„Was ist es mein Sohn?“ fragte die Krähe.
„Etwas zu essen? Ein Kaninchen vielleicht? Oh, ich hoffe es ist ein krankes Kaninchen, denn ich sterbe vor Hunger.“
In diesem Augenblick begann das Ding im Gras zu schreien. Mutter und Sohn sahen sich verdutzt an.
„Na sieh mal einer an, ein Menschenküken,“ sagte Mutter Krähe überrascht. Sie landete auf dem Boden und umkreiste das wimmernde Bündel im Gras mit neugierigen Hüpfern.
„Kann man es essen?“ fragte der Sohn und zupfte probeweise an einem der winzigen Finger.
„Lass' das!“ schnarrte wütend die Mutter.
Sie war eine alte, kluge Krähe, die nicht leichtfertig dumme Fehler beging. So etwas jedoch war ihr in all ihren vielen Lebensjahren noch nicht untergekommen. Sie würde sorgfältig überlegen müssen, was zu tun sei. Es war noch früh am Morgen und im Park waren, soweit das Auge reichte, keine Menschen zu sehen. Natürlich könnte man es riskieren und das große, fremde Küken als Nahrung betrachten. Kein Fuchs würde damit jemals zögern, wenn ein Krähenküken versehentlich aus dem Nest fiel. Trotzdem konnte sie sich nicht dazu entschließen. Nicht aus Prinzip. Doch irgendetwas sagte ihr, dass dieses Bündel großen Ärger verursachen würde, wenn man es nicht wegschaffte. Jeden Tag sah sie die Menschen hier im Park ihre Küken in ihren rollenden Nestern auf den Wegen spazierenfahren. Sie bildeten sich viel auf ihre Brut ein und würden diese nicht einfach ohne Grund irgendwo allein herumliegen lassen. Taten sie das in diesem Fall doch, konnte das nur heißen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Die Krähe spürte, dass gerade von diesem Küken etwas Merkwürdiges ausging, etwas, das all den anderen nicht anhaftete. Und insgeheim musste sie sich eingestehen: Das verlassene Menschenküken machte ihr Angst. Ja, es machte ihr Angst, und sie verspürte das Bedürfnis, es so schnell wie möglich unter ihrem angestammten Lieblingsbaum wegzuschaffen, ehe es jemand anderes hier fand. Sie konnte nicht genau sagen, was es war. Vielleicht etwas in seinen Augen, das ihr nicht gefiel. Sie musste es wissen, denn mit Augen kannte sie sich nun wirklich aus: Manche fraß man besser leicht angetrocknet, andere schmeckten am besten frisch, wenn das Opfer noch zappelte. Menschenaugen fraß sie für gewöhnlich keine. Nicht aus Prinzip, sondern aus Mangel an Gelegenheiten. Es waren langweilige Zeiten für Krähen in diesem Land, ganz ohne Galgen, öffentliche Hinrichtungen und blutrünstige Kriege. Ja, ihre glorreichen Krähenvorfahren, von denen sie gelegentlich gerne den jungen Krähen erzählte, die hatten noch andere Festmahle erleben dürfen. Doch in Zeiten wie diesen ließen die Menschen ihresgleichen eben nur selten verendend im Straßengraben an der Autobahn liegen. Das taten sie heute lieber mit den vielen kleinen Tieren, die sie regelmäßig überfuhren. Und immerhin waren Krähen genügsam und nahmen mit dem vorlieb, was man ihnen übrig ließ. Ja, ja, der Lauf der Zeit...
„Was wollen wir denn mit ihm anstellen, wenn man es nicht essen kann?” holte ihr Sohn sie zurück in die Gegenwart.
„Und warum kann man es nicht essen? Es ist vielleicht ein wenig zu frisches Fleisch für meinen Geschmack, aber ansonsten kann ich nichts Unrechtes daran finden!“
Ja, warum konnte man es nicht einfach essen? Wenn sie ehrlich war, konnte sie es nicht genau sagen. Doch das vor einem halbwüchsigen Krähenküken zuzugeben, das war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit.
„Ja siehst du es denn nicht?“ fragte sie deshalb vorwurfsvoll.
„Siehst du nicht dieses merkwürdige Flackern, diesen Glanz in seinen Augen?“
„Hm...!“ machte ihr Sohn, legte den Kopf schief und tat sehr pflichtbewusst und eifrig, da er keinesfalls zugeben konnte, dass er nichts Ungewöhnliches sah.
„Mein Sohn, merke dir das eine...! Merke dir mein Sohn, ich bin deine Mutter und ich habe viel erlebt und viel gesehen. Doch ein solch merkwürdiger Glanz in den Augen eines Menschkükens ist mir noch nicht untergekommen. Nein, ich habe von solchen Augen nur aus den Geschichten unserer glorreichen Krähenahnen gehört, die in den Zeiten lebten, als die Menschen in der Furcht vor Magie und Dämonen lebten. In den Zeiten, als auserwählte, besonders begabte Krähen als Begleiter von mächtigen Hexen und Zauberern die Erde bereisen durften. Ein solcher Glanz in den Augen eines Menschen mein Sohn, den fand man nur bei jenen...,“
Hier senkte sie ihre Stimme zu einem unheimlichen, leisen Gekrächze:
„Bei jenen, welche mit IHM, mit dem Herrn der Finsternis im Bunde waren.“
„Oh!“ flüsterte ihr Sohn beeindruckt.
„Verstehe! Und was sollen wir nun machen? Uns mit ihm verbünden, wie in den alten Zeiten?“
„Dummkopf!“ zischte seine Mutter.
„Wir Krähen sind keine Verbündeten von irgendwem, wie oft soll ich dir das noch sagen. Weder von Menschen, noch von Göttern, noch von Teufeln, Hexen oder Dämonen. Wir sind seit Urzeiten Freiberufler, freischaffende schicksalhafte Erfüllungsboten, Verkünder der Nachricht über das nahende ... also äh, das nahende Etwas eben! Keine Bündnisse, keine Verträge – mit niemandem. Merk' dir das du Federwisch! Also, was sind wir?“
„Schicksalhafte freilaufende Nachrichtenverkünder über das erfüllte Etwas! Und sollen uns niemals verbünden und vertragen!“
„Erfüllungsboten und Verkünder der Nachricht über das nahende Etwas! Keine Bündnisse und Verträge! Ach du liebe Güte! Na schön!“ seufzte Mutter Krähe resigniert.
„Also mein Sohn, was machen wir nun mit diesem Satansbraten hier? Unsere Aufgabe dürfte es sein, ihn an den Ort zu bringen, wo er ungestört sein schicksalhaftes, nahendes Irgendwas ausüben kann. Denn merke dir mein Sohn: Das Schicksal lässt nicht ohne Grund zwei Krähen einen solchen Fund machen!“
Zu ihrer Genugtuung schien sich in diesem Moment das frische Blau des Morgenhimmels ein wenig zu verdüstern. Na bitte, es lief eben alles nach Plan.
„Also, was machen wir mit ihm? Da, es schreit schon wieder. Oh, dieses Geschrei. Wir müssen es hier wegschaffen, aber schnell! Bloß wie?“
Schweigend sahen sich die beiden an und überlegten. Selbst zu zweit würden sie es nicht schaffen, den kleinen Teufel von der Stelle zu bewegen. Was sollten sie also tun, um es an einen anderen Ort zu bringen.
„Ich hab's,“ sagte da der Sohn.
„Könnten wir nicht im Park einige Menschen ärgern, so wie wir es sonst manchmal machen, wenn uns langweilig ist? Ihnen etwas von ihren geliebten Glitzerdingern stehlen zum Beispiel? Dass würde sie sicher so wütend machen, dass sie uns quer durch den Park verfolgen würden. Und auf diese Weise könnte man sie prima hierher locken, nicht wahr? Sicher würde ein Mensch dieses Küken hier nicht zurücklassen wollen, selbst wenn es nicht seins ist.“
Mutter Krähe hob überrascht den Schnabel und musterte ihren Sohn nachdenklich. Glitzerdinger? Aber ja, warum war sie darauf nicht gleich gekommen!
„Eine hervorragende Idee!“ sprach sie daher. „Ich hatte natürlich dieselbe. Wollte nur mal sehen, ob du von allein darauf kommst. Na los, sehen wir was wir tun können.“
Rasch flogen die beiden Krähen auf und steuerten auf den östlich gelegenen Eingang des Parks zu, der von einigen großen Platanen markiert wurde. Dort angelangt ließen sie sich in den Bäumen nieder und hielten nach einem Menschen Ausschau, dessen Aufmerksamkeit sie erregen könnten. Leider war noch immer wenig Betrieb. Die erste Person, die sie erblickten, war ein einsamer Jogger, ein etwas hungrig aussehender junger Mann, der in kurzen Hosen und mit getriebenem Blick an ihnen vorbeihetzte.
„Kann er nicht etwas langsamer laufen? knurrte Mutter Krähe.
Wie sollten sie sonst sehen, was sie ihm wegnehmen könnten? Ohnehin würde es schwer werden, diesen Kerl überhaupt zu erwischen.
Doch ehe sie weiter ihren Unmut äußern konnte, fiel ihr Blick auf die große Hauptstraße, die an der Ostseite des Parks vorbeiführte und auf der in diesem Augenblick einige große schwarz glänzende Autos herannahten. Die Gruppe näherte sich langsam dem Parkplatz auf der anderen Straßenseite. Gespannt sahen die beiden Krähen zu, wie die Fahrzeuge dort zum Stehen kamen.
„Was ist das?“ fragte der Krähensohn und Mutter Krähe frohlockte: „Na, wenn das nicht das Zeichen ist, auf das wir gewartet haben!“
Das Schauspiel, dass sich da vor ihnen in den ersten Strahlen der Morgensonne abspielte, war so bemerkenswert, dass sie darüber beinahe das unselige Kind unter ihrem Lieblingsbaum vergaßen. Auf der anderen Straßenseite öffneten sich nun die Autotüren und zum Vorschein kamen einige Männer in dunklen Anzügen, unter denen weiße Hemden blitzten.
Elsternfarben. Frau Krähe konnte Elstern nicht leiden. „Vögel der Verrückten“ hießen sie bei Krähen und Menschen traditionell. Einer Elster, fand sie, sollte man nicht weiter trauen, als ihr Schnabel reichte. Doch dann sah mit einem Mal das, worauf sie gewartet hatte. Hinter einem der Männer schälte sich eine blonde Frau in einem blauen Kleid aus einem der Wagen. Die Krähe schubste ihren Sohn, der sich selbstvergessen vor sich hinträumend in der Sonne aalte und nun erschreckt zusammenzuckte. Mit angehaltenem Atem sahen sie zu, wie die Frau vorsichtig erst ihre Beine und hohen Absätzen aus der Autotür schob, dann mit eingezogenem Kopf ihren Oberkörper nachschob und schließlich in voller Größe auf dem asphaltierten Platz stand. Die Krähen warteten gespannt – und tatsächlich: An Hinterkopf der Frau blinkte etwas in der Sonne. Mutter Krähe kniff die Augen zusammen, sah noch genauer hin und nickte dann verschwörerisch ihrem Sohn zu. Sie hatten das Glitzerding gefunden, dass sie gesucht hatten. Gespannt warteten Sie auf ihren Bäumen, als die ganze Gruppe die Straße überquerte und zwischen den Platanen hindurch in den Park marschierte. Einige Männer und Frauen mit Kameras und Fotoapparaten, die in der Zwischenzeit zu der Gruppe gestoßen waren, rannten aufgeregt um die Gruppe herum und versuchten einzelne Beteiligte ins Bild zu bekommen.
Leise folgten die Krähen der Menschenansammlung, die sich in gemessenem Schritt auf die Mitte des Parks zubewegte.
„Sie wollen bestimmt zu dem verhüllten Dings auf der Wiese,“ rief der Krähensohn seiner Mutter zu.
Und tatsächlich steuerte der Zug genau auf die gemähte Rasenfläche in der Mitte des Parks zu, auf der seit einigen Tagen ein merkwürdiges, in weiße Tücher gehülltes Ding in die Luft ragte. Ungeduldig warteten die Krähen, bis die Menschen sich rund um das Ding herum in Position gebracht hatten, als wollten sie einen Gottesdienst zelebrieren. Doch dann schien ein günstiger Augenblick gekommen zu sein. In der Nähe einer großen Kastanie stand die Frau im blauen Kleid, das Gesicht in Richtung der verhüllten Merkwürdigkeit gerichtet, so dass ihr Hinterkopf zum Baum zeigte, nur knapp unterhalb der niedrigsten Äste. So lautlos wie möglich ließen sich die Krähen auf der Kastanie nieder und hüpften in die vorderen Äste.
„Achtung,“ flüsterte Mutter Krähe. „Ich hole das Glitzerding, du gibst mir Rückendeckung, verstanden! Auf drei!“
Ihr Sohn nickte. Atemlos vor Spannung sah er zu, wie seine Mutter sich im Sturzflug auf den Hinterkopf der fremden Menschenfrau stürzte und mit einem Ruck das glitzernde Etwas aus dem hochgesteckten Haar riss.
Beinahe gleichzeitig begann die Frau hysterisch zu schreien und nach ihrem eigenen Kopf zu schlagen. Es war ein gefährlicher Moment – der Krähenjunge hielt sich bereit, um jeden Moment aus den Zweigen hervorzuschießen und seine Mutter gegen die Menschen zu verteidigen. Doch Mutter Krähe flog einen raschen Bogen um den Kopf der Frau, täuschte flatternd einen Angriff vor und war dann bereits hoch in der Luft und außerhalb der Reichweite von Menschenhänden, ehe jemand sie packen konnte.
Provokativ kreiste sie über dem Rasen, in ihrem Schnabel das glitzernde Stäbchen aus dem Haar der Frau. Diese zeigte noch immer kreischend nach oben, bis zwei der Anzugmänner zu Hilfe eilten, die doch nichts anderes tun konnten, als drohend die Fäuste in die Lust zu recken und Mutter Krähe vergeblich zur Herausgabe ihres Schatzes aufzufordern. Der Krähensohn erhob sich von seinem Ast und gesellte sich zu seiner Mutter, die noch immer genüsslich in sicherer Höhe über den Menschen kreiste. Dann, als sie sich der gesamten Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe bewusst war, setzte sie sich endlich langsam in Bewegung. Ihr Sohn folgte ihr mit zwei Flügelschlägen Abstand.
Wie gehofft rannten die beiden Anzugmänner ihnen schimpfend hinterher und versuchten vergeblich, nach ihnen zu greifen. Die bestohlene Frau folgte, in ihren hohen Absätzen deutlich langsamer, in einigem Abstand. Die beiden Krähen flogen einige geschickte Zirkelbewegungen, täuschten ein oder zwei Landungen an und vergewisserten sich immer wieder, dass ihre Verfolger ihnen auf der Spur blieben. Doch diese wollten sich vor der Frau im blonden Kleid nicht blamieren und blieben den Krähen auf der Spur. Als sie sich dem Baum mit dem Menschenküken näherte, hatten beide Menschenmänner rote Köpfe, dem dickeren der beiden standen Schweißtropfen auf der Stirn.
Erst als sie nur noch wenige Meter von dem Baum des Menschenkükens entfernt waren, drehte Mutter Krähe eine letzte Runde über den roten Gesichtern der beiden Männer. Mit einem lauten Krächzen warf sie das Glitzerding einem der beiden an den Kopf und brachte sich auf einem der höchsten Bäume in Sicherheit. Ihr Sohn nahm neben ihr seinen Platz ein. Fluchend rieb sich der getroffene Mann den Kopf, während der andere sich bückte, um das Glitzerding aus dem Gras aufzuheben. Gerade als die Frau im blauen Kleid mit aufgelöstem, um den Kopf hängenden Haar, bei ihnen angekommen war, begann das Menschenküken zu schreien. Verdutzt sahen die drei Menschen sich um und erblickten schließlich das Körbchen unter dem Baum. Die beiden Krähen sahen sich an und nickten. Die zerzauste Frau stieß einen Ausruf der Überraschung aus, ging auf das Körbchen zu und nahm das Menschenküken auf den Arm.
„Na bitte!“ krächzte Mutter Krähe zufrieden.
Sie befanden sich auf einer riesigen, von Menschenhand angelegten Gartenanlage, auf deren sauber gestutzem Rasen offenbar mit Bedacht Obstbäume, merkwürdig geformte Ziersträucher und grellbunte Blumenbeete verteilt worden waren. In der Mitte stand ein großes, gelb gestrichenes Gebäude, zu dem ein hell geschotterter Kiesweg hinaufführte, um das Anwesen herum türmte sich eine hohe Ligusterkecke, die das Geschehen auf dem Grundstück offenbar den Blicken anderer Menschen entziehen sollte. Dies galt natürlich nicht für Krähen, die über solche albernen Menschlichtuereien nur lachen konnten.
Hierher waren die beiden Krähen den schwarzen Autos gefolgt, nachdem diese im Park das Menschenküken mitgenommen hatten. Sie waren immer der Straße entlang geflogen und den Autos gefolgt, bis sie schließlich in ein Viertel vor der Stadt gelangt waren, in dem die Abstände zwischen den einzelnen Häusern größer und die Bäume zahlreicher wurden.
Mutter und Sohn hatten sich kurz umgesehen und es sich dann auf einem Baum gemütlich gemacht, um das folgende Schauspiel aus nächster Nähe beobachten zu können. Jedenfalls hoffte Mutter Krähe, deren Sohn schon nach einigen Minuten begonnen hatte unruhig zu werden, dass es tatsächlich noch zu einem Schauspiel kommen würde. Die Menschen hatten sich mit dem fremden Küken ins Haus verzogen und sich seither nicht mehr blicken lassen.
Und natürlich war damit die Geduld ihres aufmüpfigen Sohnes endgültig überstrapaziert.
„Was heißt hier „Na bitte“?“ fragte er enttäuscht.
„Was soll an dieser armseligen Darbietung nun bitteschön besonders gewesen sein? Wo ist dein erfüllendes „Irgendwas“? Wozu um alles in der Walt haben wir DAMIT unseren Vormittag vergeudet? Verbringst du deine Zeit seit neuestem damit, fremde Küken in ihre Nester zurückzubringen? Was machen wir als nächstes? Verirrte Kaninchen bei ihren Eltern im Kaninchenbau abliefern? Wenn alle Krähen wie du denken würden, dann wäre unsere Art vermutlich schon lange ausgestorben. Weißt du was ich glaube? Ich glaube du kannst dich nicht damit abfinden, dass du langsam alt wirst. Und deshalb denkst du dir komische Geschichten aus, um dich bei den jungen Krähen irgendwie interessanter zu machen. Gib's auf Mutter, langsam wird es wirklich lächerlich! Ich habe nun Hunger und muss endlich etwas Essbares finden!“
Damit erhob er sich kopfschüttelnd vom Baum und flog über die Hecke davon.
„Du wirst schon noch sehen, dass ich recht hatte!“ rief ihm seine Mutter zornig nach.
„Du wirst schon noch sehen, zu was dieses Kind fähig ist. Aber junges Geflügel wie du glaubt ja immer, alles besser zu wissen!“
Denn natürlich hatte sie recht damit, dass es mit dem Menschenküken etwas Seltsames auf sich hatte. Oder etwa nicht? Zugegeben, auch sie verspürte langsam einen ordentlichen Appetit und spektakuläre Aktionen schienen hier heute nicht mehr zu erwarten zu sein. Doch was hieß das schon? Das Schicksal brauchte eben Zeit, viel mehr Zeit, als sich eine drei Monate alte Krähe vorstellen konnte.
Sie würde die Sache im Auge behalten und triumphierend das erfüllte Schicksal verkünden, wenn es denn endlich eintrat. Jedenfalls hoffte sie, dass es noch eintreten würde. Ihr geschwätziger Sohn würde sonst dafür sorgen, dass sie bei den jungen Krähen im Park noch monatelang eine Lachnummer wäre.
„Nun, nun,“ brummte sie. „Schon meine Mutter sagte immer, man soll keine fremden Eier ausbrüten. Schon gar nicht, wenn man nicht weiß, wer sie einem ins Nest gelegt hat.“ Und mit einem düsteren „Krah“ erhob sie sich vom Baum, um nach einem Mittagessen zu suchen.
Auf einige letzte, warme Oktobertage folgte ein nasser und kalter November. Es war Herbst geworden und der Winter näherte sich mit raschen Flügelschlägen. Längst war der Krähensohn erwachsen und suchte sich sein Futter alleine. Der Wind hatte das bunte Laub bereits von den Bäumen gefegt und die Krähen versammelten sich nun täglich im Park auf den kahlen Ästen, um Neuigkeiten auszutauschen. Alles ging seinen gewohnten Gang. Nur die alte Krähe fühlte sich sonderbar rastlos. Oftmals hatte sie keine Lust, wie sonst bei den anderen Krähen herumzusitzen und den üblichen Tratsch aus der Nachbarschaft zu hören. Etwas lenkte ihre Gedanken immer wieder zu dem seltsamen Menschenküken, das dort in der Villa vor der Stadt verschwunden war. Dann ignorierte sie die spöttischen Bemerkungen der anderen Krähen und starrte eine Zeit finster vor sich hin, ehe sie sich schließlich erhob und erneut die Stadt durchquerte, um sich vor den Fenstern des Menschenhauses niederzulassen.
Die Ehefrau des Ministers hatte allen Grund zur Freude. Die spontane Adoption des kleinen Findelkindes, das ihr im Sommer während der Einweihung des Denkmals im Park so unvermittelt in den Schoß gefallen war, hatte nicht nur dafür gesorgt, die allgemeine Popularität ihres Gatten schlagartig zu verbessern. Gleichzeitig hatte dieser öffentlich zelebrierte Schritt, verbunden mit einer größeren Spende für den Waisenfonds des Landes und einigen herzerwärmenden Interviews mit der überregionalen Presse, wie durch Zauberhand sämtliche Gerüchte über ihre angeblich kriselnde Ehe und diverse Affären ihres Ehemannes verschwinden lassen. Das rekordverdächtige Wahlergebnis, das die Partei ihres Mannes bei den Neuwahlen in diesem Herbst erzielt hatte, wurde in den Medien nicht zuletzt als eine Folge der großen Sympathien beschrieben, die ihr Mann als Minister dieser Regierung in der Bevölkerung genoss. Vier weitere Jahre an der Macht würden es ihm endlich erlauben, die lange fällige Erhöhung der Steuern mit voranzutreiben und an einigen längst überfälligen Sparmaßnahmen zu arbeiten. Woher sollte der gemeine Bürger auch wissen, welche unbezahlbaren Summen all diese sozialen Einrichtungen verschlangen, die schlichtere Gemüter für so unendlich wichtig halten mussten? Drogenberatungen, Anlaufstellen für minderjährige Schwangere, Obdachlose und sonstwie gescheiterte, Frauenhäuser – könnte man die Ausgaben für alle diese Einrichtungen nicht auf lange Sicht völlig einsparen, wenn es nur gelingen würde, die öffentliche Moral unter den Menschen dieser Stadt nachhaltig zu verbessern? Hieß die Unterstützung dieser Einrichtungen nicht erst, die Fehltritte dieser Gescheiterten zu legitimieren und so eher noch zu unterstützen und zu fördern? Die Frau des Ministers war fest davon überzeugt, dass nur etwas mehr Strenge im Vorfeld, etwas mehr moralische Härte gegenüber der Disziplinlosigkeit, das Scheitern dieser Existenzen zukünftig verhindern könnte. Und genau das, so hatte ihr Ehemann kürzlich erklärt, war der Weitblick, der dem durchschnittlichen Wähler schlichtweg fehlte. Einen Weitblick, zu dem er sich dafür völlig zu Recht berufen fühlte.
Ja, die Frau des Ministers hatte wirklich allen Grund, mit den Entwicklungen der letzten Monate zufrieden zu sein. Das große Glück, welches der kleine Junge mit den großen, dunklen Augen über ihr Haus mit der hübschen Gartenanlage und dem geharkten Kiesweg gebracht hatte, machte sie mild und geduldig. Ja, ihre Freude ging sogar so weit, dass sie täglich wesentlich mehr Zeit im Kinderzimmer verbrachte, als sie dies früher jemals bei ihren eigenen Kindern getan hätte. Doch diese waren nun schließlich fast erwachsen und gingen auf Internate im Ausland. Natürlich hatten sie und ihr Mann beim Einrichten des Kinderzimmers im ersten Stock der Villa nicht gespart. Teure Tapeten zierten die Wände des weitläufigen Raumes, dessen große Fenster einen herrlichen Blick auf die Grünanlagen an der Rückseite des Gebäudes boten. Ein Mobilè aus kostbaren, detailgenauen Fahrzeugminiaturen, ein Geschenk eines befreundeten Autofabrikanten, hing über der Wiege von der hohen Decke und fesselte die faszinierten Blicke des Kindes ebenso wie die seiner Besucher. Ein besonderer Blickfang war jedoch ein wertvoller, antiker Wandteppich mit Tiermotiven, das großzügige Geschenk eines ausländischen Ministerkollegen im Rahmen einer schwierigen diplomatischen Annäherung. Kunstvoll gewebte Pfauen, Fasane und Perlhühner tummelten sich mit Lämmern und Kaninchen auf der Wiese eines idyllischen Landschaftsbildes, durch die sich der silberne Faden eines Bachs zog. Alte Bäume mit detailgenau dargestellten Ästen und Blättern umgaben die Szene. Jedes Mal, wenn Frau Minister vor diesem Teppich stand, erfüllte alleine dessen ausladende Präsenz sie mit Stolz. Lediglich die finster blickenden Krähen, die in den gewebten Bäumen saßen, irritierten sie immer aufs Neue, sobald sie das Kunstwerk studierte und sie fragte sich jedes Mal, wer wohl die Idee gehabt hatte, den harmonischen Teppich mit diesen Aasvögeln zu verunstalten. Doch dann sah sie zur Wiege des Kindes und ließ ihren Blick weiter aus dem Fenster hinaus und über die Gartenanlage der Villa schweifen. Ja, das Zimmer im ersten Stock war für sie ein Raum geworden, den sie mit aufrichtiger und tiefster innerer Genugtuung betrat. Nichts ließ sie so sehr fühlen, was für ein guter, anteilnehmender Mensch, was für ein Vorbild für dieses ganze Land sie doch war, wenn sie jeden Nachmittag für ein oder zwei Stunden das Kindermädchen aus dem Zimmer schickte und an das Bettchen des Kindes herantrat, das sie dort mit neugierigen, großen Augen ansah.
Das einzige Ärgernis war eine eklige, krank aussehende Krähe, die seit einiger Zeit beinahe jeden Tag wie versteinert auf dem Fenstersims hockte und mit ihren finsteren Augen in das Zimmer zu glotzen schien. Die Ministergattin konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr der Vogel mit jedem Tag unangenehmer wurde, an dem er vor dem Fenster auftauchte.
„Husch!“ hatte sie einmal gerufen und versucht mit einem Besenstiel nach dem schmutzigen Tier zu hauen. Doch dieses war nur mit einem unbeeindruckten „Krah“ davon geflattert und nach einer halben Stunde wieder aufgetaucht. Seit jeher hasste die Ministergattin diese widerlichen Vögel und wollte keinen von ihnen sehen müssen, nicht in den Städten und schon gar nicht in ihrer eigenen Gartenanlage. Seit ihr im Sommer im Stadtpark eines dieser Viecher ihre goldene Haarspange gestohlen hatte, hatte sich diese Abneigung weiter verschärft. Schon lange wollte sie ihren Mann einmal darauf Einfluss nehmen lassen, dass die Krähen in den öffentlichen Parks dieses Landes jeden Winter abgeschossen wurden, um das Übel in den Griff zu bekommen. Und auch das Viech vor dem Kinderzimmerfenster würde schon noch dran glauben müssen. Dafür würde sie sorgen.
„Hatschi!“ machte die Krähe, die bereits seit zwei Stunden im strömenden Regen vor dem Fenster des Kinderzimmers saß. Sie wusste, dass sie besser auf sich achten sollte, wenn sie gut über den Winter kommen wollte. Doch entgegen der krähenhaften Vernunft, die sie über die Jahre jedem ihrer Küken immer wieder gepredigt hatte, flog sie nach wie vor jeden Tag zu der Villa vor der Stadt und schaffte es erst, sich vom Anblick des Menschenkükens loszureißen, wenn ihr Magen allzu vernehmlich nach etwas Essbarem verlangte. Vielleicht hatte sie manchmal selbst daran gezweifelt, dass es mit dem Menschenjungen etwas Besonderes auf sich hatte. Die Krähen im Stadtpark machten schon lange ihre boshaften Witze über sie und hielten sie für wunderlich, das war ihr völlig klar. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte von der Sache endlich loszukommen, überkam sie eine Enttäuschung, die ihr schlimmer erschien als jeder harte Winter und jeglicher Spott ihrer Artgenossen. Denn was, fragte sie sich dann jedes Mal, was hatte sie in ihrem Leben schon wirklich Großes getan? Nun gut, sie hatte Dutzende von Küken großgezogen, Küken die nun groß waren und sie hinter ihrem Rücken insgeheim für ihre Altersschrulligkeit belächelten. Sie hatte ihr Leben mit Futtersuche, Paarung, Nestbau, Brüten und immer neuem Schnäbelstopfen verbracht und war dabei alt geworden. Doch das war eben der Lauf der Welt und nichts, das sie in irgendeiner Form besonders machte. Mit welcher Tat würde sie in die Geschichten eingehen, die sich Krähen bevorzugt in kalten Wintern erzählten? Was wäre in fünf, in zehn Wintern von ihr geblieben? Wer würde sich an sie erinnern, wie an die legendären Krähen, die im Mittelalter bei den Galgen vor der Stadt oder an den Landstraßen der Menschenkriege große Taten vollbracht hatten und die noch heute die Erzählungen durchzogen? Was war sie mehr, als eine unbedeutende kleine Stadtparkkrähe, die man vergessen würde, wenn ihr nicht einmal in ihrem Leben die Chance zufallen würde, eine schicksalhafte Tat zu begehen? Und mit diesen Gedanken kehrte sie täglich zurück zu dem Fenster der Villa, durch das sie vom Fenstersims aus wieder und wieder mit düsteren Blicken das Menschenküken beobachtete, mit dem ganz sicher nicht alles in Ordnung sein konnte. Dass den Menschen nicht auffiel, wie es schrie. Wie nackt und rosig es unter den untauglichen, wasserundichten Fetzen war, in die sich Menschen, diese verkrüppelten Wesen ohne warme, dichte Federn, für gewöhnlich einhüllen mussten. Und welches unheimliche Eigenleben es mit der Zeit zu entwickeln begann. Nach einiger Zeit konnte es sich in seinem schaukelnden Holznest aufsetzen und wurde daraufhin von den Menschenfrauen jeden Nachmittag in eine lächerliche Konstruktion mit Gitterstäben gesetzt, in der es herumsaß und mit sinnlosen Gegenständen herumspielte, die man ihm in die Hand gab. Die Krähe war sich sicher, dass es sich dumm stellte, um seine wahren Absichten zu tarnen. Wenn es diese erst offenbaren würde, dann wollte sie die erste sein, die es allen gleich gesagt und die Prophezeiung verkündet hatte. Aber vielleicht hatten die Menschen ja doch bereits eine vage Ahnung seiner Gefährlichkeit entwickelt und setzten es deshalb, sobald es aufwachte, in diesen Käfig. Man konnte nie wissen. So saß die alte Krähe weiter jeden Tag am Fenster, mager, struppig und frierend, doch fast ohne es noch zu bemerken. Als eines Tages die ersten Schneeflocken auf ihr Gefieder fielen, sah sie nur kurz auf, um sich weiter ihren Betrachtungen zu widmen. Vielleicht wäre dies ihr letzter Winter, sehr wahrscheinlich jedoch ihre letzte Chance, etwas Ungewöhnliches zu vollbringen. Immer mehr sonderte sie sich von den anderen Krähen ab und traf sich kaum noch mit ihnen im Park. Langsam war sie dazu übergegangen, die wenige Nahrung, die sie zu sich nahm, in den Hecken um die Villa zu suchen und in manchen Nächten blieb sie einfach in einer Nische unter dem Fenstersims sitzen, damit ihr kein Vorkommnis im Haus entging, selbst wenn am Abend die hellblauen Vorhänge an den Fenstern zugezogen worden waren.
Es kam die vertraute Zeit, in der die Menschen Lichter in die Fenster stellten und mit dieser gewissen, erwartungsfrohen Eile durch ihre Häuser huschten. Auch im Zimmer des Menschenkükens wurden nun jeden Nachmittag Lichter angezündet, wenn die ältere der beiden Frauen mit den streng sitzenden Kleidern und den hohen Schuhen das Kind besuchte. Jedes Mal, wenn sie hereinkam, ging sie zu einem geflochtenen Kranz aus Tannenzweigen, der auf dem Tisch platziert war und zündete ein oder zwei der Lichter an, ehe sie nach dem Menschenküken in seinem Gitterkäfig sah. Manchmal warf sie der Krähe dabei auch einen merkwürdigen Blick zu, als ob auch sie eine Vorahnung von drohendem Unheil hätte.
Eines Tages schließlich, als bereits drei Lichter auf dem Kranzgebilde im Zimmer brannten, saß die Frau aus dem Park vor dem Käfig des Menschenkükens und schwenkte ein lächerliches Stoffding mit schlapp herumwedelnden Armen und Beinen herum. Sie wandte den Kopf, als plötzlich der Mann in der elsternfarbenen Aufmachung eintrat. Es schien etwas Besonderes geschehen zu sein. Nach einem kurzen Wortwechsel sprang die Frau hektisch auf und eilte mit dem Mann hinaus, ohne weiter auf das Menschenküken zu achten. Das lappige Stoffding warf sie dabei achtlos auf den Tisch, so dass seine Arme und Beine über dessen Rand baumelten. Mit großen Augen sah das Menschenjunge zum Tisch und begann leise zu weinen. In einer trägen, empfindungslosen Starre, in die sie seit Kurzem häufiger beim Beobachten verfiel, sah die Krähe zum Fenster herein. Sie musste kurz weggenickt sein, denn ein lauter Schlag riss sie aus ihrer Trance. Angestrengt richtete sie ihren Blick wieder auf das Fenster. Was für große Augen machte sie, als sie sah, dass das Menschenküken aus seinem Käfig herausgefallen war, der umgekippt auf dem Boden lang. Es verzog das Gesicht wie zum Weinen, entschloss sich dann jedoch eines Besseren und krabbelte wie ein dicker Käfer auf Händen und Knien auf den Tisch zu, von dem die Teile des Stoffdingens über der langen Tischdecke herabbaumelten. Gebannt beobachtet die Krähe, wie das Menschenküken sich auf die Knie setzte und die Arme ausstreckte, als wolle es ein dämonisches Ritual abhalten. Es streckte sich, und nur halb gelang es ihm, sich weiter zu strecken. Trotzdem erwischte es ein Bein des Stoffdings, ehe es das Gleichgewicht verlor und rückwärts umfiel. Es quiekte jedoch nur verdutzt, drehte sich auf den Bauch und versuchte dabei, sich am Tischtuch hochzuziehen. Mit einem Ruck geriet das Tischtuch ins Rutschen, der Lichterkranz wanderte zur Kante, bekam Übergewicht und glitt vom Tisch. Brennend fiel er nur knapp neben dem Menschenküken zu Boden. Doch dieses krabbelte unbeeindruckt, das Stoffding hinter sich herziehend, in Richtung der offenstehenden Tür davon. Atemlos erstarrte die Krähe auf ihrem Fensterplatz. Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe das heruntergefallene Tischtuch mitsamt dem Lichterkranz brannte und auf dem Fußboden ein feuriges Knäuel bildete, das rasch um sich griff. Wenig später brannten die himmelblauen Gardinen und verwandelten das Zimmer in ein loderndes, dämonisches Bild des Grauens. Dies war der Moment, in dem die Krähe das Gefühl hatte, aus ihrer Erstarrung zu erwachen. Ihr Herz pulsierte heftig unter dem schwarzen Gefieder und ihre Gedanken rasten. Es war geschehen! Es war geschehen! Es war schließlich doch noch geschehen! Das Menschenküken, rätselhaft und unheilvoll, ausgesetzt, alleingelassen und schicksalhaft aufgefunden, hatte seine Herkunft, seine Bestimmung, seine wahre, unheilbringende, schicksalhafte Botschaft offenbart. Aufgeregt warf sie sich vom Fenstersims und breitete euphorisch die Flügel aus. Ein prachtvoller Aufwind hob sie hoch und trug sie durch die beginnende Dämmerung davon, über die Hecken des Gartens und die Mauer, über Straßen, Häuser und Parkplätze. Endlich sah sie die Bäume des Stadtparks in der Ferne vor sich auftauchen.
In dem allgemeinen Trubel, der an diesem Abend vor der Villa des Ministers herrschte, fiel wohl den wenigsten Anwesenden der Krähenschwarm auf, der seltsamerweise fast zeitgleich mit den Rettungskräften über dem Garten auftauchte, unvermittelt zur Landung ansetzte und sich in Grüppchen auf den umstehenden Bäumen verteilte. Aufgeregt krächzend steckten die Krähen die die ganze Nacht lang ihre Köpfe zusammen und schienen die Vorgänge am Haus wie die Zuschauer eines spektakulären Theaterstücks zu beobachten. Erst im Morgengrauen erhoben sich die großen schwarzen Vögel von den Ästen und verschwanden in Richtung Stadt. Doch was sie besprachen, blieb selbst den findigen Vertretern der Presse verborgen, die sich in dieser Nacht mit Fotokameras und unzähligen Fragen zum Geschehen zwischen die Einsatzwagen zu drängen versuchten.
Der Minister und seine Frau standen in Decken gehüllt bei einem Rettungswagen und beobachteten, wie die Feuerwehr sich nach Kräften bemühte, das brennende Gebäude zu löschen. Die Frau trug ihr Adoptivkind auf dem Arm, das seelenruhig schlief, während sie schluchzend in die Flammen starrte, die aus den Fenstern im ersten Stock schlugen. Erst nach einigen Stunden konnte der Brand endgültig unter Kontrolle gebracht werden. Als der Morgen dämmerte und nur noch dünne Rauchfähnchen aus den geborstenen, schwarzen Fensteröffnungen wehten, erhob sich ein Schwarm Krähen aus den Bäumen rund um die Villa und flog wie eine dunkle Wolke langsam dem Morgen entgegen. Nur die Gattin des Ministers schreckte zusammen, als sie hinter ihrem Rücken das Gekrächze vernahm. Mit aufgerissenen Augen und einer Gänsehaut sah sie die schwarzen Vögel am heller werdenden Himmel langsam zu kleinen Punkten in der Ferne werden.
Ausschnitt aus einem Zeitungsbericht:
Brand in Ministervilla wirft weiterhin Fragen auf
Nach einem schweren Brand in der Villa des Ministers F. in der Nacht zum Dienstagabend konnten einige Fragen noch immer nicht abschließend geklärt werden. Laut Angabe der Ermittler ging der Brand offenbar von einem unbeaufsichtigten Adventskranz aus, der ein Tischtuch entzündete. Das Feuer breitete sich rasch auf dem gesamten Stockwerk aus und griff von dort aus auch auf Teile des restlichen Gebäudes, ehe es der Feuerwehr gelang, die Flammen unter Kontrolle zu bekommen. Das genaue Geschehen des Vorfalls konnte bisher nicht abschließend rekonstruiert werden. Die Polizei geht derzeit jedoch nicht von Brandstiftung aus und wollte sich ebenso nicht zu dem Verdacht äußern, dass es sich um einen politisch motivierten Akt handeln könnte. Die Vermutung eines politischen Anschlags war im Zusammenhang mit einem äußerst wertvollen antiken Webteppich aufgekommen, der bei dem Brand vollständig zerstört wurde. Bei diesem handelte es sich um das Geschenk eines Abgesandten aus A., der Minister F. im Juni zur Aufnahme der als äußerst schwierig geltenden diplomatischen Beziehungen besucht hatte.
Die Schenkung des Museumsstücks, das in der Bevölkerung vielfach als Teil des nationalen Erbes von A. gesehen worden war, hatte seinerzeit in den konservativen Kreisen des Landes für massive Proteste gesorgt. Die Regierung von A. kündigte daher aufgrund der Zerstörung des Teppichs gestern die Absicht an, in den nächsten Tagen eigene Ermittler zur Klärung des Vorfalls einfliegen zu lassen. Der Minister erklärte am gestrigen Abend in einem Interview, dass er die diplomatischen Beziehungen zu dem Land hierdurch nicht gefährdet sehe. Die Höhe des entstandenen Sachschadens an der Villa des Ministers ist noch unklar. Die Restauration wird nach bisherigen Einschätzungen einige Monate in Anspruch nehmen, in denen das Gebäude größtenteils unbewohnbar ist. Der Minister, seine Familie und ein Kindermädchen erlitten leichte Rauchvergiftungen und halten sich derzeit in einer temporären Unterkunft auf.
Die alte Krähe sah neugierig über ihre Schulter, als es hinter ihrem Rücken leise flatterte und ihr jüngster Sohn sich neben ihr auf dem Ast niederließ.
„Na?“ fragte er belustigt und sah sie zwinkernd von der Seite an.
„Na?“ fragte sie zurück.
„Bist du zufrieden, dass du deinen Willen wie immer doch noch gekriegt hast?“
„Ohne Zweifel! Schließlich wusste ich immer, dass ich recht hatte. So musste ich nur warten, bis die Wahrheit über das Menschenküken schließlich doch noch ans Tageslicht kam. Aber manche Dinge versteht man eben nur mit Geduld. Und Warten, das lernen die meisten Krähen erst im Alter. Du wirst schon noch sehen mein Sohn.“
Der Krähensohn rollte die Augen.
„Mag sein. Dafür sitzen junge Krähen auch nicht den halben Winter frierend vor einem fremden Fenster herum,“ sagte er mit einem Seitenblick auf ihren mageren, zerzausten Körper. Aber schön für dich, dass du zufrieden bist. Sie reden alle nur von dir und wollen dir die Goldene Feder für Schicksalsboten verleihen, die zuletzt vor über 50 Jahren vergeben wurde.“
Die alte Krähe nickte. Sie konnte wirklich stolz sein.
„Was wäre eigentlich, wenn das Menschenküken das Haus doch nur aus Versehen oder durch einen Zufall in Brand gesteckt hätte?“ fragte der Sohn plötzlich.
Entrüstet sah sie ihn an: „Es gibt keine Zufälle! Nicht im Leben eines Schicksalsboten!“
„Aha,“ machte ihr Sohn leise und trippelte zur Seite, um einigen anderen Krähen Platz zu machen, die seiner Mutter ihre Bewunderung aussprechen wollten und sie seit Tagen mit immer neuen Fragen überhäuften. Sollte es so sein.
Einem plötzlichen Schuss folgte empörtes Krächzen und Schreien von allen Seiten. Als der erste schwarze Vogelkörper vom Baum stürzte, erhoben sich alle Krähen panisch, um sich vor dem menschlichen Angriff so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen und ihre Federn zu retten. Auch die alte Krähe wollte wegfliegen. Doch da ihr erst jetzt auffiel, wie schwach sie diesen Winter geworden war, schaffte sie es nicht schnell genug. Es war nur ein kurzer Knall. Getroffen fiel sie vom Baum und stürzte. Doch ehe sie den Boden erreichte, begann sie zu schweben und glitt sanft davon. Verwundert bemerkte sie, dass sie ohne ihre Flügel zu benutzten und völlig ohne Anstrengung direkt in die Wolken flog. Der Park mit seinen Bäumen und den anderen Krähen verschwand aus ihren Augen. Der anfänglichen Verwunderung wich das Verstehen. Sie erkannte mit einem Mal beruhigt, dass sie ihren Weg bereits wusste – er führte zum Olymp der unsterblichen Schicksalsboten.
Birgit Schulz 07/2011-09/2013
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2015
Alle Rechte vorbehalten