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Die Schildkröte
oder
Eine Geschichte von den höheren Lebenszwecken auserwählter Existenzen



„Ich will ja nichts sagen,“ sagte der Frosch zu Schildkröte. Und dass er es dann doch tat, konnte wohl nur bedeuten, dass es sich tatsächlich um etwas Wichtiges handeln musste.
„Ich will ja wirklich nichts sagen! Eigentlich geht es mich nichts an und könnte mir auch ganz egal sein. Aber trotzdem! Trotzdem frage ich mich doch manchmal, zu was ihr Schildkröten eigentlich gut seid.“
„Nun,“ überlegte die Schildkröte, denn das war eine Frage, über die sie noch nie so recht nachgedacht hatte.
„Aha!“ rief triumphierend der Frosch, noch ehe sie etwas entgegnen konnte.
„Dachte ich's mir doch!“ quakte er und hüpfte vor Aufregung von einem Schenkel auf den anderen.
„Was dachtest du dir denn?“ fragte die Schildkröte.
„Also ich meine ja nur so. Ohne jetzt zu persönlich werden zu wollen. Aber etwas merkwürdig muss das jemandem wie mir schon vorkommen, wie ihr Schildkröten euch so benehmt.“
Die Schildkröte blickte neugierig aus ihrem Panzer hervor, denn es interessierte sie nun doch, was da jemand wohl Merkwürdiges über ihr Benehmen zu sagen haben mochte.
Der Frosch umkreiste sie einmal mit einigen energischen Sprüngen, um sich dann wieder vor ihrer Nase niederzulassen
„Also was ich so sehe schleicht ihr nur den ganzen Tag mit trübsinnigem Gesicht herum ohne was zu sagen, kaut mal gelangweilt an einem Grashalm oder einem Blümchen – und bei der kleinsten Kleinigkeit verzieht ihr euch in euer Haus, weil ihr euch wie üblich mal wieder angegriffen fühlt. Ich meine, wozu soll das bitteschön gut sein?“
Die Schildkröte schüttelte träge den Kopf.
„Keine Ahnung,“ sagte sie. „Muss es denn zu etwas gut sein?“
„Muss es denn zu etwas gut sein? Was für eine Frage. Habt ihr das gehört Leute? Muss es denn zu etwas gut sein?“ rief der Frosch empört.
Die anderen Frösche im Teich unterbrachen ihre wichtigen Gespräche und drehten sich zu ihnen um. Allgemeines, lautstarkes Gequake erhob sich.
„Was für ein Einstellung!“ quakten sie im Chor. „Ungeheuerlich, furchtbar, entsetzlich. Völlig verkorkst! Korks, korks, korks!“
„Da! Da hörst du es!“ sprach der erste Frosch voll Genugtuung.
„Ich bin nicht der einzige, der das verkorkst findet. Man muss etwas aus seinem Leben machen. Jawohl! Aktiv sein und von morgens bis abends herumspringen. Nur das ist das einzig Wahre! Was bringt es schon, so lahm wie du herumzuschleichen? Man muss immer schleunigst vorwärts springen, anstatt sinnlos seine Zeit zu verschwenden. Und dass du immer diesen alten Kram mit dir herumschleppen musst ist auch wirklich sehr sonderbar. Sowas trägt man doch heute gar nicht mehr. Schau mal, wie abscheulich, da wächst ja schon Moos auf diesem hässlichen Ding da. Warum ziehst du dieses alte Teil nicht einfach endlich aus und gehst mal in die Sonne? Kein Wunder, dass du schon ganz schrumpelig aussiehst, wenn du die ganze Zeit da drinnen hockst. Verkorkst, wirklich verkorkst!“
„Korks, korks, korks!“ bestätigten die anderen Frösche.
Die Schildkröte verrenkte sich den Hals, doch es gelang ihr bei aller Anstrengung nicht, einen Blick auf die Oberseite ihres Panzers zu werfen.
„Moos?“ fragte sie. „Fiel mir noch gar nicht auf! Aber sei's drum, ist doch nichts Schlimmes so ein bisschen Grünzeug, oder? Gestört hat es mich jedenfalls bisher nie. “
„Ein bisschen Moos eben, ist ja nichts Schlimmes!“ unkte der Frosch.
„Nicht zu glauben, diese Trägheit, diese Gleichgültigkeit! Na komm schon, zieh' das blöde Ding aus, du wirst sehen es fühlt sich gleich viel besser an. Was soll denn schon passieren? Außer dass du womöglich mal schneller vom Fleck kommst!“
„Aber ich mag meinen Panzer!“ protestierte die Schildkröte.
„Er gehört eben einfach zu mir, ich habe mich so sehr an ihn gewöhnt über die Jahre, er war ja schon immer da und ist mit mir gewachsen - und jetzt will ich ihn auch nicht mehr hergeben.“
„Aah!“ stöhnte der Frosch. Theatralisch mit den Beinen um sich schlagend wälzte er sich im Gras, er er erneut zu seinem Vortrag ansetzte:
„Dieses Festhängen in sinnlosen Gewohnheiten, an diesem prähistorischen Plunder. Wie rückschrittlich. Meine Güte ist das verkorkst!“
„Korks, korks, korks,“ sangen die anderen Frösche.
„Liebe Schildkröte,“ sprach ihr Wortführer darauf mahnend.
„Ich sage dir ganz ehrlich meine Liebe, so sehe ich schwarz für deine Zukunft. Wenn du damit nicht endlich abschließen kannst, wirst du es nicht weit bringen. Sieh' doch mal: Bis sowas Träges wie du heute einmal seinen Kopf aus seinem Panzer gestreckt hat, war ich schon zehnmal rund um den ganzen Teich herumgeschwommen und hatte dabei zwei Dutzend Fliegen gefangen. Gerade bin ich auf dem Weg zum Treffen des Volksbegehrens gegen die Einführung eines Quakverbotes in den Mittags- und Nachtstunden und im Anschluss kommt der Verein der Weitsprungathleten zu seinem wöchentlichen Training zusammen. Bei all diesen wichtigen Aufgaben bleibt mir immer noch die Zeit, das allseits beliebte tägliche Abendkonzert mit den anderen Fröschen vom Quakservatorium zu veranstalten. Ja, das nenne ich ein Leben! Aber das was du machst...nunja, ist eben eher kläglich im Vergleich dazu würde ich sagen. Kannst du auch nur ansatzweise ein solches Engagement für die Teichgemeinschaft nachweisen? Sicher nicht! Völlig verkorkst eben, meint ihr nicht auch Freunde?“
„Korks, korks!“ antworteten die Frösche im Chor.
„Jetzt reicht es aber!“ sagte die Schildkröte missmutig. Sie hatte keine Lust mehr sich anzuhören, was sie alles falsch machte. Irgendetwas hatten diese dummen Frösche doch immer an ihr auszusetzen. Beleidigt zog sie ihren Kopf und die Beine ein und verkroch sich in ihrem Panzer.
„Nun, seht ihr?“ hörte sie den Frosch noch hinter ihr herrufen.
„Da will man nur ihr Bestes, und sie hat nichts anderes zu tun, als wie üblich sofort beleidigt zu sein.“

Na schön, dachte die Schildkröte wütend. Dann bin ich eben zu nichts nütze und schleiche nur sinnlos herum. Dann lasst mich doch einfach in Ruhe mit meinem prähistorischen Plunder. Warum gebt ihr euch überhaupt mit mir ab, wenn ich doch zu langsam, völlig verkorkst und zu nichts gut bin und sowieso nichts richtig machen kann?
Nein, diese Beleidigungen würde sie den Fröschen gewiss nicht verzeihen. Sie würde ihnen schon zeigen, wie gut sie an alten Sachen festhängen konnte – und dazu gehörten auch die andauernden Beleidigungen, denen sie an diesem Teich ausgesetzt war, seit diese zappeligen Frösche sich hier niedergelassen hatten. Ja, als sie noch nicht hier gewesen waren, hatte sie ein schönes Leben geführt und wäre niemals auf die Idee gekommen, dass einfach nur dösend in der Sonne zu sitzen in irgendeiner Form schlecht sein könne. Außerdem brauchte sie weder einen Verein für Weitsprungathleten, noch ein Quakservatorium. Und wenn die Frösche wenigstens nachts mal ihre Klappe halten müssten, hätte sie dagegen auch nicht das geringste einzuwenden.
Weil sie jedoch eine nette Schildkröte war und ihr daher nichts einfiel, um es den Fröschen heimzuzahlen, beschloss sie zunächst einmal, bis auf weiteres so lange beleidigt zu sein, bis der Hunger sie aus ihrem Haus trieb. Bis dahin hätten die Frösche sich hoffentlich auch in eine andere Ecke verzogen. Ja, beleidigt sein, das konnte sie nun wirklich gut! Und wenn man genauer darüber nachdachte, war schließlich auch das ein Talent und vermutlich besser als gar keins.
Aha, es gibt also doch etwas, worin ich besonders gut bin, dachte sie trotzig bei sich und legte sich noch platter auf den Boden ihrer Behausung, wo sie nach all diesem Ärger erschöpft einschlief.

Die Frösche diskutierten auf dem Weg zum Treffen ihres Volksbehrens noch eine Weile über die Nützlichkeit der Dinge und wie wichtig es doch sei, sich seiner eigenen Bedeutung bewusst zu sein.
Ihr Quaken verstummte erst, als mit einem Mal einige große Schatten den Himmel über dem Gartenteich verdunkelten. Erschreckt blickten sie nach oben, als sie eine Reisegesellschaft von Störchen bemerkten, die über dem Teich kreiste und sich bereits auf die Landung vorbereitete.
„Was sollen wir tun?“ fragten sie einander und der ein oder andere schlug im ersten Schrecken vor, einfach wegzulaufen und sich zu verbergen.
„Meint ihr nicht, dass sie uns fressen könnten?“ fragte ein ungewöhnlich pessimistischer Frosch ängstlich.
Doch gegen diese absurde Idee begannen die meisten anderen sofort lautstark zu protestieren.
„Natürlich werden sie uns nicht fressen!“ erklärte der Wortführer der Frösche, derselbe der noch eben die Schildkröte belehrt hatte, entschlossen-
„Und wisst ihr auch, warum sie uns nicht fressen werden? Warum sie uns gar nicht fressen können? Nun, ich sage es euch: Sie können uns nicht fressen, weil wir Frösche viel zu wichtig für diesen Teich sind.“
Einige andere stimmten zu.
„Denn wer, frage ich euch, würde unsere wichtigen Aufgaben hier erfüllen können, wenn wir nicht wären? Nein meine Lieben, merkt euch auch hier das eine: Es ist nichts wichtiger, als sich immer seiner eigenen Bedeutung in dieser Welt bewusst zu sein. Denn wenn man weiß, welchen Zweck das eigene Leben erfüllt, dann braucht man sich vor nichts zu fürchten. Denkt immer daran, wir sind wichtig! Das werden wir diesen Störchen schnell erklärt haben. Sie werden sicher einsehen, dass wir hier unabkömmlich sind. Es dürfte schließlich keine große Aktion für sie darstellen, sich einen anderen Teich zu suchen.“
Zustimmendes Gequake folgte seiner Rede, während der Anführer der Störche das Kommando zum Landen gab. Er war die letzten Tage etwas nervös gewesen, denn es war die erste jährliche Ägyptenexpedition, die er selbst leitete. Er wusste wie wichtig es war, dass alle Gruppenmitglieder sich vor der langen Reise noch einmal richtig vollfressen konnten. Doch bisher war das Angebot eher mager ausgefallen. Nach rastlosem Überfliegen ungezählter Menschenhäuser, betonierter Flächen und geteerter Straßen hatte er endlich diesen Gartenteich gesehen. Vermutlich würden die Frösche sich wie üblich verkrochen haben, dachte er, doch sie würden sie schon aus ihren Verstecken heraustreiben. Wie groß war daher seine Überraschung, als die gesamte Gruppe der kleinen grünen Hüpfer sich ihnen appetitlich auf einem Haufen sitzend präsentierte und gar das Wort an sie richtete, als sie gelandet waren.
„Sehr geehrte Störche!“ rief ihnen einer mit grotesk aufgeblähtem Hals zu.
„Hiermit möchten wir euch darauf hinweisen, dass ihr euch aus guten Gründen leider einen anderen Teich suchen müsst. Wir Frösche erfüllen in diesem Biotop zahlreiche so bedeutende Pflichten, dass wir hier absolut unverzichtbar sind. Dies dürfte genügen, uns eine völlige Immunität gegen jegliche Art von Angriffen zu verleihen!“
Die Störche sahen sich an und lachten.
„Nun, sowas ist mir noch gar nicht untergekommen“, meinte der Anführer und klappert amüsiert mit dem Schnabel.
„Dann bin ich wirklich neugierig, warum ihr so unverzichtbar seid. Aber bitte etwas hurtig, denn wir sind in Eile.“
„Wir Frösche üben für diese Teichgemeinschaft unzählige kulturelle und politische Aufgaben aus, die niemand in ähnlich qualifizierter Weise ausfüllen könnte. Da wären der Verein der Weitsprungathleten zu nennen, die Leitung des Quakservatoriums, die allgemeine Förderung der Diskussionskultur...“
„So, so!“ lachte der Anführer der Störche.
„Glaubt mir, ich weiß das was ihr hier tut wirklich zu schätzen. Wenn ihr nicht gerade jetzt hier sitzen würdet, nun, dann könnte es fürchte ich in der Tat schlecht aussehen. Nein, ihr seid wirklich gerade jetzt unverzichtbar. Und ich bin auch recht froh über euer erfülltes Leben.“
Zufrieden sahen die Frösche sich an.
„Hab' es doch gewusst!“ erklärte ihr Wortführer stolz.
„Ja, ein erfülltes Leben macht es sicher wesentlich leichter, sich am Ende in den Zweck seines Daseins zu fügen,“ fuhr der Storch fort.
„Und eure Aufgabe, das könnt ihr mir glauben, ist wirklich eine besonders wichtige. Darauf könnt ihr stolz sein. Doch nun muss ich das Gespräch leider beenden. Wie gesagt, wir sind wirklich in Eile. Trotzdem war es interessant mit euch geplaudert zu haben.“
Mit diesen Worten packte er den Wortführer der Frösche mit dem Schnabel und begann ihn genüsslich zu verschlingen. Während die restlichen Frösche entsetzt auseinander sprangen, war dies für die anderen Störche die Aufforderung, ebenfalls ihre Mahlzeit zu beginnen. Gut gelaunt verteilten sie sich rund um den Teich und zerrten die Frösche aus ihren in der Eile aufgesuchten Verstecken hervor. So sehr sie jeden einzelnen Storch verzweifelt darauf hinwiesen, wie unverzichtbar sie für diesen Teich seien, wurde einer nach dem anderen doch verschlungen. Umsonst versicherten sie wieder und wieder, dass es sich hier nur um ein Missverständnis handeln könne. Kein einziger Frosch wurde von den hungrigen Vögeln übersehen.

Die Schildkröte schlief derweil so fest, dass sie nicht einmal bemerkte, wie der Anführer der Störche sich auf der Suche nach einem Sitzplatz auf ihrem Panzer niederließ. Von der Bewohnerin zu seinen Füßen ahnte er nichts. Hätte er sie entdeckt, wäre sie ihm womöglich auch zu schrumpelig und sonderbar vorgekommen, um sie zu aufzufressen. Auf Reisen sollte man mit dem Essen keine Experimente machen, war seine Devise, denn das konnte üble Folgen nach sich ziehen. Er war ein umsichtiger Reiseleiter und vertraute auf das Bewährte, wie er es gelernt hatte.
Ruhig schlief die Schildkröte weiter, während der Storch sich glücklich schätzte. Die Frösche hier im Teich waren eindeutig ein guter Fang, den er sich seinem geübten Auge zuschreiben konnte. Allem Anschein nach waren es ganz gewöhnliche Frösche, gut genährte Frösche dazu, die er als Reisenahrung besonders schätzte. Diese hatten zwar die Angewohnheit ein wenig viel zu quaken und zu zappeln, waren jedoch sonst leicht verdauliche Kost. Das war wichtig, damit sie ihm später auf der Reise nicht allzu lange schwer im Magen liegen würden. Die Frösche hatten eindeutig Recht gehabt, dachte er belustigt, denn sie waren für die höheren Zwecke des Lebens wirklich einfach unverzichtbar. Vielleicht hatten sie bloß die Angewohnheit, die Art ihrer Unverzichtbarkeit etwas falsch einzuschätzen. Doch das war aus ihrer Perspektive auch kein Wunder. Wie sollte man die wichtigen Dinge des Lebens auch richtig einschätzen können, wenn man nur den ganzen Tag um denselben kleinen Tümpel herumhüpfte und kaum zwischen zwei Grashalmen hindurchsehen konnte. Wie dem auch sei, manchmal redete er gerne mit den kleinen Leuten, denn es konnte durchaus erheiternd sein, ihre Ansichten zu hören. Mit diesem Gedanken verschlang er zufrieden den letzten Froschschenkel und bedeutete den anderen, sich zum Abflug zu rüsten.

Am Teich war es still geworden, nur die Schildkröte lag weiter schlafend in ihrem Haus. Sie schlief so lange, dass die Sonne bereits tief am Himmel stand, als sie endlich erwachte. Vorsichtig streckte sie da den Kopf aus dem Panzer und sah sich um. Verwundert bemerkte sie, dass alle Frösche verschwunden waren und sie ganz alleine am Ufer des Teichs hockte.
Merkwürdig, dachte sie, wo sind sie alle mit einem Mal hin? Aber nun gut, mir soll es Recht sein, dann habe ich wenigstens heute Nachmittag meine Ruhe vor ihnen. Vielleicht machen sie ja einen kleinen Ausflug. Wer soviel unterwegs ist wie diese Frösche, will sicher auch mal etwas anderes sehen als immer nur diesen Teich. Na, sollen sie nur, denn ich bin immer noch beleidigt und habe gar keine Lust ihnen zu begegnen. Sie schob auch die übrigen Gliedmaßen aus dem Panzer, steuerte gemächlich auf ein Löwenzahnblatt zu und begann zu fressen.
Noch immer fragte sie sich verwundert, warum all das unbedingt zu irgendetwas gut sein sollte, denn schließlich war es doch bereits gut wie es war. Und wenn es nach ihr ging, könnte es gerne gerade so bleiben.


Birgit Schulz 03/09 - 08/10

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.10.2011

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