~ Nach einer wahren Begebenheit ~
„Du bist so still heute. Und hat schon wieder verloren.“ Adrian fuhr bei Mario Cart jetzt schon zum vierten Mal infolge als erster ins Ziel und ich dümpelte immer noch irgendwo ganz hinten herum. Im Moment war ich Zehnte.
Ich hatte keinen Plan, warum wir das überhaupt spielten. Vielleicht, weil ich für Ego-Shooter einfach zu blöd war, und die ganzen anderen Fantasyspiele, oder Minecraft, oder was wir sonst noch so herumliegen hatten, keinen Spaß machten, wenn einer spielte und der andere daneben saß und blöde Randkommentare abgab.
Ich legte den Controller aus der Hand, sodass mich auch die beiden Letzten überholen konnten und fuhr mir mit der Hand durch die rechte Seite meiner Haare, wo nicht alles mit Haarspray an meiner Stirn klebte. „Tut mir Leid, ich bin momentan so neben der Kappe.“
Er war mein bester Freund, aber ich hatte es immer noch nicht fertig gebracht, ihm von meinen beschissenen Ferien zu erzählen. Oder wie ich seine fand: Während er mir stolz von der Schlampe erzählte, die er ja so liebte, und dass sie jetzt wieder zusammen waren, hatte ich über Facebook und dank einer Menge Stalkarbeit herausgefunden, dass die Kleine keine Woche vor ihrem großen Liebesgeständnis für Adrian mit irgendeinem anderen Typ gevögelt hatte und sich jetzt an dessen ganze Kumpels ran machte. Meinem besten Freund allerdings erzählte sie, dass sie ja schon immer Gefühle für ihn hatte. Dumm war nur, dass sich die beiden schon länger kannten, als ich Adrian, und in diesem Beziehungsdreieck ich die Böse war. Ich hatte meine Chance bei ihm schon gehabt und die gehörig versemmelt, weil ich zu sehr an meinem Ex gehangen hatte – einer Internetbeziehung! Aber die Kleine bekam natürlich eine Extrawurst und durfte mehrere gleichzeitig haben. Ihr war Adrian doch eigentlich sowieso egal.
Ich also am Boden zerstört, heulend in meinem Zimmer und meine Eltern wollten sich auch noch einmischen. Seit Monaten gaben sie mir für alles die Schuld, beleidigten meine Freunde, verboten mir so gut wie alles und bestraften mich für fast jeden Mist. Aber auch diesmal wollten sie mir nicht helfen, sondern mich ablenken. Was so viel wie wandern gehen hieß. Und ich hasste wandern. Ich hatte echt versucht, mir Mühe zu geben. Aber bei dem kleinsten Kommentar hatte mich meine Mum angeschrien: „Halt doch endlich die Fresse! Du versaust den ganzen Ausflug. Warum bist du nicht gleich daheim geblieben?“ Der Hammer: Ich wollte daheim bleiben. Ich wusste, wie ich drauf war und wie ich reagieren würde, aber laut meinen Eltern hatte ich ja keinen Plan, was gut für mich war.
Adrian hatte das Spiel pausiert und sah mich an. Nachfragen tat er nie, also musste ich selbst anfangen.
„Letzte Sonntag kam soviel auf einmal hoch. Da hab …“ Ich druckste ein wenig herum, dann holte ich Luft. „Ich hab versucht mich umzubringen.“
Adrian blinzelte verwundert. „Aha. Du hast… Warte mal, du hast WAS?! Aber warum?“
Zumindest den Teil mit meiner Familie konnte ich erklären, den mit seiner Freundin würde er mir eh nie glauben – oder es verstehen.
„Und wie?“, fragte er nur, als ich fertig war.
„Tabletten. Das ist wohl am einfachsten. Aber wir hatten keine im Haus, die tödlich sind. Nur so Kopfschmerzscheiß.“
„Alles klar.“ Er drehte sich um und wollte weiter spielen.
„Hallo? Nimm das ernst!“
„Deine Eltern sind voll normal. Meine sind auch beschissen, und ich heul nicht rum.“
„Normal?!“ Ich wurde laut. „Die haben meinen Kopf gegen die Wand geschlagen, als ich genervt hab. Ist das normal? Sie machen dauernd Witze über meine ‘ganzen Russenfreundinnen‘. Ist das normal? Sie haben sich ‘hinterfotziges Arschloch‘ genannt. Ist das normal? Sie haben mir den Kontakt zu fast all meinen Freunden verboten. Ist das normal?!“
Er hielt es nicht für nötig, mir zu antworten. Stattdessen schwiegen wir uns einen Moment an.
In so einem Moment hätte ich mich gefreut, wenn er mich umarmen würde, aber auch das tat er fast nie, außer mal zur Begrüßung.
„Du würdest dich doch eh nicht umbringen.“
„Doch, würde ich.“, sagte ich, etwas abwesend.
„Dann mach doch. Ich glaub dir das erst, wenn ich’s seh.“
„Das ist gefährlich.“, warnte ich, stand auf, ging zum Fenster und öffnete es. „Ich meins ernst.“
„Oh, jetzt drohst du schon.“ Er blieb unberührt, auch, als ich auf den Fenstersims kletterte. „Wie soll ich deiner Meinung nach jetzt reagieren?“
Tränen nahmen mir meine Sicht auf ihn. „Gar nicht.“, meinte ich, drehte mich um und sprang.
Normalerweise läuft an diesen Stellen ja das ganze Leben nochmal an einem vorbei. Aber die drei, vier Meter hier brachten mich nicht um, also fielen mir andere Dinge ein. Zum Beispiel, dass ich keine Abschiedsbriefe geschrieben hatte, sollte ich doch drauf gehen. Niemand würde verstehen, warum ich das getan hatte, und alle 15 Jahre auf dieser gottverdammten Erde wären umsonst gewesen. Und wo würde ich hinkommen? Verpuffte das Bewusstsein einfach, wenn man starb und ich hatte endlich für immer meine Ruhe, oder musste ich vom Himmel auszusehen, wie alle in meinem Umfeld an meinem Selbstmord zerbrachen?
In dem Moment ‘landete‘ ich, wie eine Katze auf den Füßen. Allerdings mit einem Bein zuerst, das nachgab und brach, wodurch ich schwungvoll auf die Schnauze flog. Blut erstickte meinen Schrei, der erst ganz verstummte, als Adrian mich hochhob.
„Alina, bist du eigentlich bescheuert?!“, fuhr er mich an.
„Halt’s Maul und ruf den Krankenwagen.“, giftete ich zurück.
Bis mir die blöden Sirenen die Ohren vollheulte, war ich fast weggedämmmert, was aber egal war, da ich sowieso sofort betäubt wurde.
Ich hatte keinen Plan, wie lange man gebraucht hatte, um mich wieder zusammenzuflicken, aber ich als ich wirklich wach wurde, saß Adrian immer noch auf meiner Bettkante.
Wir unterhielten uns so gut es mit meinem Gesicht eben ging und er erklärte mir, dass mein Bein nur normal gebrochen wäre, man die Platzwunde an meiner Stirn aber hatte Nähen müssen und man diese Narbe wahrscheinlich für immer sehen würde. Das fand ich irgendwie schlimmer.
„Alisha kommt später übrigens auch noch. Sie war total besorgt.“
Ich stöhnte beinahe laut. Warum musste er ausgerechnet seiner Kleinen davon erzählen?
„Deine Eltern waren vorhin übrigens auch da, aber du hast noch geschlafen, also wollten sie später nochmal kommen.“
„Was sag ich…“ Meinen Eltern war ich sogar jetzt noch egal. Es war vielleicht noch möglich, dass meine Mum hetzt de Dramaqueen spielte und heulend alle fragte, warum ich so was denn nur tat.
In dem Moment ging die Tür auf, und etwas Buntes kam herein, das mich umarmte.
„Bist du eigentlich bescheuert, Kleines? Ich hab mir die übelsten Sorgen gemacht, als ich von dir gehört hab. Ich schwör, mach so was nochmal in meiner Gegenwart und ich spring dir durch das Fenster hinterher!“
Ich wusste schon, warum Chrissi meine beste Freundin war. Sie war vielleicht das einzig Positive an meinem Leben. Und schon als ich ihr von meinem ersten Selbstmordversuch erzählt hatte, hatte sie mir geschworen, sie würde mir ohne zu zögern folgen. Wir waren schon süß.
Adrian erklärte ihr ein paar Dinge, dann ging die Tür erneut auf. Diesmal kam etwas Schwarzes herein, und fiel regelrecht über mich.
„Au?“, machte ich, doch Alisha passte auf, als sie mich umarmte. Dann schwallte sie mich zu, doch ich hörte sie gar nicht. Ich achtete nur auf Adrian, dessen Blick auf ihren Lippen klebte.
Ich hatte gehofft, wenn ich schon solche Dinge tat, würde er mich vielleicht verstehen.
Aber für mich gab es kein Happy End.
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011
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Widmung:
Für die Einzige, die zuhörte.