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Donnerstag


Ich war wütend. So wütend, dass ich alles und jeden hasserfüllt anstarrte, das oder der mir begegnete. Zu Hause angekommen, stand mir meine Tante im Weg, was fiel ihr auch ein, mich ständig zu bemuttern. Ich war volljährig, konnte meine eigenen Entscheidungen treffen.
»Wo warst du?«, fragte sie. Sie fragte das ständig.
»Geh mir aus dem Weg«, schrie ich, doch sie wollte nicht hören.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«
»Mach dir lieber Sorgen um dich selbst«, entgegnete ich, schlug ihr die Bierflasche aus der Hand und stapfte in mein Zimmer. Sie schrie mir hinterher, doch ich beachtete sie nicht. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde ich endlich genug gespart haben, um in eine eigene Wohnung zu ziehen, einen Monat, vielleicht zwei. Die Frage war nur, ob ich es auch noch so lange aushielt, ohne wahnsinnig zu werden. Oder war ich das schon?
Nein.
Noch nicht.
Trotz allem, Wahnsinn war etwas anderes. Wenn man sich nicht mehr im klaren darüber war, was man tat. Doch ich wusste was ich getan hatte. Tat es mir Leid? Nein das auch nicht, denn das hieße zu bereuen, aber das würde ich nicht machen. Es war grausam, ja, doch sie hatte es nicht anders verdient, sie war selbst Schuld.
Ich setzte mich aufs Bett, erwartete Tränen, dennoch kamen keine.




Es war ein heißer Donnerstagnachmittag, obwohl die Sonne von grauen, tief hängenden Wolken bedeckt war. Janosh lief hektisch die Herbstallee zu seiner kleinen Wohnung entlang, er war aufgeregt und der Tag hatte ihn erschöpft, also stolperte er die ganze Zeit über seine Füße. Das er in diesem Moment über einen Ast fiel, nahm er nur im Unterbewusstsein wahr, das mit »Aufstehen, weiter gehen« reagierte. Sein Gehirn war wie blockiert, seine Gedanken kreisten nur um zwei Dinge: Dass sich um siebzehn Uhr das coolste Mädchen der ganzen Universität, Ivy, mit ihm

im Park nahe den Klippen treffen wollte und dass siebzehn Uhr in nicht mehr als achtzehn Minuten sein würde. Doch er konnte es noch schaffen, nichts war unmöglich.
Endlich, er erreichte die Wohnung. Nachdem er die Tür aufgestoßen hatte, rannte er ins Bad und beäugte sich im Spiegel: Der blonde Strohhaufen auf seinem Kopf sah plötzlich noch schlimmer aus als sonst also griff er zunächst nach Kamm und Gel, um den Haufen einigermaßen nach Frisur aussehen zu lassen. Als nächstes stürmte er ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen, wobei er sein aufgeschürftes Knie entdeckte, also nahm er trotz der Hitze eine lange Jeans aus dem Schrank. Als er sich außerdem ein uraltes T-Shirt übergeworfen hatte und auf seine Armbanduhr sah, waren weitere zwölf Minuten vergangen.
»Dann wird essen heute eben mal vernachlässigt«, murmelte er griesgrämig und ging mit seiner Tasche, die unausgeräumt mit all dem Uni-Zeug noch im Bad gestanden hatte, wieder nach draußen.
Gehetzt erreichte er den Park um siebzehn Uhr drei. Der kleine Grünstreifen an dem sie sich verabredet hatten, war fast leer, ein paar Jugendliche saßen auf Decken und hörten Musik mit ihren Handys, jeder für sich. Von Ivy war keine Spur zu sehen. War sie schon wieder gegangen? Nein, sie kam einfach gerne zu spät.
Janosh setzte sich ins Gras. Ein kühler Windhauch ließ ihn frösteln. Einen absurden Gedanken lang dachte, er jemand könnte ihm gefolgt sein, doch er verwarf ihn sofort, die Nacht würde bald hereinbrechen und er hatte sich keine Jacke mitgenommen. Wann würde sie endlich kommen? Oder hatte sie ihn einfach vergessen? Um sich zu beruhigen, schloss er die Augen und lauschte. Der Park war voller Leben: Vögel zwitscherten um die Wette, von dem kleinen Spielplatz aus hörte man Kinder lachen und schreien. Das entfernte rauschen der Straße... Ein Knacken im Unterholz ließ ihn wieder aufschrecken und die Augen öffnen. Es begann zu regnen. Ivy war nicht gekommen.


Freitag


Am nächsten Tag stand Janosh vor dem ersten Hörsaal, in dem Herr Cole Englisch unterrichtete. Freitags hatte er zusammen mit seiner Clique (zu der Ivy leider nicht gehörte) die erste Stunde bei ihm und jetzt stürmte auch schon Jessica mit Alexander und Katrina im Schlepptau auf Janosh zu.
»Janosh! Wie war es gestern? Ich will ALLES wissen!«, Ihr gieriger Ausdruck bestätigten das, wohingegen Katrina wieder ihre undurchsichtige Maske aufsetzte. War sie beschämt? Gelangweilt? Gar genervt? Er seufzte.
»Es war überhaupt nichts. Ivy war nicht da, versteht ihr? Ende der Geschichte«
»Was?!«, Jess riss entgeistert die Augen auf.
»Das habe ich mir schon fast gedacht, als sie vorhin nicht mit mir im Zug saß«, erzählte Katrina, »Erst lässt sie dich sitzen und jetzt traut sie sich nicht einmal, sich dir gegenüber zu stellen, die kleine- «
»Katrina hat recht«, fiel Alex ihr ins Wort und stieß ihn halbherzig in die Rippen, »Du findest bestimmt bald wieder jemand anderes, Kumpel« Janosh sah ihn an doch Alex wich seinem Blick aus. Irgendwie hörte sich das für Janosh nur wie ein Spruch aus einem Hollywoodfilm an, in Alexanders Kopf eingespeichert als das, was man jemandem sagt, wenn dieser eine Unerreichbare liebt.
David kam auf sie zu, dicht hinter ihm Melanie, die ihnen ein lautes und langgestrecktes »Hi« entgegen flötete. Die beiden waren jetzt bestimmt schon vier Monate zusammen, doch so sehr er sich auch für seinen besten Freund bemühte, er konnte Melanie ganz einfach nicht ausstehen. Sie tat irgendwie immerzu als ob sie von jedem gemocht wurde und sie alle liebte und letzteres stellte sie stets sehr deutlich dar, aber für Janosh wirkte das alles wie Fassade, denn dahinter war Melanie die Gerüchteküche schlecht hin.
Ein allgemeines »Morgen« antwortete ihr. Und während sie seine Freunde schon wieder den neusten Tratsch weismachte, sah David Janosh fragend an, er schüttelte jedoch nur den Kopf, woraufhin er ihm den Arm auf die Schulter legte und Melanie mit »Kommt, lasst uns endlich rein gehen, Mr Cole can't stand the late ones« unterbrach.


Janosh hatte die dritte Stunde mit David, Alex und leider auch mit Melanie Philosophie. Frau Sonntag hatte gerade erst mit ihrem Monolog, diesmal über den Tod, begonnen und Janosh konnte ihr teils wegen der Hitze, teils aus Langeweile bereits jetzt nur schwer folgen, als es geschah.
»Die meisten Religionen versuchen dieser harten Realität zu entkommen: Die Buddhisten werden wieder geboren, die Christen kommen in den Him- «, sie wurde scharf unterbrochen als Frau Luther, die neue Sekretärin, hereinplatzte: »Frau Sonntag!«, Frau Luther war das Ganze offensichtlich unglaublich peinlich, sie schien noch mehr durcheinander zu sein als sonst.
»Sollten Sekretäre nicht eigentlich gerade Ordnung bringen?«, schoss es ihm durch den Kopf.
»Es – es ist etwas passiert! Es tut mir so Leid – ich wünschte – ich- «
»Jetzt reißen sie sich zusammen! Was ist überhaupt geschehen?«, zischte die Sonntag sie an.
»Man... man hat sie gefunden... sie lag bei den Klippen, t-tot, Ivy Kamp, sie ist zu – zu Tode gestürzt... sie... «, stotterte Luther bevor sie die Augen verdrehte und zusammenklappte.
Jemand schrie. Janosh glaubte es war Melanie, allgemeines Gemurmel breitete sich wie ein Virus aus, der endlich auch seinen Kopf erreichte, wie eine riesige Flutwelle stürzten zahllose Gedanken auf ihn ein: Ivy war tot? NEIN! Nie und nimmer! Es war völlig unmöglich, dass... – Nichts ist unmöglich – flüsterte eine Stimme. Nein! Man fiel nicht einfach von einer Klippe, meldete sich sein Verstand. Vielleicht war es kein Zufall gewesen, flüsterte es. Und nun schlich sich etwas ganz anderes an: War er Schuld? Gott, war es stickig hier drin, er hielt es nicht mehr aus. Er musste raus hier. Weg von dem Gemurmel, weg von Frau Sonntag die die ganze Zeit nach Ruhe schrie und weg von Frau Luther, die immer noch am Boden lag.
Irgendwie schaffte er es sich durch das Gedränge zu schleppen, bis hin zur Tür. Er stieß sie auf, und seine Beine begannen zu rennen. Es war total leer auf den Gängen, so konnte man sich problemlos bewegen. Er erreichte den Ausgang und atmete endlich frische Luft.
Da stand er nun. Keuchend. Auf den Vorplatz der Universität. Als sich sein Herz langsam beruhigte, begann er Schritt für Schritt die Fakten zu ordnen und sie leise vor sich hin zu quasseln: Ivy hatte gestern Vormittag tatsächlich den Anschein gehabt, als hätte sie wirklich kommen wollen, trotzdem war sie später nicht da gewesen. Heute war sie nicht aufgetaucht... Weil sie schon längst tot gewesen war?
»Christen kommen in den Himmel«, hatte Frau Sonntag sagen wollen. Unsinn, Ivy schwänzte alle drei Tage, sie traf sich lieber mit irgendwelchen wahnsinnig coolen Leuten am See. Dann klebten ihre ganzen Freundinnen ständig am Handy und kicherten was das Zeug hielt.
Moment. Das würde es beweisen, ganz einfach: Er würde sie anrufen, jetzt sofort. Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und drückte nach kurzem Zögern auf die Kurzwahltaste.
Es tutete.
Einmal, zweimal...
Er wollte gerade auflegen, da meldete sich eine rauchige Stimme: »Ja?« Das war definitiv nicht Ivy und er oder sie hatte keinen Namen genannt. Einer von den Leuten am See?
»Hi, ist Ivy auch da?«
»Mit wem spreche ich? Sie – sie ist nicht hier...«
»Mit wem spreche ich

? Was soll das? Warum gehst du an ihr Handy?«
»Keller mein Name, Polizeikommissar. Nun bitte wer ist da?«
Janosh legte auf. Verdammt. Jetzt arbeitete sein Gehirn plötzlich auf Hochtouren und das Ergebnis ließ ihn zu Boden sinken.
»Tot«, hauchte er und grub das Gesicht in seine Hände. Er wusste nicht wie lange er dort saß, doch dann berührte ihn eine Hand am Rücken. Er sah auf und blickte in Davids Augen. Er stand auf und sah, dass auch Alex und natürlich Melanie ihm gefolgt waren.
»Es ist wahr«, sagte Janosh mit belegter Stimme. David und Alex nickten.
»Sie wurde hinunter gestoßen«, flüsterte Melanie. Janosh starrte ihr ins Gesicht.
»Melanie, geh«, fuhr auf einmal David sie an.
»Was denn- «
»Geh!«, schrie er und sie sah ihm erst eisern in die Augen, drehte sich dann mit einem beleidigtem Laut in Richtung Tür und wackelte dann erhobenen Hauptes den Flur zurück. Alex sah die beiden abwechselnd verblüfft an, bis David schließlich seufzte und irgendetwas sagen wollte, doch Janosh war schneller: »Aber sie hat Recht, oder?« David nickte.
»Ja«, meinte Alex.
»Aber woher...«
»Die Sonntag hat Luther fast wörtlich ausgequetscht, bis Alex dazwischen gegangen ist und ein paar andere sie auf die Krankenstation gebracht haben. Dann haben wir dich gesucht«, erzählte David.
»Was hat Luther gesagt?«, wollte Janosh wissen. David und Alex tauschten einen Blick aus dann berichtete David ihm, was geschehen war: »Ein Angler hat Ivy am Morgen bei den Klippen im Meer entdeckt. Er hat sofort die Polizei benachrichtigt, doch sie war schon lange tot, die Polizei hat bisher nur herausgefunden, dass sie – unwillentlich gestoßen wurde«
»Aber warum?«, fragte Janosh, er kam sich selbst wie ein kleines Kind vor und seine Freunde schwiegen.


Die restlichen Vorlesungen waren an ihm vorbeigerauscht, wie der Zug, den er und seine Freunde verpassten, Jessica fluchte, ihm war das egal.
»Na super jetzt dürfen wir hier ganze zwanzig Minuten in der Sonne herum schwitzen«, meckerte sie.
»Du hörst dich schon an wie Melanie«, entgegnete David. Jess und Katrina schaute ihn überrascht an.
»Haben wir noch was verpasst?«
»Ach, vergesst es«, murmelte er zurück und senkte den Blick zu Boden.
»Wie auch immer... Viel wichtiger ist ja auch wie das mit Ivy geschehen konnte. Mir kommt das so unrealistisch vor, es – es ist schrecklich«, Jess' Stimme wurde immer leiser.
»Lasst uns bitte nicht mehr darüber reden, ja? Wir können nichts mehr ändern...«, Katrina wirkte plötzlich krank, sie sah richtig bleich aus. Auch Janosh fühlte sich nicht gut.
»Nichts mehr ändern? Ein Mörder läuft hier frei herum und- «
»Bitte, David!«, flehte sie, bald Tränen in den Augen. Warum ging ihr Ivy so nah? Die beiden waren nun wirklich nicht befreundet gewesen, im Gegenteil.
Nun waren sie alle stumm.


Katrina und Janosh waren immer die letzten der Clique, die aus dem Zug steigen mussten. Jetzt saßen sie nebeneinander, keiner von ihnen hatte seit vorhin auch nur ein einziges Wort von sich gegeben, aber langsam hatte Janosh dieses ewige Geschweige satt.
»Was hältst du von der ganzen Sache?«, fragte er.
»Was meinst du damit?«
»Eben von ihrem Tod...«, er wusste selbst nicht ganz was er von ihr wollte und da zeichnete sich Wut in ihrem Gesicht ab.
»Ich finde nicht das Ivy seit dem eine Heilige geworden ist. Es ist grausam, ja, aber sie ist jetzt trotzdem nicht besser geworden als sie war«
»Warum sagst du so etwas? Sie ist ein Mord

opfer!«, er war von Katrina enttäuscht. Wie konnte man nur so wenig Verständnis zeigen?
»Genau das meine ich! Sie ist Opfer wie Täter! Es wird schon einen Grund haben weshalb sie jemand umbringt, so wie sie die Menschen behandelt«, sie wurde immer lauter, die Leute drehten sich nach uns um, doch das war ihm jetzt egal.
»Untersteh dich, so über sie zu reden!«, schrie er zurück, aber sie hörte ihm anscheinend gar nicht mehr zu.
»Es war eine Wette, verstehst du?! Sie hat dich benutzt. Sie hat gesagt, dass man ihr schon etwas bieten müsse, wenn sie sich mit dir treffen sollte. Dreckige zwanzig Mäuse war sie dir wert, kapierst du es endlich?! Sie hat mit ihren Freundinnen gewettet, das ist grausam!«, jetzt war wieder dieser leidende Ausdruck in ihr Gesicht getreten. Doch er hatte nichts besseres zu sagen als »Du lügst«, denn er wollte ihr nicht glauben. Es war ihm egal was sie sagte. Ein Fehler, den er erst später erkannte.
In diesem Moment war alles egal. Völlig egal.
Der Zug verlangsamte sich. Als er stehen blieb verließ Katrina ihn. Drei Stationen früher, als sie musste.


Mittlerweile war es Abend geworden. Janosh hatte den Tag damit verbracht den Fernseher anzustarren, ohne etwas wahrzunehmen. Die ganze Zeit musste er an die Geschehnisse denken. Der Hunger hatte ihn dazu gebracht schließlich aufzustehen und in der Küche nach etwas Essbaren Ausschau zu halten. Er rührte gerade gedankenverloren in seinem Müsli, da klingelte sein Handy.
»Hallo?« Es war Alex. Er fragte ob Janosh morgen wie immer in den Park kommen würde. Sie trafen sich dort jeden Samstag. Er sagte »Ja«, obwohl er keine Ahnung hatte ob er kommen wollte. Er war kurz davor aufzulegen, doch Alex sagte noch etwas.
»Wie bitte?«
»Ich – ich wollte nur sagen, wie furchtbar es ist... Sie war ein tolles Mädchen«
»Ja« seine Stimme versagte.
»Also dann bis morgen«, Alex legte auf.


Janosh war so ein Idiot. Dachte wirklich, dass er und seine Ivy für immer glücklich geworden wären. Ich saß vor meinem Schreibtisch und versuchte zu lesen, doch es gelang mir nicht, ich konnte mich nicht konzentrieren. Ständig schweiften meine Gedanken ab. Hatte Janosh wirklich geglaubt, dass nur er ein Recht auf sie gehabt hatte? Sie irgendwann geheiratet hätten und sie ihn immer geliebt hätte? Wenn das wahr wäre, hätte sie viele geheiratet und immer geliebt. Janosh war blind, ein Idiot, so wie ich.


Samstag


Janosh wachte auf und dachte an Ivy.
»Christen kommen in den Himmel«, dachte er.
»Oder in die Hölle«, dass hätte Katrina gesagt. Eine Träne lief ihm über die Backe als er sich aufrichtete. Wütend wischte er sie weg und stand auf. Katrina wusste gar nichts. Eine Wette?
»Das ich nicht lache«, sagte er laut. Andererseits, warum hätte sie sich so etwas ausdenken sollen?
»Weil sie Ivy hasst«, dachte er, dann schüttelte er den Kopf, Katrina war nicht der Typ, den es interessierte, in irgendeiner Hinsicht beliebt zu sein. Sie war Zuschauer, nicht Spieler, immer so, als gingen sie die Dinge nichts an. So wirkte sie zumindest. Aber vielleicht schätzte er sie auch nur völlig falsch ein? Es war noch nicht lange her, da war Katrina neu in die Stadt gekommen. Sie hatte sich neben Jess gesetzt und sich gut mit ihr verstanden, also hatte sie die anderen aus der Clique bald kennengelernt. Doch wenn er genauer darüber nachdachte fiel Janosh auf, dass er eigentlich nichts aus Katrinas Vergangenheit wusste.
Als er aus dem Fenster sah bemerkte er, dass es schon heller Tag war, ein blauer Himmel mit einer strahlenden Sonne, das komplette Gegenteil zu seinen Gefühlen. Er sah auf seine Uhr: Viertel vor eins. Er erinnerte sich an das Telefonat mit Alex und hatte auf einmal Lust etwas zu unternehmen. Er musste hier raus, wollte nicht ewig in seiner Wohnung sitzen, auch wenn er im Moment nichts mit Katrina zu tun haben wollte, seine Freunde würde er nicht gleich deswegen im Stich lassen, die Nachricht war schließlich für alle ein harter Schlag gewesen.
Kurze Zeit später fand er die anderen ganz in der Nähe, wo er auf Ivy gewartet hatte. Das war vor zwei Tagen gewesen, Janosh kam es vor, als seien seitdem Wochen vergangen, es war inzwischen so viel geschehen.
Außer Melanie waren sie nun vollzählig, auch Katrina war da. Er setzte sich so weit wie möglich von ihr weg, auf die andere Seite der Bank, und drehte sich David zu, der eine Zeitung in der Hand hielt.
»Steht schon irgendwas drin?«, fragte er leise. David nickte und deutete auf einen kleinen Artikel auf der Titelseite, der mit »Sturz von den Klippen, ein Unfall?« beschriftet war.
»Es steht nicht viel mehr drin, als das der Autor auch Selbstmord in Frage kommen lässt, ihre Mutter hat sich aus dem Staub gemacht als sie zehn war, der Vater sitzt im Gefängnis... «, erfuhr Janosh von Jess.
»Stimmt das? Mir hat das nie jemand erzählt«
»Du wusstest so einiges nicht, nicht wahr Janosh?«, Katrina sah in sauer an, doch er wollte sie nicht beachten.


Er war gekommen. Trotz allem hatte ich das nicht gedacht gehabt. Es fiel mir unglaublich schwer ihn anzusehen. Janosh wusste nichts und doch sah er völlig verzweifelt aus. Als ob er es nötig hätte. Er hatte Ivy nun wirklich nicht gekannt. Die altbekannte Wut stieg wieder in mir hoch. Er war so ungeheuerlich unverschämt. Damals schon, als er Ivy um ihre Telefonnummer angebettelt hatte... Widerlich.




Wir saßen eine Weile so im Gras, spielten Karten und quatschten, lernten für die Uni. Katrina hatte ihre undurchschaubare Miene angenommen, Jess berichtete ihnen wie sie in ihrer Jobsuche voran kam, sie würde übernächste Woche anfangen in einen kleinen Café zu arbeiten, eine alte Freundin hatte ihr die Arbeit angeboten.
Alexander redete von seiner schlechten Wirtschaftsarbeit und beschwerte sich, dass Herr Linski ihn absichtlich unfair behandelt hatte, da er ihn nicht ausstehen könne.
»Und das wundert dich? Du hast ihn ja auch ziemlich provoziert die letzten Stunden«, wandte David ein.
»Der Typ hat nun mal keine Ahnung wovon er redet, ich kann ihn einfach nicht leiden«
Es drehte sich alles um Belanglosigkeiten, Nichtigkeiten, sogenannte Probleme

.
Später am Tag holten David, Jessica und Janosh etwas vom Italiener, erst jetzt viel Janosh auf, dass er heute noch nichts gegessen hatte und bekam plötzlich richtigen Hunger. Alex und Katrina wollten im Park warten, sollte ihm bei Letzterer nur Recht sein. Als die drei endlich, nach einer zuerst ewig erscheinenden Schlange, an die Reihe kamen, orderten sie fünf große Pizzen zum mitnehmen. Janosh' Magen knurrte beim Geruch aus den Schachteln, die er trug. Jess musste bei dem Geräusch grinsen: »Da muss sich wohl einer noch gedulden, was?«
»Der hatte heute noch nichts«, murmelte er und deutete auf seinen Bauch, doch er lächelte nicht.
Während sie zurück zum Park spazierten, brach die bereits langsam die Dämmerung herein, oder nein, die Wolken wurden nur dunkler.
»Wir sollten uns langsam beeilen, sieht nach Gewitter aus«, folgerte Janosh.
Sie kamen zur Bank zurück. Mittlerweile war der Park immer leerer geworden, doch es waren nicht die Kinder vom Spielplatz, die ihm fehlten.
»Wo sind sie?«, wollte nun auch David berechtigterweise wissen, denn von Alex und Katrina war keine Spur zu sehen.


»Sie hat ihn nicht geliebt verstehst du? Sie ist nun tot, aber nicht heilig verstehst du? Es ist schrecklich, wirklich furchtbar, doch sie hat sich nicht verändert. Jess glaubt das. Sie glaubt ein Mordopfer ist unschuldig. In jeder Hinsicht, aber das ist eine Lüge! Sie ist wurde nur getötet! Ist keine Märtyrerin!«
Ich dachte: Nun würde ich endlich verstanden werden.
Doch ich irrte gewaltig.




»Nein«, flüsterte Jess. Sie war stehen geblieben, vor ihr lag die heruntergefallene Pizzaschachtel, ihre Augen waren weit aufgerissen.
»Was ist mit dir?!«, fragte David besorgt und lief zu ihr. Janosh überlief ein mulmiges Gefühl.
»Alex ist in Gefahr!«, stieß sie aus.
»Was? Warum? Jess, sie sind nur nicht hier... «, versuchte David sie zu beruhigen.
»Was weißt du?«, zischte Janosh. Er hatte keine Lust mehr auf dieses Spiel. Er fühlte sich gerade wie der unwissendste Mensch der Welt und das ging ihm jetzt gehörig auf die Nerven.
»Ist sie

es?«
»Er, er hat Ivy geliebt. Alex, er- «, sie schluchzte.
»Was redest du da?«
»er wollte nicht das du es weißt, es war ihm unglaublich... Er... Und jetzt ist er mit Katrina alleine! Gott, sie hasst Ivy und jetzt- «
»Verdammt, Jess, wir müssen sie suchen!«, schrie er sie an, endlich machte alles einen Sinn.
»Bei den Klippen«, meinte David.


»Sie hat mich ausgelacht. Sie stand genau hier, und hat mich ausgelacht. Gesagt, ich sei schwach, hätte nicht den Mut Janosh etwas zu tun. Aber ich habe es ihr bewiesen. Ich bin nicht schwach. Glaubt sie, dass sie die einzige ist deren Familie nie da war?«
»Du bist verrückt geworden«
»Nein. Ich bereue nichts«




Und tatsächlich: Da waren sie. Doch Sinn machte nichts mehr.
»Und jetzt stehst du hier. Genau an der selben Stelle. Ist das nicht unglaublich ironisch?«
»Willst du mich jetzt auch umbringen?«
»Es ist das gleiche, oder? Macht keinen Unterschied. Einer mehr oder weniger, der mich nicht versteht. Warum nicht? Janosh hat sie nicht verdient! Er ist dumm, an allem Schuld und versteht es noch nicht einmal!«
Es war Alex.
Plötzlich war alles so absurd.
So unnatürlich.
»Aber nichts war unmöglich«
Alex hielt Katrina an den Schultern, so das sie mir dem Rücken zu den Neuankömmlingen stand, und er starrte durch sie hindurch. Sie standen so nah am Zaun, der nun sehr instabil aussah. Und Janosh stand nur da und begann sich dafür zu hassen.
»Ja, das mag sein. Aber- «
»Sei endlich still! Ich bin nicht schwach!«, Alex' Stimme wurde höher und Janosh wusste sich immer noch nicht zu helfen. Wo waren David und Jessica?
»Ich hätte alles für sie getan. Sie ist wie ich. Die einzige die mich versteht. Ivy weiß was in der realen Welt abgeht. Nicht so wie du. Einzelkind, mit genug Geld...«
»Alex!«, schrie Janosh plötzlich. Er hatte keinen Schimmer was er machen sollte, trotzdem wollte er das ganze keinen Moment länger mit ansehen.
»Na endlich! Ich hatte mich schon gefragt wann du auftauchst. Ivy war dir anscheinend doch nicht mehr so wichtig, dass du sie gesucht hättest«
»Lass sie in Ruhe! Du willst das ich sterbe? Gut, ich springe. Aber lass sie auf der Stelle los!«, schrie er und kletterte wirklich über die Absperrung. Er bekam nicht mehr mit was sein Körper tat.
Alex lachte, aber schob Katrina bei Seite, die erleichtert und zugleich entsetzt aufkeuchte.
»Du glaubst mir nicht? Das hat Ivy doch auch nicht«, entgegnete er dem Gelächter.
»Gut. Siehst du, ich werde sie nicht töten. Komm schon. Ich glaube dir. Du bist anders als sie. Spring!«
Janosh stand nun auf der anderen Seite des Zauns, der Abschnitt bis zur unendlichen Tiefe wurde immer kleiner. Er sah hinunter. Das Meer schien heute besonders dunkel zu sein, bis ein Blitz es kurz aufleuchten ließ. Darauf der Donner.
Er drehte sich noch ein Mal um. Hinter ihm stand Alex ein Stück entfernt, er interessierte sich nicht mehr für Katrina, die Janosh flehend ansah, doch er wusste, dass sie immer noch in Gefahr schwebte. Jetzt führte sie den Finger zu den Lippen: »Leise«. Was sollte das? Als nächstes formte sie die andere Hand zur Faust und zählte mit der ersten runter.
Drei.
Zwei.
Eins.
Ein Höllenlärm ging los, gleichzeitig sah er die Faust zuschlagen, als auch Alex das Geschrei hörte. Abrupt klammerte Janosh sich an den Zaun. Das letzte was er sah waren Jess, die Alex auf den Kopf einschlug und David, der auf Janosh zurannte, dann war alles schwarz.


Sonntag


Janosh wurde von Gemurmel geweckt.
»Ich glaube er wacht auf!«, rief eine Stimme, als er blinzelte. Drei Gesichter in einem dämmrigen Licht erwarteten ihn.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Willst du nicht vielleicht wissen wo du bist?«, er hörte Jess lachen.
»Drei Uhr morgens«, antwortete Katrina.
»Du bist mit einer Gehirnerschütterung davongekommen, mein Lieber. Es war ganz schönes Glück, dass du nicht früher in Ohnmacht gefallen bist«, erklärte David ihm.
»Das stimmt und wir waren echt zur rechten Zeit am rechten Ort, wie man so sagt«, meinte Jess.
»Ich, ich kann das ganze immer noch nicht ganz glauben... Ich meine, warum das alles?«, Janosh wollte endlich Gewissheit.
Katrina erzählte: »Alex liebt Ivy. Auch jetzt noch, auch wenn sie ihn, wie er sagt, verraten

hat. Das hatte er Jess schon vor ein paar Monaten erzählt und nachdem er mitbekommen hat, wie sie über dich... gewettet haben, bemerkte er erst, dass auch du etwas für sie übrig hast. An dem Tag, an dem ihr euch treffen wolltet, ist er dir gefolgt und kurz darauf Ivy begegnet. Er hat ihr seine Liebe gestanden, doch sie hat ihn nicht ernst genommen, dachte nicht, dass er die Wahrheit sagt und dann wurde Alex wütend und hat ihr gedroht, aber sie hat ihn nur beschimpft und ausgelacht. Und als wir vorhin – also gestern – alleine im Park waren, sind wir erst ein Stück gegangen. Er meinte man müsse den Toten gedenken indem man an ihren Sterbeort ginge, dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht wusste, wie ich gehandelt hätte, wenn ich mitbekommen hätte... wie... wie sie...«
»Du hättest ihr geholfen! Katrina, du bist kein schlechter Mensch!«, warf Jess ein. Sie wirkten, als hätten sie diese Diskussion schon tausende Male geführt.
»Wie auch immer, dann habe ich ihm auf jeden Fall gesagt, was ich trotz allem von ihr halte und dann hat er mir gestanden, dass er es war, der... naja«, beendete sie.
»Als David die beiden am Abgrund gesehen hat, hat er mich gleich zurückgezogen und nach meinem Handy gefragt. Und nachdem wir die Polizei verständigt haben, ist uns erst aufgegangen, dass du dich schon längst eingemischt hast«, sagte Jess.
»Alex steht jetzt unter psychiatrischer Aufsicht, aber sein Geständnis haben sie schon. Irgendwo kann man das alles auch verstehen. Er wurde nie in seinem Leben verstanden, seine ganze Familie ist ein Chaos, kein bekannter Vater, nur vier Stiefgeschwister, von denen die älteren ihn schlugen. So eine Kindheit geht an niemandem einfach so vorbei. Kein Wunder, dass er da so viel Hoffnung in Ivy gesetzt hat«, ergänzte David sachlich.
Es war einige Minuten still, bis Janosh das Eis brach und sagte, was alle dachten.
»Mann, Leute, wie konnte das passieren? Wissen wir eigentlich irgendetwas von einander? Ich meine, wenn ich gewusst hätte, dass Alex so sehr von Ivy begeistert war, hätte ich mich doch niemals mit ihr getroffen!«
»Du hast Recht«, gab Katrina zu, »Vielleicht können wir versuchen uns demnächst mehr zu vertrauen«
»Nichts ist unmöglich«, Janosh lächelte.


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Tag der Veröffentlichung: 22.01.2013

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