Er rannte. Hinter ihm eine Meute seiner eigenen Geschwister. Doch hier, im kältesten Teil Russlands, hatte er einen Vorteil. Er war den Schnee und die klirrende Kälte dieser Region gewöhnt. Seine Verfolger hingegen, verbrachten die meiste Zeit ihres Lebens in der strahlenden Sonne wärmerer Erdteile.
Schwer schlug sein Schwert an sein Bein. Am liebsten hätte er diese Last von sich befördert, doch er brauchte es. Ohne Waffe wagte er es nicht, sich seinen Geschwistern zu stellen. Vor allem nicht diesen Teufelszwillingen! Er war stark, aber diese Beiden waren wahrlich wildgewordene Berserker, wenn sie Blut rochen.
Plötzlich wurde es hinter ihm still. Sofort wusste er, warum. Die Assassinen unter ihnen hatten die Jagt begonnen, da die Krieger ihm nicht nah genug kamen.
Er hielt an. Was nutzte es wegzulaufen? Irgendwann bekamen sie ihn ja doch. Und es war auch noch seine eigene Schuld. Mit Bedauern nahm er sein Schicksal an. Er war ein Verbannter. Ein Ausgestoßener seiner Familie. Hatte den Schutz und das Wohlwollen seiner Mutter verspielt. Nie würde er vergessen, wie kalt sie ihn angesehen hatte. Nichts als Verachtung, Zorn aber auch unendliche Trauer war in ihren Augen zu sehen gewesen. Er hatte sie enttäuscht. In diesem Augenblick hatte er sich leerer gefühlt und sich zugleich selbst so sehr gehasst, wie noch nie zuvor in seinem langen Leben. Und nun, bekam er die Rechnung serviert.
Mit einem lauten Schrei sprang einer der Teufelszwillinge auf ihn und warf ihn zu Boden.
„Du Bastard!“, eine Faust schlug ihm ins Gesicht, „Wie konntest du es wagen?!“ Ein weiterer Schlag. Rotes Blut mit goldenem Schimmer trat ihm aus der Nase und der aufgeplatzten Lippe. „Wehr dich, du Idiot!“ Doch er tat nichts dergleichen. Die Gestalt auf ihn brach auf ihm zusammen und begann bitterlich zu weinen.
„Warum hast du das getan? Ich versteh es einfach nicht! Du wusstest was diese Tat für dich bedeutet.“ Langsam strich er seiner Schwester durch das strohblonde, zerzauste Haar. „Du weißt warum. Irgendjemand musste es tun.“
„Nein! Wir hätten es Mutter erklären können. Sie hätte es eingesehen.“
„Sie lieb ihn viel zu sehr als es zu sehen. Zudem glaubt sie nicht, dass auch nur eins ihrer Kinder sich gegen sie wenden könnte. Bei dieser Sache ist sie blind wie ein Maulwurf. Sie vertraut uns allen viel zu sehr, obwohl sie aus erster Reihe weiß, dass man den eigenen Geschwistern und Kindern nicht immer trauen sollte. Immerhin hat sie ihren eigenen Bruder umgebracht, als sie noch ein Mensch war.“
„Trotzdem. Er lebt trotzdem noch. Er hat, wie alle Halbgötter, fünfzig Leben. Du hast bloß ein einziges ausgelöscht.“
„Ich weiß. Den Rest überlasse ich euch.“ Durch den Schnee wurde ihm kalt. Er hatte seine Entscheidung gefällt. „Sie sind gleich da.“ Sie sah ihm lange in die Augen. „Du willst es also wirklich tun?“, fragte sie. Er nickte bloß.
„Nun gut. Dann geh. Ich werde ihnen sagen, dass du mir entwischt bist.“
„Danke. Aber glaubst du ernsthaft, dass sie dir glauben werden. Dir ist noch nie eine Beute durch die Lappen gegangen.“
„Es gibt für alles ein erstes Mal. Und nun geh.“ Sie stieg von ihm runter und stellte sich mit verschränkten Armen neben ihn hin. Auch er stand auf. Noch einmal umarmte er sie. Er verschwand in den Weiten des weiten Nadelwaldes. Er würde sich einen Ort suchen, wo er in Ruhe ruhen konnte, bis seine Geschwister und seine Mutter ihn kommen holen würde. Sich selbst ins ewige Eis einschließen und schlafen.
Bis in 200 Jahren würde man in seiner Familie bloß mit Verachtung von ihm sprechen.
Man würde ihn „Gilhart den Geschwistermörder“, „Gilhart den Verbannten“ und „Gilhart den Eiskalten“ nennen. Doch dies bekam er nicht mit. Er schlummerte in seinem eisigen Gefängnis und wartete darauf, wieder in die Arme seiner geliebten Mutter genommen zu werden.
Texte: Alle Personen in dieser Geschichte gehören ausschließlich mir!
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2012
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