Langsam machte er sich wirklich Sorgen um Mimi. Fast zehn Tage war die kleine graue Tigerkatze nun schon spurlos verschwunden. Die alte Schatztruhe, in der er es ihr mit einem purpurfarbenen Hermelinmantel warm und gemütlich gemacht hatte, stand verlassen in der Ecke der Höhle. Der kleine Fressnapf, eine Goldschale aus einem königlichen Teeservice, in den Arthur ihr nach wie vor jeden Tag die besten Stücke von Fischen und Hühnchen legte, blieb unberührt und machte ihn schwermütig.
Am schlimmsten dabei war das unbestimmte Gefühl, ihr Verschwinden könne irgendetwas mit ihm zu tun haben, und eine Mischung aus Schuld, Angst und Einsamkeit wälzte sich seit Tagen so rumorend durch seine mächtigen Eingeweide, dass die Bauern im Tal aufs Feld gerannt waren, um vor dem drohenden Unwetter ihre Ernte einzufahren.
Arthur hatte versucht sich abzulenken, während er weiter wartete. Und am besten konnte Arthur sich für gewöhnlich ablenken, indem er seine Schätze zählte. Zuerst zählte er alle Goldstücke und häufte sie, getrennt nach Währungen und Epochen, in einer Ecke seiner Höhle sorgfältig zu unzähligen Türmchen auf. Drei Tage tat er nichts anderes und als er endlich damit fertig war, nahm er sich die Silberstücke vor. Er polierte erst jedes einzeln und baute dann vier Tage lang eine mächtige Festung aus Münzen rund um die Goldtürmchen. Schließlich holte er die Edelsteine aus ihren Truhen, sortierte sie einen ganzen Tag lang nach Farben und Größen und fing am nächsten Tag noch einmal von vorne an, um sie doch lieber systematisch nach Form und astrologischer Bedeutung zu ordnen. Zuletzt besah er sich mit größtmöglicher Sorgfalt die Schmuckstücke und sonstigen Wertgegenstände und breitete sie in der Höhle aus. Doch lange ehe er damit fertig geworden war, hatte er sich so eingebaut, dass er keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnte. Und als er versuchte auf Zehenspitzen aus seiner Höhle zu kommen, trat er versehentlich in etwas Weiches und sah, dass es Mimis Schlaftruhe war, in der er mit seinem Hinterfuß feststeckte. Da holte ihn alles ein und Tränen liefen ihm so über sein ledriges, altes Drachengesicht, dass das Feuer in seiner Kehle erlosch und nur noch stinkende Rauchwölkchen aus seinem Maul quollen, die düster die Spitze des Berges vernebelten.
Arthur hatte sich so sehr ein Haustier gewünscht. Schon 100 Jahre hatte er darüber nachgedacht, wie er seiner Einsamkeit auf diesem öden, kahlen Berg endlich ein Ende machen könne. Und eines Tages, als er gerade einen Bergwanderer mitsamt seinem Hund verspeist hatte, war es ihm wie abgeschabte Schuppen vom Panzer gefallen: Er brauchte ein Haustier, das ihm Gesellschaft leistete. Dann wäre er nicht mehr einsam.
Das Problem war nur: Es musste ein Haustier sein, das er nicht früher oder später gedankenverloren verspeisen würde. Ein Hund kam also schon einmal nicht in Frage. Er konnte Hunde ganz gut leiden, doch Hunde waren eben alles in allem auch ausgesprochen schmackhaft. Und Jungfrauen waren heute ziemlich aus der Mode gekommen. Arthur mochte auch Schildkröten recht gerne. Da sie wie er Reptilien waren, verspürte er mit ihnen eine gewisse Verbundenheit - abgesehen von ihrer merkwürdigen Neigung, nur Gemüse zu essen, was sicher der Grund ihrer Langsamkeit war. Doch Schildkröten verweigerten im kühlen Bergklima für gewöhnlich jegliche Unterhaltung und blieben im Panzer, was Arthur schließlich zu der Überlegung veranlasste, dass er sich dann ebenso gut mit einer goldenen Teekanne aus seinem Drachenschatz unterhalten könne.
Schließlich kam er auf die Idee mit der Katze. Weil es ihn irgendwie merkwürdig berührte, wie die kleinen pelzigen Dinger sich die Pfoten leckten, hätte er nie eine von ihnen auffressen können. Er hatte das stets für eine etwas peinliche Schwäche gehalten, über die er lieber mit niemandem redete – hätte er denn jemandem zum Reden gehabt – jetzt hingegen schien es sich als echter Vorteil zu erweisen. So entschied er sich also für eine Katze und holte Mimi zu sich in die Drachenhöhle.
Natürlich verwöhnte Arthur seine kleine Untermieterin, und solange Mimis Fressnapf voll war, schien es diese in der Tat auch wenig zu stören, dass ihr Wirt ein ausgewachsener Bergdrache war. Sie schnurrte zufrieden, rollte sich keck auf fürstlichen Mänteln zusammen und thronte wie eine Herrscherin auf samtbezogenen Thronsesseln, während sie genüsslich mit der Zunge ihr Fell säuberte. Eine kurze Zeit hatte Arthur die netteste Gesellschaft, die er sich denken konnte und schätzte sich glücklich - wäre da nicht dieses leidige Problem mit den Haaren gewesen.
Anfangs dachte Arthur, er habe sich einen Schnupfen geholt, doch war er so glücklich mit seinem Haustier, dass er sich nicht weiter wunderte. Zwar hatte seine robuste magische Drachenkonstitution seit 300 Jahren keine Erkältung mehr heimgesucht, aber im kühlen Bergklima konnte das eben passieren. Er nieste so heftig, dass sich kleine Steinschläge lösten und ins Tal herabpolterten, seine Augen tränten und er fühlte sich elend. Daher verordnete er sich einige Tage in der Höhle, wo er vor der kühlen Bergluft geschützt wäre. Mimi schnurrte und maunzte unschuldig, verteilte Haare auf sämtlichen Samtpolstern und leistete ihm Gesellschaft. Leider schien sein Problem in der Höhle eher schlimmer zu werden und sein Niesen hallte als gigantisches Echo von den Bergwänden wider. Dann geschah das Unglück: Während er leidend und schneuzend herumlag, schlich die Katze sich heran und wünschte gekrault zu werden. Arthur versuchte noch das Niesen zu unterdrücken, doch es war bereits zu spät: Ein kleiner Feuerball, der in seinem Hals festgesteckt hatte, schoss aus seinem Maul, traf Mimis Rücken und setzte ihr Fell in Brand.
Natürlich war es ein Versehen gewesen. Es war nur zu ihrer Rettung geschehen, dass er nach ihr geschlagen und schließlich gepackt und mit dem Kopf voran in den eiskalten Bergbach getaucht hatte, um die Flammen zu löschen. War es ihm nicht auch gelungen, sie, ein wenig angekohlt vielleicht, aber immerhin lebendig, wieder aus dem Wasser hervorzuziehen, obwohl sie ihre Krallen unablässig in seine vorderen Gliedmaßen bohrte?
Es tat ihm so entsetzlich leid, das war gewiss. Gewiss war leider auch, dass Mimi ihm nicht glaubte. Buckelnd und fauchend ließ sie sich von keiner noch so guten Absicht überzeugen. Einige boshafte Krallenhiebe auf der Nase ließ sie ihm als allerletztes Andenken zurück – dann war sie wie der Blitz zwischen den Felsen verschwunden.
Arthur hatte gewartet und gehofft sie würde zurückkommen. Er hatte ihren Namen gerufen, jeden Tag ihre Schüssel mit frischem Futter gefüllt und jeden Winkel rund um seine Höhle nach ihr abgesucht – doch Mimi blieb verschwunden. Er zählte und sortierte seine Schätze, suchte erneut und kehrte erfolglos zurück. Nach zehn Tagen schließlich schwand seine Hoffnung, sie würde von alleine zurückkehren. Er verging vor Sorge, ihr könnte etwas zugestoßen sein. Womöglich hatte ein Wolf oder Bär sie gefressen. Vielleicht ging es ihr nach dem Unfall schlecht und sie hatte den Weg zurück zur Höhle nicht mehr alleine zurücklegen können.
Als er es nicht mehr aushielt, beschloss er schließlich, sie bei den Menschen zu suchen.Vielleicht wurde sie bei ihnen gegen ihren Willen festgehalten und hoffte darauf, von ihm befreit zu werden. Und so schnell würde er nicht aufgeben.
Bei Anbruch der Nacht glitt von seinem Felsen und schwebte leise hinab, bis er das Dach der ersten Berghütte unter sich auftauchen sah.
Am Tag war Arthur ein wenig kurzsichtig, doch in der Nacht entging ihm keine Regung – genau wie Mimi. Er unterdrückte bei diesem Gedanken ein Schniefen und landete leise zwischen den Bäumen am Rand der Almweide, wo er das Geschehen rund um das Haus im Blick behalten konnte, ohne entdeckt zu werden. Gerade jetzt wünschte er am allerwenigsten, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken.
Die Kühe auf der Weide begannen unruhig zu rumoren, als sie die Anwesenheit des magischen Wesens weniger witterten als zu verleugnen versuchten. Denn im Gegensatz zu Menschen waren Kühe rationale Wesen, die nicht an Drachen glaubten – jedenfalls nicht, ehe sie von einem aufgefressen wurden – und wahrscheinlich war das auch ein Glück für sie. Eine ganze Weile wartete Arthur still im Finstern und fragte sich ab und an, auf was er eigentlich wartete. Doch es schien, als habe seine Intuition nicht getrogen.
Er schreckte auf, als eine Tür laut in den Angeln quietschte und ein warmer Lichtschein auf den Platz vor der Hütte fiel, in dem sich die Umrisse eines Menschen erkennen ließen. Der Mensch, es musste wohl eine Frau sein, bückte sich und stellte etwas auf den Boden, wobei sie ein seltsames Geräusch von sich gab. Es dauerte nur einige Sekunden, ehe ein kleiner dunkler Schatten leichtfüßig auf sie zu gelaufen kam und sich an ihren Beinen rieb. Arthur spürte, wie er zu zittern begann, als die Frau sich bewegte und ein Lichtschein auf dem grauen Fell der Katze einige unschön verkohlte Stellen zeigte. Die Katze dort, das war Mimi, seine Mimi, seine kleine Freundin, die nun zu den Menschen übergelaufen war und nicht daran dachte, zu ihm zurückzukehren.
Zum Fels erstarrt duckte Arthur sich zwischen die Bäume, unfähig sich zu rühren. Was hatte sie bei diesen Menschen, was sie bei ihm nicht gehabt hatte? Was war es, das sie wegen eines kleinen Versehens zur Verräterin werden ließ?
Arthur grübelte, zweifelte, grämte sich – und dann fiel sein Blick auf die Umrisse einer der Kühe, die still in der Dunkelheit standen. Das war die Lösung! schoss es ihm durch den Kopf. Katzen liebten Milch! War es nicht so, das alle Katzen ganz versessen darauf waren? Nun hatte Mimi bei ihm immer bestes Futter bekommen. Doch Milch hatte er ihr nicht bieten können. Warum war er darauf bloß nicht früher gekommen? Mimi wollte Milch, das war es, was ihr bei ihm gefehlt hatte. Nun, wenn es nur das war, dann sollte sie die eben bekommen. Und mit einem sachten Flügelrauschen schoss er zwischen den Bäumen hervor, packte eine überraschte Kuh und flog mit ihr davon.
Zutiefst unglücklich nagte Arthur bald darauf den letzten Knochen ab und legte ihn auf das Häufchen abgenagter Knochen zu seinen Füßen. Es war vorbei. Mimi würde nicht zurückkommen. Tagelang hatte er jeden Morgen eine frische Schale mit Milch vor der Höhle stehen lassen, doch nicht einmal ihre Schwanzspitze hatte er zu Gesicht bekommen.
Eigentlich war die Kuh eine sehr nette Gesellschaft gewesen.
Nach der ersten Panik hatte sie sich etwas beruhigt und beschlossen das beste aus der Situation zu machen. Da sie, wie alle Kühe, sehr rational veranlagt gewesen war, war es ihr unmöglich erschienen, dass ein Drache mit ihr durch die Luft geflogen war und sie hier abgesetzt hatte.
Daher hatte sie nur noch dann und wann irritiert gemuht, an den kargen Gräsern, die im Umfeld der Drachenhöhle wuchsen gezupft und versucht den Anblick der steilen Felsen zu meiden, der ihr offensichtlich Schwindel verursacht hatte.
Eine Weile hatte Arthur überlegt, ob er sie nicht als Gesellschaft behalten sollte, wenn Mimi nicht zurückkäme. Dann hatte er Appetit bekommen und sich nicht beherrschen könne. Und jetzt war der letzte Knochen abgenagt und er war so einsam wie zuvor. Noch einsamer, wie es schien, da er ja nun einmal erlebt hatte, wie es war, einmal nicht einsam zu sein.
Arthur hasste sich. Alles, wirklich alles, musste er zerstören. Nie konnte er etwas richtig machen. Es war kein Wunder, dass niemand bei ihm leben wollte. Warum musste ihm zu allem Unglück ausgerechnet das einzige Tier, auf das er keinen Appetit hatte, Schnupfen und rote Augen verursachen? Warum musste er auch gerade als Drache geboren sein, gesegnet mit einer robusten Gesundheit und einer ansehnlichen Lebenserwartung von 3.000 bis 4.000 Jahren und dabei verdammt zu ewiger Einsamkeit auf einem Felsen? Andere Drachen hatte er nie kennengelernt. Er war vor knapp 1.000 Jahren im Haus eine Magiers aus dem Ei geschlüpft, den er verspeist hatte, als er so groß geworden war, dass er mit dem Kopf gegen die Decke des Hauses zu stoßen begann. Woher er gekommen war und ob es andere Drachen außer ihm gab, hatte er nie herausfinden können und er hatte sich oft gewünscht, mit dem Verspeisen des Zauberers bis zur Klärung dieser Fragen gewartet zu haben. Immerhin hatte der ihm Sprechen und Lesen beigebracht, ihm gezeigt wie man Feuer machte und eine Kuh molk und ihm den Namen Arthur gegeben. Doch dann war Arthurs unstillbarer Appetit erst seiner Kuh und dann ihm zum Verhängnis geworden. In den Märchen- und Sagenbüchern des Zauberers hatte Arthur viel über Drachen gelesen, allerdings wenig gefunden, was ihm weiterhalf. Er hatte Geschichten von Drachentötern wie Siegfried oder Georg gelesen und war zu dem Schluss gekommen, dass die meisten Menschen da draußen, jedenfalls die ohne magische Fähigkeiten, ihn hassen mussten. Genau genommen mochten ihn auch die meisten magischen Wesen nicht – und wenn es doch vorkam, dann hatten sie meist nicht lange Gelegenheit dazu.
Einsamkeit war also das Schicksal, das ihm beschieden war. Nie in diesem ganzen langen Drachenleben würde jemand bei ihm bleiben wollen. Bei diesem Gedanken weinte Arthur - und seine gewaltigen Tränen lösten einen Steinschlag aus, der im Tal eine Scheune zertrümmerte und drei Bauern erschlug.
Einige Tage saß Arthur in tiefer Trauer auf seinem Felsen und starrte düster vor sich hin. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dieses Leben für ihn keinen Sinn mehr machen würde und wünschte sich zu sterben. Nichts machte ihm mehr Freude, alle seine gesammelten Schätze, an denen früher sein Herz gehangen hatte, waren ihm gleichgültig geworden. Leider hatte er eine allzu hohe Lebenserwartung – und drachentötende Helden, die daran etwas ändern würden, gab es heute soweit er wusste keine mehr. So beschloss er, einen anderen Weg zu finden, wie er aus dem Leben scheiden konnte.
Mit einem Seufzer erhob er sich schließlich in der Dämmerung von seinem Felsen und flog ohne rechtes Ziel davon.
Müde flog er über goldene Weizenfelder und dunkle Wälder, über Flüsse und Seen, schwebte traurig über kleine Dörfer mit winzigen Häusern und große Städte mit ihren mächtigen, in den Himmel ragenden Bauten, wo Menschen ihrer Arbeit nachgingen und mit ihresgleichen lebten, scherzten und stritten. Nur er gehörte nirgendwo hin, was nirgendwo zuhause, wo ihn jemand verstand.
Nach einer Weile sah er am Horizont einen spitzen Turm aufragen. Er flog darauf zu und erkannte bald, dass es sich um den Kirchturm eines Dorfes handelte – genau genommen den spitzesten Turm, den er auf dem Dach einer Kirche jemals zuvor gesehen hatte. Und als er sich in tiefem Lebensüberdruss dem Dorf näherte, kam ihm die Idee, dass dieser spitze Turm seinem traurigen Dasein ein Ende bereiten sollte. Nein, er hatte keine Angst mehr zu sterben. Er irgnorierte die Schreie der Menschen, die ertönten, als am hellen Tag als düsterer Schatten über dem Dorf auftauchte. Er würde keinem von ihnen jemals wieder etwas tun. Und mit einem letzten beherzten Flügelschlag wollte er sich gerade in die spitzige Spitze des Turms fallen lassen, als er eine Bewegung auf dem Dach des Turms wahrzunehmen glaubte, die ihn jäh in der Luft innehalten und dem Turm seitlich ausweichen ließ. Träumte er, oder hatte er auf dem Kirchturm gerade eine Katze gesehen? Er konnte nicht anders: Die Vorstellung eine Katze zu töten war selbst angesichts seines eigenen bevorstehenden Todes undenkbar. Bei seinem abrupten Ausweichmanöver verlor er das Gleichgewicht, zappelte einen kurzen Moment hilflos in der Luft und fiel dann wie ein Mehlsack auf das Kirchendach.
Niemals würde Pater Mühsal den Tag vergessen können, an dem der Antichrist auf seine Kirche stürzte. Als dunkler Schatten auf der Suche nach unheiligen Umtrieben hatte er sich dem Dorf genähert, um Unheil zu stiften. Doch der heilige Ort, der dem Gefallenen unerträglich ist, hatte ihn auf seinem Flug gestört. Kaum hatte er die Präsenz von Gottes Haus gewittert, hatten seine Flügel ihn über dem Turm der Kirche im Stich gelassen und mit einem Aufschrei war er in das Dach der Kirche gestürzt.
Doch das Böse rang mit dem Guten wie die Nacht mit dem Tag: Unter dem Aufprall des gewaltigen Wesens brach der Dachstuhl zusammen - der Unheilige fiel, umgeben von einer Wolke aus Holzbalken, Splittern und Dachziegeln, durch das Dach und landete auf dem Boden des vorderen Kirchenschiffs. Da lag das Wesen der Finsternis inmitten der zertrümmerten Hallen des Herrn und japste, mehr tot als lebendig und doch nicht endgültig besiegt, mit böser Absicht, ringend um die Oberhand über die Welt der Menschen.
Pater Mühsal, im Pfarrhaus in tiefes Gebet versunken, hörte das Getöse und handelte als Kämpfer im Namen des wahren Gottes. Er griff sein Gebetbuch und riss das silberne Kreuz von der Wand, gewappnet für die Schlacht mit dem Antichristen.
Im Laufschritt und mit wehender Soutane erreichte er die Kirche. Und da sah er ihn: Fürchterlich hob sich der schuppige Leib des Untiers aus den Trümmern des Kirchendachs. Ächzend und noch halb benommen hob es seine Glieder und versuchte sich aus dem Schutt der heiligen Stätte zu befreien, doch die Heiligkeit des Ortes hatte seine Kräfte geschwächt.
„Satan, weiche von diesem Ort!“ rief Mühsal entschlossen und riss das Kreuz in die Höhe, während der Bote des Gefallenen mit stumpfem Blick und hängenden Flügeln rumorte und schnaufte. Doch Mühsal ließ sich nicht beirren und trotzte der Macht des Bösen.
„In nomine patris...“ setzte er an und ließ sich nicht von den Einsatzkommandos der Polizei und der Feuerwehr beirren, die mit heulenden Sirenen anrückten. Männer in Helmen und schwarzen Anzügen rannten mit Maschinengewehren im Arm an ihm vorbei und umzingelten den geschwächten Antichristen.
Doch dies, Pater Mühsal wusste es besser, war ein Feind, gegen den weltliche Waffen wirkungslos waren, deshalb betete er lautstark weiter, auch als sich in seinem Rücken eine Gruppe wütender Menschen mit Transparenten versammelte, die gegen die Erschießung des Untiers protestierten und „Recht auf Leben“ oder „Rettet den letzten seiner Art“ riefen, während dieses weiter von dem Einsatzkommando in schwarz umzingelt wurde.
„Bleiben Sie zurück!“ rief wütend der Einsatzleiter und ließ einige der Demonstranten abführen, die versucht hatten, über die eilig angebrachte Absperrung zu steigen und in die Kirche zu gelangen. Sie waren, Pater Mühsal war das völlig klar, bereits dem großen Verführer zum Opfer gefallen, deshalb schloss er in seine Gebete wenigstens anstandshalber einige kurze Zeilen über die wünschenswerte Errettung ihrer Seelen ein.
Die Demonstranten, Mitglieder einer gewissen Organisation, deren Namenskürzel sicherlich für „Partnereinheit der Teufel und Antichristen“ stand, blieben davon völlig unbeeindruckt. Stattdessen rissen sie sich nun, angestachelt durch die Verhaftung ihrer Brüder und Schwestern und um gottlose Solidarität mit ihrem Anführer zu demonstrieren, die Kleider vom Leib und tanzten in sündiger Nacktheit um die heilige Stätte, drohend ihre Transparente schwingend.
Mit tränenden Augen sank Pater Mühsal in die Knie, seine Stimme lauter und lauter in den Himmel richtend und den Herrn um Hilfe anflehend, als mit quietschenden Reifen ein Lastwagen von gigantischen Ausmaßen vor der Kirche auftauchte. Der Direktor des Zoologischen Gartens, ein Zootierarzt mit einem Betäubungsgewhr und mehrere kräftig aussehende Zoowärter sprangen aus dem Führerhaus, rannten auf den Einsatzleiter des Polizeikommandos zu und redeten wild gestikulierend auf ihn ein.
„Schnell, einen Arzt,“ rief jemand. „Ich glaube der Pater ist in Ohnmacht gefallen!“
Eine Katze war das erste was Arthur sah, als er mit schmerzendem Schädel erwachte. Es war eine große Katze, selbst für Arthurs Verhältnisse. Und sie hatte Streifen diese Katze. Keine grauschwarzen wie Mimi, sondern rotbraune Streifen, doch Arthur dachte, dass sie ihn, jetzt mal abgesehen von ihrer erstaunlichen Größe, irgendwie sehr an Mimi erinnerte. Auch wenn er jeden einzelnen Knochen im Körper spürte, stieg eine leichte Rührung in ihm auf, als er sah, wie das Tierchen sich auf diese possierliche Art und Weise die Pfoten leckte, wie er sie nur von Katzen kannte.
Die große Katze saß bewegunglos auf den Hinterbeinen und starrte ihn ohne zu blinzeln mit hypnotischen Blicken an.
„AAH!“ machte Arthur kläglich und versuchte sich zu rühren.
„Na, endlich ausgeschlafen?“ fragte die Katze keck.
„Haut ganz schön rein, so eine Betäubungsspritze, nicht wahr? Und ich schätze mal, dass sie dir die Dosis für 15 Elefanten verabreicht haben dürften.“
„Wer bist du?“ murmelte Arthur benommen.
„Oh, aber natürlich, bitte vielmals um Entschuldigung. Mein Name ist Aljoscha. Ich bin ein Tiger. Ein Sibirischer Tiger um genau zu sein – und reichlich stolz darauf.“
Natürlich, ein Tiger. Arthur hatte vor langer Zeit in einem der Bücher des Zauberers von diesen Tieren gelesen, die wie zu groß geratene Hauskatzen aussahen. Doch wo kam dieser Tiger plötzlich her? Oder besser: Wo war er hier gelandet, da er offensichtlich nicht tot war? Ehe er fragen konnte, kam Aljoscha ihm zuvor:
„Herzlich Willkommen im Zoologischen Garten von P., dem Mädchenpensionat für bedrohte Arten. Tierärztliche Betreuung und Vollpension inklusive, Langeweile garantiert. Und nebenbei bemerkt, mit der schlechtesten Tiefkühlkost von hier bis zum Kaukasus.
Die gute Nachricht: Niemand will dir hier ans Fell! Die schlechte Nachricht: Du darfst dir dein Futter als Alleinunterhalter für die Touristen verdienen. Und die noch schlechtere: Fressen darfst du die leider nicht! Sei trotzdem froh, dass du offensichtlich auf der Roten Liste stehst. Sonst hätten sie dir schon vor drei Tagen in der Kirche den Schuppenpanzer über die Ohren gezogen.“
Ein Zoo? Er war in einem Zoo gelandet? Arthur verstand die Welt nicht mehr. Hätte er nicht tot sein müssen? Und wenn er den Sturz in die Kirche überlebt hatte, weil er dem Turm wegen der Katze im letzten Moment ausgewichen war: Hassten die Menschen Drachen nicht so sehr, dass sie sie lieber so schnell wie möglich töteten, ehe sie aufgefressen wurden? Hatte Aljoscha gerade gesagt, dass er hier gefüttert wurde?
Erst jetzt bemerkte er die Gitterstäbe um sich herum. Das war dann doch etwas zuviel auf einmal. Stöhnend legte er seinen Kopf zurück auf den Boden und sank erneut in einen traumlosen Schlaf.
Wie sich zeigte, waren Arthurs Verletzungen wesentlich leichter, als man bei einem Sturz in ein Kirchendach erwartet hätte. Nicht einmal ein Flügel war gebrochen und keine der Fleischwunden war tief genug, um ihn lebensgefährlich zu verletzen. Er war eben ein magisches Wesen, und ein ziemlich robustes noch dazu. Die verantwortlichen Tierpfleger, die auf Krokodile und Raubtiere spezialisiert waren und nie zuvor einen Drachen gepflegt hatten, konnten bloß staunen. Nur eine böse Gehirnerschütterung hatte er offenbar erlitten, die ihn, zusammen mit den Nachwirkungen des Betäubungsgewehrs, in den ersten Tagen ziemlich benommen und appetitlos machte. Als er dann nach einer Woche schließlich seine erste kleine Rinderhälfte verspeiste, waren alle, einschließlich ihm selbst, sehr erleichtert.
Nach einer weiteren Woche durfte er den abgedunkelten Käfig im Raubtierhaus verlassen und im Außengehege spazierengehen, wo sich die menschlichen Besucher vor dem Zaun drängelten, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Das Auftauchen eines lebendigen Fabelwesens, das über Jahrhunderte als reines Produkt der menschlichen Phantasie gegolten hatte, hatte sich in allen Medien wie ein Lauffeuer verbreitet und zog tausende Schaulustige von Nah und Fern in den Zoo. Als Arthur mit einem Schluckauf seinen ersten Baum in Flammen setzte, klatschten die dicht gedrängt stehenden Zuschauer lautstark Beifall. Arthur fand das anfangs verwirrend, jedoch nicht grundsätzlich unangenehm. Noch nie hatte er von Menschen etwas anderes als Angstschreie und Verwünschungen zu hören bekommen. Das war eine interessante Wandlung der Dinge, die er mit überraschtem Interesse zur Kenntnis nahm.
Im übrigen hatte Aljoscha recht behalten: Niemand wollte ihn hier auslöschen, dafür war das eingefrorene und wieder aufgetaute Fleisch, das man ihnen hier vorsetzte, wirklich grauenvoll. Arthur hatte noch nie etwas so Fades und Fasriges gefressen.
Der aufgeweckte Tiger im Käfig nebenan erwies sich dagegen als äußerst angenehme Gesellschaft. Aljoscha beherrschte viele Sprachen, auch die, die Arthur vor langer Zeit von dem Magier gelernt hatte, und die beiden unerhielten sich mit wachsendem Interesse. Der Tiger war im Gegensatz zu Arthur viel herumgekommen. Er kam aus der sibirischen Taiga, war dort jedoch jung von Menschen gefangen und in einen russischen Zirkus gebracht worden, mit dem er durch die Welt reisen und mit anderen Raubkatzen Kunststücke aufführen musste. Als der Zirkus schließlich pleite ging, sollte er erschossen und an Souvenirhändler verkauft werden. Doch einige Tierschützer hatten das verhindert und ihm einen Platz in diesem Zoo organisiert, wo er seither lebte. Hier war es besser als im Zirkus, aber auf Dauer eben doch ziemlich öde. Aljoscha wusste alles über Menschen und kannte Tiere, deren Namen Arthur noch nie zuvor gehört hatte. Außerdem war er ein leidenschaftlicher Fleischfresser, der Arthurs Probleme in vieler Hinsicht bestens nachvollziehen konnte.
„Manchmal ist es wirklich ein Problem, das ist völlig klar. Es kann zu Gewissenskonflikten führen. Da sind diese Menschen, sie füttern dich, pflegen dich, du weißt, dass sie dich eigentlich auch mögen und dir nichts tun. Du willst echt nicht undankbar sein und so. Aber würde einer vergessen den Käfig abzuschließen – nun ja, du weißt, dass du eigentlich gar nicht anders könntest. Man ist eben, wie man ist. Aber das ist angeboren. Du darfst dich dafür nicht schuldig fühlen.“
Solange er mit Aljoscha reden konnte, war Arthur glücklich. Zum ersten Mal in seinem Leben war da ein anderes Wesen, das ihm zuhörte und ihn verstand. Bloß die vielen Menschen, die jeden Tag vor seinem Käfig standen, um ihn anzugaffen, begannen ziemlich schnell, ihm auf die Nerven zu gehen. Im Gegensatz zu Aljoscha war er an die ständige Gesellschaft von Menschen nicht gewöhnt und würde sich auch in 1.000 Jahren nicht daran gewöhnen. Dasselbe galt für das ewig gleich schmeckende fade, tote Fleisch, das man ihnen täglich vorwarf.
„Was für eine zähe alte Kuh!“ meckerte Aljoscha eines Tages bei einer Mahlzeit.
„Wenn ich nur daran denke, meine Zähne im Wald in ein Wildschwein zu vergraben. Oder nach so langer Zeit wieder einmal einen Sikahirsch zu jagen. Und nichts schmeckt wie ein wildes Rentier, bis zum Platzen vollgefressen mit Gräsern und Pilzen.“
Nachdenklich betrachtete Arthur seinen neuen Nachbarn, wie der sich nach der Mahlzeit die Pfoten leckte. Er war eine Katze, soviel war sicher. Und er würde daher niemals das geringste Bedürfnis verspüren, ihn aufzufressen. Dafür war Aljoscha deutlich robuster als ein winziges Kätzchen wie Mimi. Er hatte ähnliche Interessen wie Arthur. Er jagte gerne, aber machte es sich auch gerne plaudernd in einer angenehmen Ecke gemütlich. Er war ein Einzelgänger, der sich trotzdem gelegentlich Gesellschaft wünschte, er war nachtaktiv. Er hatte einen warmen Pelz und könnte in kalten Bergregionen leben. Sicher würden ihm die Tiere dort schmecken. Jemanden wie Aljoscha hielt man nicht als Haustier, das man fütterte, er war ein echter Freund.
Außerdem hatte Arthur von Aljoschas Fell bisher kein einziges Mal niesen müssen, was die Gefahr von – Unfällen – drastisch reduzierte. Er überlegte sich daher, dass sie zusammen eigentlich jede Menge Spaß haben könnten – wären da nicht diese störenden Gitterstäbe. Arthur überlegte lange. Dann hatte er eine Idee.
„Wenn ich uns hier raushole Aljoscha, würdest du dann mitkommen?“ fragte er eines Tages.
„Auf dem Berg, wo ich meine Höhle habe, also in den Wäldern darum herum meine ich, gibt es eine Menge Hirsche und Wildschweine. Wir könnten es dort ziemlich lustig haben.“
Da leuchteten die Augen des Tigers und beim Gedanken, endlich wieder jagen zu dürfen, nickte er aufgeregt. „Das wäre wirklich toll! Aber wie zur Hölle willst du uns aus dem Mädchenpensionat rausholen Arthur?“ fragte er dann zweifelnd.
Arthur legte den Kopf schief und zwinkerte.
„Da fällt mir schon etwas ein!“
Eisenstäbe schmelzen bei 1538 °Celsius. Ob Arthur diese Zahl kannte war sicherlich fraglich. Fest stand nur, dass er Eisen schmelzen konnte, wenn er wollte. Jedenfalls, wenn er es lange genug mit feurigem Atem anspie. Es dauerte eine Weile und mehrfach musste er Pause machen, weil ihm die Puste ausgegangen war. Außerdem musste er erst die Gitterstäbe seines eigenen, dann die von Aljoschas Käfig einschmelzen. Doch da es Nacht war, hatte er einige Stunden Zeit, um sein Werk zu vollenden. Im Morgengrauen schließlich war es geschafft.
Nur einige wenige Menschen, die an diesem Morgen schon sehr früh zur Arbeit mussten, sahen einen großen Schatten über der Stadt aufsteigen. Verwundert rieben sie sich die Augen und glaubten noch zu träumen. Es musste wohl ein Traum gewesen sein. Immerhin war es nur schwer vorstellbar, dass hier gerade ein Drache vorbeigeflogen war, der einen ausgewachsenen Tiger in seinen Armen trug. Ein Pater, der gerade zum Morgengebet ging, erlitt einen unerklärlichen Schwächeanfall.
Texte: Birgit Schulz
Bildmaterialien: Titelbild: Publicdomainpictures.net
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2012
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