Vorsichtig öffnete Marie ihre Augen. Das Tageslicht, das sich erbarmungslos den Weg durch Ihr Schlafzimmerfenster bahnte, blendete sie schmerzhaft. Die stechenden Kopfschmerzen, die sich inzwischen zu ihrem täglichen Leiden hinzugesellt hatten, verschonten sie auch heute nicht. Schützend legte sie ihre Hand ans Gesicht und versuchte durch den zähen Schleier an Tränenflüssigkeit einen Blick auf die Uhr zu erhaschen. Alles war verschwommen. Gequält rieb sie sich die schmerzenden Augen, bis diese ihr wieder erlaubten, halbwegs klar zu sehen.
Es war kurz nach sieben in der Früh. Marie starrte eine Weile lang auf den Sekundenzeiger, der sich stetig vorwärts bewegte. Er hielt einfach nicht an. Nichts konnte ihn daran hindern, seinen Weg weiter und weiter durch die Zeit zu drehen. Natürlich hätte sie einfach die Batterien aus der Uhr entfernen können. Nur was würde ihr das bringen? Die Zeit verstrich ohne Gnade und zwang sie jeden Tag aufs Neue zu leben, oder besser gesagt, zu existieren.
Die Uhr ließ sich nicht einfach zurückdrehen, zurück in ihre Kindheit, als das Leben noch frei von Sorgen war. Als das „naive-Kind-sein“ noch keinen Zweifel daran ließ, dass das Leben einfach schön war, dass Mama und Papa für alles sorgten, dass Leid und Not nicht existierten und dass das pure Glück im täglichen Neuerfinden der kindlichen Phantasie lag…!
Glücklich…! Marie wusste nicht mehr, was das war. Sie drückte ihr Gesicht ins Kopfkissen um zu verhindern, dass die Gedanken wieder und wieder in ihr hochkamen. Vergebens, denn zu viel war geschehen. Zu viele Ereignisse hatten ihr allen Mut, alle Kraft und alle Energie genommen. Sie fühlte sich leer. Sie hatte Angst und jede Sekunde ihres Lebens war eine Qual. Die Erinnerungen, Ängste und Sorgen brannten sich tief in ihre Seele und hinterließen nichts als eine sinnlose, schmerzhafte Leere, die alle Hoffnung im Keim erstickte und eine befremdliche, peinigende Sehnsucht in ihr weckten. Die Sehnsucht alles vergessen zu können, die Sehnsucht einfach nichts mehr zu fühlen…
Nie war sie davon ausgegangen, dass das Leben sich auf diese Weise an ihr vergehen würde. Dass es ein Leben gab, in dem man nur noch sterben wollte, um es nicht mehr ertragen, ja, sich selbst nicht mehr ertragen zu müssen, diesen Körper, diese Seele, diesen Schmerz. Dass der eigene Körper fähig war, Gefühle hervorzubringen, die einen Menschen in den Wahnsinn trieben, hätte sie nie auch nur gewagt zu glauben…
Da war es wieder. Marie riss panisch die Augen auf. Ein Schrei der Angst entfuhr Ihr und schnürte ihr die Kehle zu. Panik stieg in ihr hoch. Sie sprang aus dem Bett und wollte rennen, aber wohin? Sie atmete schwer. Tränen flossen ihr in Strömen über das Gesicht während sie schluchzend in sich zusammensackte. Dann krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie rannte zur Toilette doch mehr als ein quälendes Würgen und etwas Magensaft brachte ihr Körper nicht hervor. Was sollte sie auch erbrechen? Sie aß ja kaum noch etwas. Trotzdem fühlte sie sich für einen kurzen Moment, als hätte sie sich von einer Last befreit.
Sie wusste, dass das Blödsinn war, denn alles, was sie damit erreichte, war, dass sie mehr und mehr abnahm, was ihr zusätzlich die Kraft raubte. Sie lehnte den Kopf gegen die kalten Fliesen im Badezimmer. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Das Leben war eine einzige Qual! Wie gerne würde sie das alles nicht mehr spüren müssen. Sie war nie der Mensch gewesen, der leichtfertig mit seinem Leben umging. Doch die Gefühle, mit denen sie sich nun schon Jahre lang tagtäglich abgeben musste, waren einfach zu viel für sie. Alles machte ihr Angst.
Marie verschloss sich die meiste Zeit in ihrer Wohnung. Sie wollte keine Menschen mehr sehen. Keine Kinder. Keine Probleme. Keine Krankheiten. Keinen Hass. Keinen Verlust. Sie wollte sich nur noch unter ihrer Bettdecke vergraben und schlafen! Sie wollte nicht mehr aufwachen und dieses Leben jeden Tag aufs Neue ertragen müssen. Nichts wünschte sie sich sehnlicher…
Es gab nichts mehr von Bedeutung in ihrem Leben. Sie war ein Nichts, und es gab nichts, was noch einen Sinn ergeben hätte. Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen und bahnten sich den Weg durch ihr eingefallenes Gesicht. Warum? Warum war sie überhaupt noch hier? Warum konnte dieser Gott, wenn es einen gab, sie nicht einfach erlösen? Wahrscheinlich war sie so wertlos, dass nicht mal er sie haben wollte. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem Leben so viel falsch gemacht, dass sie nun dafür büßen musste…
Langsam zog Marie sich am Waschbecken nach oben um dort einen Moment zu verharren, bis das Schwindelgefühl sich gelegt hatte. Sie ließ kaltes Wasser in ihre Hände fließen und befeuchtete ihr Gesicht. Das kühle Wasser ließ ihr einen Schauer durch den Körper laufen. Als sie für einen Moment ihren Kopf hob, versetzte es ihr wieder einen Schlag in die Magengrube.
Im Spiegel vor sich sah sie das Gesicht einer zerstörten jungen Frau. Die Augen rot, durch die geplatzten Äderchen, die Haut bleicht und rau, die Wangenknochen stachen aus ihrem Gesicht wie Mahnmale hervor. Ihr einst strahlend blondes Haar klebte verfilzt, matt und licht an ihrem Kopf. Ja, sie war eindeutig am Ende angelangt. Diese Frau dort im Spiegel war der Beweis für eine unwerte Existenz. Beschämt und mit gesenktem Kopf schlich sie langsam zurück in ihr Bett., den einzigen Ort, an dem sie überhaupt noch existieren konnte. Hier wollte niemand etwas von ihr. Hier konnte sie liegen, musste sich nicht bewegen, und im besten Fall konnte sie schlafen, musste demnach auch nicht mehr nachdenken.
Marie blickte zum Fenster. Es regnete schon wieder. Kein Wunder. Das Wetter spiegelte genau das wieder, was sich in ihrem Inneren abspielte. Sie schaute eine Weile lang den Regentropfen zu, wie sie nacheinander die Scheibe herunter ronnen. Genau so war auch ihr Leben an ihr vorbeigezogen.
Stetig, unaufhaltsam hatte es sie mit in die Tiefe gerissen. Ein Strudel im Ozean des Lebens, der sie weiter und weiter nach unten sog, mit der Absicht, sie für immer zu vernichten.
Anders konnte man es nicht beschreiben, was Marie erlebt hatte. Sie war 32 Jahre alt und total am Ende. Sie sollte in der Blüte ihres Lebens stehen.
In Gedanken spielte sie wieder und wieder den Film ihres Lebens ab, als könne sie irgendwo den Punkt finden, an dem sie hätte verhindern können, was geschehen war…
Maries Gedanken ließen sich nicht mehr aufhalten, und so erinnerte sie sich zurück, und durchlebte in Bruchstücken ihre Vergangenheit erneut, teils sehr vage, teils sehr intensiv, als wäre sie in diesem Moment wieder genau in der gleichen Situation:
Ihr Leben verlief so, wie man es sich als junges Mädchen nur wünschen konnte. Ihre Kindheit war wunderschön. Sie war ein Einzelkind, wodurch ihr die volle Aufmerksamkeit und Liebe ihrer Eltern immer sicher war.
Gérome und Elysée Lasard waren nicht reich, aber sie konnten Marie ein sorgenfreies Leben bieten, in dem es ihr an nichts fehlte. Probleme in der Schule gab es selten und ihr Schulabschluss war gut genug, um eine Ausbildung zur Sekretärin machen zu können. Zu dieser Zeit lernte sie Julien kennen. Die Liebe ihres Lebens.
Marie war damals 18, er 24. Auf dem Dorffest sah sie ihn das erste Mal. Er war schick gekleidet, geschäftsmäßig eben, ein großer attraktiver Typ mit vollem schwarzen Haar und dunklen, geheimnisvollen und romantischen Augen. Er fiel Marie sofort auf, da er sich durch sein Auftreten von den restlichen, eher leger gekleideten Dorfbewohnern, abhob. Marie trug damals ein gelbes sommerliches Kleid und war gerade dabei, ausgelassen mit dem fünfjährigen René, dem Sohn ihrer Cousine, zur Festmusik zu tanzen. Als ein etwas ruhigeres Lied zu spielen begann, stand Julien plötzlich vor ihr bat sie lächelnd, auch mit ihm eine Runde zu tanzen. Es war Liebe auf den ersten Blick und ab diesem Abend waren Marie und Julien ein unzertrennliches Paar.
Von Beruf Versicherungsvertreter, arbeitete Julien sich schnell hoch und gründete eine eigene Agentur. Marie beendete ihre Ausbindung und wurde von Julien in der Agentur als Sekretärin der Geschäftsleitung eingestellt. Mit 22 Jahren war für Marie der schönste Tag ihres Lebens gekommen. Sie durfte ihren Traummann heiraten. Es war eine wunderschöne Hochzeit. Es wurde gemunkelt, Marie und Julien seien das Traumpaar von Lorris, einem kleinen Örtchen in der Nähe von Orléans. Man könnte sagen, sie hatten das perfekte Leben. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, machten Urlaub in den schönsten Ländern und konnten sich ein unbeschwertes Leben leisten. Die Geschäfte liefen so gut, dass sie sich drei Jahre später ihr Traumhaus in Orléons bauen konnten. Alles schien so perfekt.
Julien und Marie beschlossen, nicht mehr länger zu warten. Alles was zu ihrem vollkommenen Glück noch fehlte war ein Kind Marie setzte die Pille ab und hoffte auf eine baldige Schwangerschaft. Sie wünschte sich so sehr ein kleines Mädchen, dem sie all ihre Liebe geben konnte.
Doch Julien war immer mehr mit seiner Arbeit beschäftigt, kam spät nach Hause, war müde und ausgebrannt und die Gelegenheiten der Intimität wurden weniger und weniger. Jedes Mal, wenn Marie ihre Periode bekam, war sie mehr und mehr enttäuscht, dass es wieder einmal nicht geklappt hatte. So vergingen die Monate bis Marie es nicht mehr aushielt. Sie versuchte mit Julien zu reden, der sich irgendwie verändert hatte. Kaum noch verbrachte er Zeit mit ihr. Im Büro liefen sie sich selten überhaupt über den Weg, da Julien meist draußen bei seinen Kunden unterwegs war. Auch an den Wochenenden war er meist völlig ausgebucht mit Kundengesprächen oder Analysen von deren anlagefähigem Vermögen. Die leichte, fröhliche und herzliche Art, die Marie so sehr an Julien geliebt hatte, wich von Jahr zu Jahr den ausdruckslosen oder strengen Blicken, der abweisenden Haltung und den aggressiven Ausbrüchen, die Julien manchmal so an den Tag legte. Er war besessen von dem Gedanken, mehr und mehr Geld zu verdienen und vergaß darüber völlig, dass Marie auch noch da war, dass er verheiratet war und dass sie eigentlich zusammen glücklich sein wollten.
Marie versuchte alles, um Julien das Leben zu verschönern, weil sie dachte, ihm so wieder ein Lächeln entlocken zu können. Doch egal was sie tat, es funktionierte nicht. Wenn sie ein romantisches Abendessen vorbereitete, erschien Julien erst gar nicht. Wenn sie sich abends zu ihm auf das Sofa legte, um ihm nahe zu sein, schob er sie weg, unter dem Vorwand, er habe einen stressigen Tag gehabt und brauche seine Ruhe. Marie wusste einfach nicht mehr, was sie machen sollte.
Ein Hoffnungsschimmer kam in ihr auf, als Julien eines Abends früh von der Arbeit nach Hause kam und ihr freudig erzählte, ein Geschäftskunde habe sie in dessen Feriendomizil am Strand von Marbella in Spanien eingeladen. Natürlich freute sich Marie sehr darüber, vielleicht endlich mal wieder ein paar entspannte Tage mit Julien verbringen zu können.
Eine Woche später saßen sie im Flieger nach Marbella. Marie merkte sofort, dass Juliens Gesichtszüge sich mehr und mehr entspannten, je näher sie dem Urlaubsziel kamen. Der Geschäftskunde von Julien war ein freundlicher Mann Ende 50, Monsieur de Galle, der die beiden in seiner Limousine am Flughafen von Marbella abholte. Julien musste ihm eine sehr lukrative Anlage empfohlen haben, weshalb er sich erkenntlich zeigen wollte.
Die ersten Tage verbrachte Julien fast jede freie Minute mit Monsieur de Galle. Wenn Marie fragte, ob sie denn auch mal etwas alleine machen könnten, erklärte Julien ihr, dass er seine guten Kontakte schließlich pflegen musste, und er zudem weitere Freunde von Monsieur de Galle bei den Freizeitaktivitäten kennenlernen würde, welche sich dann als potentielle Neukunden herausstellen könnten. So verging die Woche fast ausschließlich in Begleitung meist mehrerer betuchter Männer, vor denen Marie die perfekte Ehefrau abgeben musste.
Dann, am letzten Abend vor der Rückreise, hatte Monsieur de Galle einen privaten Termin, weshalb Marie und Julien alleine zur Strandbar gehen konnten. Marie genoss es, einfach die warme Abendluft atmen zu dürfen und zusehen zu können, wie die Sonne sich langsam dem Meer am Horizont näherte. Auch Julien war anzusehen, wie die Anspannung von ihm abfiel und er bestellte sich einen Pina Colada nach dem anderen.
Als die Sonne untergegangen war, griff Julien Marie plötzlich unsanft am Arm und zog sie in Richtung der Umkleidekabinen. Marie wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte und ließ sich mitziehen. Julien drückte sie in eine der Kabinen und schloss die Tür hinter ihnen ab. Marie wollte fragen, was das soll, doch Julien drückte seinen Mund auf den ihren, drückte sie gegen die Wand und schob mit seinen Händen grob ihr Kleid nach oben. Dann riss er ungeduldig ihre Bikinihose zur Seite, zog seine Shorts nach unten, griff hart nach ihren Beinen, hob sie nach oben und stieß in sie, wieder und wieder. Marie versuchte zu schreien, denn er tat ihr weh. Doch Julien hielt ihr den Mund zu und machte weiter. Er hatte einen total wahnsinnigen Gesichtsausdruck, wie Marie ihn noch nie bei ihm gesehen hatte. Angst kam in ihr hoch und sie hörte auf, sich zu wehren. Sie ließ es geschehen, bis er sich in ihr ergoss und sie zu Boden sanken. Dort grub er sein Gesicht in ihre Haare und begann zu weinen.
Marie war wie unter Schock. Sie wusste nicht, was da eben passiert war. So lagen sie beide eine halbe Stunde, bis sie stillschweigend zum Domizil zurückliefen. Sie redeten den Abend nichts mehr miteinander, gingen wortlos zu Bett und verhielten sich am nächsten Morgen beim Abschied von Monsieur de Galle, als wäre nichts geschehen. Auch im Flugzeug traute Marie sich nicht, Julien auf die Geschehnisse des letzten Abends anzusprechen. Sie versuchte es zu vergessen, es auf den Alkohol zu schieben und nicht mehr darüber nachzudenken.
Die nächsten Tage und Wochen verliefen wie zuvor. Julien war viel unterwegs und selten gut gelaunt. Marie versuchte sich so gut wie möglich mit der Situation abzufinden, immer in der Hoffnung, es würde sich wieder bessern. Schließlich hieß es nicht umsonst „in guten wie in schlechten Zeiten“. Sie würden das durchstehen. Zusammen.
Marie fühlte sich jeden Tag schlechter. Schon seit einigen Tagen musste sie sich andauernd übergeben. Da sie jedoch regelmäßig ihre Tage bekommen hatte, vermutete
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Autorin Thaia van Gaia
Bildmaterialien: © Maksim Toome - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1843-2
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