

Die Stimme der Baronin wurde noch einen Hauch lauter. „Schreiben Sie mir gefälligst nicht vor, was ich tun soll. Ich weiß, dass sie in einer Religionsgemeinschaft ist. Vermutlich im Untergrund. Und solche Gemeinschaften sind hier verboten. Der Rat soll gefälligst hier in China jemanden kontaktieren, sodass sie mir Leute zur Verfügung stellen um den ganzen Schwachsinn zu zerschlagen“ Wütend knallte sie den Telefonhörer auf das Telefon.

Niemand legt sich mit mir an und kommt gut davon. Oder überhaupt davon.

Zwei Stunden später klingelte das Telefon.

„Was hat so lange gedauert?“

„Es ist alles geregelt. Ein Mann Namens Chenyang wird zu Ihnen ins Hotel kommen. Mit ihm können Sie alles besprechen, denn er ist zuständig für genau solche Angelegenheiten“

„Danke. Sonst noch etwas?“

„Halten Sie sich gefälligst unter Kontrolle. Ich merke, wie Sie emotional geworden sind, und sowas führt schnell zu Fehlern. Das sage ich nicht wegen Ihnen, sondern wegen des Auftrages. Was mit dem Rest ist, ist egal“

Wieder legte sie wütend den Hörer auf.

Genau dann vibrierte ihr Handy in ihrer Hosentasche, es war eine Nachricht von einem unbekannten Absender.

‚Unten in der Lobby. Jetzt.‘ lautete die Nachricht. Das war vermutlich dieser Chenyang.

Sie fuhr mit dem Fahrstuhl direkt runter und begab sich in die Lobby, die sehr viele Sitzmöglichkeiten bot.

Unter all den Menschen, die momentan da saßen, erkannte sie den Kontaktmann sofort. Denn er hatte die Ausstrahlung eines Lebens, das sie auch führte. Ruhig, zurückgezogen, keine Aufmerksamkeit auf sich lenkend, die Umgebung beobachtend. Sie schritt dorthin und setzte sich direkt zu ihm.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er emotionslos.

Sie schob ihm ein Bild hin. „Diese Frau ist in einer vermutlichen Untergrund-Kirche. Wir machen einen Deal: Ich erledige die Frau und Sie deren Kirche“

Der Mann hob eine Augenbraue. „Und wieso sollte ich das tun?“

„Spielen Sie keine Spiele mit mir. Sie würden nicht hier sitzen, wenn Sie kein Interesse an diesem Auftrag hätten. Deshalb folgendes: Ich weiß, dass Ihre Regierung keine Untergrund-Kirchen duldet und sie liebend gerne zerschlagen würde. Ich weiß, dass mein Ziel von euch verfolgt wurde, aber wie wir alle wissen verlief das erfolglos. Was natürlich eine Schande für euch ist. Ich meine… Ihr kriegt es nicht hin, einer einfachen, reichen, gelangweilten Hausfrau zu folgen und herauszufinden wohin sie geht“

Der Mann schaute sie mit einem eindringlichem und eiskalten Blick an.

„Treiben Sie es nicht zu weit. Ich kann Ihrem Leben genauso ein Ende setzen wie Sie es bei anderen tun können“

„Ah, jetzt kommen meine Fähigkeiten ins Spiel. Genau hier ist der Punkt, worauf ich hinauswollte.

Ich verfolge die Frau und finde heraus, wo sich ihre Untergrund-Kirche befindet und wer maßgeblich daran beteiligt ist. Sobald ich Ihnen die Information gebe, zerschlagen Sie diese Gemeinschaft, nehmen sie gefangen und sorgen dafür, dass niemand hier von meiner Existenz weiß. Dafür werden Sie mir einen Gefallen tun und mich heimlich mein Ziel erledigen lassen“

„Wieso sollte ich Ihnen dazu verhelfen Ihren eigenen Rachefeldzug durchzuführen? Meine Regierung will zwar solche Kirchen vernichten, aber was habe ich persönlich davon?“

Die Baronin lächelte. Das Gespräch verlief exakt so wie sie es geplant hatte. Sie hielt ihm jetzt die Angel mit dem Köder hin.

„Überlegen Sie mal… Wenn ich möchte, dass Sie meine Existenz hier verheimlichen, dann fällt der ganze Lob auf Sie. Denn durch Ihre gute Arbeit, Ihre Liebe zum Land und zum System und durch Ihren unerbittlichen Aufwand haben Sie es geschafft, eine Plage mehr aus Ihrem Land zu schaffen. Niemand wird erfahren, dass ich Ihnen geholfen habe. Das alles wäre dann Ihr brillanter Kopf gewesen und einer Beförderung würde nichts mehr im Weg stehen“

Chenyang dachte nach, aber die Baronin wusste, dass sie ihn an der Angel hatte, denn dieser Leckerbissen war zu groß und zu köstlich, als dass er das Angebot ablehnen würde.

„Einverstanden. Sie verfolgen das Ziel weiterhin und sobald Sie etwas Brauchbares haben, geben Sie ihrem Kontaktmann wieder Bescheid. Er wird mich daraufhin kontaktieren“

Die Baronin lächelte gefährlich. So gefiel ihr das.

 

Ein paar Tage später war es endlich so weit. Abends folgte die Baronin unerbittlich ihrem Ziel im Auto nach bis hin zu einem Stadtteil etwas außerhalb des Zentrums. Dort stieg das Ziel in einer dunklen Gasse in ein anderes Auto um und fuhr noch weiter hinaus, wo sie in einer alten verlassenen Gegend ausstieg, durch ein paar Straßen lief und wieder in ein anderes Auto einstieg. Das ging mehrmals so weiter während die Umstiegsorte und –routen immer komplizierter wurden.

Die Baronin musste ebenfalls mehrmals das Transportmittel wechseln, und selbst wenn sie ihr Ziel für kurze Zeit nicht mehr im Blick hatte, konnte sie trotzdem jedes Mal erkennen, welches Auto sie nun genommen hatte. Das war ihren besonderen Fähigkeiten zu verdanken, schließlich hatte sie mehr als genug Erfahrung in diesem Bereich. Darum würde sie auch herausfinden, wo die Chinesin immer hinging im Gegensatz zu den Behörden. Sie jagte ihr hinterher wie ein Jäger einem verwundeten Tier um es endgültig zur Strecke zu bringen.

Nach einer längeren Fahrt hielt die Chinesin an einer alten Farm an, sie selbst hielt ein weites Stück hinter ihr an um nicht gesehen zu werden. Sie folgte ihrem Ziel mit einigem Abstand vorsichtig und lautlos nach, auch wenn es sehr dunkel war und man sie nicht sehen konnte. Mit jedem Schritt kam sie ihrer Rache und Genugtuung näher. Als sie merkte, dass sie emotional wurde und ihr Herz pochte, atmete sie tief durch und schob ihre Gefühle beiseite und ließ ihren klaren Verstand Überhand nehmen. So kurz vor ihrem Ziel würde sie sich nicht erlauben Fehler zu machen. Sie atmete mehrmals tief durch, sammelte all ihre Konzentration und lenkte sie auf die Situation.

Sie waren nun in einer großen, kaum beleuchteten Scheune angelangt, in dessen Ecke sich zwei große Männer aufgestellt hatten. Die Chinesin ging direkt auf die beiden zu und grüßte sie sehr freundlich, diese schenkten ihr die Freundlichkeit zurück. Einer der Männer drehte sich um, schob Stroh und Heu beiseite und öffnete eine unauffällige Tür, die in einem weiteren Raum führte. Die Frau ging hinein und sobald die Tür hinter ihr geschlossen wurde kam die Baronin im Schatten der Nacht und griff die Männer an ohne auch nur ein Geräusch zu verursachen. Nach wenigen Hieben waren beide bewusstlos, und um nicht aufzufallen zog sie die beiden Körper in einen nahe gelegenen Heuhaufen hinein.

Sie öffnete die Tür einen winzigen Spalt breit und sah in einen Raum hinein, der wie die Scheune aussah aber etwas umgestaltet wurde. Es waren Stuhlreihen überall aufgestellt, der Boden war mit Stroh bedeckt und am anderen Ende befand sich ein Holzboden mit einem Rednerpult und ein paar Musikinstrumenten. Es waren ungefähr 50 Personen dort versammelt, sie alle saßen in den Stuhlreihen und warteten auf den Beginn. Die Chinesin ging nach vorne an das Rednerpult und begrüßte alle herzlich. Hinter ihr war an der Wand ein Kreuz angebracht.

Jetzt war sich die Baronin sicher: Es war es eine christliche Untergrund-Kirche und die Chinesin war offenbar der Kopf davon.

Das ist es also, was die Frau macht, wenn sie verschwindet. Aber wieso will der geheime Rat sie tot sehen? Was hat er mit ihr zu tun? Und wieso ist sie gleich so übertrieben viel wert? Das ist nur eine kleine Kirche, grade einmal 50 Personen. Ich habe bereits wichtigere Personen für weniger Geld umgebracht.

Jetzt wo ich darüber nachdenke… Mein vorheriger Auftrag… Waren das nicht auch Christen? Da habe in den Auftrag noch verstanden. Das Ziel hat sehr viel Geld gemacht und es benutzt, um Einfluss in der Politik zu üben. Aber das hier? Das sind keine 5 Millionen Wert. Man hätte diese Frau einfach mit einem nicht identifizierten Auto überfahren und es später anzünden können. Meine Güte, wir sind hier in China, niemand würde danach fragen.

Aber… niemand hatte damit gerechnet. Alle dachten, sie wäre beim Geheimdienst oder bei der Triade. Aber selbst wenn, wieso will der Rat ihren Tod?

Ach egal, der geheime Rat weiß, was er tut, und es steht sowieso nicht zur Debatte dass ich darüber nachdenke, wieso der Rat jemanden umbringen will. Solange ich mein Geld erhalte und mein schönes Leben führen kann ist es mir egal.

Sanft und lautlos schloss sie die Tür und schickte ihrem Kontaktmann eine Nachricht mit den aktuellen GPS-Daten ihres Handys und ein paar weiteren Informationen. Bald würde ihre Rache sich erfüllen. Nicht mehr lange und sie würde dieser Chinesin zeigen, wer über wen Macht hatte. Sie meinte, ihr Vorhaben würde nicht gelingen?

Dann schau mal, was gleich passieren wird. Du hast dich mit der Falschen angelegt. Und wie es mir gelingen wird.

Ungeduldig wartete sie auf das Eintreffen der Behörden. Wie getrieben lief sie ständig hin und her und stieß ab und zu ein wütendes Geräusch aus. Sie konnte es kaum abwarten bis sie endlich am Ziel ankam. Leider konnte sie im Moment der Verhaftung nicht dabei sein, aber zuzusehen wie die Menschen in Handschellen mit Polizeiautos weggebracht wurden reichte vorerst aus. Aber um diese Szene genießen zu können, musste sie sich an einem Ort verstecken, wo sie zum einen ungesehen war und zum anderen aber eine gute Sicht auf das Geschehen hatte. Ein Baum 100 Meter vom Haus entfernt bot die optimale Position für beides.

Eine quälende halbe Stunde später trafen die Behörden endlich ein, es sah aus nach einer Mischung aus Polizei und Militär. Mit dunklen Autos und kaum Licht fuhren sie auf den Hof hinein, still und schleichend. Sie stellten Flutlichter um das Haus herum auf um den gesamten Ort zu beleuchten, dann gingen sie hochbewaffnet in das Farmhaus hinein.

Jetzt ist der Moment da. Und ich werde ihn genießen.

Die Baronin lag gemütlich im Baum auf einem dicken Ast und verfolgte alles genüsslich mit. Dank der großen Flutlichter konnte sie trotz Dunkelheit alles perfekt mitverfolgen und ihre Rache aufblühen lassen. Genugtuung breitete sich in ihr aus. Sie hatte recht, sie hatte gewonnen und sie hatte die Macht behalten. Was für ein Schritt um gegen diese Frau und ihren Schwachsinn anzutreten. Sowas musste verfolgt und bestraft werden. Genau darauf wartete sie jetzt, während sie die warme Temperatur und eine gelegentliche Brise in Kombination mit dem Anblick sehr genoss.

Es folgte ein sehr lautes Durcheinander an Geräuschen und Stimmen. Die Polizei stürmte sicherlich in dem Moment den Raum und hielt dabei den Menschen ihre Waffen ins Gesicht. Die Baronin stellte sich vor, wie viel Angst gerade im Raum war, wie sehr sich die Menschen wünschten, heute zuhause geblieben zu sein, und wie unterlegen und ausgeliefert sie sich fühlen mussten. Die Baronin atmete das alles tief ein und schloss die Augen, um diesen Moment in ihre Erinnerung einzubrennen.

Innerhalb der nächsten 20 Minuten wurden die Verhafteten in einer Reihe aus dem Farmhaus auf den beleuchteten Platz herausgebracht, in große Gefangenen-transporter gesteckt und weggefahren. Jede Person in Handschellen, die abtransportiert wurde, war ein Pflasterstein mehr auf ihrem Weg der Rache und der Selbstzufriedenheit. Am Ende machte die Polizei Fotos vom Ort, nahm Beweisstücke mit und zusammen mit dem Militär packten sie ein und fuhren dann hinfort.

Die Baronin schloss die Augen und genoss die Situation und den überragenden Sieg noch ein Weilchen, während die Brise mit ihren Haaren spielte. Es war so angenehm hier oben im Baum, aber sie musste leider bald herunter springen um mit dem geklauten Auto zurück in die Stadt zu fahren. Denn der Tod wartete noch auf ihr Ziel, und sie überbrachte ihn mit Vergnügen.

 

Nach einer erfolgreichen Nacht ging die Baronin in ihrem Hotelzimmer ins Bett und freute sich auf einen sehr langen und erholsamen Schlaf. Am nächsten Tag würde sie gemütlich frühstücken gehen, dann shoppen, dann gemütlich im Restaurant ihren Sieg feiern bei einem guten Wein. Am Abend dann, im Schutz der Dunkelheit und bei verringerter Personenanzahl im Gefängnis, würde sie mithilfe von Chenyang dort hinein gelangen und ihr Ziel erledigen. Hier in China würde nämlich niemand danach fragen, wieso jemand im Gefängnis plötzlich gestorben sei. Was für ein wunderbarer Sieg doch auf sie wartete. Aber bis dahin musste sie erst einmal ihre Freizeit genießen und sich zurück halten. Denn allein bei dem Gedanken an den nächsten Tag klopfte ihr Herz schneller und sie wurde ungeduldig wie ein Kind am Tag vorm Geburtstag. So kannte sie sich aber nicht und sie wusste, dass es sie behindern konnte. Deshalb versuchte sie den restlichen Abend, sich zu beruhigen und ihre Aufregung wegzudrängen.

5. Kapitel: Blind vor Wut

Als es am nächsten Tag bereits dunkel war, ging die Baronin mit einem schwarzen Mantel und Kapuze verhüllt zum Gefängnis und wartete am Lieferanteneingang. Sie und Chenyang hatten vorher abgesprochen, wie alles ablaufen würde. Nach kurzem Warten kam er auch und ließ sie hinein. Zügigen Schrittes liefen sie durch einige Gänge entlang, passierten etliche Sicherheitstüren und kamen dann in einen speziellen Gefängnistrakt. Um hier hinein zu gelangen, brauchte man nicht nur einen Schlüssel für die Tür, sondern auch einen Code. Den gab Chenyang ein, woraufhin sich die Tür öffnete und sie hindurch gingen.

Mit jedem Schritt, den die Baronin bereits in diesem Gefängnis getätigt hatte, wuchs die Aufregung, die sie bereits seit gestern versuchte zu unterdrücken. Normalerweise war sie seelenruhig, führte gefühlskalt ihren Auftrag aus und ging dann. Sie empfand dabei nichts und war emotional nie so involviert wie jetzt. Aber hier ist ein Unterschied. Denn dieser Auftrag wurde persönlich. Er wurde nämlich persönlich in dem Moment, als die Chinesin auf sie zukam und ihr einen Blödsinn erzählt hatte über eine Nachricht von Gott, der ihr diktieren wollte, wie ihr Leben aussehen sollte und was noch passieren würde, was sie schaffen und nicht schaffen und wem sie dienen würde. Und um sie zu verhöhnen hatte die Chinesin auch noch ihren Schal vor sie auf den Boden gelegt. Das würde sie ihr jetzt alles vielfach heimzahlen, und ihr eigenes Leben würde danach wieder normal verlaufen, so wie sie es wollte und gewohnt war.

Vor einer Zellentür blieb Chenyang stehen. Durch ein kleines Fenster in der Tür konnte die Baronin hineinschauen und sehen, dass ihr Ziel auf einer Pritsche saß und sie geradewegs ansah. Doch in ihrem Blick lag weder Hass noch Ärger, sondern matte Traurigkeit.

Allein dieser Anblick gab der Baronin unendliche Genugtuung und befriedigte sie in ihrem Herzen voll und ganz. Sie nahm ihre Kapuze ab und hielt ihr Gesicht direkt an das kleine Fenster hin, um es der Gefangenen zu zeigen.

„Erinnern Sie sich an mich?“

Die Chinesin runzelte die Stirn und dachte kurz nach, dann fiel es ihr ein.

„Sie sind die Frau aus dem Park, für die ich die Nachricht von Gott hatte“

„Genau die bin ich. Und Sie sind das Ziel, welches ich verfolge. Und siehe da, ich habe Sie gekriegt. Deine Nachricht hat von vorne bis hinten nicht gestimmt“

Die Baronin zog eine Schusswaffe und zielte durch das kleine Fenster direkt auf den Kopf der Chinesin. Allein schon dieser Anblick brachte ein breites und bösartiges Grinsen in ihr Gesicht.

„Sieht aus, als würde mein Vorhaben doch nicht scheitern. Wer hatte nun recht?“

Die Gefangene schüttelte traurig den Kopf. „Sie haben das alles gemacht, weil Sie eine Nachricht so sehr gestört hat? Wie viel Böses muss in Ihrem Herzen sein, um all das zu veranstalten? Und wie zerbrechlich Ihr Ego, dass Sie so tief sinken mussten?“

Die Baronin könnte kochen vor Wut und würde sie am liebsten mit bloßen Händen erwürgen, aber sie unterdrückte es. Dieser Moment war viel zu köstlich, als dass sie ihn jetzt mit Emotionen zerstören wollen würde. Also atmete sie tief durch und legte wieder ihr triumphierendes Grinsen auf.

Dann begann die Chinesin mit geschlossenen Augen etwas zu murmeln, dabei entspannte sich sichtlich, die matte Traurigkeit wich um ein leichtes Lächeln in ihrem Gesicht zu erlauben. Man konnte beinahe spüren, dass ein gewisser Frieden auf ihr und um sie herum lag. Keine Angst, keine Panik, nur Frieden.

Die Baronin hielt stirnrunzelnd inne und ließ die Waffe etwas sinken. Sowas hatte sie ebenfalls noch nie erlebt. Was ging hier vor sich?

Nichtsdestotrotz würde sie ihr Ziel umbringen. Die Waffe wieder auf ihr Ziel gerichtet, wollte sie gerade den Abzug drücken.

Plötzlich hörten sie leise Schritte, die in der Ferne auf sie zu kamen, ein Schloss wurde aufgemacht, erneut Schritte. Nur noch eine Tür trennte sie von der Person, die sie hier entdecken und dann melden würde. Das wäre das Todesurteil für die Baronin.

Der Blick der Baronin durchbohrte Chenyang böse und er sagte eindeutig ‚Was soll das?‘. Chenyang geriet ebenfalls in die Enge und schaute sich nervös nach Fluchtmöglichkeiten um. Aber da war nichts.

„Ich weiß nicht, wer das ist. Das ist nicht geplant. Aber wenn Sie hier erwischt werden, bin auch ich zu Tode verurteilt! Erschießen kann ich ihn auch nicht, das würde mich genauso auffliegen und zu Tode verurteilen lassen!“

Ihr ganzes Blut wich plötzlich aus ihrem Gesicht und hinunter in ihre Beine. Stattdessen kam Angst hoch und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Baronin war sichtlich verwirrt obwohl sie immer einen kühlen Kopf bewahren konnte. Nur jetzt nicht. Sie war so verwirrt, dass sie nicht einmal mehr wusste, wie sie atmen sollte. Das kannte sie nicht von sich. Überhaupt nicht. Die Schritte kamen langsam immer näher. Nun war sie das Tier, das vom Jäger eingeengt wurde und keine Fluchtmöglichkeit mehr hatte.

Panisch schaute sie sich um. Es gab hier keinen Ausgang, sie waren am Ende des Korridors angelangt, aber es gab keinen nächsten, in den sie sich flüchten könnte. Aus dem Fenster fliehen konnte sie nicht, da sie alle fest vergittert waren.

Sie saß fest.

Schlüsselklirren. Instinktiv wich die Baronin einen Schritt zurück. Aber es würde nichts bringen. Dann sah sie, dass die benachbarte Zelle leer war und deutete lautlos an, dass sie da hinein flüchten möchte.

Chenyang öffnete die Tür sofort und sie hastete hinein.

Keine Sekunde zu spät. Denn die Tür zwischen diesem und dem vorherigen Korridor wurde geöffnet. Ein Gefängnisaufseher kam herein und grüßte Chenyang.

Das Herz der Baronin schlug so laut in ihren Ohren, dass sie Angst hatte, dass es ihre Position verraten würde. Sie würde gerne mehrmals laut durchatmen um sich zu beruhigen, aber das konnte sie nicht, das könnte sie verraten. Also hielt sie die Luft an und versuchte, ihren Stresspegel wieder zu senken. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie eingeengt und ohne Fluchtmöglichkeiten dazu verdammt war zu sterben. Aber jedes Mal hatte sie einen Ausweg gefunden und fliehen können. Damit beruhigte sie ihre Gedanken, ebenso mit der Tatsache, dass der Aufseher gleich wieder gehen würde. Welcher Vollzugsangestellter würde schließlich vermuten, dass jemand einbrechen würde statt ausbrechen zu wollen? Schließlich kam es so gut wie nie vor, dass jemand sich mithilfe eines Mitarbeiters einschlich um jemanden zu töten. Er drehte nur seine Runde, Ende der Geschichte. Diese Tatsachen beruhigten sie tatsächlich etwas.

Aber das dauerte nicht lange.

„Wieso ist diese Tür offen?“, hörte sie den Aufseher fragen. In der Eile hatte Chenyang die Tür nicht mehr schließen können.

Schritte kamen auf ihre Zelle zu. Die Baronin saß direkt in der Ecke hinter der Tür, sodass man sie nicht durch das kleine Fenster sehen konnte.

Der Mitarbeiter zog die Tür zu, verschloss sie und sie hörte, wie er wieder in den vorherigen Korridor ging und die Sicherheitstür hinter sich schloss.

Erleichtert atmete sie die angehaltene Luft wieder aus und danach mehrmals tief durch. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Angst. Denn wie man sah, hätte sie nichts zu befürchten gehabt. Ihre Gefühle waren wieder einmal außer Kontrolle geraten. Zu oft in letzter Zeit. Sie fuhr sich durch das Haar, stand auf war teilweise verärgert über sich selbst. Denn sie hatte zugelassen, dass in einer gefährlichen Situation ihr Verstand überrannt wurde und sie dadurch hätte sterben können.

Sie hämmerte von innen gegen die Zellentür.

„Chenyang! Öffnen Sie endlich die Tür.“

Er stellte sich vor das kleine Fenster und schaute sie mit einem hinterhältigen Lächeln an.

„Hier muss ich Sie leider enttäuschen. Denn Sie sind nicht die Einzige, mit der ich einen Deal abgeschlossen habe. Sie verstehen das sicherlich.“ Er zwinkerte ihr zu.

Ihr Mund klappte auf. Es hatte einen langen Augenblick gedauert, bis sie diese Information verarbeitet hatte und bis sie verstand, was eigentlich dahinter steckte. Langsam entfalteten sich vor ihr die furchtbaren Konsequenzen, die sie dadurch tragen müsste.

„Was?“, brachte sie nur hervor. Sie war bis in die Knochen hinein im Schockzustand.

„Der Rat hat bei Ihrem letzten Anruf gemerkt, wie emotional Sie geworden sind. Deshalb hat er beschlossen, Sie in den Ruhestand zu schicken, denn Sie sind nur noch eine tickende Zeitbombe. Und niemand möchte damit arbeiten.“

„Sie lügen! Der hohe Rat würde mich niemals verraten!“

„Meinen Sie? Schauen Sie sich an. Sie sind in der Zelle gefangen. Normalerweise würden Sie, so wie ich es auch tun würde, einen Raum so analysieren, dass Sie sofort eine Fluchtmöglichkeit ausmachen könnten. Aber Sie waren so fokussiert auf diese Frau und Ihre persönliche Rache, dass Sie nichts anderes mehr sehen konnten. Sie sind selbst schuld, dass Sie in diese Lage hinein gekommen sind. Sie handelten wie ein purer Anfänger, ohne Kopf und rasend vor Wut, besessen von Rache und nicht fokussiert auf Ihren Auftrag. Ist es deshalb so verwunderlich, dass der Rat Sie beseitig haben möchte?“

„Was?“, stoß die Baronin erneut hervor. Sie konnte es nicht fassen. Sie konnte es einfach nicht fassen.

Dann wich ihre innere Taubheit einer rasenden Wut. Sie schlug gegen die Metalltür und schrie „Chenyang! Ich befehle Ihnen, dass Sie diese Tür aufmachen!!“

Chenyang lachte nur und drehte sich um zum Gehen.

„Chenyang! CHENYAAANG! SIE SIND EIN TOTER MANN!“

Die Baronin rastete komplett aus, schlug und trat gegen die Tür, schrie und drohte dem Verräter. Doch nichts half.

Er ging und schloss die Tür zum Korridor hinter sich zu.

Allein. Sie war nun allein. Und gefangen. Alles war ruhig und still. Niemand würde sie hier hören. Elendig wie eine Ratte würde sie hier umkommen, es handelte sich nur noch um Tage. Überwältigt und verzweifelt sank sie auf die Knie.

Impressum

Texte: Severina Puls
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für jeden, der hoffnungslos ist und gefangen in sich selbst. Es gibt einen Weg der Hoffnung, Liebe und Freiheit. Das ist Jesus Christus. Denn nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken und Gebrochenen und Hoffnungslosen. Danke an Dimitra D. für all deine Hilfe.

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