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Der Sandkasten




Denn Enoch wollte es ja nicht anders. Es musste ja so kommen. Wär er mal lieber da geblieben. Abwesenheit ist für so manchen eine Aufforderung. Eine Lücke begreift ein jeder als sofort schließenswert.
Jetzt stieg dieser freche Bacchus keck von seinem Dreirad und kam auf sie zugewatschelt. Der Sand knarzte unter seinen Schelmenschritten. Er grinste. Dem hübschen Alex Theseus von nebenan, den alle immer noch Enoch nannten, hatte sie erst gestern ihr Lieblingswollknäuel geliehen, damit er auch mal damit spielen konnte, und nun war er irgendwo auf Höhlentour, was man so hörte. Und sie saß hier allein. Die Männer waren doch alle gleich, dachte sich Ariadne und schippte verächtlich ein wenig Sand in ihr Eimerchen. Auf wen sollte man sich noch verlassen, wenn nicht auf sich selbst?
„Na, Ari? Kann ich dir einen Wunsch erfüllen?“
„Geh mir aus der Sonne, Spaßvogel.“
„Ha ha! Ein Spruch zum in die Tonne kloppen! Ich mag dich. Du hast ´ne große Klappe, und ich mag meine Mädchen schnippisch, weißt du?“ Bacchus bohrte sich in der Nase. Er war ein Angeber. Seit Ariadne ihm im Kindergarten das erste Mal über den Weg gelaufen war, er mit frisch eingenässter Jeans, sie mit frisch eingedrehten Zöpfen, versuchte er, sie zu beeindrucken. Es war kein Tag vergangen, an dem er ihr nicht arg bemüht irgendein Kunststück vorgeführt hätte, kein Tag, an dem er keinen deutlichen Hinweis auf seine schiere Überlegenheit zu allen anderen Kindern des Bezirks gegeben hätte. Gern wies er auf seine neuesten Errungenschaften hin, wie damals, als er das Set Zinnsoldaten bekommen hatte, das es noch gar nicht im Handel gegeben hatte. Er veranstaltete die größten und rauschendsten Feste der Straße, bei denen seine Begleiter, allesamt gelackte Bubis mit Pferdeschwanz, im Chor auf der Flöte spielten und dann soviel Saft tranken, bis sie um die Wette pupsten. Ariadne wusste, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte, als sie ihm an diesem ersten Tag im Kindergarten zugelächelt hatte. Sie hatte ihn nur aufmuntern wollen, weil er sich in die Hosen gemacht hatte und sich schließlich sicherlich dafür schämen musste. Bacchus aber war damals schon längst der Meinung, dass er sich in die Hosen machen konnte, soviel er wollte, und dass daran überhaupt nichts Unfeines sei und dass eh er die Regeln aufstelle. Er hatte das Lächeln als Einladung begriffen.
„Schau mal.“ Er deutete auf seine Trinkflasche. „Lässig, nicht wahr?“
„Ja, toll.“
„Und hier.“ Er hielt einen Stab hoch, an dem er einen Pinienzapfen festgebunden hatte, ein wenig umständlich zwar, aber doch so, dass es fast wie ein Zepter aussah.
„Stark.“
„Und hier, schau.“ Überall an seinen Klamotten hingen Efeublätter. Bacchus zupfte selbstsicher an seinen Kleidern herum und gefiel sich selbst sehr gut.
„Prima. Du hast Grünzeugs am Hemd.“ Sie war gern bereit, ihn auszulachen. „Das ist eine echte Leistung.“
„Das ist Absicht“, erwiderte der Junge stolz. „Ist nämlich kleidsam.“
„Find ich nicht.“ Ariadne war genervt. Konnte sie der Kerl nicht einfach in Ruhe lassen? Ihr aus dem Licht treten? Sie hatte wenigstens noch zwei Sandburgen zu bauen. Das war harte Arbeit. Ein Knochenjob. Höchste Konzentration gefordert. Dabei sollte man nicht gestört werden.
„Das ist Efeu.“
„Hör zu, Hosenscheißer. Dein Efeu interessiert mich nicht. Du interessierst mich nicht. Glaubst du, nur weil ich hier rumsitze, warte ich drauf, dass du mich anplapperst? Nur weil ich niemand neben mir habe, glaubst du, ich sei allein? Ich sitz hier zum Spielen. Da komm ich ganz gut ohne dich aus. Wahrscheinlich sogar besser, okay? Ich krieg Ohrenschmerzen, wenn du nur den Mund aufmachst. Mir wird öde, wenn du nur pieps sagst. Ich mag den Alex mehr.“
„Der ist aber weg, der Alex!“ rief Bacchus.
„Und da kommst du daher? Mir nix dir nix?“
„Vergiss den Alex.“ Der Junge fuchtelte mit den Armen, aufgeregt und aufgebracht. „Der kann nix. Der bringt nix. Der Enoch ist ein Nichtsnutz.“
„Und du bist besser?“
„Na klar. Viel weniger ein Nichtsnutz! Du kriegst von mir den ganzen Himmel geschenkt und mich noch dazu. Und das ist ein Angebot, das kannst du nicht ausschlagen. Kannst du nicht ablehnen. Ich machs dir, das Angebot, und du nimmst es an. So einfach ist das im Leben.“
Der Himmel. Wie himmlisch. Was wollte sie denn mit seinem Himmel? Und was wollte sie mit ihm obendrein? Es gibt halt immer Dinge im Leben, die könnt man haben, aber die will man gar nicht. Und Sachen sammeln, nur weil man kann, das ist ungesund.
„Mehr Infos, Schmalzbacke“, sagte sie. „Was ist dran am Himmel?“
„Oh, er ist sehr praktisch. Es hängen Sterne und der Mond und die Sonne und Kometen und Wolken daran, und die gehören dir ja dann auch gleich mit. Und seine Farbe verändert er auch, der Himmel. Das ist viel besser als der Spielplatz hier.“
Viel besser als der Spielplatz. Unfassbar. Was fiel diesem Wicht ein, diesem Holzkopf, den Spielplatz in den Dreck zu ziehen? Das war ihr zweites Zuhause. Hier konnte sie hingehen, wenn ihr die Dinge über den Kopf wuchsen. Konnte sich ausleben. Kreativ werden. Sich was ausdenken. Sandkuchen backen und Rutschen gehen. Hier war sie in ihrer natürlichen Umgebung. Das war ihr Revier. Der Spielplatz war ihr Rückzug von der lauten Welt der Erwachsenen. Von all diesem Hasten und Hetzen und Lügen und all dem Kram. Hier durfte man genießen. Die Sonne und den Wind und das Geräusch von rieselndem Sand und von echtem Lachen. Was bitte sollte besser sein als der einzige Ort, an dem Kinder wirklich sie selbst sein konnten? Wo sie bestimmen konnten. Wo man sie respektierte. Ariadne sah einmal mehr, dass Bacchus ein Doofmann war. Er verstand es einfach nicht. Er verstand das Leben nicht. Er verstand sie nicht. Und den Spielplatz begriff er auch nicht.
„Ich mag den Spielplatz.“
„Pah, der Spielplatz. Ab da geht’s doch nur noch bergauf. Du fängst von hier unten an, du spielst im Sand und du frisst Sand. Aber dann nehm ich dich bei der Hand, und wir machen uns auf den Weg nach oben. Weil es nämlich immer nur nach oben geht. Weil du unten anfängst. Du wirst größer und klüger und stärker. Und dann sitzt du mit mir da oben und spielst auf den Wolken und isst vom Himmel.“
„Du bist eine Kackwurst, Bacchus.“
„Mag schon sein, Kleines. Aber mir gehört das Himmelszelt.“
Solange man einen Weg findet, sich selbst zu überschätzen, geht der Spaß nicht verloren. Ariadne war sich bewusst, dass das Spielchen noch ewig dauern könnte. So faul diese Männer auch sein mochten. Wenn es darum ging, sich im besten Licht zu zeigen, hatten sie alle Ausdauer der Welt.
„Willste mal trinken?“ fragte der Knabe. Er zwinkerte ihr ganz arrogant zu und reichte ihr sein schnöselig verziertes Trinkgefäß. „Traubensaftschorle, total lecker.“
Ariadne schüttelte den Kopf. „Vertrag ich nicht. Weil ich da allergisch bin. Wird mir ganz schwummrig von.“
„Jetzt hab dich halt nicht so.“ Der kleine Bacchus stupste sie mit der Flasche an und sah erwartungsvoll drein.
„Ich hab mich wie ich will, du Schnöseldumdösel!“
„Und wie hast du mich?“ Er grinste wieder.
„Bestimmt nicht lieb jedenfalls.“
Das traf ihn. Da protestierte er. „Aber der Himmel. Der Traubensaft. Die Sterne. Der Efeu.“
„Ich steh nicht auf Effekthascherei, du Würstchen!“
Da blieb Bacchus der Mund offen stehen. „Willst du mich etwa in die Wüste schicken?“
„Im Sand stehst du ja schon, Knäblein. Und wegen mir reicht es auch, wenn du dahin gehst, wo der Pfeffer wächst. Oder irgendwo anders hin. Hauptsache du gehst. Das ist mir das Wichtigste.“
„Nirgendwo geh ich hin!“ motzte Bacchus. „Weil mir der Himmel gehört! Und wenn mir der Himmel gehört, dann gehört mir auch das da drunter. Und das ist der Spielplatz, und die Stadt und du auch!“
Machtphantasien. Vollkommenheitstraum. Realitätsflucht. Ariadne konnte nicht umhin vergnügt zu lachen. Eines musste man dem Blödi lassen – witzig war er. „Zeig mir ein einziges Körnchen Sand hier, das dir allein gehört, und ich benenn das ganze, gesamte Klettergerüst nach dir. Und ich schubs dich zwei Tage lang beim Schaukeln an.“
„Das brauch ich ja gar nicht“, erwiderte der Junge patzig. „Weil sie mir ja alle gehören. Alle Körner.“
„Dir ist schon klar, du Popelfritze, dass du selber gar nicht mehr als ein kleines Sandkorn bist, oder? Ganz unwichtig und winzig. Und ganz bestimmt nicht wichtiger und größer oder besser als irgendein anderes Sandkorn. Also spiel dich nicht so auf.“
Da griff sich Bacchus eine Hand voll Sand und warf damit nach dem Mädchen. „Das haste jetzt mit deinem Sand und deinem tollen Sandkasten und deinem schönen Spielplatz!“ Ganz aufgeregt war er.
Typisch Mann. Erst machen sie auf starker Kerl und spielen sich auf. Und wenn sie nicht kriegen, was sie wollen, werden sie nervös. Und wenn sie nervös sind, wissen sie sich nicht zu helfen. Damit können sie nicht umgehen. Und ganz schnell schlägt das in Gewalt um. „Höhlenmensch!“ Sie streckte ihm die Zunge raus. Er war zu allem bereit. Sein rot angelaufener Kopf wackelte ein wenig. Ein Zeichen für den Angriff. Der Sand des Spielplatzes begann zu Surren. Sprungbereit wie eine Wildkatze fuhr Bacchus die Krallen aus.
„Junge!“ kam es da aus dem Hintergrund. Entsetzt fuhr Bacchus herum. Hinter ihm stand seine Mutter und musterte ihn, demonstrativ den Kopf schüttelnd. Ihre Hände waren in die Seiten gestemmt. Damit machte sie sich größer als sie war. Damit wirkte sie bedrohlicher. Für ihren Sohn jedenfalls. Ariadne fand das gut, dass die Frau Mama Bacchus ihren Mann stand. Ihre Frau stand.
Die Mutter sah erzürnt auf die Efeublätter an Hemd und Hose ihres Sohnes. „Dionysius Alexander Bacchus! Bist du wieder durch den Garten der Nachbarn geklettert? Hast du dich wieder schmutzig gemacht, du Bengel? Schau dich doch an, du bist ganz schmuddelig!“
„Mama, das ist Absicht!“ rief Bacchus. „Das ist Efeu! Und das ist kleidsam!“ Doch seine Mutter wollte gar nicht erst hören. Sie nahm ihn am Arm und zog ihn weg. Er fing an zu plärren. Strampelte. Schrie, dass das so sei, weil es so sein müsse, dass er das besser wisse, dass sie keine Ahnung hätte und schrie und schrie und schrie. Schnell waren sie um die Ecke und sein Jammern, kläglich und verzweifelt, schrill und wehleidig, entfernte sich, bis es nicht mehr zu hören war.
Das geschieht ihm ganz recht, dem Angeber, dachte sich die kleine Ariadne. Sie klopfte sich den Sand, den der doofe Bacchus gerade auf sie geworfen hatte, von den Klamotten.
„Das Leben ist wie ein Sandkasten. Nur Scherereien den ganzen Tag. Und am Abend kommt man nach Hause und stellt fest, dass man dringend ein Bad bräuchte.“ Damit widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dem, der lesen kann und es auch will, denen, die klein sind oder es waren und es nicht vergessen haben, und den Griechen an sich.

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