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Manchmal schien das Leben wie ein Spiel, das man mit sich selbst und teilweise mit anderen spielte. Man würfelte und kam weiter und manchmal kamen Felder bei denen man ständig aussetzen musste. Ob das fair war, konnte ich nicht sagen. Wenn ich nach meinem Leben ging, würde ich behaupten, es sei nicht fair. Doch dann erlebte und beobachtete ich andere Menschen und dachte, dass ich eigentlich nicht jammern durfte. Oder etwa doch?

Die Sonne schien durch die Ritzen meiner nicht ganz herunter gelassenen Jalousien. Wenn ich morgens wach wurde und das sah, dann war ich glücklich. Ich wusste, dass solche Augenblicke zu selten vor kamen, deswegen blieb ich morgens immer so lange es ging liegen und schaute vom Bett aus aus dem Fenster. Ich hörte die Vögel zwitschern, die Autos fahren und irgendwelche Stimmen von unseren Nachbarn. Vielleicht zerrissen sie sich das Maul über mich. Aber das war mir egal, das war mir schon lange egal. Ich hatte aufgehört zu verlangen, dass mich jeder verstand. Mich verstand im Grunde genommen keiner. Jetzt war es mittlerweile schon 10:45 Uhr. So verging Tag für Tag die Zeit. Die Zeit die manchen so kostbar war und die mir überhaupt nichts mehr bedeutete. Ich hatte zu viel davon. Ich lag einfach da, mit geschlossenen Augen und bewegte mich nicht. Ich hörte mein Herz schlagen und meinen Atem, wie er leise auf und ab ging. Den Rosenkranz hielt ich dabei fest in meinen Händen. Ich betete nicht wirklich, ich war mit meinen Gedanken nur ganz weit weg. Bei jemandem der mich verstand und bei dem meine zerrissene Seele nicht existierte.

Eigentlich müsste ich schon längst im Auto sitzen. Ich hatte es heute morgen mal wieder nicht so schnell geschafft. Ich glaubte zwischenzeitlich schon, dass ich mich absichtlich nicht beeilte, weil mein Unterbewusstsein wusste, dass es eigentlich keinen Sinn machte, sich zu beeilen. Konnte doch sein.
Mein Unterbewusstsein machte eine Menge Quatsch, den ich nicht verstand. Es war aber immer sehr spannend, sich damit zu beschäftigen. Die meisten Menschen beschäftigten sich zu wenig mit sich selbst und ihrem Leben. Es war sehr schwer eigene Fehler einzusehen und festzustellen, dass sein Leben nicht so perfekt war, wie man es immer darstellte und wie man es gerne hätte. Aber ich war anders als die anderen. Nur konnte ich mir jetzt keine Gedanken um mein Unterbewusstsein und sonstiges Unterbewusste machen, denn ich musste mich ja, wie gesagt, beeilen. Zumindest saß ich jetzt schon mal im Auto.
Auf meiner CD lief gerade das Lied „Hurt“ von Johnny Cash.

„What have I become my sweetest friend? Everyone I know goes away in the end.
And you could have it all. My empire of dirt. I will let you down. I will make you hurt.“

Ich hielt auf dem Parkplatz, wo ich immer parkte. Ich griff nach meiner Tasche, schloss das Auto ab und lief schnell zum kleinen weißen Häuschen und klingelte an der Tür. Es war immer dasselbe komische Gefühl, wenn ich davor stand. Aber es musste sein. Für mich und für all die anderen. Es war normal, dass ich 5-10 Minuten vor dieser Tür stand und einfach nur durch das Fenster schaute, bis sie mir die Tür öffnete. Sie begrüßte mich freundlich, als wenn sie sich wirklich freute mich zu sehen. Dabei wollte sie mir wahrscheinlich einfach nur ein positives Gefühl vermitteln, so wie sie´s bei allen anderen auch machte. Ich setzte mich auf den Stuhl und laß mir die Gedichte und Sprüche an den Wänden durch. Mittlerweile müsste ich sie schon auswendig kennen, aber jedes Mal kam es mir vor, als laß ich sie zum ersten Mal. Es roch nach Rooisbostee und irgendwelchen Blumen. Trotzdem war die Luft stickig.
Ich dachte, dass bestimmt schon eine Weile nicht mehr gelüftet wurde. Die Fenster waren meistens geschlossen, weil man sonst die Auto hörte und das störte. Aus der Tür rechts neben mir kam eine Frau mit ihrem Sohn. Ich kannte die beiden. Ich hatte sie schon oft hier getroffen. Der Junge sah glücklich aus, die Mutter wirkte gestresst. Ich fragte mich, wie schon so oft, aus was für einem Grund die beiden hier herkamen? Ich dachte mir dann immer irgendwelche Sachen aus, die noch viel schlimmer waren,
als mein Problem.
Dann endlich holte sie mich rein. Das Zimmer war nicht schön eingerichtet und man war so abgelenkt von den Autos und Menschen, die man draußen beobachten konnte. Sie holte die Zettel aus ihrer Mappe. Nach der ganzen Zeit war schon einiges zusammen gekommen. Es waren bestimmt über zwanzig Seiten. Sie schaute mich eine Zeit lang an und schrieb etwas auf.
„Wie geht es Ihnen?“
Mich wunderte es, dass man mir nicht ansah, wie es mir ging.
„Mir geht’s gut.“
„Das ist schön. Dann erzählen sie doch mal, was es Neues gibt bei Ihnen?“
Sie nahm den Kugelschreiber in die Hand und wartete, dass ich anfing zu erzählen. Anfangs hatte ich mir immer genau überlegt, was ich erzählen sollte und was nicht und ob ich eine Reihenfolge beachten sollte oder nicht. Aber auch das war mir egal geworden und ich redete einfach drauf los, hörte mir ihre Kommentare an, ließ sie kurz einwirken, zumindest tat ich so und sprach dann weiter.
Zwischendurch gab es immer wieder Pausen, in denen Sie mich einfach nur beobachtete und etwas aufschrieb. Diese Momente mochte ich überhaupt nicht. Nach zirka einer dreiviertel Stunde konnte ich dann wieder gehen. Manchmal ärgerte ich mich, weil ich dachte, dass die Zeit zu kurz war und ich vielleicht ein paar Dinge vergessen hatte zu erwähnen. Als ich auf unseren Hof fuhr, sah ich schon, dass meine Oma Besuch hatte und am liebsten wäre ich umgedreht und wieder gefahren. Aber das war nicht ich, das war falsch. Ich stieg also aus, ganz normal, wie ich es sonst auch immer getan hatte und ging ins Haus. Ich schloss die Tür hinter mir ab. In der Küche „hörte“ ich schon die Stille. Ich wusste, sie warteten bis ich reinkam und anfing zu erzählen. Ich wusste aber auch, dass sie dachten, ich würde es nicht tun und genau aus diesem Grund, nein – nur aus diesem Grund, ging ich in die Küche. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht sagte ich ´Hallo´ und freute mich innerlich schon über ihre verblüfften Gesichter. Sie schauten mich an, als würde ich das ärmste Kind der Welt sein, als meine Oma mich fragte, wie es war. „Gut! Wie immer eigentlich.“ Ich richtete meinen Körper schon so zur Tür, dass sie merkten, ich wollte gehen. „Wie lange machst du denn jetzt schon die Therapie?“
Da musste ja noch was kommen. Hätte ich mir auch denken können. Ja gut, wenn sie es so wollten.
Ich versuchte mich zusammen zu reißen, nahm mir ein Glas zu trinken und setzte mich zu ihnen.
„Seit fast einem Jahr.“
„Und das hilft dir?“
„Ja.“
Am liebsten hätte ich ihr das Glas aus der Hand geschlagen..
Jedes Mal jammerte sie meine Oma voll und jedes Mal tranken sie Weinbrand. Ich hasste Alkohol.
„Das wäre ja schön. So kann es ja auch nicht weitergehen mit dir.“
„Es geht immer weiter, es sei denn, man will nicht mehr, dass es weitergeht. Dann beendet man ´es´.“
Sie versuchte zu lachen, es sah gezwungen aus. Sie wollte meinen Blick deuten. Aber da konnte sie sich noch so bemühen. Ich starrte sie einfach an, meine Augen waren leer.
„Ich werde jetzt nach oben gehen, wenn es keine weiteren Fragen gibt.“
Die beiden lachten kurz, dann drehte ich mich um ging die Treppe hinauf und in mein Zimmer. Mein Laptop stand auf meinem Sofa und er wurde als erstes angemacht, wie immer. Was hätte ich nur gemacht, wenn es kein Internet gäbe? Nicht, weil ich auf diese neumoderne Technik stand und ohne sie nicht klarkam. Nein, weil es eine sehr gute Ablenkung zu meinem Leben war. Wahrscheinlich hätte ich sonst nur aus dem Fenster geschaut, in den Himmel. Ich hätte Ihn gesucht. Natürlich hätte ich ihn nicht gefunden.. Wie denn auch? In den Wolken. Julia war online. Wie jeden morgen. Mit ihr konnte ich gut reden und ich glaube, sie war eine der wenigen, die mich verstand. Vielleicht, weil sie auch nicht ganz ´normal´ war. Sie erzählte mir, was sie am Wochenende gemacht hatten und dass sie mit Sina ganz lange auf dem Spielplatz waren. Manchmal, da wünschte ich mir auch eine eigene kleine Familie. Ich würde mich um mein Kind kümmern und wäre wieder glücklich! Oder? Julia wollte, dass ich zu ihr komme. Warum nicht? Ich war gerne mit ihr zusammen. Wir konnten stundenlang einfach nur zusammen da sitzen. Sie ging nicht gerne raus. Sie hatte Angst. Ich kannte ihre Angst nicht, aber ich wusste, wie sie sich fühlte.

Wir redeten und spielten mit Sina. Zwischendurch regten wir uns über die Menschen in den Talkshows auf. Aber eigentlich redeten wir immer wieder über uns und unser Leben. Über die Vergangenheit und teilweise auch über die Gegenwart. Die Zukunft blieb verborgen. Vielleicht wollten wir uns gar nicht ausmalen, wie es weitergehen könnte. Vielleicht, weil wir Angst hatten. Vielleicht, weil wir uns manchmal wünschten, es würde gar nicht mehr weitergehen.
Die Zeit bei ihr verging immer sehr schnell. Es war jetzt schon 16 Uhr. Julia brachte mich zur Tür. Wir verabschiedeten uns und wussten, dass wir morgen früh wieder schrieben. Jeder bei sich zu Hause, in seiner eigenen kleinen Welt.
Ich fuhr gerade auf den Hof, als mein Handy klingelte. Laura war dran. Sie rief mich fast täglich an, wenn sie aus der Schule kam. Laura war meine Cousine und dazu auch noch meine Freundin. Sie erzählte mir, von einer Klausur die sie geschrieben hatte und von ihrem Freund. Laura hatte wenig Zeit und wir legten nach 10 Minuten wieder auf. Früher hätte es das bei uns nicht gegeben. Aber die Zeiten haben sich geändert.. Meine Zeiten nicht.
Jetzt musste ich den Tag nur noch irgendwie beenden. Baden war eine gute Idee. Ich ließ das Wasser ein und beobachtete den Strahl und stellte mir vor, ich stehe inmitten eines riesigen Wasserfalls und das Wasser knallt hinab auf meinen Kopf. Erst geht es und ich halte es aus, doch nach einer Weile verschwindet die Kraft und ich falle. Trotzdem knallt das Wasser immer noch auf mich hinab.
Ungefähr so fühlte ich mich manchmal. Täglich! Ob sich das jemals wieder änderte?

`Waking up and see that everything is ok.
The first time in my life and now it´s so great.
Slowing down I look around and I am so amazed.
I think about the little things that make life great.
I wouldn´t change a thing about it.
This is the best feeling.´

Mein Bett war kalt und es fühlte sich so leer an. Meine Kuscheltiere lagen alle neben mir. Ich fühlte mich geborgen zwischen ihnen. Früher, als ich noch kleiner war, da hatte ich ständig Angst vor Einbrechern . Ich schlief bei meiner Mama im Bett, jahrelang. Auf meinem Nachttisch stand dann immer ein schweres Porzellan Nilpferd. Es war so schwer, dass ich es mit beiden Händen tragen musste. Ich hatte mir immer ausgemalt, wie der Einbrecher meine Mama verletzt und ich stehe hinter ihm und lasse das Nilpferd auf seinen Kopf fallen. Ich hatte mich dann immer stark gefühlt und gedacht, wenn wirklich mal jemand einbricht, dann war ich vorbereitet. Das beruhigte mich und so konnte ich dann doch irgendwann einschlafen. Heute hatte ich keine Angst mehr vorm Schlafen. Ich schlief gerne. Wenn ich schlief, dann träumte ich mich in eine Welt, in der es mir gut ging. In der ich alles hatte, was ich brauchte und einfach nur ich war. Eine wunderschöne Traumwelt. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und dachte, dass meine reale Welt, die Welt aus meinem Traum war. Aber ich brauchte nur wenige Minuten um zu merken, dass meine Welt nicht wunderschön war. Ich spürte es, immer!
Wenn man sich sein Knie aufgeschlagen hatte oder sich in den Finger geschnitten hatte, dann tut das im ersten Moment weh, aber wenn das Blut gestoppt und ein Pflaster die Wunde schützte, dann war das alles nur noch halb so schlimm. Wenn aber die Seele verletzt wurde, kann niemand diese Wunde heilen. Und wenn auch die Wunde mit den Jahren etwas heilte, dann schmerzte die Narbe ein Leben lang. Ich glaube, ich konnte behaupten, dass keine Wunde so schmerzte, wie die einer kaputten Seele.
Manchmal wünschte ich, es gäbe einen Knopf an dem man seine Gefühle beliebig an- und ausstellen konnte. Ich war so gerne glücklich, deswegen wollte ich nicht, gar nicht mehr fühlen können. Nur die Angst und die Trauer die mein Leben bestimmten, wollte ich gerne abstellen.
Wie in meinen Träumen.


Ich roch die kalte Luft und hörte die Autos auf der Umgehungsstraße. Langsam öffnete ich meine Augen und drehte mich auf die linke Seite. Es war 06:00 Uhr und ich war wach. Warum ich wach war,konnte ich mir denken. Ich hatte wieder diesen Traum. Ich stand allein auf einer dunklen Landstraße. Ich kannte den Weg nicht und die Straße schien endlos zu sein. Plötzlich tauchte vor mir ein Schatten auf. Ich kannte die Person. Ich lief hinter ihr her und versuchte sie aufzuhalten. Aber ich war zu langsam.
Wer konnte die Person sein? Warum konnte ich sie in meinem Traum nicht erkennen?
Ich legte mich wieder auf den Bauch und suchte den Rosenkranz. Er lag bis ich eingeschlafen war, in meiner Hand. Ich wusste, dass ich so ganz nah bei Ihm war und er mich beschützte. Den Rosenkranz hatte er mir geschenkt, als ich noch kleiner war, als er noch bei mir war, als alles noch in Ordnung war. Damals hatte er mir nichts bedeutet und ich hatte ihn weggelegt. Doch als er von uns gegangen war, hatte ich den Rosenkranz wiedergefunden und seitdem begleitete er mich, bei allem was ich machte. Ohne ihn ging ich nicht weg, der Rosenkranz musste bei mir sein, so wie er immer bei mir war. Es wurde immer später. Mittlerweile war es 08:00 Uhr. Ich stand auf und zog die Jalousien hoch. Es regnete schon wieder. Manchmal dachte ich, es wären meine Tränen. Die Tränen, die sonst niemand sah und die Trauer die keiner wahrnahm. Er saß da oben und sah mich, sah alles. Aber er konnte mir nicht mehr helfen, selbst wenn er wollte. Er ließ es regnen, weil es ein Zeichen sein sollte. Aber niemand erkannte es als Zeichen, niemand! Vielleicht war es auch besser so. Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass niemand wirklich eine Ahnung hat, wie´s mir ging. Niemand, keiner!
Mama und Oma saßen unten am Tisch und frühstückten. Sie redeten so laut, dass ich sie hier oben hörte. Ich wollte meine Ruhe haben. Unter der heißen Dusche wusch ich alles schlechte von meinem Körper. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Ich trocknete mich ab. Das Handtuch fühlte sich hart an und es war auch nicht mehr richtig weiß, aber es war mein Lieblingshandtuch. Es passte zu mir. Meine Haare kämmte ich nur einmal schnell und schminken wollte ich mich heute nicht. Warum auch? Mich sah ja sowieso keiner! Ich nahm mir eine Schale mit Müsli, setzte mich an meinen Schreibtisch. Während ich aß, beobachtete ich die Vögel draußen. Sie waren frei. Sie konnten fliegen, wo hin sie wollten und einsam waren sie bestimmt auch nie. Konnten Vögel überhaupt fühlen? Wenn sie das konnten, dann wollte ich doch kein Vogel sein. Eigentlich wollte ich auch gar nicht fliegen. Ich hasste fliegen.
Mama kam in mein Zimmer und wollte mich mitnehmen in die Stadt. Ich fuhr gern mit meiner Mama in die Stadt. Heute hatte ich keine Lust zu fahren, deswegen setzte ich mich auf den Beifahrersitz. Als erstes fuhren wir zur Bank. Ich blieb im Auto sitzen und wartete. Auf dem Parkplatz neben uns saß ein Hund im Auto. Seine Augen saßen traurig aus. Sie spiegelten meine Augen wieder. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und hätte den Hund gestreichelt. Vielleicht auch nur, um mich selbst zu trösten.
Mama kam wieder und wir fuhren weiter. Blumen kaufen. Für unseren Garten und für sein Grab.
Ich suchte seine Blumen aus. Das machte ich jedes Mal. Diesmal hatte ich mich für ein tränendes Herz und eine kleine lilafarbene Blume entschieden. Ich wusste nicht, wie sie hießen. Sie waren schön, das wusste ich. Wir fuhren weiter und kauften noch ein paar Lebensmittel ein. Ich ging durch jeden Gang im Supermarkt, ohne das ich wusste, was ich eigentlich möchte. Ich ging gerne einkaufen, nur heute war mir nicht danach. Ich wollte lieber schnell zu Ihm. Ich freute mich, die neuen Blumen zu pflanzen. Er würde sich auch freuen, das wusste ich. Aber wir mussten erst noch bezahlen und Oma abholen. Sie wollte mitkommen. Mama und Oma standen vor seinem Grab und überlegten, was man verändern konnte und das der Buchsbaum schon wieder geschnitten werden musste. Ich redete nicht.. Meine Hände gruben ein Loch in der Mitte des Grabes. Darein setzte ich das tränende Herz. Es sah schön aus. Mein Herz.
Die andere kleine Blume pflanzte ich neben seine Grableute. Ihre Blüten sahen aus, wie kleine Sterne und wenn dann nachts die Kerze brannte, dann warf das Licht bestimmt kleine Schattensterne auf sein Grab. Diese Vorstellung gefiel mir. Ich verabschiedete mich von Ihm, aber ohne ein Wort zu sagen.
Er hörte mich trotzdem.


Auf dem Weg nach Hause fing es an zu regnen. Ich sah wie die Tropfen langsam die Scheibe hinunter perlen. Ich mochte den Regen. Er kam von ihm. Er schenkte mir den Regen, nur damit die anderen das sahen, was sie in meinem Gesicht nie sahen. Tränen.Ich war mir sicher, dass er ihnen das sagen wollte, was sie aus meinem Mund nie hörten. Er kannte mich genau und er wollte mir helfen. Alleine kam ich nicht zurecht. Er wusste das. Nur er. Und ich. Die anderen hätten es wohl nie begriffen. Meine Maske schützte mich. Ich hätte sonst irgendwann alleine da gestanden. Ich musste mich verstellen. Wenn ich so gewesen wäre, wie ich wirklich war, dann wäre ich nur noch einsam gewesen. Noch einsamer, als ich es schon war. Und das hätte ich nicht überlebt. Ich wäre gestorben,vielleicht.

Niemand war online. Nicht mal Julia. Wo sie wohl war? Sie ging nur sehr ungern alleine raus.
Dann hörte ich eben Musik. Ich öffnete mein Zimmerfenster ganz weit und setzte mich auf die Fensterbank. Wenn es draußen warm war, dann machte ich das gerne. Ich hörte Musik und dachte nach. Manchmal da hörte ich Lieder und sang mit. Und manchmal sang ich mit und dachte dabei, dass ich die Lieder für jemanden sang. Ich stand einfach da und sang und alle waren begeistert. Alle, außer ich.
Es kam mir so vor, als hätte ich stundenlang am Fenster gesessen. Aber als ich einen Blick zur Uhr warf, war knapp eine Stunde vergangen. Ich hatte schon so oft überlegt mich einfach hin zu legen und zu warten, was passierte. Aber die Zeit würde wahrscheinlich gar nicht mehr vergehen und davor hatte ich Angst. Wovor hatte ich eigentlich keine Angst?
Ich hörte die Hausklingel unten. Lisa, meine kleine Cousine, war gekommen. Sie wollte, dass ich mit zu ihr komme. Abwechslung! Ich fühlte mich genau jetzt ,in diesem Moment, wunderbar.
Aber ich wusste auch, dass es morgen schon wieder anders sein würde. Deswegen hatte ich verlernt, die kleinen Augenblicke so zu genießen, wie man es machen sollte. Manchmal kam es mir vor, als lebte ich nicht im Hier und Jetzt, sondern mal in der Vergangenheit und viel zu oft schon in der Zukunft.
Aber ich konnte das nicht abstellen. Ich dachte so gerne nach und machte mir Pläne. Auch wenn sie fast jedes Mal scheiterten. Aber genau das wurde mir schon sehr früh beigebracht.
1. Es kommt alles anders und 2. als man denkt!
Vielleicht sollte ich ab und zu mal vorher daran denken. Wenn man zu viel erwartete, wird man schnell enttäuscht und genau das tat ich, leider. Immer und immer wieder.
„Was ist los mit dir, Lisa?“
„Ich weiß es selber nicht. Tim ist so komisch. Ich kann mir das nicht erklären.
Im Moment läuft es wirklich nicht gut bei uns.
Was soll ich machen? Ich will nicht wieder bei ihm ankommen. Er kann sich doch auch mal bemühen.“
„Sag mir doch erstmal genau, was passiert ist. Letztes Wochenende war doch noch alles in Ordnung.“
Sie lächelt schief.
„Achja, tut mir Leid. Er hatte die ganze Woche keine Zeit.“
„Naja, aber das kann doch mal vorkommen.“
„Aber von Tim kommt nichts mehr.“
Es bringt jetzt nichts mit ihr zu diskutieren. Lisa ist sauer und da kann man versuchen alles noch so schön zu reden, es interessiert sie nicht.
Wir beschlossen uns einen Film auszuleihen und uns so abzulenken.
Der Film dauerte mir zu lange, obwohl er nicht mal Überlänge hatte. Ich war innerlich irgendwie unruhig und nicht ganz bei der Sache. Ich wollte ins Bett. Der Tag war für mich zu Ende, obwohl es erst halb 11 war. Ich beobachtete den Sekundenzeiger der Uhr während ich den Stimmen aus dem Film zuhörte.
Meine Augen waren ganz schwer und es war schön warm. Ich schlief ein.
In meinem Traum war ich in unserem Garten. Ich lief barfuß über den Rasen und über die von der Sonne gewärmten Steine. Unter meinen Füßen brannte es, aber das war egal. Mein Gang wurde schneller. Ich rannte ziellos über unseren Hof, bis auf die Straße. Mein Herz klopfte und ich atmete schwer.
Ich wusste nicht wohin ich wollte. Es war, als wenn ich jemandem hinterher lief. Aber wem?


Plötzlich wurde ich von der Schlussmelodie des Films geweckt. Lisa schaute mich an und grinste.
„Du hast ja schon wieder geschlafen.
Die Filme, die wir zusammen gucken scheinen dich nicht so zu interessieren.
Du schläfst jedes Mal ein.“
Ich gähnte und setzte mich hin.
„Tut mir Leid. Ich bin irgendwie total müde. Ich denke, ich fahre nach Hause und geh ins Bett.“
„Ja, wird wohl besser sein. Aber morgen früh fahren wir in die Stadt.“
„Ich stell mir den Wecker auf neun und dann hol ich dich gegen 10 Uhr ab.“
Lisa nahm mich in den Arm. „Bis morgen dann.“
„Bis morgen.“
Es regnete und meine Scheiben waren beschlagen. Ich drehte die Lüftung auf die höchste Stufe und fuhr los. Unterwegs dachte ich wieder an meinem Traum. Ich bekam eine Gänsehaut. Es war als wenn ich die Person aus meinem Traum unbedingt aufhalten musste. Vielleicht nur, damit ich von der Straße weg kam, vielleicht auch, weil die Person wichtig war für mich. Aber ich war nicht traurig.
Ich war nur erschöpft.
Zu Hause angekommen ließ ich mich in mein Bett fallen. Ich hatte keine Lust mehr mich zu bewegen und so schlief ich in meinen Klamotten ein.

Ich wurde durch das Klingeln des Telefons geweckt. Aber ich hatte keine Lust aufzustehen und hin zu laufen. Oder sollte ich das vielleicht doch tun. Ich schmiss die Decke zur Seite und sprang auf, aber ich kam zu spät. Dieser jemand hatte schon aufgelegt. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich noch meine Klamotten und Schuhe an hatte. Ich musste selber über mich lachen. Das passte gar nicht zu mir.
Als ich einen Blick in den Spiegel wagte, stellte ich fest, dass ich gar nicht so furchtbar aussah, wie ich es vermutet hatte. Meine Schminke war leicht verschmiert und meine Haare etwas zerzaust, aber man hätte auch denken können, es musste so. Kurz spielte ich mit dem Gedanken mich nicht zu duschen und einfach den ganzen Tag so herum zu laufen. Ich schüttelte den Kopf, als wenn ich meinem Spiegelbild die Antwort auf den komischen Gedanken geben wollte.
Das warme Wasser tat gut auf der Haut. Es war fast zu warm, aber es war nicht unangenehm. So blieb ich eine halbe Stunde unter der Dusche und als ich herauskam hatte sich so viel Dampf im Badezimmer gesammelt, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich tapste zum Fenster und öffnete es, dann ging ich zurück zur Tür und machte diese ebenfalls ganz auf. Mir wurde kalt vom Durchzug. Ich zog schnell meine Hose und das T-Shirt an, putzte mir meine Zähne und ging an meinen Laptop. Während ich wartete bis er hochgefahren war, klingelte wieder das Telefon. Ich hatte es neben meinem Bett liegen gelassen, so war der Weg diesmal nicht zu weit und ich nahm ab bevor dieser jemand wieder auflegen konnte. Eine Frauenstimme, die ich nicht kannte, begrüßte mich. Es war die Schule.
Die Frau wollte wissen, ob es mir gut geht und warum ich denn „aus gesundheitlichen Gründen“ nicht zu Schule gehen konnte. So stand es nämlich in meinem Lebenslauf. Am liebsten hätte ich direkt wieder aufgelegt, aber sie klang so, als wenn sie es nicht albern oder dumm fand. Ich hoffte, das würde sie auch noch, wenn sie den Grund für mein Nicht-erscheinen kannte. Ich atmete tief durch und fing an zu erzählen. Mittlerweile kamen diese Worte und Erklärungen über meine Lippen, als wäre es ganz einfach, darüber zu reden und ganz leicht, mich zu verstehen. Es war aber alles andere als das. Doch die Frau tat so, als wäre es überhaupt kein Problem. Sie bedankte sich, erklärte mir, dass sie sich nochmal melden würden und verabschiedete sich. Ich konnte mir schon denken, was sie mit dem „noch mal melden“ meinte und machte mir keine großen Hoffnungen.
Irgendwie hatte ich jetzt das Bedürfnis jemandem davon zu erzählen.Ich machte meinem Laptop wieder aus und ging ins Badezimmer.Im Spiegel überprüfte ich mein Aussehen. Warum eigentlich? Für die anderen? So muss es wohl sein! Ich lief nach unten, griff nach dem Autoschlüssel und erklärte Oma, dass ich noch kurz was erledigen musste, aber zum Mittag wieder da wäre.


„Come up to meet you. Tell you I´m sorry. You don´t know how lovely you are. I had to find you.
Tell you I need you. Tell you I set you apart. Tell me your secrets and ask me your questions.
Oh, let´s go back to the stars. Running in circles. Coming in tails. Heads on a science apart.
Nobody said it was easy.
It´s such a shame for us to part. Nobody said it was easy. No one ever said it would be this hard.
Oh, take me back to the start.“


Mein Kopf brummte und dann auch noch dieses Lied. Ich beschleunigte mein Tempo um schneller anzukommen. Es wäre natürlich leichter, einfach das Radio auszumachen, aber das wollte ich irgendwie auch nicht. Nachdem ich an allen roten Ampeln bestimmt gefühlte 5 Minuten gewartet hatte, kam ich endlich bei meiner Tante im Büro an. Sie freute sich immer mich zu sehen. Das war ein schönes Gefühl.
Ich setzte mich zu ihr und begann sofort alles zu erzählen. Anscheinend klang ich sehr positiv, denn sie strahlte mich an, als wollte sie mir schon gratulieren.
„Ich denke, die Frau wollte sich nur informieren. Ich weiß schon, wie das „Noch mal melden“ aussieht. Ein kleiner Umschlag mit einer Absage. Es ist ja nichts neues für mich.“
„Jetzt übertreibe mal nicht. Die letzten Jahre hast du Zusagen bekommen. Sie wollten dich.“
„Ja, nur mein Inneres wollte „es“ nicht.“
„Diesmal ist es was anderes. Das hast du bei der Bewerbung selbst gesagt.“
„Hab ich, das stimmt. Ich weiß nur nicht, ob es das ist was ich will. Ich weiß überhaupt nicht, was ich will.“
„Du bist durcheinander, weil es was ganz anderes ist. Ich glaub an dich. Du machst das.“
Ich lächelte sie widerwillig an. Was sollte ich dazu jetzt noch sagen? Wir tranken noch eine Tasse Tee zusammen und dann verabschiedete ich mich. Ich wollte noch zu Julia. Irgendwie fühlte ich mich bei ihr immer gut aufgehoben. So als sei ich „ganz normal“. Vielleicht, weil sie mich so gut versteht und uns beide immer liebevoll als „bescheuert“ bezeichnet. Ja, vielleicht!
Im Auto beschloss ich positiver zu denken und mich auf das was noch kommt zu freuen. Manchmal konnte ich das gut. Das waren allerdings nur Phasen. Aber genau genommen waren die Momente in denen es mir scheiße ging ja auch nur Phasen, nur dauerten diese irgendwie immer länger an. Es gab bestimmt so was wie ne Formel oder ähnliches und wenn ich diese verstand, würde es mir besser gehen. Im Grunde genommen, waren wir doch gar keine richtigen Menschen mehr. Eher so was wie Roboter.
Wenn´s so sein sollte, dann musste es einen Code zum Glück geben. Ich musste ihn nur suchen.
Konnte ja nicht so schwer sein.
Ich parkte mein Auto neben der großen Buchenhecke. Ich klingelte und hörte in dem Moment schon Sina meinen Namen rufen. Ein schönes Gefühl. Ich war mir sicher, dass es niemanden gab, der sich so freute mich zu sehen, wie Sina. Die Tür öffnete sich und Sina rannte mir in die Arme.
Die Stunden vergingen mal wieder viel zu schnell und gegen 13 Uhr verabschiedete ich mich und fuhr nach Hause. Meine Laune war immer noch gut. Zu Hause angekommen wartete meine Oma schon mit dem Essen auf mich. Eigentlich hatte ich noch gar keinen Hunger, aber ihr zuliebe setzte ich mich an den Tisch und aß ein bisschen. Oma erzählte mir, dass sie im Garten war und dass ihre alte Freundin sie angerufen hatte. Ich beobachtete sie und ich musste lächeln. Meine Oma war ein glücklicher Mensch. Sie hatte in ihrem Leben so viel erlebt, auch viel schlechtes, aber sie hatte den besten Mann. Opa hat immer alles für sie getan, das wusste ich. Und Oma hatte tolle Kinder. Ich war froh, wenn ich wusste, dass es meiner Oma gut ging und sie zufrieden war. Das war viel besser und beruhigender, als wenn es mir gut ging und ich zufrieden war. Irgendwie hatte das so schon alles seine Richtigkeit, auch wenn es schwer war, diese zu verstehen.


Ich räumte die Spülmaschine ein, während Oma die meisten Sachen wieder per Hand abspülte.
Das machte sie immer und ich hatte es noch nie verstanden. Manchmal regte ich mich über solche eigentlich harmlosen Dinge tierisch auf. Ich verstand mich oft selber nicht, aber wer weiß, vielleicht hatte man in seinem Inneren wirklich zwei Gesichter.
Die Vorstellung machte bestimmt vielen Menschen Angst. Mir machte so was keine Angst. Ich sah so was als eine neue Erkenntnis und ist es nicht so, dass man durch neue Erkenntnisse dazulernt und damit wächst?

Gib uns die Kraft um zu ändern was wir können und zu akzeptieren, dass manche Dinge einfach so sind, wie sie sind und bitte gib uns die Weisheit, sodass wir sehen, was der Unterschied ist. *

Ich saß mal wieder am Fenster und hörte den Vogel zu. War es bei ihnen wohl auch ein Konkurrenzkampf wer schöner singt? Oder sangen sie einfach alle gemeinsam, jeder auf seine Art und Weise? Die Vorstellung gefiel mir persönlich jedenfalls besser, als wenn sie ´gegeneinander´ singen würden. Bei der Tierwelt kann man sich so was noch vorstellen. Bei den Menschen leider nicht. Da ist jeder gegen jeden. Da herrscht der Egoismus. Vielleicht muss das so sein? Schade eigentlich...

Ich beschloss ein bisschen raus zu gehen. Die Welt angucken um zu sehen, wie es auch sein kann oder so.
Hatte ich schon erwähnt, dass man mich nicht versteht und das ich verdammt komisch bin?
Ich holte meine Jacke, setzte mich auf die Treppe und zog meine Schuhe an. Nico, meinen Hund, nahm ich auch mit. Ich ging mit ihm zum Galgenmoor. Unterwegs erzählte ich ihm alles worüber ich so nachdachte. Nico schaute mich dann immer mit seinen großen braunen Augen an und für mich war es so, als würde er mich verstehen. Auf seine Art und Weise.
Ich setzte mich auf eine Bank und nahm Nico auf meinen Schoß. Er mochte das nicht wirklich, aber er sollte mich jetzt trösten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich dem Menschen, der mich immer verstanden hat und vermutlich auch immer verstehen wird. Egal, wie viele Himmel uns trennen... Buch wird noch weitergeschrieben :)

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