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Geschichte einer Diagnose


Na schön, jetzt wird sich wohl alles weitere aufklären, dachte Marie, als die Tür aufgerissen wurde und eine ganze Horde von Ärzten und Schwestern in weißen Kitteln ins Zimmer schwebte wie ein schnatternder Vogelschwarm. Jemand wird es bemerken und sich darum kümmern. Wahrscheinlich sind sie schon informiert und haben alle Vorbereitungen getroffen. Sicher wird man mir auch alles weitere erklären können.
„Nun, Frau W., wie geht es uns denn heute?“ fragte einer der Ärzte gut gelaunt, während die restliche Schar sich neugierig um das Bett herum drängte.
„Oh, ich weiß nicht,“ sagte diese etwas verunsichert, da sie gehofft hatte, man würde es ihr sofort ansehen. Offenbar war das nicht der Fall.
„Ich fürchte mit dem Aufstehen und Laufen wird es heute wohl nichts mehr werden, auch wenn mir gerade das wirklich leid tut. Vermutlich würde die Sache mit dem Bein dabei sehr hinderlich sein. Ich hoffe sehr, Sie werden mir helfen und etwas dagegen unternehmen. Aber Sie sehen es ja selbst!“
Bekräftigend zeigte sie auf den Stumpf ihres rechten Beines, aus dem beständig Blut sickerte und das Betttuch rot verfärbte.

„Hm, hm!“ murmelte der erste Arzt und schien angestrengt nachzudenken.
„Sie glauben also, sie können nicht laufen?“ fragte er dann mit ernsthaftem medizinischem Interesse.
„Ja, wie ich ihnen sagte. Ich vermute das fehlende Bein könnte mich daran hindern.“
„Sie halten sich also für völlig außerstande, einfach so aufzustehen und zu laufen?“ fragte er noch einmal lauter, ohne auf etwas anderes einzugehen.
„Ja, denn sie sehen doch, dass...“
„Nein, nein, nein,“ unterbrach er sie.
„Beantworten sie bitte nur meine Fragen Frau W. und überlassen sie alles andere den Leuten, die sich damit auskennen. Sie sind also der festen Überzeugung, weder aufstehen noch laufen oder sich auf ähnliche Art selbstständig fortbewegen zu können? Habe ich das richtig verstanden? Bitte antworten sie nur mit „ja“ oder „nein“!“
„Ja!“ antwortete Marie, und die Ärzte und Schwestern, die ihr Bett umstanden, beugten sich fast gleichzeitig über sie.
„Sie bildet sich also ein, sie könne nicht laufen. Ein interessanter Fall, ja wirklich, interessant!“ bemerkte daraufhin wieder der erste Arzt und wandte sich nun an die restliche Gruppe.
„Liebe Kollegen, was meinen Sie dazu?“
Ein allgemeines Getuschel und aufgeregtes Gewisper ging durch die Reihen. Schließlich meldete sich ein zweiter Arzt zu Wort.
„Werter Dr. Jensen, wenn ich meine Meinung dazu äußern dürfte: Wenn sie mich fragen, geschätzter Herr Kollege, so leidet diese Patientin unter einer äußerst seltenen, psychosomatisch bedingten, temporären muskulären Disfunktionalität, vermutlich hervorgerufen durch eine verdrängte sexuelle Angst aus ihrer Kindheit.“
Dr. Jensen nickte nachdenklich.
„Danke Dr. Jürgen. Und was meinen die anderen?“
Die anderen dachten angestrengt nach und betrachteten die Patientin von allen Seiten.
„Sie wollen also nicht laufen?“ fragte endlich eine ältere Ärztin mit strengem Pagenschnitt, die sich forsch an das Bett heran drängte.
„Ich sagte nicht, dass ich nicht laufen will. Ich sagte nur, dass ich es vermutlich nicht schaffen würde!“ korrigierte Marie.

Triumphierend sah die Ärztin sich im Raum um und nickte.
„Eine klare Zwangsvorstellung liebe Kollegen, wie ich es vermutet hatte! Das habe ich oft genug erlebt. Man hat ja seine Erfahrungen. Aber ich weiß schon, wie man mit so etwas umgeht! Bloß nicht zuviel Nachsicht zeigen, sage ich immer! Das macht alles nur schlimmer!“
Dann wandte sie sich wieder zum Bett und sagte in scharfem Tonfall:
„Sie denken, Sie würden es nicht schaffen? Haben sie nicht vielleicht mal daran gedacht, es einfach zu probieren? Na los, probieren Sie es doch mal. Los, stehen Sie schon auf! Und denken Sie dabei einfach nicht daran, dass sie es nicht schaffen könnten!“
Ungläubig starrte Marie erst auf die Ärztin, dann auf den blutigen Beinstumpf. Sie glaubte nicht recht gehört zu haben, doch auch Dr. Jensen drängte sie nun zum Aufstehen:
„Na los, machen Sie schon!“
Marie wusste nicht, wohin diese Übung führen sollte. Da es sich jedoch um Ärzte handelte, die sicher wissen würden, was sie taten, entschloss sie sich dennoch, zu tun was man ihr sagte, egal wie merkwürdig es ihr auch erschien. Wahrscheinlich würden sie sich danach schon irgendwann um ihr Bein kümmern.
Mit unendlicher Mühe, den bluttriefenden Stumpf von sich gestreckt, schob sie sich deshalb zum Bettrand. Ärzte und Schwestern sahen ihren Bemühungen mit großer Spannung zu. Schließlich gelang es ihr, das gesunde Bein auf den Boden zu setzen. Blut tropfte auf den Fußboden. Marie sah die Leute in den weißen Kitteln bedeutsam an und wartete.
„Na was denn? Machen Sie endlich!“ kommandierte die Doktorin mit dem Pagenschnitt und den langjährigen Erfahrungen in Unnachsichtigkeit.
„Ja, tun Sie einfach, was die Kollegin Bottenhauer sagt,“ verlangte auch Doktor Jensen.
Marie wagte nicht zu widersprechen und erhob sich, indem sie sich mit der Hand am Nachttisch festhielt. Schwankend stand sie auf einem Bein, während ihr Blut weiter fortdauernd zu Boden tropfte.
„Und nun? Es geht doch! Laufen Sie schon!“ befahl Dr. Bottenhauer erneut.
Vorsichtig ließ Marie den Nachttisch los. Augenblicklich verlor sie das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Die anderen machten respektvoll Platz, damit Dr. Bottenhauer sich vor ihr aufbauen konnte.

„Ach was? Jetzt sagen Sie bloß, Sie können auch nicht mehr aufstehen?“ fragte sie.
Marie schüttelte den Kopf. Dr. Bottenhauer schnaubte verächtlich und wies mit dem Finger auf Marie. Zwei Krankenschwestern, eine breite Rothaarige und eine spitznasige Blonde, rannten dienstfertig herbei, zerrten Marie grob an den Armen vom Boden auf und warfen sie zurück aufs Bett. Die Blonde zog verächtlich die spitze Nase hoch.
Dr. Jensen wiegte bedenklich den Kopf.
„Geschätzte Kollegen, sind Sie nicht auch der Meinung, dass es sich hier möglicherweise um ein ausgeprägtes Autoritätsproblem handeln könnte? fragte er in die Runde.
„Eine autoritätsbezogene Verweigerungshaltung erster Ordnung,“ schnaubte Dr. Bottenhauer und schüttelte empört ihren Pagenschnitt.
„Das kenne ich! Lassen Sie mich da mal ran beste Frau Kollegin,“ schaltete sich nun wieder Dr. Jürgen ein. Vertraulich trat er ans Bett heran, setzte sich, so lässig es sein gewaltiger Leibesumfang zuließ, auf die Kante und tätschelte den Oberschenkel von Maries gesundem Bein.
„Kindchen,“ sagte er dann in väterlichem Tonfall.
„Aber Kindchen, woran liegt das denn bloß, dass Sie einfach nicht laufen wollen? Hmm? Was sollen wir denn da nur mit Ihnen machen?“
Marie sah an sich hinab. Auf dem Bett hatte sich in der Zwischenzeit eine gewaltige Blutlache gebildet.
„Meinen Sie nicht, dass es womöglich doch mit der Sache mit dem Bein zusammenhängen könnte?“ wagte sie in Anbetracht dessen nun doch noch einmal einzuwerfen.
Sie hörte, wie Dr. Bottenhauer hinter Dr. Jürgens breitem Kreuz schnaubte.
Dr. Jürgen sah sie an und runzelte dann plötzlich ärgerlich die Stirn.
„Kindchen,“ sagte er dann noch einmal.
„Kindchen, also bitte! Wenn wir Ihnen helfen sollen liebes Kind, dann müssen Sie UNS schon die Diagnose überlassen. Wir werden wohl wissen, was wir tun, meinen Sie nicht? Sie sind hier in der psychiatrischen Abteilung mein Kind, ich weiß nicht ob Ihnen das klar ist? Mit Beinen haben die Probleme, die Sie hier haben, nicht das geringste zu tun. Das brauchen Sie sich gar nicht erst einzubilden. Kindchen, wir meinen es wirklich gut mit Ihnen, glauben Sie mir das. Aber versuchen Sie doch nicht ständig, von Ihren eigentlichen Problemen abzulenken. Sonst weiß ich wirklich nicht, wie wir Ihnen noch helfen sollen.“
„Da hat der werte Herr Kollege Jürgen vollkommen Recht!“ warf Dr. Jensen ein und kratzte sich nachdenklich an den grauen Haarbüscheln, die links und rechts von seiner Glatze wucherten.
„Nun Frau W., sagen Sie uns doch mal: Was glauben Sie denn, was passieren könnte, wenn Sie laufen würden? Oder besser: Was fürchten Sie könnte passieren, wenn Sie nun einfach aufstehen und laufen würden? Also wenn es Ihnen gelingen würde, zu laufen?“
„Was passieren würde? Ich würde dieses Zimmer verlassen und nach draußen gehen, denke ich,“ antwortete Marie, die sich mit einem Mal sehr schwach fühlte. Sie überlegte, ob das mit ihrem enormen Blutverlust in Verbindung stehen könnte. Doch Dr. Jürgen und offenbar auch alle anderen schienen das anders zu sehen. Und wenn ihre Probleme wirklich von dem Bein kämen, warum hätte man sie dann auch in diese Abteilung bringen sollen? Konnte es denn sein, dass sie sich das alles tatsächlich nur einbildete?
Dr. Jensen wurde mit einem Mal sehr geschäftig:
„Aha, da kommen wir der Sache doch schon näher. Sie denken also daran, dass Sie dann dieses Zimmer verlassen und nach draußen gehen müssten, ja? Aber was ist denn da draußen, das Sie davon abhält es einfach zu tun? Denken Sie, dass Sie da draußen etwas Schlimmes erwarten könnte? Haben Sie etwa Angst vor den Leuten da draußen? Vor der Verantwortung? Zuviel Selbstständigkeit?“
Dabei sah er Dr. Jürgen vielsagend an.
„Nun Kindchen, haben Sie Angst rauszugehen? Sagen Sie es nur – es ist doch nichts Schlimmes Angst zu haben, nicht wahr?“ sprang dieser ihm sogleich bei.
Marie legte sich müde zurück in die Kissen.
„Ich habe keine Angst rauszugehen,“ sagte sie.
„Ich denke nur, dass es gerade wirklich besser für mich wäre, wenn ich nicht rausgehen müsste. Es wäre besser, wenn die anderen wenn schon zu mir kämen.“
Dr. Bottenhauer schnaubte in höchster Verachtung:
„Da hören Sie es doch: Ihre Passivität! Ja, ihre Passivität ist im Grunde ihr ganzes Problem! Aber ich kenne diese Fälle! Zu Hunderten habe ich sie kennengelernt! Es ist immer dasselbe: Erst rauchen sie ständig Haschisch, weil ihnen eigentlich sowieso alles egal ist, und dann wundern sie sich, dass sie nicht mehr vor die Tür trauen! Oh, glauben Sie nicht, Sie könnten mir etwas vormachen, ich habe meine Erfahrungen! Sagte ich nicht, dass Nachsicht hier nicht weiterhilft?“

Dr. Jürgen sah Marie traurig an und tätschelte ihren Oberschenkel, wie es seine Art war:
„Kindchen, ist das denn wahr? Nein, Haschisch rauchen dürfen Sie natürlich nicht. Das verwirrt Sie nur und macht Sie passiv – da hat die liebe Frau Doktor Bottenhauer wohl Recht. Denn sehen Sie: Sie können schließlich nicht erwarten, dass alle immer zu Ihnen kommen. Das müssen Sie doch verstehen, nicht? In Ihrem Alter müssen Sie schon langsam lernen, selbst zu den anderen hinzugehen Kind. Versuchen Sie es doch erstmal mit ein wenig Smalltalk für den Anfang. Etwa so: „Hallo, schönes Wetter heute. Wie geht es Ihnen?“ Dann werden die Leute Sie sicher bald mögen, Sie werden schon sehen. Nein Kindchen, Ihnen fehlt nur etwas Selbstbewusstsein, das ist alles! Dann müssen Sie auch kein Haschisch mehr rauchen.“
„Aber ich rauche doch gar kein Haschisch!“ protestierte Marie schwach.
Dr. Bottenhauer schüttelte schnaubend den Kopf:
„Ja, ja, das behaupten sie alle am Anfang, damit habe ich meine Erfahrung!“
Dr. Jürgen sah Marie noch trauriger an als zuvor:
„Aber Kindchen, mir brauchst du doch nichts vormachen. Du wirst doch wohl nicht behaupten wollen, noch nie in deinem Leben Haschisch geraucht zu haben? Hm?“
„Nein, aber das war doch nur damals das eine Mal als...!“
„Aha! Nun, sehen, Sie werter Kollege, hatte ich Recht?“ frohlockte Dr. Bottenhauer.
„Und glauben Sie mir, das ist erfahrungsgemäß nur die Spitze des Eisbergs! Wer weiß, was sie sonst noch so jeden Tag konsumiert. Sie sind eben doch alle gleich, diese Fälle!“
„Kindchen, Kindchen,“ seufzte Dr. Jürgen schwermütig.
„Wo soll das mit uns so noch werden?“

Marie wusste es nicht. Sie fragte sich vielmehr, was das mit ihr und ihrem Bein noch werden sollte. Viel Blut konnte sich langsam nicht mehr in ihrem Körper befinden. Und etwas kalt begann ihr auch zu werden. Wenn sie das allerdings laut sagte, würde man höchstwahrscheinlich wieder behaupten, sie habe nur Angst vor irgendetwas dort draußen, dem sie sich stellen müsse. Vermutlich hatten die Ärzte doch auch recht: Sie war verrückt und bildete sich das alles nur ein, weil sie nicht laufen wollte. Mittlerweile wollte sie auch wirklich nicht mehr laufen, sondern wünschte sich, man würde sie einfach schlafen lassen. Doch Dr. Jensen, der Mann mit der Glatze und dem Überblick, der sich nun wieder einschaltete, wollte das nicht dulden:
„Hören Sie zu Frau W.! Ich stelle Ihnen nun noch einige Fragen und bitte Sie, mir ehrlich zu antworten. Also: Wenn Sie alleine nicht nach draußen gehen können, oder zumindest glauben, dazu alleine nicht in der Lage zu sein – gäbe es denn Bedingungen, unter denen Sie sich vorstellen könnten, es zu schaffen? Nun?“
Marie sah ihn misstrauisch an und fröstelte. Bereits als sie antwortete, überlegte sie, wohin das nun wohl wieder führen würde:
„Nun, wenn mir jemand dabei helfen würde, mich abstützen oder in einen Rollstuhl setzen oder etwas in der Art – dann könnte es womöglich gehen, schätze ich!“
Dr. Jensen nickte und sah wieder Dr. Jürgen an.
„Kindchen,“ sagte dieser und tätschelte ihre Hand.
„Wir können das ja alle verstehen. Die ersten Schritte alleine sind nicht leicht, das wissen wir doch. Aber Sie dürfen sich nicht immer so abhängig machen. Sie können nicht davon ausgehen, dass immer jemand da sein wird, um Ihnen auf die Beine zu helfen. Es kann nicht Ihr ganzes Leben lang jemand bei Ihnen sitzen und Händchenhalten, nicht wahr?!“
Marie antwortete leise: „Ich will mich ja gar nicht abhängig machen. Ich bräuchte ja nur dieses eine Mal jemanden der mir hilft, hier herauszukommen. Ich kann doch wirklich nichts dafür, das müssen Sie doch sehen? Ich kann mich doch nicht einmal daran erinnern, wie all das eigentlich passiert ist und wer oder was mich in diese Lage gebracht hat!“
Im nächsten Augenblick vernahm sie auch bereits Dr. Bottenhauers Schnauben:
„Ja, ja, natürlich, immer sollen es die anderen sein, die Schuld haben! Sicher, das kennen wir alles in- und auswendig – reine Erfahrungssache! Die anderen, die Sie in diese Lage gebracht haben, die Ihnen dieses und jenes angetan haben, die Sie nicht aufstehen und laufen lassen. Einmal die verständnislosen Eltern, die schlechte Kindheit, dann die gesellschaftlichen Missstände, der böse Ex-Freund, die verpassten Gelegenheiten, was auch immer! Es ist jedes Mal dasselbe, ich kann die ewige Leier nicht mehr hören! Jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Fragen Sie sich lieber mal, was Sie selbst dazu beigetragen haben, dass Sie hier jetzt so erbärmlich rumhängen. Wahrscheinlich war es wie üblich eine der ewigen Männergeschichten. Na, war es nicht so? Man weiß ja langsam, wie das bei diesen mannstollen jungen Dingern läuft: Schmeißen sich blindlings dem nächstbesten Halunken an den Hals, um nachher zu behaupten, dass der ihnen das Leben versaut hat. Selbst Schuld, sage ich da nur! Ich musste mich in meiner Jugend auch gegen solche Versuchungen wappnen, ob ich wollte oder nicht! Und Sie sehen ja, was dabei aus mir geworden ist!“
Bekräftigend schüttelte sie den Pagenschnitt.

Marie hörte das beratende Gemurmel der restlichen Ärzte und Schwestern im Zimmer.
„Kann ich nicht einfach nur dieses eine Mal Hilfe bekommen?“ fragte sie noch einmal kraftlos.
„Einfach so? Bitte!“

„Was für eine grauenhafte Vorstellung, dass jemand sich freiwillig so erniedrigen könnte!“ mischte sich die Schwester mit der spitzen Nase ein, die neben Dr. Bottenhauer ans Bett heran getreten war.
„Einfach entsetzlich! Beschämend!“
Weiter kam sie nicht. Dr. Jensen hatte seinen Kugelschreiber fallenlassen. Aufhorchend fiel sie auf die Knie, kroch auf allen Vieren zu dem Doktor hin und hob den Stift mit dem Mund auf. Sie machte Männchen und überreichte ihm das verlorene Stück. Dr. Jensen packte ihr zur Belohnung an die Brust, gab ihr einen leichten Tritt in die Seite, damit sie ihm Platz machte und beugte sich wieder über Marie. Mit einem Speichelfaden im Mundwinkel kroch die Spitznasige zurück in ihre Ecke.
„Frau W.,“ sagte Dr. Jensen ernsthaft.
„Frau W., Sie können nicht leugnen, dass ich und meine hochverehrten Kollegen wirklich alles versucht haben, Ihnen zu helfen. Ja, meine Kollegen werden Ihnen das bestätigen können.“
Die Kollegen nickten.
„Leider muss ich sehen, dass alle unsere Bemühungen erfolglos geblieben sind. Und jetzt frage ich Sie: Wessen Schuld kann das sein? Na?“
Marie schwieg.

„Ich sage es Ihnen: Unsere jedenfalls nicht! Das ganz gewiss nicht. Und soll ich Ihnen noch etwas sagen? Soll ich Ihnen sagen was ich mittlerweile glaube Frau W.?“
In Ermangelung einer zustimmenden Antwort redete er noch unbeirrter weiter.
„Wissen Sie, was ich glaube? Ja, ich glaube Sie haben eigentlich gar keine Probleme! Nein! Denn glauben sie mir, ich weiß wie Probleme aussehen. Eigentlich geht es Ihnen gut und Sie könnten gehen wohin Sie wollten! Aber vielleicht haben Sie Spaß an der Vorstellung, Probleme zu haben, weil Sie nichts Besseres mit sich anzufangen wissen! Ja, wahrscheinlich ist es das!“
„Kindchen, Kindchen!“ sagte Dr. Jürgen.
Dr. Bottenhauer schnaubte verächtlich.
„Kein Wille zu leben! Ein ganz klarer Fall! Man kennt das ja lange genug!“
Auf dem Bett hatte sich in der Zwischenzeit eine überdimensionale Blutlache ausgebreitet. Marie fror zähneklappernd. Noch immer wusste sie nicht, was eigentlich geschehen war, das sie in diese Lage gebracht hatte. Fest stand, dass all diese kompetenten Fachleute zusammen ihr nicht hatten helfen können. Es muss tatsächlich an mir liegen, dachte sie. Ja, ich bin selbst Schuld daran. Ich selbst habe mir mein Leben versaut, niemand sonst. Vermutlich hätte ich mich einfach mehr anstrengen müssen. Mir mehr Mühe geben, beim Laufen nicht so schnell aufgeben, wenn ich einmal umfalle, anstatt noch unverschämt zu verlangen, dass mir jemand helfen soll. Aber ich war zu schwach. Ich habe versagt. Und nun ist es zu spät. Ich bin tot!

Marie spürte, wie sie sich langsam von ihrem Körper löste und unsichtbar über der Szene schwebte.
Verschwommen sah sie die Ärzte und Schwestern in ihren weißen Kitteln um das Bett herum stehen. Undeutlich erkannte sie von oben, dass Dr. Bottenhauer und der spitznasigen Schwester jeweils ein großer Schnabel im Gesicht gewachsen war. Dr. Jürgen sprossen weiße Federn aus dem Kragen seines weiten Kittels und Dr. Jensen stieß einen spitzen Schrei aus. Nach einer Weile saß ein Rudel übergroßer Raubmöwen um das Bett, in dem sie eben noch gelegen hatte, dort wo eben noch die Belegschaft der psychiatrischen Abteilung gestanden hatte. Die Möwen funkelten Maries Körper auf dem blutigen Laken mit gierigen Augen an, ehe sie sich alle zugleich in die Luft erhoben und begannen über dem Bett zu kreisen, wobei sie kreischende Laute ausstießen. Marie sah, wie sie direkt unter ihr langsam ihre breiten, weißen Flügel bewegten. Dann senkten sie sich jäh herab und stürzten sich ausgehungert auf ihren toten Körper.


© B. Schulz 06/2008

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Texte: Foto: Keene Public LibraryQuelle: flickr.com
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2011

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