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Auszug aus dem Roman "Antiheld"


»Was haben Sie gesagt!?« Claire konnte und wollte ihren Ohren nicht trauen, doch nickte der Mann. Sein Lächeln enthüllte unter­dessen eine lückenhafte Reihe von Zähnen.
»Ich höre das Klopfen auch.«
Eine emotionale Lawine aus Freude und Hoffnung rollte über sie hinweg. Zwar presste sie schnell die Hand vor den Mund, doch war das Schluchzen nicht zu überhören. Weinend vergrub sie das Gesicht in beide Hände.
»Claire!?« Erschrocken fuhr Jack zusammen. Der plötzliche Ausbruch seiner Freundin irritierte ihn. Er blickte den Obdachlo­sen an. »Hey, du stinkender Sack! Was hast du zu ihr gesagt?«
Doch statt einer Antwort, lächelte der Alte unbekümmert wei­ter. »Lass sie in Ruhe! Sie braucht jetzt erst einmal Zeit, um die Si­tuation begreifen zu können.«
»Ich soll sie in Ruhe lassen!?« Mit Wut verzerrter Miene ergriff Jack den Kragen der Jacke, die der Penner trug. Als er den Alten anhob, schien dieser schwerelos. »Was hast du zu ihr gesagt, dass sie so ausrasten lässt?«
»Nichts.« Das Lächeln wurde breiter. »Nur, dass sie nicht alleine ist. Da draußen gibt es noch viele, die so sind wie sie.«
Jack wusste nicht, wie man mit Verrückten umging. Er wusste noch nicht einmal, ob er überhaupt schon einmal einem gegen­über gestanden hatte. Eines war aber klar. Sollte ihn dieser Spin­ner weiter für blöd verkaufen, dann müsste er sich einen neuen Pass machen lassen. Denn auf dem alten Foto wäre er nicht mehr wiederzuerkennen.
»Was heißt hier, die so sind wie sie ?« Jack fiel plötzlich etwas ein. Der Alte konnte sie womöglich beobachtet haben, wie sie aus dem Arztgebäude spaziert kamen. Wahrscheinlich wartete er bloß auf verzweifelte Menschen, um sie dann mit seinem Gelaber um den Finger wickeln und sie um ihr Erspartes bringen zu können. Mit Sicherheit gehörte die Kriegsnummer mit dem verlorenen Augenlicht ebenso dazu.
Jack hielt einen Moment inne. Er wollte den Penner etwas in Sicherheit wiegen. Erst dann ließ er von dessen Kragen ab. Blitz­schnell riss er dem Alten die Brille von der Nase. Einer Trophäe gleich, hielt Jack diese in die Höhe.
»Von wegen blind! Verarschen kann ich mich selbst, du mieser ...« Zu weiteren Worten reichte seine Beherrschung nicht aus. Die Brille ließ er achtlos zu Boden fallen, während er weiter­hin auf den Mann zu seinen Füßen starrte.
»Das war nicht sehr nett«, meinte dieser lachend. Dabei tastete er mit den Händen den Boden, auf der Suche nach seinem Eigen­tum, ab. Unterdessen streiften seine Finger Claires Knie.
Diese hörte allmählich auf zu weinen, hielt den Kopf hierbei aber gesenkt.
»Könntest du mir freundlicherweise meine Brille wiedergeben!?«, fragte der Alte, doch war Jack zu keiner Bewe­gung imstande. Vielmehr spürte er, wie ihm allmählich das Früh­stück vom Morgen sauer aufstieß.
»Was ...« Er schluckte, versuchte derweil seine Gedanken zu ordnen und den Anblick zu verarbeiten. »Wer oder was bist du!?«
»Ah!« Die Finger fanden endlich zu ihrem Ziel. Nachdem die Brille wieder aufrecht auf seiner Nase saß, stand der Alte Jack Antwort. »Natürlich kann ich dir sagen, wer ich bin. Mein Name ist Jeff. Jeff Morgan. Und wie du dich eben selbst davon überzeu­gen konntest, bin ich tatsächlich blind.« Ein weiteres gackerndes Lachen ertönte. Der Penner warf den Kopf in den Nacken, wäh­rend er sein ungepflegtes Maul aufsperrte.
Kopfschüttelnd betrachtete Jack das Szenario. Er versuchte das Bild zu verdrängen, doch schoss es ihm immer wieder in den Kopf. Das Gesicht des Alten. Und mittendrin zwei schwarze Höh­len, wo eigentlich hätten die Augen sitzen sollen. Darin war nichts. Kein abgestorbenes Gewebe, keine Sehnerven. Nichts. Nada.
War ein normales menschliches Wesen überhaupt imstande, in diesem Zustand zu überleben!?
»Ich schätze du erwartest eine Erklärung«, sagte Jeff, wobei er einen Schleimklumpen aus hustete, der tief in seiner Kehle fest­saß. »Diese dreckigen Schlitzaugen fanden es anscheinend un­glaublich komisch, mir mit einer Gabel die Augäpfel auszuste­chen.« Er erklärte es so ruhig und gelassen, als ob er seine Ein­kaufsliste aufzählen würde. »Jedenfalls meinten die, dass ich tot sei und warfen mich in solch einen stinkenden Tümpel, aus dem ich mich irgendwann retten konnte. Bin eben eine echte Kämp­fernatur.«
Derweil schüttelte Jack immer noch den Kopf.
»Claire.« Er packte ihren Oberarm, wobei er versuchte, sie auf die Beine zu ziehen. »Wir gehen.«
Sie hingegen blieb weiter sitzen. Den Kopf hielt sie dabei ge­senkt, sodass das lange Haar die Sicht auf ihre Mimik verbarg.
»Komm endlich! Der Alte hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Lass uns endlich verschwinden!«
Tatsächlich zeigte sich ihrerseits eine Rührung. Claires rechter Arm fuhr empor. So schnell konnte Jack gar nicht reagieren, da spürte er bereits den unerbittlichen Druck um seinem Handge­lenk. Ausgerechnet das, das bereits in Bandagen lag.
»O Gott, nein!« Ehrfurcht trat in Jacks Augen. Sie würde doch wohl nicht etwa ...
»Jack, bitte!« Claires hübsches Gesicht benetzten Tränen. »Er hört das Klopfen auch.«
»Der hört mehr, als nur ein Klopfen«, raunte Jack finster. »Merkst du nicht, dass dir der Typ einen Floh ins Ohr setzt!?«
Claire aber, war nicht mehr umzustimmen. Ihr Kopf schnellte in die Richtung des Alten, der das Szenario stetig lächelnd beob­achtete. Flehend sah sie ihn aus ihren eisblauen Augen an. »Bitte, sagen Sie mir, woher es kommt. Was ist das? Wie werde ich es wieder los?«
Ein Kichern drang aus der Kehle des Alten. »Ganz schön viele Fragen, auf die ich dir keine Antwort geben kann.« Er hielt kurz inne, bevor er fort fuhr. »Das heißt noch nicht.«
Ihre angespannten Züge wurden durch den plötzlichen Schreck, der sie einholte, weicher.
»Was soll das heißen?« Fassungslos ergriff sie eine Hand des Penners. »Sie sind bis jetzt der einzige, der mir helfen kann, aber weigern sich!?«
»Wie gesagt«, entgegnete er gelassen. »Noch nicht. Erst musst du mir eine Frage beantworten.«
Claires Mundwinkel begann zu zucken. Ein Zeichen von Ner­vosität. Den beiden Männern blieb nicht vorenthalten, wie sich ihr Atem beschleunigte. Doch im Gegensatz zu Jack, nahm es Jeff gelassen. Er richtete den Blick auf seine Hand, die Claire noch im­mer fest gepackt hielt. Der Griff war bereits so stark, dass sich ihre Fingerknöchel weiß unter der Haut hindurch zeichneten.
Seine Augenbrauen hüpften hinauf. So viel Stärke hätte er selbst ihr nicht zugetraut. Besäße Jeff Augen, sie hätten vor Freu­de geglänzt.
»Geh lieber in Deckung, mein Großer«, sagte er zu Jack, der nichts weiter tun konnte, als mit offenem Mund zu zusehen, wie seine Freundin erneut die Wandlung zu der Bestie vollzog. »Erst einmal in Rage kann sie so schnell nichts mehr aufhalten.«

Impressum

Texte: Stacie McQueen
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2012

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