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One Problem follows the other


One Problem follows the other



Tap tap tap tap tap tap tap.

Sein Kopf war vollkommen leer. Das einzige, was er wahrnahm waren seine Schritte. Zögernd und beklommen. Tap tap tap tap.

Mit jedem weiteren Schritt, den er auf den Zug zu machte, stieg die Angst und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sein Kopf wieder voll war mit den Erinnerungen.
Tap tap Stopp.

*Bamm!* Mit einem Blick auf die Lock war alles wieder da.
Eigentlich war es immer da. Die Bilder gingen nie aus seinem Kopf, nie. Die ganzen Ferien war kein Tag vergangen, an dem er nicht daran denken musste. Genauso wie die letzten beiden Jahre kein Tag vergangen war, an dem sie ihn nicht bloßgestellt oder gehänselt hatten.
Angefangen hatte es am zweiten Schultag und geendet hat es nie. Und doch klammerte er sich an die winzige Hoffnung, dass sich in diesem Jahr etwas ändern könnte. So unwahrscheinlich das auch war.
Er wusste, dass er selbst etwas ändern könnte, wenn er nur endlich alles sagen würde. So oft schon wollte er zu einem Lehrer gehen oder zu seinen Eltern und alles erzählen.
Aber er war zu langsam gewesen. Seit dem ersten Weihnachten war klar, dass er niemals etwas sagen würde.
Das hatten sie ihm deutlich genug eingebläut.
Der Junge sah seinen Vater unauffällig an und wünschte sich wie so oft, etwas mehr von ihm zu haben als das Aussehen. Der würde sich niemals so runtermachen lassen, dazu war er viel zu stolz.
Scorpius kam sich dagegen ziemlich mickrig vor. Eine Schande für seinen Vater, für seine ganze Familie.
Scorpius schüttelte den Kopf. Das würde er bald wieder zu hören kriegen, da musste er nicht auch noch selber dran denken!
Er warf einen Blick auf die Uhr und seufzte. Noch mehr Zeit konnte er kaum herausschinden.
Mit einem weiteren leisen Seufzer drehte er sich zu seinen Eltern um.
Astoria und Draco Malfoy. Scorpius musste ein Grinsen unterdrücken. Draco… das klang mehr wie ein Spitzname, als der Vorname eines Mannes, der in der Öffentlichkeit vollkommen gefühlskalt war.
Seine Mutter lächelte ihn an und drückte ihn dann fest. „Mach’s gut, mein Schatz und streng dich an, ja?“ Er lächelte zurück. „Ich bemüh mich.“ „Natürlich. Ich bin sicher du schaffst genauso ein hervorragendes Zeugnis wie letztes Jahr. Nicht wahr, Liebling?“
Sie wandte sich an ihren Mann. Der behielt seinen kalten Gesichtsausdruck bei und warf Scorpius lediglich einen etwas weniger kalten Blick zu.
„Davon gehe ich aus.“

Für Scorpius war das wie ein Schlag in den Magen. Sein Vater hatte es zwar noch nie ausgesprochen, aber Scorpius hatte das Gefühl, dass er nicht sehr stolz auf seinen Sohn war.
Das war weiterer Grund, warum er sich nicht traute, seinen Eltern – besonders seinem Vater – etwas zu erzählen.
Er konnte sich gut vorstellen, dass der ihn als eine Memme bezeichnete. Oder als Schande!
Schließlich erwartete er von seinem Sohn eine ebenso perfekte Maske gegenüber der Öffentlichkeit.
Scorpius schluckte und hoffte, dass man ihm nicht ansah, wie sehr ihn das traf und verletzte. Na ja, eigentlich sollte er es schon merken

, ging es dem Blonden durch den Kopf
„Ich werde versuchen euren Anforderungen nachzukommen“, antwortete er ganz geschäftsmäßig und förmlich.
Dracos Mundwinkel zuckten für den Bruchteil einer Sekunde einen Millimeter nach oben. Klar, das ist genau das Verhalten, das er von mir in der Öffentlichkeit verlangt!


„Ich werde nun gehen.“ Gott, hört sich das bescheuert an.

Sein Vater nickte ihm zu, seine Mutter lächelte ihn noch einmal an. „Pass auf dich auf, mein Junge.“
Und kaum hatte er seinen Vater geschafft, rückte schon das nächste Problem nach.
Ein Problem, das er nicht zu lösen wusste. Er lief zum Zug, dabei gingen ihm wieder die Dinge, die sie letztes Jahr mit ihm angestellt hatten durch den Kopf.
Während er nach einem leeren Abteil suchte und darauf achtete ihnen nicht jetzt schon in die Arme zu laufen, überlegte er, was sie wohl dieses Jahr auf Lager hatten.
Im ersten Schuljahr hatten sie ihn hauptsächlich verbal angegriffen. Ihn niedergemacht, beleidigt, bloßgestellt, Streiche gespielt.
Im zweiten war das dann nicht mehr genug für sie und es fing an mit schubsen, Bein stellen, dann ließen sie ihn der Luft baumeln und letzten Endes bekam er Schläge ab.
Außerdem verbrachte er viele, viele Nachmittag eingesperrt in der Besenkammer und viele, viele Nächte im Gemeinschaftsraum, um seine Arbeiten noch einmal zu schreiben, weil sie ihnen in die Hände gefallen waren.

Sie,

das waren der Potter- und der Weasley-Nachwuchs. James und Rose, beide 2 Jahre älter, Hugo und Lily, beide ein Jahr älter und der gleichaltrige Albus, mit dem er sich ein Zimmer teilte.
Wie oft hatte er diesen sadistischen Hut verflucht, weil er ihn nach Gryffindor gesteckt hatte. Scorpius war der festen Überzeugung, dass da was faul gewesen war.
Immerhin war die Granger-Weasley die Direktorin. Und es war kein Geheimnis, dass sie, ihre Familie und die Potters seinen Vater nicht leiden konnten.
Scorpius hegte den leisen Verdacht, dass sie ihre Kinder gewissermaßen gegen ihn aufhetzten, aber er hätte es nie gewagt, das in irgendeiner Weise zu erwähnen.
Er setzte sich in ein leeres Abteil und ließ seinen Kater Sweeney aus dem Käfig. Zum Glück hatten sie ihm noch nie etwas angetan. Ihn zu verhauen, war eine Sache, aber wenn sie sich an seinem Kater vergreifen würden, würde er durchdrehen. Dann wäre es ihm egal, wie sehr James und Hugo ihm gedroht hatten.
Sein Kater rollte sich auf seinem Schoß zusammen und schnurrte, als Scorpius anfing ihn zu streicheln. Er hatte ungefähr eine halbe Stunde Ruhe, bis sich alle anderen begrüßt hatten und sie anfingen ihn zu suchen.
Er beschloss diese kurze Zeit noch zu genießen.

/.

Lily sah ihren Brüdern gelangweilt zu, wie sie ihre ganzen Freunde begrüßten. Sie selbst hatte Sally und Wendy, ihre beiden besten Freundinnen, schon begrüßt. Die zwei wollten alles von ihren Ferien hören, aber Lily hatte im Moment keine Lust, alles zu erzählen. Sie sah zu Rose, die ebenfalls ziemlich gelangweilt schien.
Ein Wunder! Lily hätte darauf gewettet, dass sie mit ihren Freundinnen durch den Zug gehen und nach den Jungs sehen würde. Schließlich waren fast zwei Monate vergangen.
Die Kerle würden sich schon ziemlich verändert haben und Rose war normalerweise sofort dabei, ein paar Hübschis anzumachen.
Lily beschloss, das in die Hand zu nehmen und stupste Rose an. Die fuhr herum, plötzlich ziemlich aufgedreht und packte Lily an der Hand. „Komm, wir suchen den kleinen Malfoy und sagen ‚Hallo’. Das überlassen wir diesmal nicht den Jungs!“
Lily war sofort Feuer und Flamme und folgte Rose durch die Waggons.
Scorpius Malfoy niederzumachen, würde ihr auf jeden Fall den Tag versüßen. Sie fanden ihn im vorletzten Waggon.
Die Mädchen grinsten sich teuflisch an und schoben die Tür auf.

/.

Scorpius schreckte zusammen, als die Tür aufging. Lily und Rose kamen herein, schlossen die Tür und lehnten sich lässig dagegen. Ihr Gesichtsausdruck war vielsagend.
Scorpius schluckte.
„Na Malfoy. Wie waren denn deine Ferien so?“ In Lilys Augen spiegelte sich teuflische Freude, Freude darauf, ihn wieder fertig zumachen.
Rose trat einen Schritt nach vorn.
„Hast du dich gut erholt?“, fragte sie mit einem süffisanten Lächeln.
Sweeney hörte auf zu schnurren und verzog sich in seinen Käfig. Scorpius sah sein letztes Bisschen Schutz von dannen ziehen.
Rose bemerkte das natürlich und setzte sich zwischen Scorpius und seinen Kater. „Nun sag schon!“ Scorpius schluckte. Es war so ziemlich egal, was er antwortete, sie würden so oder so etwas finden, um ihn runter zumachen.
„Ein wenig“, brachte er schließlich stotternd hervor und zauberte Rose damit ein Lächeln ins Gesicht.
Sie tätschelte seine Wange etwas zu fest. „Das ist doch schön.“ Dann kniff sie ihn, lehnte sich vor und sah ihm direkt in die Augen. „Aber das hast du nicht verdient. Weil du ein Malfoy bist! Nur keine Sorge, wir bringen dich wieder auf deinen Rang zurück!“
Sie stand auf und bedeutete Lily ihr zu folgen. „Ich komm gleich nach“, meinte die, ohne ihren Blick von dem eingeschüchterten Jungen abzuwenden. Sie sah ihn eingehend an, jeden Zentimeter seines Gesichts.
Seine Augen waren aufgerissen, blickten ängstlich und scheu. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe. Seine ganze Mimik, wirkte angespannt, verschreckt.
Lily genoss diesen Anblick, während ihr ein paar Ideen für ihn durch den Kopf gingen. Schließlich blieb sie an einer hängen, die ihr besonders gut gefiel.
Ein teuflisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Das allerdings ließ Scorpius noch blasser werden, er ahnte Schlimmes. Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und verließ das Abteil.
Scorpius sank in seinen Sitz und schluckte. Dieses Schuljahr würde die Hölle werden.


Curtains, Make-up and broom closets


Curtains, Make-up and broom closets



Als Scorpius am ersten Schultag aufwachte, seufzte er innerlich auf.
Am Abend zuvor war er erstaunlich freundlich begrüßt worden. Nur die üblichen Beleidigungen und Kommentare waren gefallen.
Dass er eine Schande für die Zauberwelt war und er hier nichts zu suchen hatte. Dass er es nicht verdient hatte, unterrichtet zu werden.
Dass man ihn und seine ganze Familie lebenslang nach Askaban sperren sollte.
Erstaunlicherweise war gar nicht mehr passiert, aber Scorpius war sich sicher, dass es nicht so bleiben würde.
Tatsächlich wurde er - kaum, dass er sich aufgesetzt hatte – von den Vorhängen seines Bettes gewürgt. Das hatte er schon einige Male über sich ergehen lassen müssen, aber dieses Mal war es um einiges schlimmer.
So sehr er auch an dem Stoff zerrte, der Druck um seine Kehle wurde nicht leichter und vor seinen Augen fingen Sternchen an zu blinken.
Er röchelte und erst, als ihm schon ganz schwindlig war, ließen die Vorhänge von ihm ab. Während er hustend nach Luft schnappte, hörte er Albus’ gehässiges Lachen. Weitere stimmten mit ein. Ihr Lachen würde Scorpius überall wieder erkennen. Er schob den Vorhang, der ihn gerade eben noch fast erwürgt hätte, zur Seite und erblickte die Potters und Weasleys.
Rose beruhigte sich als Erste wieder und kam auf ihn zu. „Meine Güte, Malfoy. Du hast deine Haare auch überhaupt nicht unter Kontrolle, he?“ Sie zog ihm schmerzhaft an den verwuschelten Haaren. „Ihr solltet ihn ein bisschen herrichten, Mädels“, meinte James.
Lily kam nun ebenfalls zu ihm und begann zusammen mit Rose seine Haare komplett zu verfilzen. Hilflos versuchte er ihre Hände abzuwehren und bemühte sich gleichzeitig nicht loszuheulen oder zu schreien. Die beiden rissen nämlich gnadenlos an den Strähnen und kicherten fröhlich dabei.
Tränen schossen ihm in die Augen, als Rose so heftig zog, dass sie ihm eine ganze Strähne ausrupfte und ein Wimmern entfuhr ihm.
„Alter, schau dir diese Heulsuse an!“ James durchquerte mit wenigen Schritten das Zimmer. Lily und Rose packten Scorpius an den Schultern und hielten ihn fest.
Nicht, dass er jemals auf die Idee gekommen wäre, auch nur zu versuchen, wegzulaufen.

Allein die forsche, entschlossene Art, mit der James auf ihn zukam und sich vor ihm aufbaute, jagte Scorpius einen kalten Angstschauer über den Rücken.
Der große Gryffindor langte nach seinem Kinn, hob es grob an und zwang Scorpius somit, ihn anzusehen.
Dessen Sicht war etwas verschleiert von den Tränen, die in seinen Augen standen.
„Was ist los, Malfoy? Da wollen wir einmal nett zu dir sein und dich hübsch machen und du heulst. Das ist sehr unhöflich, weist du?“ Er verstärkte seinen Griff um Scorpius’ Kiefer.
„Wir sollten dir mal ein paar Manieren beibringen! Deine Eltern haben das ja scheinbar nicht geschafft. Waren wohl zu sehr mit Todesser-Dingen beschäftigt.“
Scorpius Kiefer schmerzte von James harten Griff und die Mädchen bohrten ihm ihre langen Fingernägel in die Haut. Er presste seine Lippen aufeinander, um nicht wieder anzufangen zu wimmern, doch er konnte nichts dagegen tun, dass ihm eine Träne aus dem Auge lief und eine feuchte Spur auf seiner blassen Wange hinterließ.
James Gesicht verfinsterte sich. Er drückte Scorpius’ Kopf hart nach hinten und ließ ihn dann los. Der Kleinere senkte den Kopf und starrte fest auf seine Decke. Von seinen verunstalteten Haaren fielen ihm ein paar Strähnen ins Gesicht, aber die reichten nicht um zu verbergen, dass ihm die Tränen jetzt ungehindert übers Gesicht liefen und von seiner Nasenspitze tropften.
Einen winzigen Moment lang dachte er, dass sie jetzt gingen, denn Rose und Lily gaben seine Arme frei. Doch diese kleine, naive Hoffnung wurde bereits im nächsten Augenblick zerstört.
Diesmal war es James, der ihn fasste. Er zog Scorpius ganz nah an sich heran. So nah, dass der sein Deo riechen und die kleinen Stoppeln auf James’ Wangen sehen konnte. James’ Augen blickten ihn durchdringend und zornig an.
„Jetzt hör mir mal zu, du kleiner Bastard. Wenn du gedacht hast, dass sich dieses Schuljahr irgendwas ändert, hast du dich geschnitten. Es gilt nach wie vor dasselbe. Du bist ein nutzloser, kleiner Hurensohn und genauso werden wir dich behandeln. Und solltest du es wagen, das Maul aufzumachen, dann wirst du dir wünschen, du wärst nie geboren worden!“
Dann stieß er Scorpius von sich, richtete seinen Umhang und wandte sich wieder an die Mädchen.

„Er gehört euch.“ Er gab Hugo und Albus ein Zeichen und die drei verließen das Schlafzimmer.
Rose und Lily drehten sich mit einem fiesen Grinsen im Gesicht zu ihm um. Lily hob ihren Zauberstab. Die Panik, die gerade in Scorpius aufgestiegen war, steigerte sich noch beim Anblick des auf ihn gerichteten Zauberstabs.
Es bedarf nur einer klitzekleinen Bewegung und im nächsten Moment klebten Scorpius Wimpern ganz furchtbar und fühlten sich merkwürdig schwer an.
Er begann heftig zu blinzeln, seine Augen brannten.
„Gute Arbeit, Lily. Jetzt ist er fertig für den Unterricht.“
Scorpius hörte, wie die beiden die Tür schlossen und die Treppe nach unten gingen. Sofort sprang er auf und rannte ins Badezimmer. Er umklammerte den Rand des Waschbeckens, blinzelte weiter, bis er endlich wieder etwas sehen konnte und schnappte erschrocken nach Luft.
Um seine Augen herum war alles pechschwarz. Lily hatte ihm schwarzen Eyeliner und Wimperntusche angehext, die schon ziemlich verlaufen war.
Verzweifelt griff er nach einem Handtuch, hielt es unters Wasser und fing an damit über seine Augen zu rubbeln.
Sie schmerzten immer mehr, genauso schmerzten auch immer noch sein Kiefer und seine Arme.
Er ließ für einen kurzen Augenblick das Handtuch sinken und besah sich seine Oberarme. Dort sah man deutlich die Abdrücke der Nägel. Morgen würden sie sicher ganz blau sein.
Scorpius schniefte. Womit hab ich das verdient?!

, dachte er bitter, während er weiter seine Augen saubermachte. Er rubbelte und rubbelte, aber das einzige, was er wegbekam, war das Verlaufene. Die schwarzen Striche um seine Augen herum blieben.
Seufzend zauberte er einen Tempus und musste erschrocken feststellen, dass der Unterricht bereits in 10 Minuten anfing. Er zog sich blitzschnell an, schnappte seine Sachen und warf noch einen Blick in den Spiegel. Nun waren seine Augen auch noch ganz rot und verquollen vom vielen Reiben. Ein erneuter Blick auf die Uhr zeigte, dass er sich nun wirklich beeilen musste.

So hastete er durch die Gänge bis zum Klassenzimmer. Sie hatten Kräuterkunde und die erste Stunde im Schuljahr fand nicht im Gewächshaus statt.
Scorpius stieß die Tür auf und die Gespräche verstummten schlagartig.
Alle drehten sich zu ihm um, einige begannen zu kichern.
„Sie sollten das nächste Mal etwas früher aufstehen, wenn Sie Make-up auflegen wollen, Mister Malfoy! Sie hätten stattdessen lieber einen Kamm in die Hand nehmen sollen!“ Professor Longbottoms Stimme hallte höhnisch durch den Raum und stiftete die ganze Klasse zu lautem Gelächter an.
Scorpius lief mit gesenktem Kopf zu seinem Platz, ganz nach vorn, an all seinen lachenden und spottenden Mitschülern vorbei.
Und schon wieder brannten Tränen in seinen Augen, denn das einzige, das noch mehr schmerzte, als die körperlichen Verletzungen, war die Demütigung.
Und die Tatsache, dass sich der mit Abstand bescheuertste Lehrer über ihn lustig machte.
Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und wartete, bis das Gelächter verstummte. Währenddessen hallten James’ Worte in seinem Gedächtnis. Wenn du gedacht hast, dass sich dieses Schuljahr irgendwas ändert, hast du dich geschnitten.

Wie hatte er nur erwarten können, dass irgendetwas anders sein würde?? Das 3. Schuljahr hatte gerade begonnen, vier weitere würden noch folgen und es bestand nicht die geringste Chance, etwas ändern zu können.

//,

Die weiteren Stunden verliefen gleich.
Gelächter, dummer Kommentar vom Lehrer, noch mehr Gelächter.
Zwischen den Stunden wartete er, bis fast alle Schüler in ihren Klassenzimmern waren, bevor er sich auf den Weg zu seinem eigenen Unterricht machte.
Es mussten ihn ja nun wirklich nicht alle so rumlaufen sehen.
Die letzte Stunde vor der Mittagspause war Zauberkunst und wurde von der Direktorin unterrichtet. Scorpius ging mit einem mulmigen Gefühl in das Klassenzimmer und bereitete sich auf einen weiteren Kommentar vor.
Die Granger-Weasley sah ihn erst etwas verwundert an. „Mister Malfoy, Sie sind nun das dritte Jahr an dieser Schule und sollten inzwischen wissen, dass wir hier Wert auf ein gepflegtes Aussehen legen“, meinte sie ärgerlich.
Sie schwang ihren Zauberstab und Scorpius Haare fielen ihm wieder glatt und sauber ins Gesicht. Er schüttelte ein wenig den Kopf, damit sie ihm nicht in den Augen hingen. „Und das Schminken sollten Sie auch lieber den Mädchen überlassen“, fügte die Direktorin hinzu, schwang erneut ihren Zauberstab und Scorpius Wimpern fühlten sich nicht länger schwer und klebrig an.
„Dann hätte sie ihm das Make-up aber dran lassen müssen“, flüsterte Albus hinter ihm und sein Banknachbar fing an zu lachen. Scorpius starrte auf die Tischplatte, seine Wangen brannten. Bis jetzt hatten sie sowas noch nie gesagt, aber es war nur wahrscheinlich, dass sie ihm von nun an auch solche Dinge an den Kopf werfen würden.

/.

Beim Essen ließen sie ihn in Ruhe. Natürlich, es sollte ja keiner mitbekommen, was sie mit ihm anstellen. Am Ende würde sie noch einer verpfeifen.
Deshalb ließ er sich immer viel Zeit zum Essen und bekam dafür schon unzählige zornige Blicke zugeworfen.
Als er die große Halle dann endlich verließ um sich für den Rest der Pause in die Bibliothek zurückzuziehen (ein weiterer Ort, wo sie ihm nichts antaten), fingen sie ihn ab.
„Hey Malfoy, was ist denn mit der tollen Frisur passiert, die wir dir gemacht haben?“ fragte Rose spöttisch.
„Eure Mum hat sie weggemacht. Und sie meinte, nur Mädchen sollten Make-up tragen“, erwiderte Albus an Scorpius’ Stelle.
James’ Mundwinkel zuckten nach oben. „Und warum hat sie’s ihm dann nicht drangelassen?“ „Hab ich auch gesagt“, gab Albus zurück und die Jungs brachen in schallendes Gelächter aus.
Scorpius machte ein paar Schritte in Richtung Bibliothek, doch Rose packte ihn am Ärmel und hielt ihn fest. „Hier geblieben!“
James hörte auf zu lachen. „Wollte der gerade abhauen?!“ Rose nickte. „Wo willst du denn hin? Hausaufgaben machen? Will unser kleines Streberlein ganz brav seine Aufgaben machen? He?“ Scorpius öffnete den Mund, traute sich dann aber doch nicht etwas zu sagen.
„Los, antworte ruhig. Sag, warum du schon bei der ersten Gelegenheit Hausaufgaben machst!“
Scorpius antwortete zögerlich: „W-Weil ich sie machen muss. W-Wegen den N-Noten.“
„Ouuhh. Natürlich. Ich hab vergessen, dass du ja ein totaler Loser bist und nichts kannst, wofür deine Eltern stolz auf dich sein könnten. Da musst du natürlich mit deinen Noten glänzen, damit du zu Hause überhaupt etwas Aufmerksamkeit bekommst.“
Du weißt gar nicht, wie recht du damit hast,

schoss es Scorpius durch den Kopf.
James griff in seine Haare und zog seinen Kopf zurück. „Seien wir doch mal ganz ehrlich, deine Eltern wären doch nur dann stolz auf dich, wenn du hier ein paar Muggelgeborene um die Ecke bringen würdest.“
„Das ist nicht war!“ Scorpius schrie es beinahe.

„Alter, der Kerl hat dir grade knallhart widersprochen!“, rief Hugo.
James’ Gesicht verfinsterte sich, er presste seine Kiefer aufeinander. „Ich hab’s gemerkt. Und er wird jetzt merken, dass er das zu lassen hat.“
Scorpius wusste schon, was jetzt passieren würde und er bereute zutiefst, das er was gesagt hatte. Schon wurde er von James und Albus den Gang entlang gezerrt, bis zu einer kleinen Tür. Hugo riss sie auf und die anderen beiden stießen Scorpius in den engen Raum hinein.
Er landete auf einem Stapel Eimer, der unter ihm mit lautem Krach zusammenfiel.
„Dann denk mal schön darüber nach, was du gerade getan hast.“ James klang wie ein strenger Vater, der sein Kind zur Strafe in den Keller sperrte, weil es etwas angestellt hatte.
Scorpius hatte sich aufgerappelt und wandte sich zur Tür. James spuckte ihm vor die Füße und schmiss die Tür mit einem Knall ins Schloss.
Seufzend schob er die Eimer zur Seite, setzte sich zwischen die Besen an die Wand und schloss die Augen.
Der erste Schultag war gerade zur Hälfte vorbei und er könnte sich jetzt schon im schwarzen See ertränken. Der Gedanke schien verlockend.
Einfach immer weiter in das Wasser zu gehen, bis es über seinem Kopf zusammen schwappte und alles, was da oben geschah, einfach zu vergessen.
Diese schöne Illusion wurde allerdings von der Tatsache getrübt, dass es bestimmt kein angenehmes Gefühl war, wenn sich die Lungen nach und nach mit Wasser füllten und man langsam erstickte.
Dabei hatte er ständig das Gefühl zu ersticken. Er hatte das Gefühl für seine Eltern nicht gut genug zu sein und ihren Ansprüchen nicht nachkommen zu können. James hatte einen wunden Punkt bei ihm getroffen.
Er fühlte sich zu Hause nicht richtig wohl. Zwar war sein Vater dort anders als in der Öffentlichkeit, aber wenn er Scorpius ansah, konnte der immer ein wenig Resignation in den grauen Augen sehen. Seinem eigenen Sohn gegenüber resigniert!


Das machte Scorpius wütend. Das einzige, was man an dieser Schule machen konnte, war dieses verdammte Quidditch. Als ob ich auch nur den Hauch einer Chance hätte, in das Team zu kommen!

, dachte er bitter.
Gute Noten zu schreiben war das einzige, was ihm blieb um bei seinen Eltern Eindruck zu schinden. Und gleichzeitig wusste er, dass das seinem Vater nicht reichte. Der ließ ihn das auch wissen. Teilweise unbewusst, teilweise absichtlich. Da konnte man sich einfach nicht wohl fühlen!

Der einzige Grund, warum er in den Ferien nach Hause ging, war, dass er Abstand vom Schloss brauchte. Überall, wo er hinging, an beinahe jedem Ort im Schloss, wurde er an etwas erinnert, was sie ihm getan hatten.
Für ihn bedeutete diese Schule, dieses Gebäude keinen Schutz.
Da hieß es, dass Hogwarts hervorragend gegen Angreifer und Böses von draußen geschützt war und dabei waren die Monster schon innerhalb der Mauern.
Scorpius beschloss nicht mehr weiter über all das nachzudenken. Er würde sich nur zu weit reinsteigern und irgendwann eine große Dummheit begehen, die für ihn eventuell als Wasserleiche im schwarzen See enden könnte.
Deshalb zog er sein Buch, ein Blatt Pergament und Schreibzeug aus seinem Rucksack und machte sich an seine Aufgaben.
Er musste später, wenn sie ihn wieder rausließen, nur unbedingt darauf achten, dass sie seine Arbeit nicht in die Finger bekamen.
Natürlich könnte er die Tür auch einfach mit ‚Alohomora’ öffnen und verschwinden, aber dann könnte er sich wirklich gleich ertränken.


Whomping Willow


Whomping Willow


Die nächsten Wochen verbrachte Scorpius nun meist in einer Besenkammer. Dort erledigte er seine Aufgaben, durfte sie aber gelegentlich die halbe Nacht lang noch einmal machen, weil sie den anderen in die Hände gefallen waren.
Die ließen die Blätter dann vor seinen Augen in Flammen aufgehen und streuten ihm die Asche in die Haare.
Inzwischen war es Mitte November. Der Schnee ließ noch auf sich warten, dafür regnete es häufig und das ganze Gelände verwandelte sich in eine Schlammlandschaft.
An einem Donnerstagnachmittag kämpfte sich die Sonne dann aber doch durch die Wolken und Scorpius beschloss seine Aufgaben draußen zu machen.
Er setzte sich zwischen die großen Steine beim Ausgang, der zu Hagrids Hütte führte. Er mochte seinen Pflege-magischer-Geschöpfe-Lehrer nicht sehr. Er war zwar relativ freundlich zu Scorpius, hatte aber genauso Vorurteile gegen ihn wie alle anderen auch.
Seine Lieblinge (natürlich die Potters und Weasleys) waren bei ihm immer willkommen und bekamen von ihm die beste Behandlung – natürlich!
Was Scorpius außerdem an dem Halbriesen störte, war dessen unglaubliche Tollpatschigkeit und Unsicherheit. Im Unterricht warf er seinen Schätzchen andauernd hilfesuchende Blicke zu. Und bei seinem Getrampel und Gerempel musste man wirklich Angst haben.
Was Scorpius allerdings gefiel, war Hagrids Vorliebe für Drachen und sonstige magische Wesen. Na ja, Knallrümpfige Kröter mal ausgeschlossen.
Scorpius hatte schon unzählige Bücher über magische Geschöpfe gewälzt. Hauptsächlich jedoch über solche, die man früher oder später auch im Unterricht durchnahm. So hatte er zum Beispiel noch nicht viel über Drachen gefunden. Das betrübte ihn ein wenig, aber konnte sich nicht länger darüber Gedanken machen. Er musste sich jetzt auf seine Aufsätze konzentrieren.
Eine ganze Weile lang genoss er nebenbei die Sonne auf seinem Gesicht, lauschte dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel, die noch nicht gen Süden gezogen waren, und dem leise Rauschen des Windes, der durch die Wipfel der Bäume fuhr.
Diese wunderbare Idylle wurde irgendwann von schnellen Schritten, Gelächter und Geschnatter durchbrochen.

Scorpius schaute von seinem Zaubertränkeaufsatz auf und sah James, Hugo, Albus und die Mädchen aus dem Torbogen kommen.
Erschrocken rückte er hinter einen der Steine und betete, dass sie ihn nicht entdeckten.
Sie wollten offensichtlich zu Hagrid und wenn sie erst mal in der Hütte waren, könnte er sich davonschleichen.
Er spitzelte um den Stein herum und sah sie den kleinen Trampelpfad hinunterlaufen. Noch ein paar Sekunden, dann waren sie unten und er konnte verschwinden. Jetzt klopften sie an die Holztür. Scorpius nagte an seiner Unterlippe. Sollte er warten, bis sie drin waren oder jetzt schon loslaufen??
Langsam schob er sich um den Stein herum und checkte die Lage. Hagrid hatte noch nicht geöffnet.
Wird schon gut gehen

, dachte er sich, griff nach seinem Rucksack und lief leise, aber schnell auf den Torbogen zu.
„Hey! Schau mal wer da ist!“
Scorpius zuckte zusammen. Er könnte jetzt einfach losrennen, aber sein Gehirn setzte aus. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren.
„Wenn Hagrid nicht da ist, können wir uns ja mit ihm beschäftigen.“ Albus’ Stimme wurde lauter, ganz klar, sie kamen her.
Scorpius könnte sich ohrfeigen! Warum war er nicht einfach weggelaufen?!
Jetzt war es zu spät. Jemand packte ihn an der Schulter und drehte ihn grob zu sich um. Es war Hugo.
Scorpius hasste diesen Rotschopf! Diese hässlichen, roten Haare. So kurz geschnitten. Und man konnte nicht wirklich unterscheiden, was Sommersprossen und was Pickel waren.
„Na Malfoy? Was hast du denn Schönes gemacht? Die Sonne genossen? Als ob das bei dir was bringen würde!“ Lily wuschelte ihm grob durchs Haar. „Sicher hat er den wunderschönen Klängen der Natur gelauscht. Das herrliche Rauschen der Bäume…“, spottete Albus in einer Fistelstimme, faltete die Hände, legte den Kopf schief und sah verträumt in den Himmel.

Rose und Lily kicherten. „Du stehst auf Bäume, Malfoy?“ Das Grinsen in James’ Gesicht verhieß nichts Gutes, deshalb zog es Scorpius vor zu schweigen.
Das gefiel dem Gryffindor allerdings überhaupt nicht. Er trat dem Jüngeren hart gegen das Schienbein. „Los! Sag schon! Stehst du auf Bäume?!“
Scorpius schüttelte hastig den Kopf. Zu mehr war er im Moment nicht fähig. Er war wie gelähmt vor Angst, denn es war offensichtlich, dass James gerade etwas Fieses durch den Kopf ging.
„Nicht? Oh, dann werd ich dir mal einen ganz tollen Baum zeigen. Der wird dir gefallen.“ Scorpius ahnte Schreckliches. Schon stellte sich Albus auf seine andere Seite und wollte ihn mit Hugo wegschleifen, doch James hob die Hand.
„Wartet, ich hab ne bessere Idee. Levicorpus!“
Im nächsten Moment hing Scorpius kopfüber in der Luft. Sein Rucksack fiel krachend auf den Boden, Tinte lief heraus. Scorpius schluckte. Wieder ein Aufsatz hinüber.
James lief los, den Zauberstab weiterhin auf den Blonden gerichtet, und ließ ihn über sich in der Luft baumeln. Die anderen folgten ihm, jeder mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht.
Sie liefen den Weg zu Hagrids Hütte hinunter, bogen jedoch kurz davor ab.
Scorpius wusste nun ganz sicher, wo sie hinwollten und begann sich zu wehren. So gut das jedenfalls ging.
Er fing an in der Luft zu strampeln. „HEY! Halt gefälligst still!“, rief James ärgerlich und schwenkte seinen Stab hin und her. Scorpius tat oben in der Luft dasselbe.
„Bitte, bitte lass mich runter!“ „Pff! Habt ihr das gehört? Klein-Malfoy gefällt es in der Luft nicht. Dabei hat er jetzt wenigstens mal ein bisschen Farbe im Gesicht.“
Klar, Scorpius Kopf musste knallrot sein, denn das ganze Blut floss hinein. Zudem wurde ihm schwindlig und ziemlich heiß.
Sie kamen ihrem Ziel nun immer näher und Scorpius’ Angst verwandelte sich in Panik.
„Bitte, Bitte lass mich runter!“, flehte er.
Doch James reagierte nicht darauf. Scorpius sah hilfesuchend zu den anderen und fing Lilys Blick auf. Sie schaute sofort wieder weg.
„James, bitte! Lass mich bitte runter.“
James blieb abrupt stehen. „Sag mal kapierst du’s eigentlich nicht?! Ich lass dich nicht runter! Schau mal, das ist der tolle Baum. Der will dich unbedingt kennen lernen. Also sag schön ‚Hallo’.“
Scorpius sah mit angstgeweiteten Augen zur peitschenden Weide. James ließ ihn langsam darauf zu schweben. Er selbst und seine Freunde blieben in sicherem Abstand stehen.
Albus und Hugo lachten über Scorpius’ nutzlose Versuche sich zu wehren.
Scorpius sah schließlich ein, dass er nichts tun konnte und betete nun nur noch leise, dass dieses Ding ihn am Leben lassen würde.

/.

Der Blick, den Scorpius ihr zuwarf, brannte sich in Lilys Gedächtnis.
Ihn zu hänseln, zu beleidigen, einzusperren, die Aufgaben zu zerstören, an den Haaren ziehen, und sonstige kleine körperliche Angriffe, damit kam Lily klar. Das machte ihr nicht wirklich ein schlechtes Gewissen.
Aber was James nun vorhatte, da wurde ihr doch ein bisschen mulmig.
Schließlich wusste jeder, dass die peitschende Weide gnadenlos war. Lily hatte keinen Zweifel, dass die Weide jeden erschlagen würde, der sich nicht retten konnte.
Und so sehr sie Scorpius auch hasste, den Tod wünschte sie ihm nicht. Hasste sie ihn überhaupt wirklich? Sie konnte ihn nicht leiden, aber Hass konnte man das nicht nennen.
Aber warum mochte sie ihn nicht? Sie konnte diese Frage nicht beantworten. Sie wusste gar nicht, wie sie über Malfoy dachte. Ihre Eltern und Verwandten hatten ihr nur immer wieder gesagt, dass die Malfoys schlechte Menschen wären. Grausame Todesser, die Muggelgeborene und auch Halbblüter verachteten. Dass Scorpius’ Vater für Dumbledores Tod verantwortlich wäre.
Dabei kannte Lily diesen Dumbledore ja gar nicht. Sie wusste alles nur aus Erzählungen. Daraus sollte sie eigentlich keinen Menschen beurteilen. Das hatten ihr ihre Eltern nämlich auch beigebracht. Lily befand sich in einer Zwickmühle.
Sie konnte sich ja nicht gegen ihre Brüder und ihre Familie stellen. Aber es war einfach nicht korrekt, dass sie Scorpius so einfach verurteilten.
Sie wurde von Albus’ und Hugos Lachen aus ihren Gedanken gerissen. Sie warf einen kurzen Blick zu Rose, die das Ganze grinsend verfolgte und schaute dann hinauf zu Scorpius, der seine Versuche, sich zu wehren, aufgab.
Lily konnte sehen, dass seine Augen schrecklich weit aufgerissen waren. Die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Sie war sich sicher, dass wenn ihm nicht das ganze Blut im Kopf hängen würde, wäre er schneeweiß ihm Gesicht. Er schloss für einen Moment die Augen, schluckte und als er sie wieder öffnete, schimmerten Tränen in ihnen.
Jetzt musste sie selbst blinzeln.
James ließ ihn langsam auf die keulenartigen Äste zu schweben. In dem Moment, als Scorpius dagegen stieß, schloss sie die Augen.

/.

Scorpius schloss die Augen, schluckte und versuchte die Tränen zurückzuhalten, während James ihn langsam auf die Weide zu schweben ließ. Die riesigen, keulenförmigen Äste mit den dünnen, peitschenähnlichen, langen Zweigen daran kamen immer näher. Dann stieß er gegen die borkige Rinde.
Einen Moment blieb alles still, dann erklang ein lautes Geräusch, wie ein Murren. Als würde man einen Schlafenden wecken und der keine Lust hatte aufzustehen.
Scorpius wäre wahrscheinlich das Herz in die Hose gerutscht, hätte er nicht kopfüber gehangen.
Die dicken Äste bewegten sich ein wenig, stießen ihn an.
Die Keule, die genau vor ihm war, schwang nach hinten. Scorpius hob schützend die Arme vors Gesicht, dann prallte der Ast gegen ihn. Sein Umhang verhedderte sich in den Zweigen und zog ihn mit.
James sprach den Gegenfluch und Scorpius war nun voll und ganz der Weide ausgeliefert.
Er klammerte sich am Ast fest und hing nun richtig herum in der Luft. Während das Blut wieder in seine Extremitäten floss, kribbelte sein ganzer Körper. Ihm wurde schlecht und schwindlig, vor seinen Augen blinkten Sterne, seine Ohren wurden taub.
Sein kompletter Körper war für einige Sekunden unzurechnungsfähig und taub, deshalb bekam Scorpius auch nicht mit, wie er in mehr als zwanzig Metern Höhe herumgeschleudert wurde.
Erst als ihm die dünnen Peitschenzweige um die Ohren klatschten, kam er wieder zu sich.
Er schrie auf. Seine Wangen brannten höllisch. Er blickte um den Ast herum, versuchte sich zu orientieren und gleichzeitig musste er darauf achten, sich weiter festzuhalten.
Da schwang ein anderer Keulenast auf ihn zu und schlug ihm mit voller Wucht auf den Arm. Scorpius hörte ein Knacken und schrie los. Tränen schossen ihm in die Augen. Sein getroffener Arm fiel schlaff an seiner Seite herunter.
Mit dem anderen versuchte er sich weiter zu halten. Jetzt schwang ihn der Baum wieder quer durch die Luft. Es fühlte sich an als würde man ihm den Magen durch den Mund heraussaugen wollen. Er schrie weiter. Seine Schreie hallten von den Hügeln um das Schloss herum zurück.
Dann zog ihn die Weide durch die Peitschen hindurch.
Sie Zweige hinterließen brennende Streifen auf Scorpius’ Körper, dort wo keine Kleidung war, schlugen sie die Haut auf.
Blut lief ihm übers Gesicht, sein rechter Arm war taub und nutzlos und sein linker schmerzte höllisch. Scorpius hatte keine Kraft mehr. Er ließ los.

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Scorpius’ Schrei ließ Lily aufschauen und miterleben, wie der dicke Ast auf ihn zu schwang. Lily vernahm das widerliche Knacken, mit dem Scorpius Arm brach und schrie entsetzt auf.
Die anderen drehten sich zu ihr um. „Lily! Verdammt! Beruhig dich!“ Sie spürte zwei harte Ohrfeigen. James schüttelte sie. „Dreh jetzt nicht durch!“ Rose wischte ihr über die Wangen. Lily hatte nicht gemerkt, dass sie weinte.
„Hugo, Rose, ihr lauft zu Hagrid und sagt, dass Malfoy auf der Weide ist!“, befahl ihr Bruder und die beiden rannten los.
Sie stieß ihn von sich und sah wie gelähmt zu, wie Scorpius den Ast losließ.
Doch er fiel nicht auf den Boden. Er landete auf einem anderen Ast und wurde wieder in die Luft gehoben.

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Scorpius hatte sich gewünscht auf den Boden zu fallen. Dann hätte er sich in Sicherheit bringen können. Doch stattdessen landete er auf einem weiteren Ast, der ihn in die Luft schleuderte. Einen Moment war er komplett allein in der Luft und er meinte, sein Magen würde sich total verknoten und fünfmal umdrehen.
Ein paar der dünnen Zweige schlangen sich um seine Arme und Beine und zogen ihn nach unten.
Er fiel zwischen den Ästen hindurch und prallte hart auf den Boden. Wieder war ein Knacken zu hören, wieder schrie Scorpius wie am Spieß, als seine Schulter zerbarst.
Salzige Tränen strömten ihm übers Gesicht, flossen in die Wunden, ließen sie brennen und vermischten sich mit seinem Blut.
Am Liebsten wäre er einfach liegen geblieben, doch eine Keule kam auf ihn zugerast.
Er rollte sich über seine gesunde Schulter zur Seite. Der Ast schlug in die weiche Erde und hinterließ eine Matschgrube.
Während sich der Baum jetzt komplett nach hinten bog, rutschte Scorpius so schnell er konnte nach hinten.
Was sich als äußerst schwierig erwies mit dem kaputten Arm.
Die Weide grollte und schwang mit einem lauten Rauschen auf ihn zu. Scorpius hob den gesunden Arm vor sein Gesicht, war sich sicher, dass es jetzt mit ihm vorbei war.
Doch ihn streifte lediglich ein kleiner Zweig. Erstaunt ließ er seinen Arm sinken und sah Professor Longbottom, der auf einer der Wurzeln stand.
Professor Finnigan zog ihn hoch. Scorpius’ verletzter Arm schlenkerte schlaff in der Gegend herum. „Lass ihn liegen, Seamus!“ Die Stimme der Direktorin ließ auf ihre Stimmung schließen – fuchsteufelswild.

Scorpius war ganz benommen. Die Wunden in seinem Gesicht und an seinen Händen brannten und bluteten, sein Schädel brummte und sein rechter Arm war komplett taub. Er sah die Direktorin mit tränenverschleierten Augen an.
„Mister Malfoy, ich hoffe Sie sind sich darüber im Klaren, was Sie gerade angerichtet haben! Gehen Sie in den Krankenflügel und lassen Sie sich wieder herrichten! Danach werden Sie unverzüglich in mein Büro kommen!“
Damit rauschte sie davon. „Kannst du laufen?“, fragte der Professor barsch.
Scorpius schüttelte benommen den Kopf, würgte und beugte sich nach vorn. Von der Seite kamen angewiderte Laute, als er sich übergab. Erneut liefen ihm Tränen aus den Augen, als er röchelte und sich sein Mageninhalt einen zweiten Weg durch seine Nase bannte.
Zwei große Hände packten ihn und der Professor ließ ihn los. Als Scorpius fertig war, richtete er sich auf. Er schwankte tierisch, um ihn herum drehte sich alles. Dann wurde er hochgehoben. „Und wieder trag ich n Malfoy ins Krankenzimmer“, hörte er Hagrid grummeln.
In Scorpius Kopf ploppte ein Ansturm von Fragen auf, doch sein Gehirn war so nett sich auszuschalten und er verlor das Bewusstsein.


Talks and Charms in Holidays


Talks and Charms in Holidays



Als Scorpius im Krankenzimmer aufwachte, wollte er am Liebsten sterben. Sein Kopf schmerzte höllisch, ebenso sein kaputter Arm. Der Geschmack in seinem Mund war so ekelhaft, dass er sich beinahe noch einmal übergeben hätte.
Er richtete sich mit einem gequälten Stöhnen auf. Sternchen blinkten und es pfiff in seinen Ohren. Er blinzelte ein paar Mal und konnte wieder klar sehen.
Sein rechter Arm war einbandagiert und in einer Schlinge. Den Versuch, seine Finger zu bewegen, gab er nach wenigen, schmerzhaften Sekunden auf.
Neben seinem Bett lag ein kleiner Spiegel. Er nahm ihn und betrachtete sein zerschundenes Gesicht. Tiefe Schnitte zogen sich über die Wangen und die Nase, den Kiefer entlang und einer ging von seiner Stirn übers Auge bis hinunter zu seiner Wange.
Scorpius legte den Spiegel schnell wieder weg. Das war einfach nur grauenvoll. Seine Hände sahen nicht viel besser aus. Mit der gesunden Hand schob er die Decke weg und zog sein Hosenbein hoch. Unter der Kleidung waren lediglich leuchtend rote Streifen zu sehen.
Er seufzte. Wie sollte er das nur seinen Eltern erklären?!
Er wusste ja noch nicht mal was er der Granger-Weasley sagen sollte.
Vielleicht war es jetzt an der Zeit, mit der Sprache rauszurücken und alles zu erzählen. Aber diesen Gedanken strich er gleich wieder. Die einzige Strafe, die man James und seinen Freunden geben konnte, ohne dass Scorpius weiter in Gefahr war, war, dass man sie lebenslang nach Askaban sperrte.
Er musste sich also etwas anderes einfallen lassen. Oder auch nicht. Vielleicht waren James und die anderen ja so nett und erzählten eine passende Lüge. Schließlich mussten sie rechtfertigen, warum sie vor Ort gewesen waren.
Scorpius hätte sich gerne noch weiter mit diesen Gedanken beschäftigt, aber Madam Pomfrey kam herein um nach ihm zu sehen.
„Wie geht es Ihrem Arm?“ „Müsste ich das nicht Sie fragen?“, gab Scorpius müde zurück. Pomfreys Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Ihr Arm müsste bald wieder geheilt sein. Das Handgelenk und der Unterarm, man bemerke, dass sowohl Elle, als auch Speiche durchbrochen sind, sollten relativ schnell wieder gesund sein.“ Scorpius hatte keine Ahnung wovon sie da sprach, aber er war beruhigt, dass die Heilung nicht lange dauern würde.
Madam Pomfrey fuhr mit ernster Stimme und besorgtem Gesichtsausdruck fort. „Die Schulter wird allerdings sehr lange brauchen. Sie ist komplett zersplittert und ich muss mir noch überlegen, ob wir Sie nicht ins St. Mungo bringen lassen. Ich werde mich da noch mit der Direktorin beraten.“ Scorpius schluckte.
„Sie wird übrigens gleich herunterkommen. Ich habe ihr mitgeteilt, dass Sie das Bett auf gar keinen Fall verlassen dürfen.“

Damit verschwand sie. Scorpius ließ sich in die Kissen sinken, seine Augen füllten sich mit Tränen.
Er wollte sich gar nicht vorstellen, was seine Eltern zu der ganzen Sache sagten. Vor allem wenn er ins St. Mungo musste.
Erneut wurde er in seinen Gedanken unterbrochen, weil die Direktorin das Krankenzimmer betrat.
Scorpius sank noch tiefer in die Kissen. Sie setzte sich auf das Nachbarbett und sah ihn streng und ernst an.
„Scorpius, ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich von diesem Vorfall sehr überrascht bin.“ Ich nicht. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie so gemein werden.


„Du bist bis jetzt noch nie unangenehm aufgefallen. Was hat dich nur zu dieser Tat getrieben?“ Der Wink von James’ Zauberstab.


Scorpius sprach seinen Gedanken nicht aus, sondern starrte nur auf die Schlinge, in der sein kaputter Arm lag.
Da er schwieg, fuhr Hermine fort. „James sagte mir, das wäre eine Art Mutprobe gewesen. Die anderen vier haben dem zugestimmt. Was wolltest du damit bezwecken?“ Ihre Stimme klang autoritär und gleichzeitig freundlich. Das brachte Scorpius in die verdammte Zwickmühle, dass er ihr alles erzählen wollte.
„Ich weiß es nicht. Keine Ahnung, das war… echt total bescheuert.“
„Allerdings! Das war es. Ich habe bereits deine Eltern informiert, sie werden morgen kommen und entscheiden, ob Sie ins Krankenhaus verlegt werden.“ Sie musterte den Jungen. Scorpius sah müde auf seine Decke. Er wollte nicht, dass seine Eltern kamen. Auf gar keinen Fall sein Vater!
Der wäre am Ende noch stolz, dass sein Sohn eine Mutprobe gemacht hatte – wenn es auch eigentlich keine war.
„Scorpius, war das wirklich eine Mutprobe oder hat man dich dazu gezwungen?“ Er kaute auf seiner Unterlippe. Warum konnte sie nicht einfach gehen?!
Er befürchtete, dass die falschen Worte aus seinem Mund kommen würden, wenn er ihn jetzt aufmachte.
„Nein, es… es war unüberlegt und – ja… es war unüberlegt. Ich hab nicht nachgedacht.“
Und wenn Sie ein wenig nachdenken würden, kämen Sie auf den Gedanken, warum keiner versucht hat mich aufzuhalten! Aber es sind ja Ihre Kinder. Klar, dass Sie an denen keine Zweifel haben!

Scorpius hoffte, dass seine Miene seine Gedanken nicht verriet, aber die Direktorin erhob sich. Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
„Vergessen Sie nicht, dass Sie noch eine Strafe erwartet, sobald Sie genesen sind.“
Sie verschwand durch die große Tür des Krankenflügels und ließ Scorpius allein zurück.

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Obwohl er todmüde war, fand er keine Ruhe. Er wälzte sich immer wieder herum, musste dabei aufpassen, dass er sich nicht auf den kaputten Arm legte.
Er konnte es sich einfach nicht bequem machen, also setzte er sich auf und sah aus dem gegenüberliegenden Fenster.
Der Vollmond erhellte das Zimmer. Ab und zu schoben sich Schleierwolken davor. Um den silbernen Mond herum blinkten die Sterne im schwarz-blauen Nachthimmel.
Neben dem Mond konnte Scorpius von seiner Position aus die Spitzen der Hügel sehen, die um das Schloss herum lagen.
Ihm wurde ziemlich warm unter der dicken Decke. Deshalb schob er sich aus dem Bett und tappte barfuß zum Fenster.
Jetzt konnte er auf den See blicken. Der Mond spiegelte sich im schwarzen Wasser, weiter hinten spitzelte ab und an ein Tentakel des Kraken heraus und schlug kleine Wellen.
Scorpius streckte sich und öffnete das Fenster. Ein kühler Luftzug schlug ihm entgegen. Er atmete die klare Nachtluft ein und fühlte sich sofort ein wenig besser.
Er versuchte nicht daran zudenken, dass seine Eltern in ein paar Stunden vor ihm stehen würden. Also starrte er weiter aus dem Fenster.
Die Nacht war ruhig, gelegentlich flog eine Fledermaus am Fenster vorbei, doch dann erklang plötzlich ein neues Geräusch.
Es klang gedämpft, leise und doch war es unverwechselbar. Scorpius bekam eine Gänsehaut und das lag nicht am kühlen Nachtwind.
Das Heulen hallte durch die Nacht, verklang über dem See. Scorpius drehte sich um und ging zu einem Fenster auf der anderen Seite des Zimmers.
Hier war es dunkler, weil der Schatten des Schlosses über der Landschaft lag. Diese Seite zeigte zum verbotenen Wald. Scorpius öffnete hier ein Fenster und diesmal war das Heulen klar und sehr laut zu hören. Es wurde gemunkelt, dass es im Wald Werwölfe geben sollte, gesehen hatte jedoch noch niemand einen.
Außerdem beteuerten die Lehrer immer wieder, dass das völliger Schwachsinn sei, weil der Wolf in den Wochen, in denen kein Vollmond war, als Mensch im Wald leben müsste.
Trotzdem hörte sich dieses Heulen nicht nach einem gewöhnlichen Wolf an. Und die Tatsache, dass der Vollmond so hell am Himmel schien, bestätigte seinen Verdacht nur noch mehr.
Scorpius schloss beide Fenster und legte sich wieder ins Bett. Er konnte das Heulen immer noch hören, ganz ganz leise.
Er zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch und kuschelte sich tief in die Kissen.

Der Gedanke, dass da draußen ein Werwolf herumlief, war lächerlich. Und dass er zur Schule kam erst recht. Dass konnten die Lehrer doch nicht zulassen!
Allerdings sind die Lehrer hier ziemlich komisch. Doof. Wer weiß, ob die den Kerl nicht sogar kennen. Womöglich ist einer von denen der Werwolf. Das hatten sie hier ja schon mal.

Scorpius drückte sich noch tiefer in die Kissen und zog sich Decke fast komplett über den Kopf.
Sein Magen zog sich zusammen, er hatte die Augen weit aufgerissen, an Schlaf war nicht zu denken.
Natürlich waren die Angst und diese Gedanken völlig ungerechtfertigt, aber Scorpius hatte das Gefühl, als würde sich nachts ein Schalter in ihm umlegen und jeden vernünftigen Gedanken ausschalten. Und er war sich sicher, dass er da nicht der einzige war.
Das ist völliger Unsinn! Da draußen ist kein Werwolf! Denk an was anderes, an was Schönes! Ich muss heute nicht im Turm oben schlafen. Morgen früh werde ich nicht von meinen Vorhängen gewürgt. Ich kann ganz beruhigt schlafen, ohne Angst zu haben, dass sie mir in der Nacht einen Finger abschneiden!



Mit diesen Gedanken beruhigte er sich schließlich und fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf.

//.

Er hatte ewig geschlafen. Als er aufwachte, war es schon fast Mittag. Außer ihm war niemand sonst im Zimmer, aber konnte Leute vor der Tür reden hören.
Es waren die Direktorin und Madam Pomfrey. Dann eine tiefe Stimme. Scorpius rutschte das Herz in die Hose, das war sein Vater. Wie lange der wohl schon da war?
Im nächsten Moment ging die Flügeltür auf und Scorpius hätte am liebsten einfach wieder die Augen geschlossen und so getan, als würde er schlafen. Doch die vier Personen, die hereinkamen, hatten schon gesehen, dass er wach war.
Er sah den kalten Blick seines Vaters, seine reservierte Haltung und betete, dass die der Direktorin galt und nicht ihm.
Seine Mutter hatte rote Augen, sie sah müde und etwas unsicher aus.
Als würde sie losrennen wollen, doch sie hielt sich zurück. Als sie vor seinem Bett standen, fing sie an zu schluchzen und schloss ihn in ihre Arme. Darauf bedacht, seinen verletzten Arm nicht zu drücken.
Scorpius spürte warme, nasse Tränen an seinem Hals herab laufen, aber er kümmerte sich nicht darum. Er schlang den Arm um seine Mutter, hielt sich an ihr fest.
Es war ihm vollkommen egal, dass sein Vater und die Direktorin daneben standen. Tränen brannten in seinen Augen, als er das Parfum seiner Mutter roch. Das war vertraut, das versprach Vertrauen und Fürsorge. Er blinzelte die Tränen zurück. Das musste nun wirklich nicht sein!
Seine Mutter ließ ihn los, wischte sich schnell über die Wangen und stellte sich zu ihrem Mann.
Draco umging es erfolgreich Scorpius anzuschauen und wandte sich an Hermine und Madam Pomfrey.
„Sollte er denn jetzt ins Krankenhaus, oder nicht?“ Die Frauen sahen ihn etwas verwundert an. Scheinbar hatten sie gedacht, er würde ebenfalls erst seinen Sohn begrüßen.
Madam Pomfrey antwortete schließlich etwas zögerlich: „Es wäre besser, wenn er ins St. Mungo gehen würde. Die Schulter ist übel zugerichtet, das sollte beobachtet werden.“
Draco schwieg einen Moment, drehte sich zu Astoria um und sah sie fragend an.
„Ich denke, dann bringen wir ihn ins Krankenhaus. Okay, Scorpius?“ Er nickte.
„Kann er dann vor den Ferien überhaupt wieder in die Schule?“
Pomfrey schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Wenn er nächste Woche wieder raus kann, was natürlich nicht sicher ist, dann sollte er die letzten zwei Wochen zu Hause bleiben. Er kann ja auch dort lernen.“
„Und um seine Noten muss er sich nicht sorgen. Sie sind einwandfrei“, mischte sich Hermine mit ein. Scorpius fragte sich, warum sie seinen Vater dabei so bestimmt ansah.
Weil die Malfoys schwiegen, fuhr sie fort: „Ich werde dann gleich seine Sachen aus dem Gryffindorturm holen lassen.“ Scorpius biss sich auf die Lippen. Musste sie das so betonen? Die Miene seines Vaters verfinsterte sich.
Als Hermine verschwunden war, setzte sich Astoria auf das Bett und streichelte Scorpius’ Hand. „Wir kriegen dich schon wieder hin“, sagte sie lächelnd und Scorpius konzentrierte sich ganz auf sie. Er wollte nicht darüber nachdenken, was wohl gerade im Kopf seines Vaters vorging.
Bestimmt nichts Gutes.

//.

9 Tage später war er zu Hause. Im St. Mungo hatte er zwei schmerzhafte Prozeduren über sich ergehen lassen müssen, aber dafür war seine Schulter wieder in Ordnung.
Seine Mutter war jeden Tag gekommen, hatte sich erkundigt wie es ihm ginge und wie die Heilung voranging. Sie hatte ihm auch etwas zu lesen gebracht – einen ganzen Haufen Bücher, weil er sie vor Langeweile geradezu verschlang.
Daheim musste er nun die Schulübungen nachholen, die er verpasst hatte. Es fiel ihm tatsächlich nicht schwer. Man hatte nichts Neues angefangen und das Alte konnte er schon ziemlich gut.
Er war also schnell fertig. Darüber war er allerdings überhaupt nicht glücklich, denn so hatte er viel zu viel Zeit zum Nachdenken.
Seine Gedanken kreisten hauptsächlich um seinen Vater, schweiften jedoch gelegentlich ab zu dem merkwürdigen Gejaule, das er aus dem verbotenen Wald gehört hatte. Das war zwar total schwachsinnig, aber wenigstens eine kleine Ablenkung.
Scorpius hatte das Gefühl, dass sein Vater ihn lieber noch mal in die Schule geschickt hätte, anstatt ihn mehrere Wochen zu Hause zu haben.
Ab dem Tag, an dem die Ferien begannen, musste er auch daran denken, dass er seinen Peinigern für ein paar Wochen mehr entgangen war. Allerdings wurde er somit auch daran erinnert, dass noch eine Strafe auf ihn wartete.
Er nahm es gelassen. Jetzt kamen erst mal Weihnachten und Silvester und Neujahr.
Feste auf die er sich freuen konnte.

//.

Weihnachten wurde aber keinesfalls so schön, wie Scorpius es sich erhofft hatte. Draco zeigte ihm nur die kalte Schulter. Jeden verdammten Tag, jede verdammte Minute, die sie gemeinsam in einem Zimmer verbrachten. Scorpius’ Stimmung hatte am 2. Weihnachtsfeiertag einen Tiefpunkt erreicht.
Er lag den ganzen Tag im Bett, las, schlief und kam nur zum Essen herunter und verschwand danach sofort wieder.
Nach dem Abendessen saß er auf seinem Bett und überlegte, was für einen Sinn es eigentlich hatte, zu Hause zu sein. Er hätte genauso gut nach Hogwarts gehen und die Ferien dort verbringen können.
Papa hasst mich!

Dieser Satz schwirrte ihm unablässig durch den Kopf.
Ich müsste Quidditch spielen können, dann würde er mich vermutlich etwas mehr beachten. Oder am Besten ein paar Rowdys suchen und mich aufspielen und prahlen. So wie er früher, als er in der Schule war. Ich müsste einfach in seine Fußstapfen treten.


Klar, das könntest du tun, aber dafür ist es jetzt sowieso schon zu spät. Außerdem wärst das nicht du!


Dieses kurze Zwiegespräch in seinem Kopf hatte eine erstaunliche Wirkung. Es schlug ein wie eine Bombe und warf seine Emotionen komplett durcheinander.
Tränen glitzerten in seinen Augen, als ihm der Gedanke kam, den er schon lange zurückschob. Den er nicht denken wollte, weil er genau wusste, dass er davon nur total depri werden würde.
Für Papa bin ich eine Null! Ich bin für jeden eine Null! Unnütz. Auf mich könnte man verzichten. Keiner würde es merken, wenn ich weg wäre. Oder es bedauern.


Es waren Gedanken, die er sofort verdrängen sollte, aber er fühlte sich im Moment einfach so schlecht, dass er nicht die Kraft hatte, optimistisch zu bleiben.
Er ließ sich auf die Seite fallen und zog die Decke über sich.
Die Tränen quollen über, liefen ungehemmt und in einem fort aus seinen grauen Augen und bannten sich ihren Weg über seine Wangen, bis sie schließlich im Kissen versickerten.
Scorpius verlor jedes Zeitgefühl, bemerkte nicht, wie es im Zimmer immer dunkler wurde und registrierte das Klopfen an seiner Tür nicht.
Dann wurde die Klinke heruntergedrückt, die Tür einen Spalt geöffnet. Ein kleiner Lichtstrahl fiel auf den Holzboden und der Kopf seiner Mutter erschien.
Scorpius schreckte hoch und schniefte leise.
„Ist bei dir alles in Ordnung?“, fragte sie.

Scorpius wischte sich mit der Decke übers Gesicht und bemühte sich klar zu sprechen.
„Ja. Ja, alles gut.“ Seine Stimme klang erstickt und er musste erneut schiefen.
Astoria kam ein paar Schritte herein.
„Du hörst dich nicht gut an.“ Man konnte ihre Besorgnis deutlich hören. Sie wartete einen Moment, dann schloss sie die Tür und kam mit schnellen Schritten zu ihm ans Bett.
Sie konnte ihn in der Dunkelheit kaum sehen. Lediglich sein helles Haar zeigte, wo sein Kopf war.
Sie streckte die Hand aus, um ihm übers Haar zu streichen und streifte dabei seine feuchte Wange und erschrak.
„Scorpius, was ist denn passiert?!“ Er schwieg, er wollte ihr nicht sagen, was in seinem Kopf vorging.
Astoria zündete die Kerze auf seinem Nachtisch an und erschrak erneut, als sie sein verweintes Gesicht mit den geröteten Augen sah. „Liebling! Um Himmels Willen, was ist denn los?!“ Scorpius schniefte und wischte sich den Rotz von der Nase.
„Mama. Bin ich eine Schande?“, fragte er mit dünner, erstickter Stimme.
Der Schock stand seiner Mutter sichtlich ins Gesicht geschrieben.
„Wie kommst du denn darauf?“ Sie klang besorgt und zugleich liebevoll. Sie strich im ein paar nasse Strähnen aus der Stirn. „Schatz, du bist keine Schande. Ich weiß nicht, wie du auf solche Gedanken kommst, aber das ist Blödsinn. Wir sind so froh, dass wir dich haben. Und wir sind ganz stolz auf dich-“
„Papa ist nicht stolz auf mich!“, warf Scorpius ein und einige Tränen kullerten über sein Gesicht.
„Doch, dass ist er.“ Scorpius schüttelte energisch den Kopf. „Mh-mh, ist er nicht. Ich kann gar nichts, was ihn stolz machen würde. Ich kann kein Quidditch und ich bin nicht beliebt und ich… ich meine, ich wurde von einem Baum verdroschen.“ Seine Stimme wurde immer höher und brach weg. Gerade rechtzeitig, bevor ihm noch etwas über die Potters und Weasleys herausgerutscht wäre.
Seine Mutter lächelte. „Aber Schatz, das heißt doch nicht, dass er nicht stolz ist. Du machst keinen Ärger in der Schule. Zumindest hast du das bis jetzt nicht. Und dass du nicht im Team spielst, ist doch auch nicht schlimm. Du schreibst hervorragende Noten und bekommst garantiert einen tollen Beruf damit. Für die Zukunft steht dir da alles offen.“
„Aber das reicht ihm nicht. Er will lieber, dass ich Ärger mache, als dass ich ein braver Streber bin.“ Er konnte seine Tränen nicht zurückhalten.
Astoria seufzte. Dann zog sie ihn hoch und schloss ihn in die Arme. Sie hielt ihn ganz lange fest und flüsterte: „Ich rede mit Draco. Und du solltest das auch. Ich bin sicher, dass er dir dasselbe sagt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das anders sieht. Und jetzt versuch zu schlafen. Denk nicht mehr an sowas. Bitte, Scorpius.“

Er ließ sich wieder auf das nasse Kissen fallen und nickte. Sie küsste ihn auf die Wange und stand auf. „Bitte denk nicht mehr über so etwas nach“, wiederholte sie und er nickte wieder. „Okay, Mama“, gab er leise zurück.
Sie lächelte, blies die Kerze aus und verließ leise das Zimmer.
Scorpius wartete ein paar Minuten. Ließ sich das, was seine Mutter eben gesagt hatte durch den Kopf gehen und beruhigte sich langsam wieder.
Dann stand er auf und schlich hinaus. Auf Zehenspitzen ging er zum Schlafzimmer seiner Eltern und legte das Ohr an die Tür.
„Du hättest ihn hören sollen. Er war ziemlich fertig.“ Das war seine Mutter. Sein Vater grunzte. „Ich brauch keine Memme als Sohn.“ Ein Klatschen war zu hören. „Das ist genau das, wovon er gesprochen hat. Du kannst ihn nicht verstoßen, nur weil er nicht so ist wie du!“ „Ich verstoße ihn nicht.“ „Aber du ignorierst ihn und gibst ihm das Gefühl, nicht gut genug für uns zu sein. Sag mir ganz ehrlich: Was hältst du von ihm?“
Astoria klang aufgebracht und sie verlangte eine ernste Antwort von ihrem Mann. Der schwieg ziemlich lange, bevor er antwortete.
„Ich freue mich, dass er gute Noten schreibt. Das tue ich wirklich und ich bin auch stolz auf ihn deswegen, aber… aber es wäre mir ein wenig lieber, wenn er außer dem noch etwas anderes machen würde.“
Mehr brauchte Scorpius nicht zu hören. Er wandte sich von der Tür ab. Einerseits war er froh zu hören, dass sein Vater wenigstens ein bisschen stolz auf ihn war, aber gleichzeitig hatte sich bestätigt, dass er mehr von ihm verlangte.
Frustriert schlurfte er zum Ende des Ganges. Dort hing ein wandgroßes Gemälde von seinem Vater und dessen Eltern. Scorpius musterte die drei Personen.
Papa sieht irgendwie hochnäsig aus. Und Opa schaut auch ziemlich herablassend

, fand er. Bitter ballte er eine Faust und schob das Gemälde dann zur Seite.
Dahinter erschien eine schmale Tür. Er öffnete sie, nahm die Kerze, die daneben stand und zündete sie an.
Dann stieg er die kleine Wendeltreppe hinauf und kam auf den Dachboden. Er war voll mit hohen Bücherregalen, die wiederum randvoll mit Büchern waren. Der Boden war mit Teppichen belegt und in zwei Ecken standen Sessel.
Scorpius war ein Gedanke gekommen, als er seine Eltern belauscht hatte, deshalb wusste er, wonach er suchen konnte.
Er lief ein paar Regale ab, bis er fand, was er gesucht hatte.
Er zog einen großen, alten Wälzer heraus auf dem lediglich „Zauber“ stand, aber er war sicher, dass er damit richtig lag.
Er setzte sich in einen der Sessel und stellte die Kerze auf den Tisch, auf den er auch das Buch legte.
Im Register suchte er, was ein wenig dauerte, denn das Buch war schon sehr alt und die Schrift verblasst.
Schließlich fand er das richtige Kapitel und blätterte die vergilbten Seiten durch.

Schutzzauber

“ stand groß darüber.
Desillusionierungszauber, Expecto Patronum, Muffliato, Protego Totalum, Protego Maxima, Salvio Hexia.
Scorpius wusste genau, dass der Plan, der sich in seinem Kopf zusammensetzte, wahnsinnig, töricht und schlicht weg einfach dumm war. Aber es war auch eine Möglichkeit, eine Lösung.
Er las sich die Beschreibung der Zauber durch und kramte in einer Schublade des Tisches nach Papier und Feder. Dann schrieb er sich genau auf, wie die Zauber ausgeführt wurden.
Allerdings gab es da noch ein kleines Problem.
Scorpius suchte fieberhaft nach einem Zauber, der dieses Problem beseitigen könnte. Er suchte in vier weiteren Büchern, bis er schließlich fündig wurde.
„Unortbar“ schrieb er zu den restlichen Zaubern.
Dann räumte er alles weg, schlich sich zurück in sein Zimmer und versteckte das Papier unter seiner Matratze.
Er hatte einen Plan. Einen Plan, den er bereit war durchzuführen. Er musste allerdings erst wieder zur Schule, bevor er sich entscheiden konnte, ob er ihn durchführen würde oder nicht.
Aber allein die Gewissheit zu haben, dass er sich selbst helfen konnte, beruhigte ihn schon ungemein und ließ ihn den nächsten Wochen gelassen entgegenblicken.

Extra Exercise


Extra Exercise



Silvester und Neujahr verliefen genauso wie Weihnachten. Zwischen Scorpius und Draco fiel kaum ein Wort. Scorpius hatte keine Lust mit seinem Vater zu reden und zu hören, was er sowieso schon wusste.
Außerdem war das einzige, woran er denken konnte, sein Plan.
Dieser absolut dämliche Plan. Aber so dämlich er auch war, Scorpius sah doch etwas Gutes darin und aus diesem Grund hatte er ihn nicht wieder verworfen.
Jetzt saß er wieder im Zug nach Hogwarts und dachte nach, was ihn wohl erwartete.
Da waren einmal seine Freunde, die Potters und Weasleys, die es bestimmt kaum erwarten konnten, ihn wieder zu sehen. Und natürlich die Strafe dafür, dass er fast von einem Baum getötet worden war.
Wenn das mal keine hervorragenden Aussichten waren!
Er zog das Stück Papier aus seiner Hosentasche, das inzwischen schon ganz zerknittert war. Trotzdem konnte er noch erkennen, was draufstand. Sobald er in Hogwarts war – und ungestört – würde er alles noch einmal schön abschreiben und ein paar weitere Zauber hinzufügen.
Scorpius zog das kleine Buch, das er von zu Hause mitgenommen hatte, unter seinem Umhang hervor.
Es war ziemlich alt und abgenutzt. Ein paar Seiten hatte er lose reinstecken müssen und er hatte auch ein paar Probleme, die krakeligen Buchstaben zu entziffern. Aber es war nun mal wichtig, dass er diese Zauber konnte, wenn er seinen Plan wirklich durchführen wollte.
Er strich die umgeknickten Ecken glatt, die die Seiten markierten, auf denen die Zauber und Tränke standen. Episkey, Ferula, Aufpäppeltrank, Diptam.
Scorpius wusste, dass er den Zettel schon längst hätte zerreißen sollen, aber insgeheim hoffte er sogar, dass er ihn benötigte.

//.

Eine Woche nach seiner Ankunft in Hogwarts stand Scorpius nun da, wo James ihn in die Luft gehoben hatte und blickte hinunter zu Hagrids Hütte.
Auf der Tagesordnung stand: Strafarbeit!


„Du wirst Hagrid bei seinen Arbeiten auf dem Schulgelände helfen. Das soll dir lehren, auf deine Umwelt besser aufzupassen!“ Scorpius hätte der Schulleiterin gerne gesagt, dass er wohl mehr abgekriegt hatte, als dieser blöde Baum, aber dann hätte er sich wahrscheinlich noch bei der Weide entschuldigen und ihr die Hand schütteln müssen – oder einen Ast. Das klang vielleicht verrückt, aber der Baum und die Art, wie man den behandelte, als sei er was ganz besonderes, war ja auch verrückt!
Als die Schulleiterin ihm vor drei Tagen seine Strafe mitgeteilt hatte, hatte Scorpius das nicht als so schlimm empfunden.
Es machte ihm nichts aus draußen zu sein. Auch bei Kälte und Schnee nicht, aber das Wetter war ganz eindeutig gegen ihn und so hatte es am Vortag wie aus Eimern geschüttet.
Der Schnee war fast vollkommen weg und einer grauenvollen Matschlandschaft gewichen. Mit jedem Schritt sank man bis über die Knöchel ein oder man rutschte auf einer der Eisplatten aus, die sich unter dem Schnee verborgen hatten.
Scorpius schaute an sich hinunter. Seine Füße steckten in kniehohen, braunen Gummistiefeln. Zwar gerade richtig für das Wetter, aber potthässlich. Er sah einfach lächerlich aus.
Ein paar Mal schaute er skeptisch zwischen seinen Schuhen und dem schlammigen Acker hinter Hagrids Hütte hin und her und ihm kam der einzig passende Gedanke: Es wird die Hölle!


Seufzend setzte er sich in Bewegung und schlitterte vorsichtig den Trampelpfad hinunter. Zum Glück waren bei dem Wetter alle drinnen. Er musste sich nicht auch noch zum Affen machen!
Vor der Hütte blieb er stehen und seufzte noch einmal, bevor er klopfte. Die Tür schwang auf und Hagrid blickte auf ihn herab. „Ach… ehm. Du bis’ pünktlich. Gut. Dann… fang’ wir am Besten gleich an“, murmelte er.
Hagrid führte Scorpius um seine Hütte herum, wobei der Junge versuchte nicht neben die Steinplatten, die den Weg kennzeichneten, zu treten und womöglich stecken zu bleiben.
Weil er sich so darauf konzentrierte, sah er nicht, wo Hagrid ihn hinführte und fand sich schließlich vor ein paar riesigen Kreaturen wieder - so groß wie Pferde – und so unglaublich abscheulich, dass Scorpius zwei Schritte zurückwich.

Er schaute mit großen Augen zu seinem Lehrer hoch. „Was zum Teufel sind denn das für Teile?!“
„Das sin’ knallrümpfige Kröter.“ Als würde das als Erklärung reichen, wandte sich Hagrid um und drückte Scorpius dann einen Eimer in die Hand.
„Also ich fütter’ se jetzt un du machs’ den Wassertrog sauber un fülls’ ihn dann wieder auf.“
Scorpius sah entsetzt zwischen den Krötern und Hagrid hin und her. „Ich-Ich soll da rein?! Was wenn die Dinger auf mich losgehen?!“
„Deswegen fütter’ ich se ja. Dann sin’ se beschäftigt.“
Der Junge schluckte und machte einen Satz, als es einen Knall gab und einer der Kröter auf den Zaun zukam.
„W-Was war das??“ „So bewegen se sich.“ Wieder war das die einzige Erklärung.
Hagrid machte das Zauntor auf und ging zwischen den Krötern hindurch, als wären es zahme Schafe und keine furchteinflößenden Monster. Aber aus Hagrids Sicht waren sie ja auch nicht größer als Schafe.
Sein Lehrer winkte Scorpius zu. „Geh jetzt los, sons’ sin’ se schneller fertich als du.“
Er schluckte noch einmal und lief dann langsam durch das Gehege zum anderen Ende, wo der Wassertrog stand.
Zum Glück war der schon leer, denn Scorpius hätte die schwere Metallwanne nie im Leben umkippen können. Er nahm die Bürste aus dem Eimer und schrubbte den Dreck vom Metall. Dabei schaute er immer wieder über die Schulter und zuckte bei jedem Knall zusammen. Die Angst, dass eines dieser Viecher ihn als Mittagessen vorziehen könnte, trieb ihn an und er war schneller fertig als gedacht.
Er rappelte sich auf und drückte den Hebel der Pumpe hinunter. Allerdings war die schon uralt und es war dementsprechend mühsam, den Hebel zu drücken. Schon nach wenigen Versuchen wurde Scorpius ziemlich heiß und Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Er biss die Zähne zusammen und drückte wieder mit aller Kraft. Jetzt ging es etwas leichter und die Wanne füllte sich langsam.
Scorpius wischte sich erleichtert den Schweiß ab, als es hinter ihm wieder knallte. Erschrocken drehte er sich um und stolperte zurück. Zwei der Kröter kamen direkt auf ihn zu.
Dabei wirkte es so, als würden sie sich regelrecht darum streiten, welcher von ihn zuerst bei ihm war – wahrscheinlich um ihn zu fressen.
Zwischen dem Knallen hörte Scorpius Lachen und Gekicher und er sah zu Hagrid hinüber.
Das musste ja so kommen! Ihm hätte klar sein müssen, dass James und seine Truppe es sich nicht entgehen lassen würden, ihm bei seiner Strafarbeit zuzuschauen und ihn auszulachen. Darüber konnte sich Scorpius dann aber nicht lange ärgern, denn die Kröter legten an Tempo zu und waren jetzt schon fast bei ihm.
Sie sahen richtig wütend aus und schließlich rammte der eine den anderen mit voller Wucht.
Es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Scorpius schloss die Augen, hielt sich die Ohren zu und fühlte, wie ihn etwas Schweres, Schleimiges traf.
Einen Moment lang war es ruhig, dann brachen James und die anderen in schallendes Gelächter aus.

Scorpius blinzelte. Sein ganzes Gesicht war voller Schleim. Er wischte sich mit den Händen über die Augen und den Mund und schaute an sich herab.
Alles war über und über mit dem ekelhaften Zeug bedeckt. An seiner Jacke hing etwas, von dem er gar nicht wissen wollte, was es war.
Dann sah er auf und wusste, was an ihm hing.
Da wo eben noch die Kröter gerangelt hatten, lagen nun ihre Panzer und ein riesiger Haufen Innereien überzogen mit dem widerlichen, klebrigen Schleim.
Scorpius’ Magen rebellierte. Allein der Anblick war ja schon unglaublich widerlich, aber der Gestank gab dem noch den Rest.
Scorpius machte einen großen Bogen um die toten Kröter und lief zum Tor. James und Albus hielten sich am Zaun fest, sonst hätten sie wahrscheinlich vor Lachen im Matsch gelegen. Hugo und Rose lachten ebenfalls. Nur Lily starrte ihn entsetzt an und bekam keinen Ton heraus.
Er versuchte sie alle zu ignorieren und wandte sich an seinen Lehrer, der gerade mit einem pinken Regenschirm aus seinem Haus kam.
Damit zeigte er auf Scorpius und schwang ihn einmal. Im nächsten Moment war Scorpius wieder sauber. Der Schock steckte ihm trotzdem noch in den Knochen.
„Ähm… ja. Also ich geh dann ma’ die Sauerei aufräum’. Du… du gehs’ am besten schon ma’ vor und wartes’ auf mich.“
Erleichtert, dass er von den Krötern und seinen Peinigern weg konnte, lief Scorpius los und um die Hütte herum.

/.

Lily schaute Scorpius nach, während sich die anderen beruhigten. James stieß sie keuchend an.
„Mann, so ein Opfer, he? Das hat er richtig verdient!“ Weil seine Schwester nicht reagierte, räusperte er sich und sah sie forschend an.
„Was ist?“, fragte er. Rose, Albus und Hugo stellte sich hinter ihn und warteten auf Lilys Antwort.
Die verschränkte die Arme und blickte wieder zu der Stelle, an der Scorpius um die Ecke verschwunden war.
„Das war nicht witzig“, flüsterte sie. James trat einen Schritt auf sie zu und beugte sich zu ihr herab.
„Hä? Was hast du gerade gesagt?“
Lily hob den Kopf und sah ihm fest in die Augen. „Ich sagte “das war nicht witzig“!“
Ihr Bruder schaute sie an, als spräche sie eine fremde Sprache. „Was?! Das war doch zum Totlachen! Der kleine Bastard hat bekommen, was er verdient. Das war urkomisch.“
Sie schüttelte den Kopf. „Hat er bei der Weide auch bekommen, was er verdient?“
James ballte die Fäuste und wollte ihr eine zornige Antwort geben, aber Albus legte ihm die Hand auf die Schulter und wisperte ihm zu: „Seid leise, Hagrid kommt zurück.“
James drehte sich von Lily weg und tat so, als hätte sie eben nichts gesagt.

/.

Scorpius fuhr sich ein paar Mal über die Augen, als er vor der Hütte stand. Er wollte nicht heulen, er wollte keine Memme sein!
Aber die Demütigung schmerzte so sehr.
Er holte tief Luft und versuchte zu vergessen, was gerade passiert war, da vernahm er ein Krächzen.
Das war eigentlich nichts Ungewöhnliches, angesichts der vielen Krähen, die auf dem Acker hockten, auf dem vor Halloween die ganzen Kürbisse gewachsen waren.
Jetzt war da nur Gestrüpp, in dem die Krähen hockten und ein weiteres Tier.
Ein Tier, das Scorpius sogar kannte. Besser gesagt, über das er schon gelesen hatte.
Der vordere Teil des Tieres war gefiedert. Statt einem Maul hatte es einen scharfen, gelben Schnabel und die Beine endeten in großen Vogelkrallen.
Hinter den Flügeln gingen die silbergrauen Federn in Fell über. Der üppige Schweif wehte um die Pferdebeine.
Scorpius war fasziniert. Er hatte das Kapitel über Hippogreife geradezu verschlungen. Unwillkürlich machte er ein paar Schritte nach vorn.
Der Hippogreif beäugte ihn kritisch und ruckte mit dem Kopf. Scorpius vergaß, dass man sich diesen Kreaturen nur langsam nähern sollte, dass man sich verbeugen und auf eine Verbeugung ihrerseits warten sollte.
Stattdessen ging er einfach weiter auf den Hippogreif zu. Der krächzte laut und schlug heftig mit dem Schweif, bevor er ebenfalls vortrat.
Scorpius blieb erschrocken stehen, als ihm auffiel, was er gerade tat. Er wollte zurückweichen, aber dann stand der Hippogreif auch schon vor ihm.
Der Junge schluckte. Wahrscheinlich würde das Tier gleich auf ihn losgehen. Es hob den Kopf, krächzte laut und zornig. Scorpius schloss schnell die Augen, wartete auf Schmerz, aber es kam nichts.
Anstelle des Schmerzes spürte er lediglich einen sachten Stupser und er öffnete verwundert die Augen. Der Hippogreif blinzelte ihn erwartungsvoll an.
Zögernd hob Scorpius die Hand, sofort bereit, sie zurück zuziehen, sollte der Schnabel nach ihm schnappen. Vorsichtig legte er sie an die gefiederte Wange.
Der Hippogreif drückte den Kopf gegen die Hand und schloss die Augen. Immer noch verwirrt begann Scorpius den Kopf zu streicheln, aber dann musste er lächeln.
Er streichelte gerade einfach so einen Hippogreifen!
Die Freude währte allerdings nicht lange. „Verdammich!“
Scorpius fuhr herum. „Du kanns doch nich einfach so nen Hippogreif streicheln!“, wetterte Hagrid los. „Geh da weg!“
Scorpius hastete schnell zu seinem Lehrer. „Mann, Malfoy. Was kannst du eigentlich?“, fragte James spöttisch.
„Nu gebt aber ma’ Ruhe. Ihr geht besser wieder ins Schloss. Wir ham hier noch zu tun.“
Widerwillig machte sich James auf den Weg und winkte den anderen.
Hagrid wartete, bis sie außer Sicht waren, dann drehte er sich zu Scorpius. „Junge, du muss bei Hippogreifen vorsichtich sein. Mit denen is nich zu spaßen.“ „Tut mir leid“, flüsterte Scorpius.
„Na, is ja nix passiert.“ Hagrid klatschte in die Hände. „Also, weitermachen. Wir gehn jetzt in den Wald. Müssn schaun, dass die Zentauren nich wieder über die Grenze kommen.“

Scorpius riss entsetzt die Augen auf. „In den verbotenen Wald!?! Aber da gibt’s Wölfe!“ „Das ham ich schon mal von nem Malfoy gehört“, grummelte Hagrid.
„Was?“ „Na, von deinem Papi. Erstes Schuljahr. Musste er mit Harry und Ron und Hermine und mir rein. Hat er dir das nich erzählt?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Oh. Na ja. Ähm… wir gehn dann ma’ besser.“ Zögernd folgte Scorpius seinem Lehrer in den dunklen Wald. „Dürfen Sie mich da überhaupt mit reinnehmen? Es ist Schülern doch verboten den Wald zu betreten. Und warum müssen wir nach den Zentauren schauen?“
„Weil die im Winter oft zu nah herkommen. Wolln die Lehrer nich. Vor n paar Jahren sin’ ma’ welche rausgekommn. War nich so toll.“
Scorpius kletterte beklommen über die Wurzeln und Steine. Dann fiel ihm wieder die Nacht im Krankenflügel ein und das Heulen. „Professor, gibt es hier Werwölfe?“ Er könnte schwören zu sehen, dass sein Lehrer zusammenzuckte. „So’n Quatsch! Hier gibt’s keine Werwölfe. Sin’ alles nur Schauermärchen.“
Eine Weile lang liefen sie still weiter, bis Scorpius plötzlich an einem Seil hängen blieb und stolperte. Die Äste über ihm knackten und er konnte sich gerade noch rechtzeitig auf die Seite rollen, dann krachte ein Metallkäfig neben ihm auf den Waldboden.
Schockiert starrte er auf die verbogenen Metallstäbe. „Was zur Hölle ist das?! Ist das- ist das eine Falle?!“
Hagrid nickte zögernd. Scorpius war vollkommen aus dem Häuschen. „Was- Was wollen sie denn damit fangen?! Das reicht ja für nen Bären!“
„Achwas, hier gibt’s keine Bären! So’n Schwachsinn…“. Den Rest grummelte er so vor sich hin. Der Junge merkte genau, dass die Situation seinem Lehrer unangenehm war, aber er wollte wissen, was es mit dem Käfig auf sich hatte.
Vorsichtig berührte er die kalten Stangen und rieb den Dreck an einer Stelle ab. „Das ist Silber!“, rief er erstaunt. Moment… Silber. Was sagt mir das? Denk, Scorpius, denk.

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
„Hier gibt’s Werwölfe, oder? Das ist für einen Werwolf!“
Hagrid winkte ab. „Das war vor 10 Jahren. Die hing hier nur noch so rum. Der Werwolf von damals is längst weg. Und seitdem is keiner mehr hergekommen. Und das muss du für dich behalten. Wenn du das irgendwem erzählst, dann gibt’s richtig Ärger! Also vergiss das am besten alles. Und jetzt komm. Wir müssn heut noch fertich werden.“
Scorpius stolperte hinter Hagrid her. Er wollte und konnte einfach nicht glauben, dass hier kein Werwolf war. Allerdings machte die Tatsache, dass er sicher war, hier wäre ein Werwolf, die Durchführung seines Planes erheblich schwieriger.
Ich muss einfach abwarten, was in den nächsten Woche passiert,

dachte er sich. Dann kann ich entscheiden, ob ich es mach oder nicht.



Friction, Strokes and the Plan


Friction, Strokes and the Plan


James stapfte wütend neben den anderen zurück ins Schloss. Er war wütend, weil er Malfoy nicht länger bei seiner Dreckarbeit zusehen konnte, aber noch viel wütender wegen Lily.
Wieso meinte sie plötzlich, dass sie zu weit gingen? Zugegeben, das mit der Weide war schon härter gewesen, als das, was sie sonst mit Malfoy machten.
Aber dass sie dabei so ausflippte, war nicht nötig gewesen. Er hatte ihn ja nicht umbringen wollen!
Und außerdem hatte sie letztes Jahr auch immer mitgemacht, wenn sie Malfoy verhauen hatten.
James schielte zu Lily hinüber. Seine Schwester lief mit zusammengepressten Lippen und einem bitteren Gesichtsausdruck neben Rose.
In James’ Kopf schwirrte ein Wort: Verräterin! Und er bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch. Was wenn Lily sie verriet? Wenn sie auspackte, alles erzählte?!
Er schüttelte innerlich den Kopf. Dazu hatte sie keinen Grund. Überhaupt, warum tat sie plötzlich so?
Ihre Eltern und die Weasleys hatten ihnen schon immer erzählt, wie Malfoys Vater war. Todesser und so… Da konnte sein Sohn ja nicht viel besser sein!
Schon als sein Vater das erste Mal von Draco Malfoy erzählt hatte, und dass er einen Sohn hatte, wusste James, dass er ihm das Leben zur Hölle machen wollte.
Und als Scorpius dann zusammen mit Albus nach Hogwarts und somit nach Gryffindor kam, hatte es begonnen.
Zusammen mit Rose, Hugo und seinen Geschwistern hatte er Malfoy beleidigt, schikaniert, bloß gestellt und vor der ganzen Schule lächerlich gemacht.
Lange Zeit hatte das James gereicht, aber letztes Jahr wurde es langweilig, Malfoy nur mit Worten zu verletzen.
Zuerst wurde er nur weggestoßen, eingequetscht, zum Stolpern gebracht. Dann hatte Hugo ihn einmal richtig festhalten. Das war der Startschuss in die nächste Runde gewesen!
Bis zum Ende des Schuljahres wurde Scorpius getreten, gezwickt, geohrfeigt, verprügelt und anschließend in eine Besenkammer gesperrt.
Meistens hatten sie ihm dann noch den Rucksack an den Kopf geworfen. Wenn sie ihn rausließen und er seine gemachten Aufgaben nicht schnell genug weggepackt hatte, wurden sie verbrannt oder zerrissen.
In seinem Zimmer durfte er sie dann nicht nachmachen, weil das Licht die anderen beim Einschlafen störte. Also musste er in den Gemeinschaftsraum und sich dort wegen des Lichts von den Gemälden anmaulen lassen.
Nie hatte Lily irgendetwas dagegen gesagt. Im Gegenteil! Sie hatte immer mit ihnen zusammen gesessen und mit überlegt, was sie als nächstes mit Malfoy anstellten. Als Rose ihm einmal sein Tintenfässchen über den Kopf geschüttet hatte, hatte Lily vor Lachen auf dem Boden gelegen.
James musterte seine Schwester erneut. Wie sie so entschlossen zwischen ihnen lief, wirkte sie doch schon ein bisschen erwachsen. James stolperte beinahe, als ihm ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf schoss.
Er konnte und wollte sich das nicht vorstellen, denn würde dies zutreffen, dann wäre das ja katastrophal!
Das konnte er nicht einfach so in seinem Kopf lassen, er musste das wissen. Deshalb zog er Lily zur Seite, bevor sie in den Gryffindorturm verschwinden konnte. „Mann, James! Was soll das?!“, giftete sie. „Ich muss mit dir reden. Ganz wichtig, also komm!“
Er zerrte sie ein paar Gänge weiter, wo sie ungestört waren.
Lily verschränkte die Arme und sah ihn misstrauisch an. „Was?“ James wollte auf gar keinen Fall irgendwie verzweifelt wirken, also verschränkte er ebenfalls die Arme und lehnte sich gegen die Wand.
„Was ist da bei dir und Malfoy?“
Seine Schwester blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“ „Du hast mich schon verstanden.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Bist du blöd? Da ist überhaupt nichts!“

„Was hast du dann plötzlich? Warum ist das auf einmal alles so schlimm?“
Er sah, dass sie nach einer passenden Antwort suchte. Schließlich antwortete sie einfach ganz direkt. „Das geht jetzt einfach zu weit.“
James stöhnte genervt. „Oh Mann, was denn?! Das mit der Weide, okay. Aber das vorhin, war ja wohl nicht unsere Schuld!“
„Aber er muss bei dem Wetter seine Strafarbeit machen und in den verbotenen Wald gehen. Und zwar unseretwegen! Wegen dir und deiner tollen Aktion!“
„Jetzt ist das also meine Schuld?!“ James ballte zornig die Fäuste.
„Das hab ich doch gar nicht gesagt. Ehrlich, du regst mich auf. Lass mich jetzt gehen.“ Sie wollte an ihm vorbei, aber er hielt sie am Arm fest.
„Sag mir erst, was da bei euch abgeht!“
„Überhaupt nichts!“, rief sie wütend. James lachte kurz auf. „Ja klar. Bist du in ihn verknallt?“ „WAS?!“ Lily sah ihn ungläubig an. „Du spinnst ja!“
„Wieso nimmst du ihn dann so in Schutz?“ James redete jetzt wieder in einer normalen Lautstärke. Lily dagegen war ziemlich aufgebracht. Sie stellte sich vor ihren älteren Bruder und sah ihm direkt in die Augen.
„James, das, was wir machen, ist nicht okay. Und warum wir es machen, erst recht nicht! Wir haben nicht mal was gegen ihn.“
„Klar haben wir was gegen ihn.“ „Nein! Nein, haben wir nicht.“ Lily stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. „Unsere Eltern haben was gegen seinen Vater, aber wir haben keine Ahnung, wie Scorpius ist. Wir haben nur von Anfang an von unserer Familie gesagt gekriegt, dass wir mit Malfoy nichts zu tun haben sollen. Weil sie davon ausgingen, dass Scorpius genauso ist wie sein Vater.“
James sah seine kleine Schwester nachdenklich an. „Es ist nun mal meistens so, dass die Kinder irgendwie wie ihre Eltern sind. Wegen der Erziehung oder so.“
Im Grunde hatte er keine Ahnung, was er da laberte, aber das wollte er natürlich nicht zugeben.
„James, wir haben überhaupt keine Ahnung, wie er ist. Weil wir noch nie auch nur ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen haben.“
Ihr Bruder schüttelte verächtlich den Kopf. „Der würde genauso ein Arsch sein wie sein Vater, wenn er wollte.“
„Das glaub ich nicht.“
„Und warum nicht?“, fragte er seufzend. Das Gespräch entwickelte sich gerade in eine Richtung, die James nicht gefiel. Das wurde zu ernst, ging zu tief, warf zu viele Fragen auf, über die er nachdenken musste.
„James, der traut sich doch nicht mal ein Wort zu sagen. Er läuft geduckt und gehetzt rum, weil er wahrscheinlich Angst hat, jeden Moment uns in die Arme zu laufen. Und vielleicht will er nicht mal mehr einschlafen, weil er Schiss hat, dass er am nächsten Morgen nicht mehr aufwacht!“
Das ging zu weit! James fühlte sich, als hätte sie ihn geohrfeigt. Er wich einen Schritt zurück. „Willst du mir jetzt etwa unterstellen, dass ich ihn umbringen will?!“, schrie er.
„Ja, vielleicht will ich das! Du hast nämlich überhaupt keine Kontrolle mehr über dich selbst! Und die anderen richten sich komplett nach dir. Wenn du zu weit gehst, tun sie’s auch und deshalb-“ Sie schubste ihn von sich weg. „- hör ich jetzt auf mit dem Scheiß! Ich mach da nicht mehr mit!“
Dann lief sie an ihm vorbei, hastete die Treppen nach oben und verschwand durch das Gemälde der fetten Dame.
James blieb stinksauer zurück. Wie konnte sie ihm nur unterstellen, dass er Malfoy umbringen wollte?! Er hasste Malfoy, er hasste ihn wirklich, aber er hatte nicht vor ihn zu töten!
James musste seinem Ärger ganz dringend Luft machen.

Nachdem er einmal durch das halbe Schloss gestampft war, entdeckte er Scorpius, der gerade von seiner Strafarbeit kam und die äußere Treppe hochging [1].
Wut stieg in James auf, er ballte die Fäuste. Malfoy war an all dem Schuld!
Er rannte den Gang entlang, bis zum Treppenabsatz, um Scorpius abzufangen. Der war noch ganz damit beschäftigt, sich Spinnennetze aus den Haaren zu zupfen und wurde von dem großen Gryffindor vollkommen überrumpelt.
James packte ihn und schubste ihn an die gegenüberliegende Wand. Dann stellte er sich vor Scorpius und drückte ihn an den Schultern gegen die Wand. „Was hast du mit meiner Schwester gemacht?“, fragte er zornig.
Scorpius überhörte die Frage, denn seine rechte Schulter schmerzte, weil James so fest dagegen drückte. James schüttelte den Blonden kurz. „Was hast du mit Lily gemacht?“, rief er.
Scorpius blinzelte verwirrt. „I-Ich hab gar nichts gema-“ James schnitt ihm das Wort ab. „Hast du sie verhext? Sag schon!“
“Nein! Ich hab keine Ahnung, wovon du redest“, wimmerte Scorpius. Er hatte Angst, gleich wieder Schläge zu bekommen.
Der Ältere musterte ihn abfällig, dann trat er einen Schritt zurück. „Meine kleine Schwester meint plötzlich, dich in Schutz nehmen zu müssen. Also, hast du sie verhext? Oder willst du mir erzählen, dass sie auf einmal einen Sinneswandel hatte?“
Jetzt war Scorpius noch verwirrter. Lily nahm IHN in Schutz?? James wartete noch einen Moment auf eine Antwort. Weil Scorpius nichts sagte, rammte er ihm die Faust in den Bauch. „Und?! Was ist jetzt?!“
„Ich hab nichts gemacht“, presste Scorpius hervor. James lachte leise auf. „Ja klar.“ Dann holte er aus und schlug Scorpius zweimal ins Gesicht. Der stolperte zurück.
Scorpius leckte seine aufgeplatzte Lippe ab und fuhr sich über die Augen. „Ich hab doch überhaupt nichts gemacht. Ich hab keine Ahnung, was mit deiner Schwester los ist“, schniefte er.
James glaubte ihm, aber er war immer noch ziemlich sauer. Und Malfoy war so ein leichtes, angreifbares Ziel. Also schlug er noch ein paar Mal zu.
Dann klopfte er sich die Hände ab und machte sich auf den Weg zum Gryffindorturm.
Scorpius wischte sich die Tränen von den Wangen und rappelte sich auf. Auf gar keinen Fall würde er jetzt in den Turm gehen. Wohl darauf bedacht, dass ihn keiner so sah, schlich er zur Toilette und sperrte sich in einer der wenigen Kabinen ein. Dort setzte er sich auf den Boden, schlang die Arme um die Knie, legte seinen Kopf darauf und heulte los.
Er weinte lange und seine Augen brannten, als er sie schließlich abwischte und das letzte Mal schniefte.
Jetzt stand es fest! Er würde seinen Plan ausführen. Obwohl doch einiges dagegen sprach:
Wenn das, was James gesagt hat, stimmt und Lily mich vor den anderen in Schutz nahm, dann hab ich ja vielleicht eine Chance.
Zudem läuft da draußen womöglich ein Werwolf rum! Viel zu gefährlich.
Und außerdem ist es erst Mitte Januar! Ich würde nachts erfrieren. Ganz klar.


Aber auf der anderen Seite waren da die zweieinhalb Schuljahre voller Demütigung und Schmerzen – und James!
Scorpius war hin und her gerissen. Er wollte weg, er wollte unbedingt weg. Weit weg.
Und da hatte er es.
Mit einem Ruck stand er auf. So konnte er es machen. So würde er es machen.
Er musste nur noch ein wenig durchhalten. Bis März. Ja, das müsste reichen.
Im März war es nicht mehr so eisig kalt. Er würde es zumindest überleben.
Ein Lächeln erschien in seinem Gesicht. Es war ein fremdes Gefühl, ein vergessenes Gefühl. Aber es fühlte sich gut an. Und entschlossen zu sein, etwas ganz sicher zu wissen, das fühlte sich verdammt gut an!
Scorpius trat aus der Kabine und bevor er die Toilette verließ, warf er einen Blick in den Spiegel.
Von dort blickte ihn ein verhauener Scorpius mit blutender Lippe an. Aber diese Lippen lächelten. Und das Lächeln wurde noch breiter und stärkte ihn. Jetzt wusste er, dass er noch durchhalten konnte. Dass er es schaffen würde und dass er auch schaffen würde abzuhauen. Wegzulaufen vor der Demütigung, vor all dem Schlechten und Bösen.
Ich schaff das. Ich schaff das!

, dachte er sich während er sein Spiegelbild angrinste.
Und dann sagte er es noch einmal laut: „Ich schaff das!“

Intricate Escape and a close Encounter


Intricate Escape and a close Encounter



Die nächsten Wochen zählte Scorpius zu seinen Schlimmsten. Zwar hatte er nach der Begegnung mit James neuen Mut geschöpft, aber es stellte sich heraus, dass Lilys Ausstieg aus der Truppe bei den anderen nichts bewirkt hatte.
So verbrachte er weiterhin die Nachmittage in der Besenkammer. Dort legte er sich nach und nach seinen Fluchtplan zurecht.
Am zweiten Märzwochenende durften sie wieder nach Hogsmeade. Das war die Gelegenheit! Da ersparte er sich den verbotenen Wald und konnte bei Tageslicht gehen.
Er hatte viele Geschichten gelesen, in denen Kinder einfach über Nacht abhauten, aber bei Nacht aus Hogwarts fliehen, war Wahnsinn und zudem so gut wie unmöglich.
Natürlich war seine ganze Idee Wahnsinn, das wusste er selber. Immer wieder warfen sich Fragen auf.
Wo würde er hingehen? Wo würde er schlafen? Wovon sollte er sich ernähren? Was wenn er sich heillos verlief und nie wieder zurückfand? Wann würde er wieder zurückgehen? Was war mit seinen Eltern? Und vor allem, was wenn er dem Werwolf über den Weg lief?
Scorpius war fest davon überzeugt, dass da draußen ein Werwolf war. Deshalb hatte er, soviel er konnte, nachgelesen. Das Wichtigste wusste er ja schon:
Sie verwandelten sich nur bei Vollmond und Silber schadete ihnen. Allerdings war Scorpius auf einen kleinen Anhang gestoßen, in dem stand, dass sich die Werwölfe alle paar Monate in zwei Nächten verwandelten.
Aber das würde er schon schaffen. Und den Rest auch. Hoffte er zumindest.

//.

Es war Freitagabend. Der Freitag vor dem Hogsmeade Wochenende.
Alle waren im Gemeinschaftsraum und überlegten, wo sie überall hingehen wollten.
Scorpius dagegen hockte allein im Badezimmer und starrte seit Stunden sein Spiegelbild an. Er war im Kopf immer wieder alles durchgegangen, hatte sich alle paar Minuten gesagt, dass er jetzt endlich aufstehen und sein Zeug packen musste. Und doch saß er weiterhin stumm auf den Fliesen.
Von unten dröhnte Musik und Gelächter herauf. Jedes Mal könnte er schwören, dass es James war, der da lachte.
Vielleicht wurde er verrückt. Scorpius schaute wieder sein Spiegelbild an. Es sah nicht verrückt aus. Aber in den letzten Tagen hatte er regelrecht unter Verfolgungswahn gelitten. Überall hatte er James vermutet, gesehen, gehört.
Er war förmlich durch die Gänge gerannt, hatte um jede Ecke gespäht.
Scorpius seufzte. Er hatte keine Wahl. Er musste sich jetzt entscheiden!
Ob er die Zauber, die er gelernt hatte, anwenden würde oder dZettel zerreißen und sich weiter von James verprügeln lassen würde.
Zum Teufel noch mal! Wozu hatte er sich die Mühe gemacht, all die Zauber zu suchen und zu lernen?! Ganz sicher nicht umsonst.
Entschlossen erhob sich Scorpius und lief ins Schlafzimmer rüber. Er griff nach seinem Rucksack und wollte schon einen nicht feststellbaren Erweiterungszauber anwenden, da hielt er inne.
Das konnte man nachkontrollieren.
Zuallererst musste er die Spur blockieren. Er legte sich seinen Zauberstab an die Schläfe und murmelte den ‚Unortbar’.
Ein Kribbeln machte sich in seinem Magen breit und ihm wurde ein bisschen heiß.
Er würde das jetzt wirklich durchziehen. Die Hand, in der er den Zauberstab hielt, zitterte, als er seinen Rucksack antippte und den Erweiterungszauber durchführte.
Dann langte er unter sein Bett und zog seinen Koffer hervor. Zum Glück hatte er gestern seine frische Wäsche bekommen. Er zog seine Schuluniform aus und schlüpfte in Jeans und Pullover. Seine anderen Hosen, T-Shirts und Pullover stopfte er in den Rucksack. Dazu noch ein paar dicke Decken und seine Regenjacke-
Ruckartig fuhr er hoch. Ich geh erst morgen. Ich geh doch erst morgen!

Scorpius brach der Schweiß aus. Zitternd setzte er sich auf sein Bett.
Ich darf nicht so einen Mist bauen, verdammt! Ich muss mich konzentrieren, ruhig bleiben.


Mit einem ‚Finite’ nahm er den ‚Unortbar’ von sich, schob seinen Rucksack zu seinem Koffer unters Bett und holte tief Luft.
„Das war eben total doof und überstürzt und unüberlegt“, murmelte er. „Ich geh erst morgen. Ich hab meinen Rucksack schon fast fertig gepackt, aber den Rest mach ich morgen.“
Seufzend kippte er nach hinten und landete in seinen Kissen. In seinem Kopf drehte sich alles. Er tat das als Aufregung ab, nicht als Zweifel. Er zweifelte nicht an seinem Vorhaben. Wenn er morgen früh heil aus seinem Bett kam, dann würde das für lange Zeit das letzte Mal gewesen sein.

//.

Scorpius hatte gedacht, dass er kein Auge zu tun könnte, aber stattdessen fiel er in einen tiefen Schlaf, der bis weit in den nächsten Morgen reichte.
Er blinzelte ein paar Mal, richtete sich ein Stück auf und zog seinen Zauberstab unter dem Kissen hervor. Gespannt wartete er, was ihm wohl heute passieren würde, doch es passierte gar nichts.
Verwundert schob Scorpius den Vorhang zur Seite und spähte ins Zimmer. Die Betten seiner Zimmergenossen waren leer. Unordentlich und nicht gemacht, aber leer. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Wenn das nicht ein Hauch von Schicksal war!
Fröhlich hüpfte er aus dem Bett und zog seinen Rucksack heraus. Dann wühlte er alles, was er noch brauchte aus seinem Koffer heraus. Zuletzt eine kleine Flasche Diptam-Essenz. Seine Mutter würde sie bestimmt nicht vermissen.
Die Flasche stopfte er in ein Paar Wollsocken, damit sie nicht kaputt ging.
Jetzt stand seinem Plan nichts mehr im Weg. Auf dem Weg nach Hogsmeade schaute er in der Küche vorbei, nahm sich ein paar Brote und Getränke mit.
Kurz bevor er auf den Innenhof ging, tippte er sich auf den Kopf und murmelte den ‚Unortbar-Zauber’.
Scorpius drückte seinen Rucksack unter der Jacke fest an sich. Professor Finnigan warf ihm einen kurzen misstrauischen Blick zu. Bitte lass ihn nicht herkommen. Bitte lass mich einfach gehen!

, betete er. Das Schicksal schien wirklich auf seiner Seite zu sein. Der Professor wandte seinen Blick ab und hielt Scorpius nicht auf.
Erleichtert atmete der Junge auf und setzte seinen Weg nach Hogsmeade fort.
Er kaufte noch jede Menge Süßkram im Honigtopf ein und machte sich bereit, abzuhauen.
Weit kam er allerdings nicht.
Plötzlich traf ihn von hinten ein Matschklumpen am Kopf. Scorpius stolperte, fing sich aber und blieb erstarrt stehen.
„Das war ein Volltreffer, Al!“ Beim Klang von James’ Stimme, zuckte Scorpius zusammen. Es war alles so gut gegangen bis jetzt. Warum hatte das nicht so bleiben können? Warum konnte er nicht einfach gehen? Scorpius presste wütend die Lippen aufeinander.
Das war nicht fair! Er wollte weg. Und trotzdem musste er jetzt noch was
abbekommen. Er wusste nicht mehr genau, wie und warum er das getan hatte – er schob es später auf eine durchgebrannte Sicherung in seinem Kopf – jedenfalls bückte er sich, nahm eine Hand voll Matsch, fuhr herum und schleuderte sie James mitten ins Gesicht.
Einen Moment sah er zu, wie sich der Ältere irritiert den Dreck aus den Augen wischte. Keine Sekunde später realisierte Scorpius, was er gerade getan hatte und rannte los, bevor James wieder richtig sehen konnte. Auf dem aufgeweichten Boden rutsche er und fiel ein paar Mal fast hin. Doch er fing sich jedes Mal und hetzte weiter.
Beim letzten Haus vor dem Bahnhof, musste er anhalten und verschnaufen. Er lehnte sich an die Mauer und schielte um die Ecke. Noch war von James nichts zu sehen. Scorpius nutzte die Zeit um tief Luft zu holen und zu warten, dass er aufhörte zu zittern.
Was er da eben getan hatte, war nicht wirklich hilfreich für seine Flucht gewesen. Noch ein Mal lugte er um die Hausecke und sah James und Albus auf ihn zu rennen.

Erschrocken zog er den Kopf zurück und schaute sich panisch um. Vor ihm lag ein Weg, den nur wenige Bäume säumten. Wenn er jetzt losrennen würde, würde sie ihn entdecken und dann würde er nie wegkommen.
James zornige Stimme wurde lauter, kam näher. Scorpius hatte nur eine Möglichkeit.
Er hastete um die nächste Ecke des Hauses und wartete, dass die beiden vorbeiliefen.
Als James und Albus bei dem Haus ankamen, blieben sie stehen und schauten sich suchend um. „Wenn ich diesen kleinen Dreckskerl erwische, mach ich ihn sowas von fertig!“, knurrte James.
Währenddessen lies Albus seinen Blick über den Boden wandern und entdeckte Scorpius’ Spuren, die um die Ecke führten. Er tippte seinen großen Bruder an und deutete wortlos auf die Abdrücke im Dreck.
James grinste siegessicher und schlich mit Albus um die Hausecke. Dort allerdings fanden sie nur neue Spuren. Etwas verwirrt sahen sie sich an und liefen dann weiter um die nächste Ecke. Jetzt standen sie in dem engen Spalt zwischen zwei Häusern, wieder Spuren auf dem Boden. Nacheinander gingen sie durch die schmale Gasse und fanden sich wieder auf dem Weg, den sie herunter gerannt waren.
„Verdammt, wo ist er hin?! Der kann sich doch nicht in Luft auflösen!“, schrie James wütend.
Zu Scorpius’ großem Glück schauten die beiden Potters den Weg hinauf ins Dorf und sahen so nicht, wie er selbst auf dem Weg zum Bahnhof verschwand.
Nach wenigen Minuten war er am Bahnhof angekommen. Er schlich um das Gebäude herum und folgte dann den Schienen in die Richtung, aus der sie immer ankamen.
Während er entlang der Schienen um den verbotenen Wald lief, warf er einen Blick auf seine Uhr. Es war kurz nach Mittag.
Er war gespannt, wie weit er wohl kommen würde, bis es dunkel wurde.

/.

Ein paar Stunden lang folgte Scorpius den Schienen, dann stieß er auf einen Feldweg, der in die Hügel führte. Nach kurzem Überlegen betrat er ihn. Wenn er irgendwo da oben stand, hatte er bestimmt eine tolle Aussicht und Übersicht und konnte sich vielleicht ein bisschen orientieren.
Der Weg war uneben und aufgeweicht und an manchen Stellen doch ziemlich steil.
Nach einer halben Stunde hielt Scorpius an und zog seinen Rucksack hervor. Es war bereits nach sieben Uhr und sein Magen knurrte schon seit er auf den Weg gegangen war. Er schlüpfte aus seiner Jacke und legte sie über einen Baumstumpf, sodass er sich darauf setzen konnte.
Er biss in ein Käsebrot und schaute sich um. Eigentlich waren es keine Hügel. Immerhin ging der, auf dem er gerade war, schon in Fels über. Aber sie waren nicht hoch genug, um sie Berge zu nennen. Felsige Hügel

, dachte er grinsend. Wenn ich das mal jemandem erzähle, sag ich, ich war auf felsigen Hügeln.


Bald darauf lief er weiter. Hinter ihm in der Ferne türmten sich dunkle Wolken auf. Leise grollte Donner, der langsam aber sicher immer lauter wurde.
Es wurde dunkler, ein kühler Wind pfiff um die felsigen Hügel und schließlich fielen die ersten Regentropfen aus den schwarzen Wolken.
Scorpius seufzte, während er sich die Kapuze überstreifte. Er sollte wohl nicht weg.
Er sollte wohl lieber verhauen werden. Vielleicht war das einfach sein Schicksal. Vielleicht sollte es einfach so sein, dass er die Rolle des Opfers in der Schule hatte. Das gab es ja überall.
Die pechschwarzen Wolken, der Regen und die Kälte passten zu Scorpius’ Stimmung. Niedergeschlagen blieb er stehen. Ich sollte umkehren. Ich sollte wieder zurückgehen und einfach die restlichen Jahre überstehen. Gute Noten schreiben und mich über das bisschen Anerkennung freuen, das ich von Papa kriege.


Ein paar Augenblicke stand er so im strömenden Regen und badete in Selbstmitleid, dann stampfte er wütend mit dem Fuß auf.
Nein! Nein, das würde er nicht tun! Das war nicht richtig so!
Ich muss nicht das Opfer sein! Ich muss mir das nicht gefallen lassen!


Entschlossen drehte er sich um, blickte zur felsigen Spitze des Hügels hinauf, die hell erschien, als es blitzte.
Das Unwetter war jetzt fast über ihm. Jetzt hatte er keine Zeit für innere Monologe.
Er suchte den Berg nach einem Unterschlupf ab. Da war ein Vorsprung. Ein Stück weiter oben, ein Stück abseits vom Weg. Und darüber glaubte Scorpius eine Höhle zu erkennen.
Er schluckte. Das würde nicht leicht werden, aber er wollte auch nicht unbedingt von einem Blitz getroffen werden.
Vorsichtshalber streifte er seine Uhr ab, warf einen kurzen Blick darauf – halb neun – und steckte sie in die Tasche. Dann lief er los. Seinen Rucksack nahm er auf den Rücken, damit er die Hände frei hatte.
Die ersten Meter klappten gut, doch dann stand er unterhalb des Vorsprungs. Jetzt musste er klettern.
Scorpius schluckte und musterte die nassen, scharfen Felskanten skeptisch.
Er hatte drei Möglichkeiten:
Die Erste: Er blieb hier unten stehen und ging das Risiko ein, vom Blitz erschlagen zu werden.
Zweitens: Er versuchte da hoch zu klettern, scheiterte, fiel runter und tat sich irgendwas.
Oder Drittens: Er riss sich verdammt nochmal zusammen und kletterte jetzt da hoch!

Er schluckte noch einmal, dann setzte er den Fuß auf die Felsen. Der Wind wehte ihm die Kapuze vom Kopf, der Regen klatschte ihm ins Gesicht, über ihm krachte der Donner. Scorpius strengte sich an, so gut er konnte, aber es war nicht leicht, an dem nassen, rutschigen Stein Halt zu finden.
Zweimal rutschte er ab und rieb sich dabei die Handflächen auf. Aber er biss die Zähne zusammen und schleppte sich schließlich über die Kante.
Auf dem Vorsprung kauerte er sich zusammen und holte das Diptam-Fläschchen aus dem Rucksack. Hier war er noch nicht sicher, aber er musste seine Hände heilen, sonst würde er es nicht bis zur Höhle schaffen.
Die Flüssigkeit brannte ein bisschen, aber Scorpius ignorierte es. Seine Arme schmerzten viel mehr. Er hatte überhaupt keine Muskeln und es war furchtbar anstrengend, sich an den untrainierten Armen hochzuziehen.
Nachdem er kurz verschnauft hatte, machte er sich für den zweiten Teil der Kletterstrecke bereit. Diesmal musste er von der Seite hoch. Bei der Hälfte krachte unter ihm ein Stück vom Felsen ab. Scorpius hätte beinahe geschrien, aber er war so außer Atem, dass ihm nur ein erschrockenes Keuchen entfuhr. Davon schmerzte seine Lunge noch mehr.
Er musste durch den Mund atmen, den kalten Wind durch den Mund tief einatmen. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinen Lungen. War schon völlig außer Atem. Aber wenn er jetzt nicht weitermachte, würde er abstürzen.
Er schluckte zweimal und kletterte weiter. Die letzten Meter brachten ihn fast um, doch schließlich schaffte er auch diese.
Die Höhle war ziemlich klein. Sie ging nur knapp drei, vier Meter tief in den Hügel hinein, aber das reichte.
Hier war er zumindest vor Regen und Blitzen geschützt.

/.

Scorpius kam es vor wie eine Ewigkeit, bis er wieder schmerzfrei atmen konnte. Seine Arme allerdings waren immer noch lahm. Zum Essen und Trinken reichte es gerade.
Er musste wohl ein wenig eingenickt sein, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, war es noch dunkler als vorher. Zwar war das Gewitter weiter gezogen, aber er konnte noch immer leise den Donner hören und vor dem Eingang der Höhle rauschte der Regen diagonal herab.
Also ging auch immer noch Wind.
Scorpius lehnte sich gegen die Felswand. Er war todmüde und erschöpft. Vermutlich war es das Beste, wenn er sich schlafen legte.
Doch irgendwie… Irgendetwas war komisch. Sein Gefühl sagte ihm, dass es nicht klug war, jetzt zu schlafen.
Er spürte, wie sich ein Kloß in seinem Magen bildete. Angestrengt versuchte er herauszufinden, was nicht stimmte.
Hinter dem Berg grollte leise der Donner und das war es. Der Donner hörte sich… merkwürdig an. Es hörte sich nicht wie ein Donner an. Mehr- wie ein Knurren.
Ein Knurren. Scorpius zog die Augenbrauen zusammen. Da! Da war es schon wieder. Das war nicht sein Magen und es war nicht der Donner.
Ein beunruhigendes Gefühl beschlich ihn. Wie selbstverständlich griff er nach seinem Rucksack. Er öffnete ihn, spähte hinein, obwohl er schon wusste, dass das Knurren auch nicht von dort kam.
Plötzlich wurde es noch dunkler in der Höhle, während das Knurren nun ganz laut war. Und ganz nah war.
Langsam sah Scorpius von seinem Rucksack hoch. Im Eingang der Höhle war ein Gesicht. Kein menschliches, ein pelziges, hässliches, mit einem riesigen Maul.
Scorpius saß wie angewurzelt da.
Das hatte er nun davon. Das hatte er nun davon, dass er sich nur darauf konzentriert hatte, wann er weglief und was er mitnahm. Da war er doch so überzeugt gewesen, hatte aber vergessen, den Mondzyklus anzuschauen.
Mit Angst geweiteten Augen starrte er den Werwolf an.
Der knurrte und trat ganz in die Höhle. Scorpius konnte sich nicht bewegen. Sein Magen zog sich unangenehm zusammen, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Der Werwolf kam näher, trat langsam auf ihn zu. Fletschte dabei die Zähne.
Scorpius entwich ein leises, angsterfülltes Wimmern.
Die gefährliche Kreatur baute sich vor ihm auf.
Der Werwolf war groß, kahl und dürr. Seine Wirbelsäule stand hässlich heraus und seine langen Arme und Beine wirkten lächerlich. Doch zugleich auch beängstigend, wie sie um ihn herumschlackerten.
Seine innere Stimme schrie Scorpius an. Schrie ihn an, dass er weglaufen musste, sich in Sicherheit bringen musste.
Der Werwolf fletschte die Zähne und hob eine seiner Pranken. In diesem Moment wachte Scorpius aus seiner Erstarrung auf.
Gerade als die Krallen auf sein Gesicht zufuhren, packte er seinen Rucksack und haute ihn dem Werwolf um die Ohren.
Der Wolf jaulte auf, stolperte ein paar Schritte zurück. Scorpius erkannte seine einzige Chance und rannte los, während die Kreatur verwirrt den Kopf schüttelte.
Nur gab es ein Problem. Er musste hier hoch klettern, also musste er auch wieder runterklettern.
Scorpius warf sich den Rucksack auf den Rücken und machte sich an den Abstieg. Auf der anderen Seite der Höhle ging es in einen Wald, mehr konnte er nicht sehen. Er kam gerade auf flachen Boden, da schaute der Werwolf herab.
Er knurrte den Jungen wütend an.
Erschrocken stolperte Scorpius zurück. Der Wolf machte einen Satz und war schon halb unten. Scorpius rannte los. Rannte auf die Bäume zu, so schnell er konnte.
Der Werwolf sprang auf die Stelle, an der eben noch der Junge gewesen war und setzte ihm nach.
Scorpius stolperte durch die Bäume. Der Waldboden war durchsetzt mit Wurzeln und nassem Fels. Er wusste, wenn er jetzt fiel, würde das Vieh ihn kriegen.
Dann wäre es vorbei mit ihm. Dann hätte seine ganze Flucht nichts genutzt!
Scorpius hörte den Werwolf hinter sich. Spürte, dass er immer näher kam.
Jetzt ging es leicht bergab. Er hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten, doch er würde sich ganz sicher nicht von diesem Teil erwischen lassen.
Vor ihm wurden die Bäume lichter. Da war ein kleines Stück Wiese, dann schwarz!
Scorpius bremste instinktiv ab. Da war ein Abgrund!
Völlig fertig blieb er stehen. Sein Puls raste, sein Herz hämmerte wie verrückt gegen seine Brust. Seine Lunge schmerzte und die Panik machte ihm Kopfschmerzen. Jetzt hatte er die Wahl zwischen abstürzen und zerfleischt werden.
Der Werwolf war ganz nah hinter ihm.
Scorpius sammelte sich, rannte bis zum Rand des Abgrundes und sah hinunter. Da war Wasser. Ein Fluss oder ein kleiner Weiher. Es regnete immer noch in Strömen, er war schon klitschnass. Aber das waren bestimmt an die zehn Meter, wenn nicht mehr!
Keuchend sah er über seine Schulter. Sah den Werwolf heran sprinten. Tränen liefen Scorpius über die Wangen. Er schaute zum Himmel, zurück zum Werwolf und hinunter in das Wasser. Er hatte nur eine Chance. Er musste seine Angst überwinden!


Du stirbst so oder so. Versuchs wenigstens, du verdammter Feigling!



Scorpius holte tief Luft, kniff die Augen zusammen – und sprang!

A Confession and Reproaches


A Confession and Reproaches




Die wenigen Sekunden des freien Falls waren für Scorpius fast so schlimm wie sterben. Es war einfach ein unglaublich schreckliches, fürchterliches Gefühl. Er wollte schreien, lauthals schreien! Aber er hatte keine Zeit dafür.
Er musste tief Luft holen.
Dann tauchten seine Füße auch schon in das eiskalte Wasser ein. Es fühlte sich an wie tausende Nadelstiche und sein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Er tauchte tief ein. Er konnte unter sich nichts sehen, wusste nicht, ob er gleich auf dem Grund aufprallen würde oder ob sich hässliche Wasserpflanzen um seine Beine schlingen würden.
Über seinem Kopf schwappte das Wasser zusammen. Scorpius sank weiter in die Tiefe und verlor die Orientierung.
Über ihm war es schwarz, unter ihm war es schwarz, um ihn herum war es schwarz.
Er ruderte wild mit den Armen, strampelte mit den Beinen. Versuchte sich an die Oberfläche zu kämpfen.
Ihm ging langsam die Luft aus, seine schmerzenden Lungen schrien nach Sauerstoff.
Panik überfiel ihn. Er wusste, nicht wo er war oder wohin er musste. Wusste, nicht in welche Richtung er schwimmen musste, um endlich wieder Luft zu bekommen.
Scorpius mühte sich ab nach oben zu kommen, doch seine Arme wurden immer schwerer.
Er hatte keine Kraft und keine Luft mehr. Ein paar Blasen blubberten aus seinem Mund, als er ihn öffnete, um einen stummen Schrei auszustoßen.
Die Blasen zerploppten nur knapp über ihm.
Ein letztes Mal stieß er seine Beine nach unten und durchbrach endlich die Wasseroberfläche.
Scorpius schnappte nach Luft, nahm einen tiefen Atemzug. Sauerstoff strömte seine Luftröhre hinab, füllte seine Lungen.
Er schaute sich hektisch um. Hinter ihm war die Klippe, vor ihm flaches Ufer. Er paddelte darauf zu.
Keuchend schleppte er sich aus dem Wasser, stolperte und fiel hart auf die Knie.
Hinter ihm ertönte ein Jaulen. Scorpius drehte sich halb um und erkannte die Umrisse des Werwolfs auf der Klippe.
Er legte den grässlichen Kopf in den Nachen und heulte zum Himmel hinauf, wo der Vollmond zwischen den Wolken heraus spitzelte.
Im schwachen Licht konnte Scorpius erkennen, dass sich die Felswand entlang eines breiten Flusses zog, der sich an dieser Stelle gestaut hatte – zu Scorpius’ Glück.
Der Werwolf grollte ihn an, seine Augen flackerten auf, dann drehte er ab.
Scorpius vergewisserte sich mit einem langen, prüfenden Blick, dass das Vieh nicht sonst irgendwie zu ihm herunterkommen konnte. Als er ganz sicher war, kroch er auf allen Vieren auf die Bäume zu, die nicht weit von Ufer entfernt standen.
Er konnte nicht sagen, wie hoch sie waren, es interessierte ihn auch nicht. Jedenfalls hatte der erste Baum einen sehr dicken Stamm und große Wurzeln.

Scorpius nahm den Rucksack vom Rücken und suchte darin nach seinem Zauberstab. Als er ihn endlich gefunden hatte, hexte er zuerst alles trocken.
Da es immer noch regnete, stopfte er den Rucksack unter eine der Wurzeln, damit er nicht gleich wieder nass wurde.
Als nächstes schälte er sich aus seiner Jacke. Er war pitschnass, bibberte und klapperte mit den Zähnen.
Das Wasser war wirklich eisig gewesen, zudem windete es ziemlich und es tropfte Scorpius unentwegt auf den Kopf.
Seufzend kramte er nach einer dicken, warmen Decke, hexte sich trocken und wickelte sich ein.
Jetzt war er zwar trocken und wurde nicht mehr ganz so schnell nass, aber er zitterte immer noch. Also zog er noch eine Decke heraus und legte sie über sich.
Ihm wurde ein bisschen wärmer und er rollte sich zwischen den Wurzeln zusammen.
Das Zittern blieb. Zumindest so lange, bis er einschlief.

//.

Hermine Granger-Weasley lief bereits seit Stunden in ihrem Büro auf und ab. Die Schulleiterin von Hogwarts wartete auf ihren Mann und ihren besten Freund.
Außerdem auf die Ankunft der Malfoys.
Normalerweise freute sie sich, wenn Ron oder Harry sie besuchten, aber heute nicht. Heute war es kein „Ich komm mal kurz vorbei und schau, wie’s dir geht-Besuch“. Heute ging es um eine äußerst ernste Angelegenheit.
Eine, die Hermine eine schlaflose Nacht beschert hatte.
Frustriert raufte sie sich die Haare, während sie auf dem Absatz umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung lief.
Als sie vor wenigen Jahren Schulleiterin wurde, hatte sie sich von Herzen gewünscht, dass während ihrer Zeit an der Schule nichts derartiges in diesem Ausmaße passieren würde.
Jetzt rannte sie hin und her und versuchte sich auf das Gespräch mit Draco und Astoria vorzubereiten. Schon als sie gestern Nacht ihre Eule zu den Malfoys losgeschickt hatte, wusste sie, dass es ein Fiasko werden würde.
Verständlich, immerhin war ihr Sohn verschwunden!
Die halbe Nacht hatte sie sich Gedanken gemacht, was wohl mit ihr geschehen würde. Wenn Scorpius etwas zustieß, würde das auf sie zurückfallen – ganz sicher.
Vielleicht würde man sie rausschmeißen…
„Ach Quatsch! Dumbledore hat es auch immer geschafft.“ Sofort schalt sie sich im Geiste. „Wer bin ich, dass ich mich mit Dumbledore vergleiche?!“
Ihr begonnener Monolog wurde vom Klopfen an der Tür unterbrochen.
„Ja, bitte?“ Ron steckte den Kopf herein. Hermine lächelte. „Gut, dass ihr’s so schnell geschafft habt. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich allein mit den Malfoys hätte reden müssen.“
Sie begrüßte ihren Mann und ihren besten Freund mit einer kurzen Umarmung.
„Sie kommen also bald?“, fragte Harry. „Müssten jeden Moment da sein.“
Schon klopfte es und Draco und Astoria traten ein.

/.

„Sie wollen uns also sagen, dass Sie unseren Sohn verloren haben?“, fragte Draco säuerlich, nachdem Hermine ihm und seiner Frau noch einmal alles erzählt hatte, was auch schon in dem Brief stand.
„Nicht direkt verloren. Er ist gestern nach Hogsmeade gegangen und abends nicht zurückgekommen. Wir haben bereits alles nach ihm abgesucht. Er ist nirgends zu finden.“
Sie schluckte. Malfoys Gesichtsausdruck versprach nichts Gutes.
„Er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben!“ Bevor Draco loslegte, legte Astoria ihm die Hand auf den Arm und ergriff das Wort.
„Und er ist auch nirgends im Schloss oder auf dem Gelände?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Wir haben das ganze Schloss gründlich durchkämmt.“
„So gründlich, wie man nach der Kammer gesucht hat?“, warf Draco ein. Ron sah ihn mit eisigem Blick an.
„Wir waren überall, sogar im Raum der Wünsche. Das ganze Schulgelände wurde gestern Abend abgesucht. Und Hagrid war heute Morgen noch im verbotenen Wald. Scorpius ist nicht hier.“
Draco trat auf den Rothaarigen zu. „Und was sollen wir jetzt tun? Uns einfach damit abfinden, dass unser Sohn verschwunden ist?!“
„Draco“, sagte Astoria sanft und versuchte ihren Mann zu beruhigen.
„Natürlich nicht!“, antwortete Hermine.
Erneut klopfte es. Ron sah sie verwirrt an. „Erwartest du noch jemanden?“
„Eigentlich nicht.“
Harry ging die Stufen hinab, öffnete die Tür und schaute seiner Tochter ins Gesicht.
„Lily! Das passt gerade gar nicht.“
„Ich weiß was wegen Scorpius!“, rief sie schnell, damit ihr Vater ihr nicht die Tür vor der Nase zu machte.
„Ganz ehrlich?“ Sie nickte und Harry trat einen Schritt zurück, um sie rein zu lassen.
Zögernd trat sie auf die Erwachsenen zu, warf einen kurzen Blick auf Scorpius’ Eltern.
In ihrem Kopf hörte sie James’ Stimme. Wie er sie beschwor, nichts zu erzählen. Aber das ging zu weit! Sie konnte nicht länger so tun, als wäre alles in Ordnung und sie wüsste nichts.
Unwohl trat sie von einem Bein aufs andere. „Ich- Ich weiß, Sie denken, Scorpius wäre einfach so verschwunden, aber… Aber ich glaub das nicht.“ Sie sah ihrer Tante fest in die Augen. „Ich glaube, er ist absichtlich weggelaufen.“
Auf ihre Worte folgte Schweigen. Astoria schaute das Mädchen entsetzt an.
„Aber… Warum sollte er denn weglaufen?“ Sie blickte unsicher zu ihrem Mann. Er wusste die Antwort nicht. Auch Harry, Ron oder Hermine kannten sie nicht.
Nur Lily und sie würde sie sagen.

„Wegen uns“, presste sie hervor. Wieder war es still.
Diesmal war Draco der Erste, der das Wort ergriff. Er machte ein paar Schritte auf das Mädchen zu und beugte sich herab, um es besser ansehen zu können.
„Was genau willst du uns damit sagen?“
Lily duckte sich eingeschüchtert. Sie spürte, dass Draco genau wusste, was das hieß.
Sie hatten seinen Sohn gemobbt, ihn so lange fertig gemacht, bis er abgehauen war. Sie waren dafür verantwortlich und für alles, was ihm zustieß.
Jetzt hatte sie angefangen, jetzt musste sie auch den Mut haben es zu Ende zu bringen, alles zu erzählen.
Das war das Mindeste, was sie den Malfoys schuldete.
„Na ja, wir waren nicht immer so ganz nett zu Scorpius“, brachte sie hervor.
„Wir?“ Dracos tiefe Stimme schüchterte sie ein und der Blickt aus seinen grauen Augen, mit dem er sie durchbohrte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Sie schluckte und gab dann kleinlaut zu: „James, Hugo, Albus, Rose und ich.“
Hermine, Ron und Harry schnappten erschrocken nach Luft, doch Draco ignorierte es. „Und ihr wart ‚nicht immer ganz nett’ zu meinem Sohn?“. Seine Stimme zitterte ein wenig, er versuchte seine Wut zu unterdrücken.
„Na ja, wir… Also wir haben-“ Sie warf einen unsicheren Blick zu ihrem Vater. Wünschte sich, sie hätte einfach die Klappe gehalten. Nein! Das was ich hier tue, ist richtig!


Sie seufzte kurz, sah Draco in die Augen und sprach es aus. „Wir haben ihn gemobbt. Und zwar ziemlich heftig.“
Der Mann vor ihr sog scharf die Luft ein, richtete sich auf und drehte sich zu den anderen Erwachsenen um.
Seine Hände waren zu Fäusten geballt. „Das- Das ist furchtbar. Wie- Wie kommt ihr nur dazu, so etwas zu tun?“, meinte Hermine unsicher zu Lily.
Sie konnte sich natürlich denken, warum sie das gemacht hatten. Sie hatten ihren Kindern immer wieder von Malfoy erzählt. Und dabei nicht gerade nett von ihm gesprochen. Und bei den Jungs konnte sie sich schon vorstellen, dass sie so etwas tun würden.
Lily sprach Hermines Gedanken laut aus und sah ihre Tante dabei wütend an.
„Ihr habt andauernd gesagt, dass Scorpius’ Vater ein arroganter, gemeiner, heuchlerischer und feiger Idiot ist. Und ihr habt immer dazu gesagt, dass aus seinem Sohn auch nix Besseres werden kann.“ Obwohl sie sehen konnte, wie Dracos Gesicht immer zorniger wurde, redete sie weiter. „James hat schon bevor Scorpius und Albus nach Hogwarts gekommen sind, gesagt, dass er dafür sorgen wird, dass Scorpius nicht so n Fiesling wird. Schon gar nicht zu seinem kleinen Bruder. Und Hugo hat dann mitgemacht und Rose und Albus und ich dann auch.“ Sie holte Luft, denn jetzt kam das, was ihr zu erzählen am Schwersten fiel.
„Am Anfang hat James ihn eigentlich nur doof angelabert. Später haben wir ihn dann beleidigt, lächerlich gemacht und-“ Sie musste schlucken, ihr war schlecht von dem Kloß, der in ihrem Magen lag. Nun, da sie es aussprach, wurde ihr, wie schon vor einigen Wochen, bewusst, wie beschissen das Ganze gewesen war.
„… und Streiche gespielt. Dann meinten die Jungs, dass man ihn ruhig härter anpacken könnte und wir haben ihn weggestoßen, eingequetscht, ihm ein Bein gestellt und ihn Treppen runter geschubst.“
Wieder musste sie schlucken. „Irgendwann war das auch nicht mehr genug und… und James und Hugo haben angefangen ihn zu verprügeln. Danach haben wir ihn in ne Besenkammer gesperrt. Da hat er meistens seine Aufgaben gemacht, die haben wir dann zerrissen oder verbrannt. Wir haben ihn auch andauernd, na ja, so kleines Zeug… Ihn an den Haaren gezogen, gezwickt. Sowas.“
Noch einmal holte sie tief Luft.
„Und das mit der peitschenden Weide. Das waren auch wir. James hat ihn in die Luft gezaubert und wir sind zum Baum gelaufen. Da hat er Scorpius dann auf den Ast fallen lassen. Und wir- wir haben zugeschaut, was der Baum mit ihm macht und-“ Ihre Stimme war immer höher geworden und brach schließlich weg. Tränen standen in Lilys Augen, liefen über und bannten sich einen Weg über ihre Wangen, als sie weitersprach.
„… erst als das Teil ihm den Arm gebrochen hat, sind Rose und Hugo zu Hagrid gelaufen. Weil wir keinen Ärger kriegen wollten, haben wir erzählt, dass Scorpius das von sich aus gemacht hat. Und- und deshalb sind wir schuld, dass er jetzt weg ist“, schluchzte sie.

Jetzt war sie fertig, sie hatte alles gesagt.
Draco warf einen Blick auf das schluchzende Mädchen, dann wandte er sich an Hermine, Ron und Harry, die leichenblass waren. Er sprach gefasster, leiser Stimme
„Ihr habt eure Kinder gegen unseren Sohn aufgehetzt?“ Die drei Erwachsenen fanden keine Antwort.
„Das goldene Trio, bekannt dafür, dass sie eine friedliche Zaubererwelt wollen, in der alle freundlich miteinander umgehen, hetzen ihre Kinder auf die der Leute los, die sie nicht ausstehen können?!“ Es war vorbei mit Dracos Zurückhaltung.
„Und du willst mir wohl auch noch erzählen, dass du mehr als zwei Jahre lang nicht gemerkt hast, was sie hier mit Scorpius machen?!“, fuhr er Hermine an.
Harry stellte sich schützend vor sie.
„Du hast ja wohl auch nichts mitgekriegt, wenn er zu Hause war! Er hätte ja was sagen können!“
Bevor Draco ihm etwas an den Kopf werfen konnte, redete Lily dazwischen.
„Das hätte er nie getan. Wir haben ihm gedroht, dass wenn er was sagt, dann machen wir ihn fertig“, schniefte sie und wischte sich die Tränen ab. „Er hatte viel zu viel Schiss vor James.“ Astoria kam auf sie zu und legte ihr die Hand auf den Arm.
„Bitte rede nicht so, als ob er tot wäre. Ich bin sicher, dass er noch immer Angst vor deinem Bruder hat“, sagte sie ruhig.
Dann schaute sie zu ihrem Mann und den anderen drei. „Lassen wir jetzt mal das Geschreie, davon finden wir Scorpius nicht. Ich gehe davon, dass Sie die Umgebung gründlich absuchen werden. Er kann nicht sehr weit weg sein. Schließlich ist er erst gestern losgelaufen.“
Harry und Ron nickten.
Astoria wandte sich zu Lily. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du so ehrlich warst. Wenn ihr das so lange geheim gehalten habt, warum hast du es jetzt erzählt?“
Das Mädchen fuhr sich erneut über die Augen. „Ich hab schon nach Weihnachten nicht mehr mitgemacht. Nach der Sache mit der Weide… das ging einfach zu weit. Aber ich war davor dabei. Ich hab genauso viel getan wie die anderen. Ich finde nur, das ist das Einzige was ich tun kann. Zu erzählen, was wir getan haben. Sie haben jeden Grund, das zu erfahren.“
Astoria schenkte ihr ein Lächeln. „Es erfordert einiges an Mut sich gegen so eine Gruppe zu stellen. Vor allem, wenn es die eigene Familie ist.“ Lily lächelte zurück.
Hermine fand endlich ihre Sprache wieder. „Aber ihr werdet natürlich alle dafür gerade stehen müssen. Ihr kommt nicht so davon!“ Lily nickte. „Ich weiß.“
„Schön, aber vielleicht sollten Sie das hinten anstellen und erst einmal versuchen, Scorpius wieder zu finden.“ Draco war weiterhin stinksauer – das reichte nicht mal – aber er konnte sich soweit zusammenreißen, dass er wieder höflich war.

Das Trio nickte. „Wir werden so schnell wie möglich mit der Suche beginnen.“

Just givin’ a thought about my life


Just givin’ a thought about my life



Scorpius erwachte mit mörderischen Kopfschmerzen. Ihm war kalt und sein ganzer Körper tat weh. Matt hob er den Kopf und blinzelte den Schlaf aus seinen Augen.
Stöhnend setzte er sich auf.
Er hatte schrecklichen Muskelkater in den Armen und Beinen und von der schiefen Position, in der er geschlafen hatte, tat sein Rücken weh.
Er hörte ein leises Plätschern und schaute zum Fluss und die steile Klippe hinauf. Da fiel ihm wieder ein, was in der letzten Nacht passiert war.
Himmel, ich bin vor einem Werwolf davongelaufen!

Scorpius kaute auf seiner Lippe herum.
Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich einfach wieder zurückgehe. In ein paar Wochen kommt das Biest wieder und wenn ich noch weiter laufe, finde ich nie wieder zurück.


Sein Magen mischte sich knurrend ein und Scorpius stellte seine Gedanken hinten an. Er kramte in seinem Rucksack nach Essen. Das dauert ziemlich lange, denn jede Bewegung spürte er sofort schmerzhaft in den Armen.
Er fand noch zwei Käsebrote, die musste er unbedingt essen, sonst würden sie schlecht werden.
Nachdem er gegessen hatte, ging er zum Fluss und schaufelte sich Wasser ins Gesicht, damit er richtig wach wurde. Dann setzte er sich ans Ufer und dachte nach. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte, also dachte er als erstes an die vergangene Nacht.
Da denk ich schon seit Monaten, dass es hier draußen einen Werwolf gibt und laufe natürlich genau bei Vollmond los, ich Idiot. Ich wollte unbedingt weg von Hogwarts und James und dem ganzen Mist. Wollte nicht mehr verprügelt und Angst um mein Leben haben müssen und renn schon in der ersten Nacht vor nem Werwolf davon! Und das mit dem Essen kann ich auch vergessen! Das reicht ja niemals für ne Woche. Klar, ich kann weiter laufen, vielleicht komm ich ja irgendwann mal wieder in die Zivilisation. Und dann hab ich keine Ahnung, wo ich bin und komm nie wieder nach Hause.


Während er so überlegte, warf er einen Stein nach dem anderen ins Wasser. Je wütender er wurde, desto fester warf er. Dass sein Arm davon ziemlich wehtat, ignorierte er einfach.
Ich kann mir gut vorstellen, dass sie noch nicht einmal gemerkt haben, dass ich weg bin. Und wenn, dann denken sie wahrscheinlich erst einmal, dass ich in irgendeiner Besenkammer sitze.
Die würden doch nie auf den Gedanken kommen, dass ich weglaufe. Ich! Der kleine Scorpius Malfoy. Weil ich ja so ein Angsthase bin und von einem Baum verprügelt wurde. Der abends im Bett heult, weil er Angst vor dem nächsten Tag hat.


Scorpius’ Augen brannten und füllten sich mit Tränen. Er ließ seinen Arm sinken und den Stein fallen, den er eben noch ins Wasser hatte schleudern wollen.
Es waren Tränen der Wut, die aus seinen Augen kullerten und sich ihren Weg über seine Wangen bannten.
Zornig ballte er die Fäuste.
Die werden schon sehen, was der kleine Malfoy kann. Sie werden sehen, dass ich keine Memme bin.


Er wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht, wischte die Tränen weg.
Und wenn sie denken, dass ich das nicht lange durchhalte und bald wieder zurückkomme, dann haben sie sich geirrt! So schnell gebe ich nicht auf! Ich zieh das hier durch und ich werde auch mit dem Werwolf klar kommen – irgendwie. Und wenn ich dann zurückkomme, werden sie sehen, dass sie sich getäuscht haben. Dass sie sich in mir getäuscht haben!


Entschlossen rappelte er sich auf.
Und Papa wird hoffentlich endlich kapieren, dass ich keine Memme bin. Ich werde es ihnen allen zeigen.



Scorpius fühlte sich in diesem Moment einfach großartig. Pures Glück erfüllte ihn und das Gefühl, dass nichts und niemand ihm etwas anhaben könnte.
Im nächsten Moment hörte er ein merkwürdiges, gedämpftes Geräusch hinter sich. Es klang wie ein Krächzen.
Scorpius begann wieder auf seiner Unterlippe zu kauen. Eben hatte er in Gedanken damit geprahlt, dass ihn nichts von seinem Vorhaben abhalten konnte.
Jetzt wurde ihm ein bisschen mulmig, aber gleichzeitig war seine Neugier geweckt worden.
Zögernd holte er seinen Rucksack und machte ein paar Schritte in den Laubwald, aus dem das Geräusch kam.
Ich bin heute Nacht um ein Haar einem Werwolf entkommen. Wie schlimm kann es denn schon sein?


Er nahm seinen Mut zusammen und lief weiter. Wieder hörte er das Krächzen. Es kam ihm merkwürdig bekannt vor.
Scorpius verlangsamte seine Schritte. Das Geräusch war jetzt ganz nah. Ein Busch versperrte ihm die Sicht. Er schob die Zweige beiseite und konnte endlich die Kreaturen sehen, die so krächzten.
Scorpius klappte der Mund auf. Vor ihm erstreckte sich eine Lichtung, umgeben von Laubbäumen und Büschen in verschiedensten Höhen und Arten. Unter ihnen spitzelten die ersten Frühlingsblumen aus der Erde und die Morgensonne schien auf das junge, grüne Gras.
Es war eine Szene wie aus einem Film. Es wirkte so überhaupt nicht real. Was Scorpius aber noch viel mehr faszinierte, waren die Kreaturen, die über die Lichtung wanderten und an den Ästen der Bäume knabberten. Er blinzelte ein paar Mal um ganz sicher zu sein, dass er nicht träumte, denn wie oft stand man schon einer Hippogreifherde gegenüber?

Let go of me!


Let go of me!




Scorpius stand wie angewurzelt da und starrte fasziniert auf die Kreaturen. Sie hatten ihn noch nicht bemerkt und streiften weiter über die Lichtung. Sie trugen mit ihren Schnäbeln abgebrochene Zweige auf einen Haufen und scharrten Moos zusammen.
Jeder unter einem anderen Baum.
Zwischen ihnen wanderten einige kleinere umher, die nacheinander schnappten und traten. Ein paar Mal stellten sie sich auf ihre Pferdebeine und schlugen aufgebracht mit den Flügeln.
Am Rand, links von Scorpius, stand der größte Greif. Seine Federn waren schiefergrau mit schwarzen Flecken und gingen in ein graues Fell über, so dunkel wie die Gewitterwolken in der vorigen Nacht.
Seine gelben Augen blickten über die Lichtung und noch weiter. Er hatte einen großen, scharfen Schnabel und seine Vogelkrallen gruben Furchen in den weichen Boden.
Kurz, mit diesem Tier wollte man sich nicht anlegen, wenn man nicht draufstand, verletzt oder getötet zu werden. Allerdings gab es ja schon so Leute, die das anmachte…
Scorpius schüttelte kurz den Kopf. Warum dachte er an so etwas?
Neben ihm raschelte etwas und ein karamellfarbener Vogelkopf schob sich zwischen den Zweigen eines Busches hindurch. Die kristallblauen Augen blinzelten Scorpius einen Moment lang verwirrt an. Dann öffnete sich der graue Schnabel zu einem garstigen Krächzen.
Erschrocken stolperte Scorpius zurück. Der Greif warf den Kopf hoch und krächzte laut: Scorpius wich zwei weitere Schritte zurück, stolperte über eine Baumwurzel und fiel auf den Hintern.
Der Greif warf den Kopf hoch, machte einen Schritt auf ihn zu und schlug mit dem Vorderfuß nach ihm. Die scharfen Krallen verfehlten das Bein des Jungen nur knapp.
Scorpius entwich ein leiser Schrei. Er rappelte sich auf und wich dem Schnabel, der nach ihm hackte, mit einem Sprung zur Seite aus. Der ist eindeutig nicht so lieb wie Hagrids!

Das Tier krächzte laut und wütend. Scorpius schluckte. Er hatte wirklich ein Pech… Erst der Werwolf und jetzt das!

Er sah sich suchend um. Irgendwie musste er sich aus dieser misslichen Lage retten. Kurzerhand ließ er den Rucksack von seinen Schultern gleiten und griff nach rechts, nach einem Ast. Der Hippogreif war einen Moment von dem Rucksack abgelenkt und Scorpius nutzte die Zeit um die ersten Äste des Baumes hinaufzuklettern.
Das war allerdings schwieriger als er sich vorgestellt hatte. Keuchend hing er in einer Astgabel. „Verdammte Kletterei!“, fluchte er.
Damit zog er die Aufmerksamkeit des Hippogreifs wieder auf sich. Er krächzte den Jungen an. Scheinbar empört darüber, dass der vor ihm flüchtete.
Scorpius holte tief Luft und erklomm den nächsten Ast. Dann war er so außer Puste, dass er sich an den Stamm lehnte und nach Luft schnappte. Das müsste erst mal reichen.

Da hatte er jedoch falsch gedacht.
Plötzlich zerrte etwas an Scorpius’ Jeans und holte ihn beinahe vom Baum herunter. Er konnte sich gerade noch an ein paar Zweigen festhalten. Der Greif zog an seinem Hosenbein. „Hey! Hör auf!“, rief der Junge, obwohl ihm natürlich klar war, dass das Tier ihn nicht verstand. Außerdem dachte der Greif überhaupt nicht daran, Scorpius einfach so entkommen zu lassen. Er zerrte wieder am Hosenbein, diesmal noch fester. Scorpius klammerte sich am Stamm fest und trat nach dem Tier. „Lass mich los!“
Er wurde immer wütender und schüttelte seinen Fuß, damit das Vieh endlich losließ. Das zog jedoch nur noch mehr und irgendwann riss der Stoff mit einem hässlichen RATSCH!. Scorpius hatte sich gegen den Baumstamm gedrückt und mit all seiner Kraft versucht, sein Bein aus der Gewalt des Hippogreifs zu bekommen. Jetzt ließ der Druck mit einem Mal nach und er fiel von dem durch den Schwung beinah vom Baum.
Der Greif dagegen hatte sich zurückgelehnt und stolperte nun nach hinten.
Er ließ sich davon nicht beirren und fing an, auf dem Stofffetzen herum zu kauen. Scorpius setzte sich wieder richtig auf den Ast und sah dem Greif einen Moment dabei zu. Dann zog er sein Bein zu sich heran und starrte missmutig auf das große Loch in seiner Jeans. „Na toll!“, brummte er. Zum Greif schrie er hinunter: „Bist du jetzt zufrieden?“
Der Angesprochene hatte inzwischen herausgefunden, dass Jeansstoff ziemlich geschmacklos war und spuckte den Fetzen aus.
In Scorpius’ Rucksack dagegen roch es nach etwas Leckerem. Der Greif schnappte ihn sich und schüttelte ihn, sodass sämtliche Brote, Bücher und Scorpius’ Zauberstab heraus fielen. „Nein! Hör auf damit!“ Hastig kletterte der Junge vom Baum. Er sammelte seinen Zauberstab und die Bücher auf, eilte zu dem Greif und schlug ihm mit der Hand auf den Kopf.
Erstaunt ließ das Tier den Rucksack fallen. Scorpius griff danach und rannte den Weg, den er gekommen war, so schnell er konnte wieder zurück.
Als er am Fluss ankam, setzte er sich ans Ufer und blickte ein paar Minuten lang in den Wald. Vielleicht verfolgte ihn das Tier… Es geschah jedoch nichts und so widmete sich Scorpius seinem Proviant. Das Meiste von dem, was er noch übrig gehabt hatte, hatte der Greif aus dem Rucksack geschüttelt und schlug sich vermutlich gerade den Bauch damit voll.

Seufzend holte er seine letzten drei Brote heraus. Das würde noch für den Rückweg reichen, wenn er jetzt loslief. Ich hab ja keine Ahnung wo ich bin. Wegen diesem verdammten Werwolf!


Wütend kickte er einen Stein weg. So eine beschissene Idee! Einfach abzuhauen. Als ob davon was besser werden würde. Wenn ich zurück gehe… Ich will gar nicht dran denken. Ich hab’s bestimmt nur noch schlimmer gemacht. Papa wird sicher nicht stolz auf einen feigen Ausreißer sein!


Scorpius blinzelte die Tränen zurück, die sich in seinen Augen sammelten. Schon gar nicht auf einen, der die ganze Zeit rumheult! Verdammt, reiß dich zusammen, Scorpius!

, befahl er sich. Du bist ein Malfoy! Und ein Malfoy heult nicht rum.


Angesichts des kümmerlichen Essensvorrats war es nicht so leicht positiv zu denken. Scorpius überlegte, wie er dieses Problem lösen könnte und schlug sich an die Stirn. Er war so ein Idiot! Das hätte ihm wirklich schon früher einfallen müssen.
Der Nachfüllzauber! In seinem Schulbuch stand zwar, dass der nur bei Getränken in Flaschen oder Gläsern funktionierte, aber was war ein Schulbuch schon gegen den uralten Wälzer aus der Hausbibliothek.
Scorpius kramte ich seinem Rucksack nach dem Buch und suchte dann nach einem Vermehrungszauber. Als er einen gefunden hatte, warf er einen Blick auf seine drei Brote. Eins war mit Käse, eins mit Schinken und eins – ganz gesund – mit Gurke, Käse und Tomate.
Er murmelte den Zauberspruch ein paar Mal und malte dabei die Bewegung mit dem Finger in die Luft. Dann griff er nach seinem Zauberstab, schwenkte ihn zweimal und vor ihm lag ein ganzes Dutzend Brote.
Scorpius lächelte zufrieden. Er wurde vielleicht von anderen runtergemacht, konnte sich nicht wehren und brachte auch körperlich nicht gerade Bestleistungen zustande. Aber dumm war er nicht!
Wer sagte denn, dass man nur mit Kraft in der Wildnis überleben konnte? Scorpius würde es mit Verstand schaffen, solange er konnte. Er nahm ein Käsebrot und biss hinein. Verhungern würde er auf keinen Fall.
Hinter ihm raschelte es. Er drehte sich um und sah den Hippogreif auf sich zukommen.
„Hast du noch nicht genug von meinem Essen?“, fragte Scorpius lächelnd. Seine Wut war verflogen.
Der Greif kam zögernd näher. Scorpius blieb ganz ruhig sitzen, neigte nur den Kopf. Das Tier beäugte ihn mit schief gelegtem Kopf. Der Junge wartete, er hatte Zeit und Geduld. Nach einigen Minuten neigte dann schließlich auch der Greif seinen Kopf. Ein Lächeln huschte über Scorpius’ Gesicht. Er sah auf und hielt seinem Gegenüber ein Schinkenbrot hin.
„Komm nur. Ist für dich.“ Langsam kam der Hippogreif näher, reckte den Kopf ganz weit nach vorn und schnupperte. Ein paar Mal zog er sich wieder zurück, aber dann siegte der Hunger und vielleicht auch die Neugier.
Jedenfalls nahm er dem Jungen das Brot aus der Hand und machte gleich ein paar Schritte zurück. „Was bist du denn jetzt so schüchtern?“ Scorpius erhob sich und machte einen Schritt auf das Tier zu.
Er streckte die Hand aus und wartete. Er wartete lange. Stand ganz ruhig da und wartete, dass der Hippogreif zu ihm kam.
Der blinzelte den Jungen misstrauisch an, musterte ihn von oben bis unten. Irgendwann schien er entschieden zu haben, dass Scorpius überhaupt nicht gefährlich oder böse war und machte einen Schritt auf ihn zu.
Scorpius lächelte leicht, als der Greif näher kam. Langsam kam er Schritt für Schritt näher, bis er schließlich ganz nah vor ihm stand. Scorpius streckte seine Hand noch ein bisschen weiter nach vorn und berührte mit den Fingern den grauen Schnabel. Der Greif zuckte ein wenig zurück, reckte dann aber den Kopf nach vorn und stupste Scorpius’ Hand an.
Scorpius’ Lächeln wurde breiter und ihm wurde ganz warm. Es hatte ihn schon so gefreut, dass er Hagrids Hippogreif einfach so anfassen konnte. Aber der hier war ja wirklich wild.
Umso glücklicher machte es ihn, als das Tier den Kopf gegen seine Hand schmiegte. Vorsichtig streichelte er über die weichen Federn. Sie hatten die Farbe von Karamell und ein paar weiße Sprenkler. Das Fell war nur karamellbraun.
Am schönsten fand Scorpius die hellblauen Augen des Greifen. Sie sahen aus wie Eiskristalle.
Der Hippogreif machte noch einen Schritt vorwärts und nun konnte Scorpius auch seinen Hals streicheln.
Das Tier ließ sich das eine Weile lang gefallen, dann hob es den Kopf und lief an Scorpius vorbei auf das Wasser zu. Es watete ein paar Schritte hinein und begann zu trinken. Scorpius leckte sich über die Lippen. Er war auch ziemlich durstig. Allerdings hatte er nicht vor das Flusswasser zu trinken.
Langsam, um den Greif nicht zu erschrecken, ging er zu seinem Rucksack, der am Ufer lag und holte eine Wasserflasche heraus.
Er nahm einige gierige Schlucke. Neben ihm platschte es und er wurde mit ein paar Tropfen angespritzt. Er drehte sich um. Der Greif schlug mit dem Vorderbein ins Wasser und es spritzte in alle Richtungen. Scorpius trat ans Ufer und kickte einmal mit dem Fuß ins Wasser. Wieder schlug der Greif ins Wasser, fing an herum zu plantschen.
Scorpius lachte und ging ein paar Schritte zurück. Es war noch nicht die Zeit für Wasserspiele. Viel zu kalt.

Er setzte sich hin und sah dem Greif dabei zu, wie er sich umdrehte und plantschte. Er zog die Beine an und legte den Kopf auf seine Knie. Dabei fiel sein Blick auf sein zerrissenes Hosenbein. Er schaute zum Greif und wieder auf seine Hose. Einfach zerrissen. Zerrissen… zerreißen. Rip… zerreißen. Jack the Ripper. Jack!


Scorpius mustert den Karamell-Greifen. Jack the Ripper, he?

„Jack”, flüsterte er. Dann sprach er es lauter aus: “Jack.” Und schließlich rief er es dem Greifen zu. „Jack!“
Das Tier fuhr herum und guckte ihn verwirrt an. „Jack. Ja-hack“, lachte Scorpius. Der Greif kam langsam auf ihn zu. Immer noch ein bisschen zögernd. Aber er kam und senkte den Kopf und Scorpius’ Hand an zu stupsen. „Willst du Jack heißen? Darf ich dich so nennen?“ Der Greif schmiegte sich an seine Hand und Scorpius nahm das als ein „Ja“. „Jack“, flüsterte er wieder.
Vielleicht wird das ja doch nicht so schlecht. Das Weglaufen. Ich muss ja nicht noch weiter weglaufen. Ich glaub, ich bleib einfach ne Weile hier.


Scorpius malte sich den Rest des Tages aus, wie so ein Leben mit wilden Hippogreifen wohl aussehen könnte. Was er alles erleben und lernen könnte. Woran er nicht dachte, war die Nacht.


Und das sollte ihm zum Verhängnis werden…



Pursue and Injure


Pursue and Injure




Am Ende dieses Tages war Scorpius glücklich. Er hatte das Problem mit seinem Essen gelöst und einen neuen Freund gefunden. Na ja… eigentlich seinen ersten Freund. Bis zum Abend blieb der Hippogreif bei ihm.
Scorpius hatte ihn immer wieder beim Namen genannt. Er fand, der Name passte sehr gut, denn der Greif rupfte an jedem Ast, der ihm in die Quere kam.
Er zupfte auch an Scorpius herum – an seiner Hose, seinem Pulloverärmel und an der Kapuze.
Kaputt machte er aber glücklicherweise nichts mehr.
Scorpius gab ihm noch mal ein paar Brote zum Abendessen. Den Rest aß er selber, bis auf drei. Die musste er am nächsten Morgen wieder verdoppeln.
Als die Sonne schon fast ganz untergegangen war, zog sich Jack zurück. Er ließ sich noch ein wenig von dem Jungen kraulen, dann ging er zurück zur Lichtung, zu seiner Herde. Scorpius traute sich nicht mitzugehen.
Nicht alle Hippogreife würden ihn so schnell akzeptieren, wie Jack.
Also baute er sich am Flussufer ein kleines Lager. Zum Glück hatte er viele Decken eingepackt. Als Schlafplatz wählte er den Baum, zwischen dessen Wurzeln er schon in der vorigen Nacht geschlafen hatte. Diesmal würde er ihn aber besser polstern.
Zwei Decken nahm er als Unterlage, mit einer weiteren polsterte er die Wurzeln ab. Eine andere wurde zum Kopfkissen und zwei brauchte er zum Zudecken.
Seinen Rucksack legte er in die Kuhle der nächsten beiden Wurzeln. So war er in Reichweite.
Scorpius war sehr zufrieden mit seinem Werk. So würde er es einige Zeit aushalten können. Als es dunkler wurde, schnappte er seinen Zauberstab und hexte einen Schutzkreis um sich herum.
„Protego Maxima“, sprach er laut und deutlich aus. Nachdem er damit fertig war, überlegte er, ob man den Unortbarkeitszauber wohl nach einiger Zeit erneuern müsste.
Kurzerhand zog er sein Buch heraus und schlug es auf. Er las die Beschreibung mehrmals durch. Der Zauber würde seine Aufgabe solange erfüllen, bis Scorpius ihn aufhob. Oder jemand anderes. Der mich finden will… oder so… egal.


Scorpius schob diesen Gedanken beiseite. Wer soll mich hier schon finden?


Er kuschelte sich in sein Nest. Die Augen fielen ihm fast auf der Stelle zu und er schlief ein.

/.

Als Scorpius erwachte, spiegelte sich der silberne Mond im Wasser des Flusses und erhellte die Nacht. Ein Blick auf seine Uhr verriet dem Jungen, dass es gerade mal kurz nach zehn war. Er rollte sich zusammen und betrachtete das Spiegelbild des Mondes. Der Wind, der beinah in regelmäßigen Abständen über das Wasser fegte, schlug kleine Wellen auf, die die helle Scheibe erzittern ließen.
Scorpius bibberte ebenfalls. Gerade als er eine weitere Decke aus seinem Rucksack ziehen wollte, hörte er ein leises, krächzendes Geräusch. Er hielt inne und horchte. Vielleicht war es einer der Hippogreife. Vielleicht kam Jack zu ihm.
„Hilfe!“ Scorpius schluckte, sein Magen zog sich unangenehm zusammen. Der Ruf kam aus der Richtung, in die der Fluss führte.
Er war ziemlich leise und schwach.
Scorpius setzte sich auf und lauschte. Möglicherweise hatte er es sich nur eingebildet. Hier gab es bestimmt viele Wildtiere. Wer wusste, welche Geräusche die machten.
Er griff wieder nach der Decke, da hörte er es erneut und diesmal war er sicher. Da rief jemand um Hilfe. Und so wie es klang, musste dieser jemand ziemlich am Ende und verzweifelt sein.
Scorpius ließ den Stoff los und nahm stattdessen seinen Zauberstab. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch verunsicherte ihn.
Was, wenn es eine Falle ist? Wenn mich jemand gesehen hat… Aber der Schutzzauber…


Er schloss seine Faust fester um das Holz. Welcher normale Mensch ist denn nachts mitten im Wald unterwegs?!

Er blinzelte verdutzt, als er merkte, dass er sich selbst beleidigt hatte. „Hilfe!“
Scorpius nagte an seiner Lippe. Er musste nachsehen, was da los war, musste helfen. Aber wenn die Person verfolgt wurde? Wenn da etwas Gefährliches war, gefährliche Leute?
Langsam stand er auf und spähte zwischen die Bäume. Dann ging er zögernd ein paar Schritte auf das Ufer zu. Sein Schutzkreis war nicht sonderlich groß und er hatte Angst vor dem, was außerhalb lauern könnte.
Er ging einige Meter am Flussufer entlang. Weiter vorn war eine leichte Biegung, deswegen konnte Scorpius nicht erkennen, wer oder was da war.
Er hörte wieder Schreie. Die Person schien am Ende ihrer Kräfte zu sein. Bestimmt war sie verletzt.
Scorpius lief zurück zu seinem Nest und kramte nach dem Fläschchen mit der Diptam-Essenz. Damit würde er hoffentlich ein bisschen helfen können.
Er schob sie in seine Jackentasche, atmete einmal tief durch und lief los – den Zauberstab bereit.
Je weiter er lief, desto mehr zog sich sein Magen zusammen. Als er seinen Schutzkreis verließ, blieb er einen Moment stehen. Jetzt könnte ich noch ohne Probleme zurückgehen...

Scorpius schüttelte empört den Kopf. Jemand brauchte seine Hilfe! Er durfte nicht so ein feiges Weichei sein!
Entschlossen lief er um die Kurve. Rechts neben ihm waren der Fluss und die Steinwand. Sie wurde in diese Richtung niedriger, also musste es dort ins Tal gehen. Das hättest du eigentlich schon früher merken sollen, du Trottel. Wasser fließt schließlich nicht bergauf!


Ein Stück weiter vorn sah er eine Gestalt auf dem Boden liegen. Scorpius zögerte nicht, sondern rannte auf die Person zu und kniete sich neben sie. „Hallo? Können Sie mich hören?“ Die dämliche Frage, ob alles in Ordnung sei, sparte er sich.
Der junge Mann vor ihm hatte an den Armen und Beinen Schürfwunden, seine Knie waren offen – bluteten. Zudem hatte er ein T-Shirt an und lag auf dem nassen, kalten Boden. Scorpius wusste nicht, wo er ihn anfassen konnte. Er könnte sich etwas gebrochen haben. Womöglich war er irgendwo runtergefallen. Von der Klippe, so wie Scorpius.
Allerdings war er nicht nass. Vorsichtig legte Scorpius seine Hand auf die Schulter des Mannes und rüttelte sie leicht. Der Kerl keuchte leise auf und öffnete die Augen einen Spalt. Als er den Jungen sah, riss er die Augen erschrocken auf. „Keine Angst. Ich helfe Ihnen!“ Scorpius wollte in seine Tasche greifen, um das Diptam herauszuholen. Doch der junge Mann packte seine Hand und hielt sie fest.
Er versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur ein gurgelndes Röcheln aus seiner Kehle.
Scorpius versuchte, den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. „Ganz ruhig. Ich will Ihnen helfen“, sagte er mit zitternder Stimme und wollte die Hand wegschieben, aber der Typ ließ sich nicht abwimmeln. Er röchelte wieder und etwas Dunkles, Dickflüssiges lief aus seinem Mundwinkel.
Scorpius bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Lassen Sie mich los, damit ich Ihnen helfen kann. Bitte.“ Der Mann bewegte seine Augen nach rechts und schaute Scorpius eindringlich an.
Flehen lag in seinem Blick. Scorpius dachte, dass er um Hilfe bettelte. Aber warum ließ er ihn nicht los?
Der Mann konnte sich kaum bewegen. Scheinbar steckte er seine letzte Kraft in den Blick und seinen Griff um Scorpius’ Hand. Das machte Scorpius Angst. Ein letztes Mal versuchte er den Mann dazu zu bringen, ihn loszulassen.

Die Antwort war ein Gurgeln. Dann blickten die Augen, die Scorpius so angefleht hatten starr in den Nachthimmel und der Griff um sein Handgelenk lockerte sich endlich.
Scorpius hielt erschrocken die Luft an, aber alles was er hörte, war das Plätschern des Wassers. Ein paar Minuten saß er nur stumm da, ließ seinen Blick über den jungen Mann schweifen und versuchte zu verstehen, was eben passiert war.
Der Typ hatte ihn so flehend angesehen und nicht locker gelassen. „Er wollte mir etwas sagen“, flüsterte er. Während er sprach, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er blinzelte sie zurück und schluckte. Aber von so ein paar Abschürfungen stirbt man doch nicht.

Er wollte es nicht aussprechen. Seine Stimme kam ihm viel zu laut vor.
Er muss noch andere Verletzungen haben. Er hat aus dem Mund geblutet. Wenn er irgendwo runtergefallen ist, hat er vielleicht innere Blutungen.


Scorpius’ Blick wanderte über den Körper. Der Kopf war gerade, aber Scorpius sah nur die rechte und die Vorderseite. Über der linken Schulter war etwas Dunkles. Scorpius’ Magen verknotete sich, als er die Hand ausstreckte, die Finger an die Wange des Mannes legte und sein Gesicht zu sich drehte.
Er stieß einen entsetzten Schrei aus, wich zurück und fiel auf den Hintern. Er stützte sich auf die Ellbogen und starrte bestürzt das Gesicht der Leiche an.
Über die linke Gesichtshälfte zogen sich vier tiefe Schnitte bis zur Schulter. Alles war blutüberströmt.
Langsam kroch Scorpius wieder näher an den Mann heran und sah sich die Wunden an. Die Halsschlagader war durchtrennt worden, deshalb das viele Blut.
Scorpius zitterte am ganzen Körper. Ein Tier musste ihn angegriffen haben. Etwas Großes mit scharfen Krallen. Vielleicht ein –


Seine Kehle schnürte sich, als ihm klar wurde, was hier los war. Werwölfe verwandeln sich nicht immer nur in einer Nacht…


Hinter ihm knurrte etwas. Nein, nicht irgendetwas! Scorpius wusste genau, was da war.
Er drehte sich um, sah im Wasser das Spiegelbild des Vollmondes und das einer Kreatur. Er hob den Kopf und erblickte ihn. Der Werwolf knurrte ihn zähnefletschend an. Stück für Stück schob sich Scorpius zurück. Weg von der Leiche und weg vom Werwolf.
Er musste sofort zurück in seinen Schutzkreis! Ganz langsam erhob er sich. Der Wolf beobachtete jede seine Bewegungen. Als Scorpius schon fast aufrecht stand, wagte er einen Schritt zurück zu machen. Der Werwolf grollte, sprang mit einem Satz über den Fluss und landete nur wenige Meter vor dem Jungen.
Er verschwendete nun keine Zeit mehr damit, Scorpius Angst zu machen, sondern fiel ihn an.
Scorpius schrie und duckte sich nach links. Das Vieh verfehlte ihn. Scorpius dachte nicht mehr nach, rannte einfach los, in den Wald hinein.
Der Werwolf setzte ihm nach. Scorpius rannte, so schnell er konnte, wie in der vorigen Nacht. Dieses Mal durfte er allerdings nicht darauf vertrauen, dass er irgendwo runterspringen und so seinen Verfolger abhängen konnte.
Panik hatte ihn ergriffen, kontrollierte seinen Körper und ließ ihn blind durch den Wald hetzen. Er hörte den Wolf hinter sich bellen, wusste, dass er ihm dicht auf den Fersen war.
Während er rannte, fing Scorpius an zu weinen. Die Tränen flossen aus seinen Augen, über die Wangen – in einem fort. Das war nicht gerade hilfreich. Es war dunkel, der Mond wurde teilweise von den Bäumen verdeckt. Und er hatte ja nicht einmal einen Weg, er rannte quer durch den Wald.
Zweige und Sträucher hielten ihn auf und mit den Tränen in den Augen sah er noch weniger. Schluchzend wischte er sie mit dem Ärmel weg und warf einen Blick nach hinten. Der Werwolf kam immer näher, fletschte die Zähne. Scorpius hätte am liebsten geschrien, lauthals um Hilfe gerufen. Aber das hatte ja überhaupt keinen Sinn.
Er musste sich irgendwo verstecken! Das war seine einzige Chance. Er biss die Zähne zusammen, rannte noch ein wenig schneller und schaffte es, etwas Abstand zwischen ihn und seinen Verfolger zu bringen.

Ein Stück weiter vorn glaubte er einen umgefallenen Baum zu erkennen. Einen Versuch ist es wert. Wenn er mich dann erwischt, habe ich es wenigstens versucht.


Noch einmal nahm er seine ganze Kraft zusammen und beschleunigte sein Tempo. Der Baum war mitsamt seiner Wurzel ausgerissen worden.
Scorpius lief einmal um die Wurzel herum und sprang in die kleine Lücke zwischen Baum, Wurzel und Boden.
Er drückte sich gegen die Dreckwand, zog seine Füße an und presste sich die Hand auf den Mund. Das brachte ihn beinahe um. Er bekam kaum Luft durch die Nase. Seine Lunge schmerzte, ebenso seine Füße und ihm wurde ganz schwindelig. Er schloss die Augen und betete, dass der Werwolf an ihm vorbei rannte.
Er hörte, wie die Pranken auf den Boden schlugen. Immer lauter, immer näher. Er kam direkt auf Scorpius zu.
Scorpius liefen Tränen über die Wangen. Er hatte schreckliche Angst. Er war nicht gerade ein Glückspilz, was 50-50-Chancen anging. Die meisten vergeigte er und hier waren die beiden Möglichkeiten, dass das Vieh an ihm vorbei rannte oder ihn fand. Dann wäre es aus. Er hätte keine Chance.
Das Trampeln der Pfoten setzte für einen Augenblick aus. Scorpius riss die Augen auf. Er springt über den Baumstamm!

Das Tier setzte mit einem Donnern auf der anderen Seite auf und hetzte weiter.
Scorpius ließ seine Hand sinken und glotzte dem Werwolf nach. Ein Kichern entwischte seiner Kehle. „Ich hab ihn abgehängt“, keuchte er. „Ich hab ihn abgehängt.“ Er lehnte den Kopf gegen die Wurzeln und schloss für einen Moment die Augen. Ich warte hier eine Weile, bis er ganz sicher weg ist und dann geh ich zurück.


Scorpius war sich seines Plans sicher.
Wenige Minuten später kroch er aus seinem Versteck und sah sich um.
Ich bin eigentlich nur geradeaus gerannt – in die falsche Richtung. Ich muss also eher da lang.

Er schaute in die Richtung, in der er sein Lager vermutete. Das müsste hingehen.
Er lief eilig los. Je schneller er wieder in seinem Schutzkreis war, umso besser. Irgendwo in den Büschen neben ihm, raschelte es. Sein Magen fühlte sich immer noch an wie ein riesiger Knoten.
Er umklammerte seinen Zauberstab. Mit einem Ruck blieb er stehen und glotzte das Stück Holz in seiner Hand an. Dann stampfte er wütend mit dem Fuß auf und biss sich auf die Lippen, um einen wütenden Schrei zu unterdrücken. Ich verdammter Vollidiot! Hab die ganze Zeit meinen Zauberstab dabei, aber komm ich auf die Idee ihn zu benutzen? Nein! Natürlich nicht.


Er wollte sich am liebsten ohrfeigen für so eine Dummheit. Aber das konnte er auch noch machen, wenn er in Sicherheit war.
Jetzt würde er seinen Zauberstab auf jeden Fall benutzen, wenn es sein musste. Er lief weiter, musste endlich zurück. Das Rascheln in den Büschen versuchte er zu ignorieren. Das waren sicher nur ein paar kleine Tiere, die er aufschreckte.
Es kam ihm vor, als würde er schon eine Ewigkeit laufen, als ein Stück entfernt von ihm ein Ast knackte. Scorpius blieb stehen. Irgendwas beunruhigte ihn. Er versuchte, zwischen den dunklen Bäumen etwas zu erkennen. Zittern hob er seinen Zauberstab und flüsterte: „Lumos.“
Einen Augenblick war er von dem plötzlichen Licht geblendet, dann sah er zwischen den Bäumen zwei helle Punkte.

Verwirrt machte er einen Schritt darauf zu und senkte die Spitze seines Zauberstabes ein wenig. Die Punkte rutschten ebenfalls etwas tiefer und Scorpius ging noch ein Stück näher heran. Was zum…? Er schwenkte seinen Zauberstab hin und her - die Flecken bewegten sich mit. Scorpius vernahm ein leises Knurren. Er blinzelte irritiert und erkannte nun erst den Umriss einer großen Gestalt vor ihm. Die hellen Punkte schwebten über ihm, ungefähr dort, wo das Gesicht der Gestalt sein mussten – die Augen.
Scorpius wich zurück, schluckte schwer. Wie kommt dieses Vieh hierher? Warum ist es nicht einfach weiter gerannt?!


Sein Zauberstab erlosch, als er los rannte. Diesmal glücklicherweise in die richtige Richtung.
Der Werwolf setzte ihm wieder nicht. Er war nicht bereit, seine Beute einfach so davonkommen zu lassen.
„Lumos!“ Scorpius leuchtete sich mit seinem Zauberstab den Weg durch die Bäume. Ich sollte ihn eigentlich für was andres benutzen…

Er warf einen Blick über die Schulter. Sah die Pranken, mit den messerscharfen Krallen und die gefletschten Zähne. Die Panik lähmte ihn, hinderte ihn daran, etwas anderes zu tun, als um sein Leben zu rennen.
Er kämpfte sich eine kleine Erhebung hoch, stolperte dabei über seine eigenen Füße und fiel. Sein Zauberstab flog ihm aus der Hand und landete ein paar Meter weiter im Gras.
„Nein“, keuchte er entsetzt. Er versuchte eilig, sich aufzurappeln, um seinen Zauberstab wieder zu bekommen.
Auf einmal blieb ihm die Luft weg und ein furchtbarer Schmerz ging von seinem Bein aus, schoss durch seinen ganzen Körper.
Er riss den Mund auf, japste und schrie so laut, dass es in der Kehle kratzte. Das spürte er aber gar nicht. Er fühlte nur einen unbeschreiblichen Schmerz, als sich die scharfen Zähne des Werwolfs in sein Fleisch gruben.
Scorpius rollte sich halb herum, konnte zuschauen, wie das Tier sein Bein zerfleischte, während er nur schreien konnte. Nicht einmal weinen konnte er. Vor seinen Augen blinkten Sternchen, aber er durfte jetzt doch nicht ohnmächtig werden. Er würde nie wieder aufwachen.
Der Werwolf ließ von ihm ab, nur um sofort wieder zuzubeißen.
Scorpius kreischte, seine Stimme gellte laut und schrill durch die Nacht.
Verzweifelt versuchte er sein Bein aus dem Maul des Werwolfs zu ziehen – vergeblich. Er fügte sich selbst nur noch größere Schmerzen zu.
Aber er durfte nicht aufgeben! Er war weggelaufen, weil er fort wollte von all dem Schlimmen. Er hätte wissen müssen, dass er damit alles nur noch schlimmer machte.
Aber das war jetzt alles egal. Er musste überleben, er durfte sich nicht fertig machen oder töten lassen.
Er biss sich auf die Unterlippe und hob seinen rechten Fuß. Der Wolf knurrte ihn an und zog an seinem linken Bein. Scorpius konnte nur schwer einen Schrei unterdrücken.
Noch einmal hob er sein rechtes Bein und stieß den Wolf damit ins Gesicht. Das Tier ließ von ihm ab, bellte wütend und stürzte wieder auf ihn.
“NEIN!“ Verzweifelt strampelte er mit seinem Fuß, während das Vieh die Zähne in sein Bein schlug und es aufriss.
„WAHHH!“ Scorpius rang nach Luft. Er musste es schaffen, den Werwolf lange genug von sich wegzuhalten, um an seinen Zauberstab heranzukommen.
Er nahm all seine Kraft zusammen, zog sein gesundes Bein an und trat nach dem Tier. Er Wolf wich aus. „Oh Gott!“, presste Scorpius zwischen den Zähnen hervor. Noch einmal holte er aus, trat dem Wolf ins Gesicht, genau in die Augen.
Der heulte auf, wich zurück. Scorpius ergriff seine einzige Chance und robbte auf seinen Zauberstab zu. Es bereitete ihm unbeschreibliche Schmerzen, das, was einmal sein Bein gewesen war, hinter sich her zu schleifen.
Mühevoll zog er sich vorwärts und langte nach dem Holz. Zweimal erwischte er einen Ast.
Der Werwolf hatte inzwischen mitbekommen, dass seine Beute zu fliehen versuchte und war mit wenigen Schritten bei ihm.
Er holte mit seiner riesigen Pranke aus. Scorpius jagte ein Angstschauer nach dem anderen durch den Körper, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, während er panisch nach seinem Zauberstab suchte. Er ergriff ihn endlich, drehte sich auf den Rücken und zielte auf den Werwolf.
„Pe-Pe…“ Er holte tief Luft, die Pfote raste auf ihn zu. „Petrificus Totalus!“
Der Werwolf erstarrte, schwankte ein paar Mal und kippte dann nach hinten um.
Scorpius durfte es nicht dabei belassen. Er war am Ende seiner Kräfte und auf keinen Fall durfte das Vieh vor ihm wieder zu sich kommen!
„Incarcero!“ Dicke Seile schlangen sich um den pelzigen Körper und zurrten sich selbst fest.
Scorpius starrte auf sein zerfleischtes Bein. Es war nur noch ein Fleischklumpen in einer Blutlache, die schnell größer wurde. Ihm wurde kotzübel. Er spürte den Schmerz jetzt richtig. Verzweifelt fuchtelte er um sein Bein herum, wusste nicht was er tun sollte. Er würde verbluten, wenn er die Blutung nicht irgendwie stoppte. Scorpius schluckte. Er hatte nur eine Möglichkeit, also zog er die Diptam-Essenz aus seiner Jackentasche.
Sein ganzer Körper tat höllisch weh, da kam es darauf auch nicht mehr an. Er biss die Zähne zusammen und schüttete etwas von der Flüssigkeit auf sein Bein. Sein Bein schien in Flammen aufzugehen. Tränen kämpften sich aus seinen Augen, als er noch mehr drauf schüttete. Und noch ein letztes Mal.
In seinem Kopf drehte sich schon alles, er schaffte es gerade noch, die Flasche zu verschließen, bevor ihm schwarz vor den Augen wurde und er nach hinten umkippte.

A strange Night and a kind Funeral


A strange Night and a kind Funeral



Benommen setzte Scorpius sich auf. Der Wald um ihn herum drehte sich, sein Kopf drohte zu zerspringen. Müde blinzelnd besah er sein verunstaltetes Bein.
Die Verletzung war teils geschlossen, teils noch offen und blutig. Es war nicht länger ein Bein. Das war lediglich ein aufgeschwollener, ekliger Fleischklumpen, der an seinem Körper hing.
Scorpius langte nach der Diptam-Flasche, drehte den Verschluss ab und hielt sie über die Wunde. Sein gesundes Bein zog er zu sich heran und biss in das Knie. Als er nun kontrolliert einige Tropfen der brennenden Flüssigkeit auf die offenen Stellen träufelte, grub er seine Zähne in den Jeansstoff.
Sein undeutliches Stöhnen durchbrach die Stille der Nacht, Tränen liefen seine Wangen hinunter.
Dann verschloss er das Fläschchen wieder, stopfte es in seine Jackentasche und nahm seinen Zauberstab.
Ich muss zurück zu meinem Platz…


Während er sich nach einem geeigneten Stock umsah, den er als Krücke benutzen konnte, wischte er sich die nassen Wangen ab und den kalten Schweiß von der Stirn.
Mit einem Accio holte er einen langen, dicken Ast herbei.
„Na toll. Das bringt nichts“, murmelte er frustriert mit einem Blick auf seine Verletzung. „Denk, Scorpius, denk! Irgendein Zauberspruch muss dir doch einfallen. Irgendwas.“ Grübelnd drehte er seine Hand in der Luft, als wollte er seine Gedanken ankurbeln. „FERULA! Das war’s!“
Er zielte mit der Spitze seines Zauberstabes auf sein Bein und sprach „Ferula!“.
Eine Schiene legte sich an seinen Fuß und Bandagen wickelten sich darum.
Noch einmal wischte er sich über die Stirn. „Wenigstens das funktioniert.“ Sein Blick fiel auf den gefesselten Werwolf und Wut stieg in ihn auf. Er kniete sich auf sein gesundes Bein, stützte sich an den Ast und stemmte sich hoch. Er taumelte ein wenig, aber dann machte er einen Hüpfer auf das Monster zu.
„Das ist deine Schuld, du Scheiß-Köter“, presste er wütend zwischen den Zähnen hervor.
„Du widerliches Mistvieh! Was fällt dir ein, durch die Gegend zu laufen und wahllos Leute anzufallen?!“ Der Werwolf funkelte zu ihm hinauf, seine Augen sprühten geradezu Funken. Scorpius funkelte ebenso zornig zurück.
„Hast du überhaupt kein Gewissen? Weißt du, was ich alles durchgemacht habe? Ich wurde von einem Baum verprügelt! Und ich dachte, ich komm endlich weg von dem Scheiß und dann kommst du und zerfleischst mich als kleinen Mitternachtssnack!!“
Aus seinem Zauberstab sprühten rote Funken und das Gesicht des Werwolfes schwoll an. „Aber das kannst du vergessen! Ich hab mich lange genug fertig machen lassen!“
Auf dem pelzigen Gesicht erschienen riesige, eitrige Furunkel.
Zornig drehte Scorpius das glatte Holz in seiner Hand. In seinem Inneren tobte es. Die Wut brodelte in ihm, schrie ihm zu, das Ungeheuer vor ihm büßen zu lassen. Dafür, was es ihm angetan hatte. Sie wollte raus aus ihm, wollte die Kontrolle erlangen und sich austoben, zerstören.
Der junge Malfoy sah von oben auf das Geschöpf zu seinen Füßen herab.
Nein! So wollte er nicht sein. Er durfte dieses Wesen nicht für alles, was man ihm angetan hatte, büßen lassen. Nicht für alles.

„Du wirst mir helfen. Wenn ich in ein paar Wochen so werde wie du, dann wirst mir helfen, damit zurecht zu kommen.“ Die gelben Augen funkelten ihn an, ein leises Knurren kam aus dem halb geschlossenen Maul. „Du hast mich schon verstanden.“
Vorsichtshalber versah er den Werwolf mit einem weiter Schockzauber, dann humpelte er davon.
Er verließ die Lichtung, humpelte in den Wald, musste endlich in seinen Schutzkreis zurück.
Er war noch nicht sehr weit gekommen und schon ziemlich außer Puste. Sein gesunder Fuß tat weh, weil er ihn so belastete. Auch seine Arme wurden lahm. Erschöpft lehnte er sich an einen Baum und ließ sich auf den Boden sinken. Blut war durch die Bandagen gesickert. Vorsichtig wickelte er sie ab. Aus den Kratzern lief immer noch etwas Blut, alles war feucht vom Wundwasser, das der Stoff nicht aufgesaugt hatte.
Frustriert seufzte er auf, fuhr sich müde durch die Haare und kämmte Moos, Gras und Dreck heraus.
„Das war die beschissenste Idee überhaupt. Wie konnte ich nur denken, dass das besser ist? Ich hätte nur endlich mal sagen müssen, was los ist. Egal, was Papa dazu gesagt hätte.“
Schon wieder stiegen ihm Tränen in die Augen, als er an seine Eltern dachte. An sie hatte er in den letzten Wochen keinen Gedanken verschwendet. Nicht einen Moment hatte er an sie gedacht.
Scorpius hob den Kopf, sah durch die Bäume zum Himmel hinauf, blinzelte die Tränen zurück. Was sie wohl gerade machen?



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Astoria Malfoy beobachtete seit nun mehr als einer Stunde ihren Mann. Er lief immerzu an ihr vorbei, warf einen kurzen Blick in das Kaminfeuer, bevor er seinen Weg durch den Salon fortsetzte. An den großen Fenstern blieb er einen Augenblick stehen und sah in die dunkle Nacht hinaus. Dann durchquerte er das Zimmer bis zur Tür, lief in die Eingangshalle und war kaum eine Minute später wieder zurück.
Astoria selbst saß in einem hohen Ohrensessel vor dem Kamin, in dem ein warmes Feuer prasselte. Schließlich hielt sie das unruhige Umherwandern Dracos nicht mehr aus.
„Draco“, sprach sie ihn zaghaft am, als er das nächste Mal an ihr vorbei kam. Er hörte sie nicht, lief weiter zu den Fenstern. „Draco.“ Dieses Mal sagte sie es etwas lauter und ihr Mann drehte sich verwundert zu ihr um. „Was ist?“
Astoria schenkte ihm einen langen Blick. „Wie viele Kilometer willst du noch durchs Haus laufen?“
Draco sah wieder zum Fenster hinaus. Schließlich seufzte er und kam auf sie zu. „Tut mir leid, aber ich kann im Moment einfach nicht ruhig sein.“ Er fuhr sich müde mit der linken Hand durchs Haar. Die helle Narbe an seinem Unterarm, an der das dunkle Mal gewesen war, schimmerte orange im Licht des Feuers.
„Sie haben keine Spur von ihm – nichts. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“ Seine Frau griff nach seiner Hand und drückte sie.
Er schaute gedankenverloren auf die glühenden Holzscheite. „Er hat alles mitgenommen, was er braucht. Das war keine spontane Entscheidung, er hat es schon lange geplant.“
Eine Weile sagte keiner von beiden ein Wort. Draco ließ sich in den anderen Sessel fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Das ist meine Schuld. Ich hätte auf dich hören und mit ihm reden sollen.“
Astoria setzte sich auf. „Sag so etwas nicht. Das ist nicht wahr. Er hat sich nicht getraut, das hat Lily doch gesagt.“ Draco hob ruckartig den Kopf. „Wenn er sich nicht so schlecht vorgekommen wäre, hätte er sich getraut etwas zu sagen. Er hätte gewusst, dass wir hinter ihm stehen und auf ihn aufpassen. Egal, was irgendein Halbhoher sagt, der keine Ahnung hat.“
„Es ist trotzdem nicht deine Schuld, Liebling.“ Malfoy ignorierte seine Frau. „Ich habe von Anfang an gewusst, dass er es nicht leicht haben wird. Es war klar, dass sich irgendjemand nicht beherrschen kann, ihm die Geschichte seiner Familie vorzuhalten.“ Wütend schlug er mit der Faust auf die Armlehne. Astoria zuckte zusammen. „Ich hätte etwas dagegen tun müssen!“
„Herrgott, Draco! Das bringt doch alles nichts. Scorpius wird nicht einfach so zurückkommen, weil wir uns hier Vorwürfe machen.“
„Und wann wird er dann zurückkommen?“ Astoria wusste keine Antwort auf diese Frage. Sie zuckte müde mit den Schultern. „Er denkt, er sei uns nicht wichtig. Er wird wohl auch nicht glauben, dass wir uns Sorgen machen.“
„Das ist doch Unsinn.“ Draco wischte ihre Bemerkung verärgert mit einer Handbewegung weg. „Er ist unser Sohn. Natürlich ist er uns wichtig und selbstverständlich sorgen wir uns um ihn!“
Ein Lächeln legte sich auf die Lippen seiner Ehefrau, Tränen sammelten sich in ihren grünen Augen. „Ich glaube, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es ihn gefreut hätte, das aus deinem Mund zu hören.“

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Von all dem bekam Scorpius nichts mit. Er lehnte erschöpft mitten im Wald mit einem zerfleischten Fuß an einem Baum und bereute, die größte Dummheit seines Lebens gemacht zu haben.
„Morgen werde ich irgendein Zeichen losschicken und dann werden sie mich holen. Dann werde ich erstmal wieder einige Zeit im Krankenhaus verbringen, das Schuljahr verpassen und wiederholen müssen.“ Er seufzte. „Und dann darf ich mir erstmal alles mögliche anhören. Einen Mordsärger bekommen. Scheiße, wie Papa wohl abgehen wird…?“ Er schlang die Arme um sein gesundes Bein und legte die Stirn aufs Knie.
„Obwohl… Jetzt hat er einen Werwolf als Sohn, das ist doch mal was. Hat auch nicht jeder.“ Ein leichtes Lächeln huschte über die Lippen des kleinen Malfoys.
Aus dem Dunkel zwischen den Bäumen war ein Knacken zu hören. Scorpius fuhr erschrocken auf, sofort stieg Panik in ihm auf, Schweiß trat auf seine Stirn. Das konnte unmöglich der Werwolf sein. Aber was war es dann?
Ein großes Geschöpf trat aus dem Schatten der Nacht, es war Jack. Der Hippogreif kam langsam auf Scorpius zu und senkte den Kopf, um ihn anzustupsen.
Scorpius streichelte den gefiederten Kopf. Das Tier schloss die Augen und schmiegte sich gegen die Hand des Jungen.
„Ich werde wieder gehen, Jack. Das hat nicht funktioniert. Ich bin jetzt ein Werwolf oder na ja… ich werde einer. Und ich glaube nicht, dass ich damit alleine fertig werde. Wenn ich Pech habe, entzündet sich der ganze Scheiß und ich krieg ’ne Blutvergiftung. Dann wäre es sowieso vorbei. Ich würde hier draußen sterben und von den Würmern oder anderen Viechern gefressen werden, ohne dass es jemand mitbekäme. Womöglich würdest sogar du mich anknabbern, he?“
Während er sprach, kraulte Scorpius Jacks Hals und starrte in den Wald. Er seufzte. „Vermutlich sterb ich genau hier, weil ich es nicht mehr bis zu meinem Lager zurück schaffe.“
Scorpius ließ von dem Greifen ab, griff nach seiner Krücke und versuchte sich hoch zu stemmen. Als er schließlich stand, pfiff es in seinen Ohren und Sternchen blinkten vor seinen Augen. Er klammerte sich an seinem Stock fest – vergeblich.
Er wankte und fiel zu Boden. Erschöpft rollte er sich auf den Rücken und blieb einfach liegen.
Es knackte und Jack ließ sich neben ihm nieder. „Bleibst du bei mir, bis ich sterbe?“, fragte Scorpius leise und strich über den Flügel des Hippogreifen. Das Tier grummelte und stieß sein gesundes Bein mit dem Schnabel an.
“Nicht. Lass das.“ Scorpius hob den Fuß an und schob den Vogelkopf weg. Jack nutzte die Gelegenheit, schnappte sich das Hosenbein und zupfte daran.
Verärgert setzte sich Scorpius auf. „Hör auf damit!“ Das Tier machte jedoch keine Anstalten, dem Befehl zu folgen – im Gegenteil! Zwar ließ es die Hose los, dafür packte es aber die Jacke und zog den Jungen zu sich heran.
„Schluss jetzt!“ Scorpius drückte mit einer Hand gegen den Schnabel, mit der anderen versuchte er seine Jacke zu befreien. Jack dachte ja gar nicht daran, loszulassen!
Er zog immer fester, zerrte den Jungen zu sich heran bis er halb auf ihm lag. Da ging Scorpius ein Licht auf. Aber konnte es nicht glauben. Der Greif wollte ihn auf sich reiten lassen!
Ganz langsam und vorsichtig zog sich der Malfoy-Sprössling auf den Rücken, der halb mit Federn, halb mit Fell bedeckt war.
Er hob sein gesundes Bein über die Kruppe und legte es an die rechte Flanke.
Scorpius’ Herz schlug wild, als er sich nach vorn legte und die Arme um den Hals des Greifen schlang. Das Tier lief eilig los. Dabei war es vollkommen trittsicher und schlängelte sich ohne Probleme zwischen den Bäumen hindurch.
Scorpius schloss die Augen, fühlte die Bewegung des Tieres und sog seinen Geruch nach Natur und Wald ein.
Viel zu schnell waren sie an seinem Lagerplatz angekommen.
Betrübt rutschte er von Jacks Rücken und kroch zu seinen Decken. Kaum, dass er sich in sie eingekuschelt hatte, schlief er auch schon ein.

//.

Das erste, das Scorpius am nächsten Morgen tat, war, zum Flussufer zu robben und sich ein wenig von dem eiskalten Wasser ins Gesicht zu spritzen. Es dauerte eine Weile, bis er sein Ziel erreicht hatte, denn er musste sein taubes Bein hinter sich her schleifen.
Außerdem blieb sein Pullover am gefrorenen Gras kleben, wenn er eine kurze Pause machte und einen Moment liegen blieb.
Schließlich lag er dann am steinigen Ufer, streckte die Hand aus und tauchte seine Finger in das kalte Nass. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper und es fühlte sich an, als würden kleine Nadeln in seine Finger stechen.
Trotzdem spritzte er sich das Wasser auf die Wangen, um munter zu werden. Danach drehte er sich auf den Rücken und starrte in den blauen Morgenhimmel.
Ich glaube, es ist am Besten, wenn ich Papa und Mama eine Nachricht schicke. Irgendwie. Und dann löse ich den Schutzkreis auf und nehm den Unortbarkeitszauber ab. Die werden mich schon finden.


Frustriert schaute er auf sein verletztes Bein. Wie soll ich denen das nur sagen? „Hey Papa, was du vielleicht wissen solltest: Ich wollte so ’nem Kerl helfen und wurde dann von einem Werwolf gebissen.“


Erschrocken riss Scorpius die Augen auf. „Der Mann!“
Er drehte seinen Kopf in nach rechts. Irgendwo da lag der tote Mann.
Scorpius schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Dass er dem Mann nicht hatte helfen können, bedrückte ihn sehr. Und dass er einfach so am Ufer rumlag, war auch nicht sehr schön.
Scorpius setzte sich auf. Hier musste doch irgendein praktischer Stock herumliegen, den er als Krücke benutzen konnte!
Seinen ersten hatte er ja im Wald liegen lassen. Als er daran dachte, dass Jack ihn hierher getragen hatte, wurde ihm ganz warm und er musste lächeln.
Inzwischen war der Hippogreif vermutlich wieder bei seiner Herde. Scorpius robbte zurück zu seinem Platz und holte mit Hilfe seines Zauberstabes einen Ast zu sich.
Humpelnd machte er sich auf den Weg zu dem Toten.
Ich muss ihn beerdigen. Wenn ich ihm schon nicht helfen konnte. Und er wollte mich noch vor dem Werwolf warnen. Das ist das Mindeste, was er verdient hat.


Wenig später kam er um die Kurve, die Leiche lag genauso da, wie in der Nacht. Scorpius hüpfte vorsichtig auf sie zu.
Das Blut war inzwischen getrocknet und ganz dunkel geworden. Es war ein starker Kontrast zu der weißen, bleichen Haut. Frost hing an den Wimpern und Haaren, die geöffneten Augen waren trüb.
Scorpius beugte sich hinunter und schloss sie, dann sah er sich nach einem geeigneten Platz um.
Ein Stück in den Wald hinein in der Richtung, in die er geflohen war, lag ein nettes Plätzchen zwischen den Bäumen. Es gab nur ein kleines Problem: Der Boden war hart gefroren und er hatte keine Schaufel und überhaupt keine Kraft, um ein so tiefes und großes Loch zu buddeln, dass die Leiche dort hineinpassen würde.
Scorpius seufzte und ballte wütend eine Faust. Wenigstens das muss funktionieren! Es ist schon so viel schief gegangen. Zumindest das muss ich richtig machen!


Er humpelte zurück zu seinem Schlafplatz und nahm eine dünne Decke. Wieder zurück bei dem Toten setzte er sich neben ihn, legte die Decke über ihn. Ohne zu zögern oder sich zu ekeln, rollte er ihn herum, um den Stoff auf seinem Rücken zusammen zu knoten.
Als er damit fertig war, ließ er die Leiche neben sich her schweben und hüpfte zu dem Platz, den er ausgesucht hatte. Mit Hilfe seines Zauberstabes erschuf er eine Grube und ließ den Toten hinein sinken.
Ein paar Minuten stand er dann vor dem Grab und blickte auf den Leichnam hinunter. Scorpius hatte keine Ahnung, wer der Mann war. Er wusste seinen Namen nicht, sein Alter nicht. Er wusste nicht, wo er herkam und ob er Familie hatte. Eine Frau, die ihn vermisste und sich schreckliche Sorgen um ihn machte.
Ob sich Mama und Papa um mich Sorgen machen?


Scorpius schüttelte den Kopf. Er wollte sich jetzt keine Gedanken darüber machen!

Er schüttete das Grab zu und verwandelte einen kleinen Ast in ein schlichtes, unauffälliges Holzkreuz. Dieses brachte er am Kopf des Grabes an. Aber irgendetwas fehlte noch. Es sah so leer aus…
Blumen. Blumen müssen da noch hin. Aber wo krieg ich die her?

Scorpius erblickte ein paar Schneeglöckchen. Die muss ich jetzt aber ohne Zauberei ausgraben. Irgendwas muss ich auch selber machen.


Auf seinem gesunden Beim sitzend, begann Scorpius mit einem Stein in den harten Boden zu hacken. Er dauerte lange, bis er das Büschel mitsamt den Wurzeln freigelegt hatte und er kam dabei ganz schön ins Schwitzen, aber er freute sich, es geschafft zu haben.
Das Pflänzchen trug er zum frischen Grab hinüber und buddelte es in der Erde ein. Nach getaner Arbeit klopfte er sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und betrachtete sein Werk.
Wenn Papa mich so sehen könnte. Ein Malfoy, der im Dreck wühlt. Ob er wohl stolz auf mich wäre, dass ich so etwas gemacht habe? Hätte er es auch so gemacht? Oder hätte er den Mann einfach liegen und verwesen lassen?
Das muss ich ihn fragen, wenn ich wieder zu Hause bin. Aber eigentlich… will ich gar nicht nach Hause. Jetzt noch nicht. Ein bisschen was muss ich noch hinkriegen hier draußen. Damit ich dann auch was zu erzählen habe, wenn ich wieder daheim bin. Und damit Papa stolz auf mich sein kann.
Der junge Malfoy grinste. Irgendwas muss ich mir noch einfallen lassen, damit Papa stolz auf mich sein kann.



Rumours


Rumours




Lily lief mit gesenktem Blick durch die Flure von Hogwarts. Die Nachricht, dass Scorpius verschwunden war, hatte sich am vorigen Tag wie ein Lauffeuer verbreitet. Glücklicherweise war jedoch noch nicht durchgedrungen, weshalb er weggelaufen war.
Dafür machten haufenweise Gerüchte und Spekulationen die Runde.
Einige behaupteten, dass es wegen schlechter Noten war, andere wiederum vermuteten, dass seine große Liebe einen anderen wollte. Lily war jedoch nicht bekannt, dass der Malfoy-Nachwuchs für irgendwen geschwärmt hätte.
Sogar Drogen wurden vermutet und schwere, psychische Probleme.
Einige ältere Schüler munkelten, dass Scorpius’ Vater ihn zum Todesser hatte machen wollen.
Und zwischen all diesen lächerlichen Behauptungen war sogar die Wahrheit ausgesprochen worden – dass er gemobbt worden war. Als dies, von einer kleinen Clique ausgehend, die Runde machte, wurden viele sehr still.
Jeder schaute weg oder einen anderen an. Im Grunde wussten sie, dass dies die logischste und wahrscheinlichste Erklärung für Malfoys Verschwinden war.
Und so gut wie jeder der Schüler fühlte sich schuldig und ertappt – bis zu einem gewissen Grad. Zwar war eigentlich keiner so schlimm mit Scorpius umgegangen wie die Potters und Weasleys, aber auch die anderen Schüler waren nicht immer sehr freundlich zu ihm gewesen.
Niemand hatte versucht sein Freund zu werden. Die Meisten hatten ihn ignoriert oder ganz offen in ihrer Nähe abgelehnt.
Lily stiegen Tränen in die Augen. Sie verzog sich in eine ruhige Ecke im Gang und versuchte, die Tränen zurück zu blinzeln. Erst jetzt wurde ihr wirklich klar, wie grausam sie alle zu Scorpius gewesen waren.
Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, jedem Menschen ohne Vorurteile gegenüber zu treten und zu versuchen, ihn von Grund auf kennen zu lernen.
Dabei hatten sie gegenüber den Malfoys doch selbst Vorurteile!
Das hatte Lily ihren Eltern, ihrer Tante und ihrem Onkel auch wütend entgegengeschleudert, als diese sie, Albus, Rose, Hugo und James zur Rede gestellt hatten. Bis jetzt stand noch keine Strafe für sie fest und solange würde wohl auch noch niemand erfahren, wer an Scorpius’ Flucht Schuld war. Eines war jedoch sicher: Mit Nachsitzen würde die Sache nicht getan sein.
Lily wunderte sich sowieso schon, dass ihre Tante sie alle nicht sofort von der Schule geschmissen hatte. Aber das hieß nicht, dass es nicht noch passieren könnte.
Nach ein paar Minuten, die sie gebraucht hatte, um sich wieder zu beruhigen, ging Lily zum Frühstück in die große Halle.
Als sie eintrat, stutzte sie. Am Rande des Podiums, auf dem der Lehrertisch und das Rednerpult standen, hatte jemand ein kleines Bild von Scorpius platziert. Um es herum standen einige Teelichter und Kerzen.
Während sie zu ihrem Platz lief, fragte sie sich, woher wohl das Bild stammte.
Sie setzte sich neben Rose, die ihren Toast lustlos auf ihrem Teller herum schob. „Wer hat das Foto da hingestellt?“, fragte Lily. Ihre ältere Kusine hob kurz den Kopf und schaute dann wieder auf ihr Frühstück. „Hat Mum gestern Abend gemacht“, murmelte sie.
Albus und James setzten sich ihnen gegenüber. James warf seiner Schwester einen kalten Blick zu, sie wich ihm aus und sah wieder zum Foto hinüber.
„Glaubt ihr, es geht ihm gut?“, fragte sie leise. Die anderen drei schauten sie wütend an, James schnaubte. „Ist das dein Ernst? Du hast uns voll in die Scheiße geritten und das ist alles, was du zu sagen hast?“, knurrte er zwischen den Zähnen hindurch.
„Ich musste es sagen.“ „Davon werden sie ihn auch nicht finden.“
Lily presste die Lippen aufeinander. „Wie kannst du das eigentlich einfach so hinnehmen? Wir-“ Sie sah sich um und beugte sich nach vorn, damit es niemand sonst hörte.
„Wir sind schuld, dass er abgehauen ist und dir ist das egal? Wie kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren? Was, wenn ihm was passiert? Wenn er nicht mehr zurück kommt? Ist das dann auch nicht dein Problem?“ Ihr älterer Bruder erhob sich ruckartig. „Das muss ich mir nicht von dir anhören!“ Er stampfte wütend aus der großen Halle, was einige verwirrte Blicke nach sich zog, die er einfach ignorierte.
Lily wandte sich betrübt ihrem Pudding zu. „Meint ihr, sie finden ihn? Lebend?“, fragte Albus leise und ohne aufzusehen. Die Mädchen antworteten nicht und so legte sich Schweigen über die kleine Gruppe und jeder dachte für sich darüber nach, was wohl wäre, wenn Scorpius nie gefunden werden würde.

Teenager-Problems




Teenager-Problems




Scorpius lief barfuß über die Wiese. Das Gras kitzelte an seinen Zehen, die Sonne, die warm vom Himmel schien, war angenehm auf seinen nackten Armen und ließ sein blondes Haar leuchten. Er war fröhlich, seine gute Laune zeichnete ihm ein breites Lächeln ins Gesicht.
Der schmale Trampelpfad, der den Hügel hinabführte, war nur für den, der ihn kannte, sichtbar.
Vom Hügelkamm konnte er den geschmückten Festplatz schon sehen und seine Schritte wurden immer schneller, je näher er kam.
Er hatte sich schon lange darauf gefreut! Das Fest würde großartig werden.
Es war wunderbares Wetter – die Sonne schien nicht zu warm, aber doch sehr angenehm und der Wind blies ab und an eine leichte Brise über die Felder.
Sie würden sicher bis tief in die Nacht am Lagerfeuer sitzen, Lieder singen und Geschichten erzählen.
Scorpius nutzte den Schwung, den er vom Herablaufen des Hügels hatte und rannte die letzten Meter, bis er die ersten Bänke erreicht hatte.
Seine Mutter sah zu ihm herüber und lächelte. Sie stand vor einem langen Tisch, auf dem die verschiedensten Kuchen, Torten, Kekse und Muffins standen. Er lief zu ihr und grinste sie fröhlich an.
„Es wird heute ganz wunderbar werden, oder, Mama?“ Sie lachte leise und nickte. „Natürlich wird es das, Liebling.“
Er küsste sie auf die Wange und lief über den erdigen Platz weiter.
Hinter der Scheune wurde das Holz für das Lagerfeuer zusammengetragen und zu einem hohen Haufen aufgeschichtet. Lily kam ihm entgegen. „Hey, Scorpius! Freust du dich schon auf heute Abend?“ Er lachte. „Auf jeden Fall. Das wird das tollste Fest, das man hier je gefeiert hat.“ Sie nickte und lief an ihm vorbei. Er drehte sich halb um und schaute ihr einen Moment nach, dann guckte er sich ein wenig um.
Noch ein Stück weiter hinten staute sich der Fluss ein wenig. Ein paar Jugendliche hatten sich dort versammelt und kühlten ihre Füße ab. Scorpius lief auf sie zu. Er erkannte Albus und noch ein paar Jungs und Mädels aus seiner Klasse. Und dabei….
Der junge Malfoy blieb stehen und schluckte. Seine Wangen nahmen einen Hauch rosa an. Zögernd ging er weiter. Albus und die anderen Jungs winkten ihm zu, die Mädchen drehten sich zu ihm um und lächelten ihn an.

Scorpius nahm sie nur flüchtig war und nickte ihnen kurz zu.
Seine Augen waren nur auf ein Mädchen gerichtet. Ihr dunkelbraunes Haar leuchtete wie Zartbitterschokolade in der Sonne – Scorpius liebte Zartbitterschokolade – und ihre Augen, so blau wie Saphire, glitzerten keck hinter dem dichten, schwarzen Wimpernkranz hervor. Sie hatte eine schmale, gerade Nase – Gott sei Dank, denn Scorpius mochte diese kleinen Stupsnasen nicht – und ihre Lippen waren weder zu dünn noch zu voll. Außerdem hatte sie eine tolle Figur. Sie war nicht so ein knochiger Hungerhaken, wie manch andere Mädchen in diesem Alter. Sie war schlank und hatte schon ein bisschen Busen.
Außerdem war sie ein paar Zentimeter kleiner als Scorpius.
Scorpius’ Wangen färbten sich pink, als sie ihn anlächelte - Felicity Meriwether!
„Hey, Scorp“, sagte sie ohne auch nur im Geringsten verlegen zu werden. Scorpius dagegen musste sich bemühen nicht einfach sinnlos los zu brabbeln. Sollte er auch ihren Spitznamen sagen? Durfte er das? In seinem Kopf entstand ein heilloses Durcheinander, seine Wangen wurden feuerrot und er öffnete ein paar Mal den Mund, ohne ein Wort herauszubringen.
Das Mädchen sah ihn fragend an. Er schluckte und schaffte es schließlich zwei Worte auszusprechen: „Hi, Feli.“
Sie setzte zu einer Frage an, als ein kalter, heftiger Windstoß zwischen ihnen hindurch fuhr, der Himmel sich verdunkelte und mit einem Mal das Feuer hinter Scorpius entfacht wurde. Erschrocken drehte er sich um, Hitze und Asche schlug ihm entgegen. Alle Leute hatten sich um das Feuer versammelt, Albus und die anderen rannten auf sie zu.
Der blonde Junge wollte ihnen folgen, doch als er sich den Menschen näherte, griffen sie nach Ästen und Fackeln, hielten sie ins Feuer und steckten sie so in Brand.
Der Junge blieb verängstigt stehen. Die Menschen bildeten einen Mob mit Fackeln und Heugabeln und schritten wütende Parolen schreiend auf ihn zu. Der Junge hörte sie „Monster“ und „Scheusal“ rufen und, dass sie ihn töten wollten.
Er stolperte zurück. Warum? Warum wollten sie das tun? Es sollte ein wunderschöner Tag und ein wunderbares Fest werden. Warum passierten diese furchtbaren Dinge?
Der Pöbel kam immer näher. Scorpius konnte die Hitze ihrer Fackeln und die Kälte ihres Zorns spüren. Er wusste, dass er nun schnell verschwinden musste, sonst würden sie ihn lynchen. Aufhängen, totschlagen oder wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Was hatte er nur getan? Was hatte er verbrochen, dass sie ihn nun dafür umbringen wollten? Er warf einen hilfesuchenden Blick zum Himmel. Zwischen den düsteren Wolken schimmerte der Vollmond hindurch. Scorpius sah dem Mob entgegen, drehte sich um und rannte los.
Er rannte bis zum Fluss und an seinem Ufer weiter den Hügel hinauf. Die wütende Menge verfolgte ihn, ihre Rufe hallten über die Felder.
Scorpius kämpfte sich den Hügel hinauf, warf einen kurzen Blick über die Schulter und hastete dann auf der anderen Seite hinunter. Tränen brannten in seinen Augen, aber er ließ nicht zu, dass sie über seine Wangen liefen. Angst überfiel ihn. Sie wollten ihn töten! Vorhin hatten sie ihm alle gewunken und zugelächelt und jetzt verfolgten sie ihn mit Fackeln und Heugabeln!
Er musste es in den Wald schaffen. Dort konnte er sich verstecken.
Etwas flog an ihm vorbei, blieb im Gras stecken. Scorpius stieß einen erschrockenen Schrei aus, als er an der Axt vorbei rannte. Ein Stein traf ihn an der Schulter, ein anderer an verfehlte nur knapp seinen Kopf. Er beschleunigte sein Tempo, hatte sein Ziel fest vor den Augen und erreichte nur kurz vor seinen Verfolgern den Waldrand. Er schlug die Zweige, die ihn aufhalten wollten, beiseite, hoffte, dass sie den bösen Menschen die Gesichter zerkratzten.

Ein furchtbarer Schmerz schoss in seinen Arm. Ohne stehen zu bleiben, sah Scorpius nach und musste schockiert feststellen, dass tatsächlich eine Schere in seinem Oberarm steckte. „Oh Gott! Was soll diese verdammte Scheiße?!“, schrie er zornig, riss die Schere mit einem Ruck aus seinem Fleisch und warf sie weg. Wut brodelte in ihm und ergriff die Oberhand über ihn.
Er rammte die Füße in den Boden, drehte sich zu der Meute um. Ein lautes Brüllen hallte von den Bäumen wieder. Der Pöbel blieb stehen. Scorpius spürte, dass sie Angst hatten, er konnte das Weiße in ihren aufgerissenen Augen sehen. Erneut ertönte das Brüllen, der Pöbel wich zurück und ein weiteres Mal schlug sie schließlich in die Flucht.
Scorpius hatte das Geräusch erkannt und er konnte es nicht fassen, dass der Werwolf ihm zu Hilfe gekommen war. Er schaute sich aufgeregt um, versuchte ihn irgendwo zu entdecken, aber er konnte nichts zwischen den Bäumen erkennen. Nur in der Ferne glitzerte etwas.
Er ging darauf zu. Es war ein kleiner Weiher, weil sich der Fluss gestaut hatte.
Die Steine des flachen Ufers knirschten unter Scorpius’ Füßen, als er zum Wasser lief. Der silberne Vollmond spiegelte sich auf der Oberfläche.
Scorpius wurde beinahe magisch von ihm angezogen. Er senkte den Blick, wollte sein eigenes Spiegelbild sehen, doch er schaute nicht in ein menschliches Gesicht.
Was er sah, hatte eine große Schnauze mit gefletschten Zähnen, silberne Augen und riesige Ohren, deren Fell das gleiche Hellgrau hatte wie das restliche Gesicht. Scorpius starrte sich entsetzt an. Das konnte nicht war sein. Das war nicht er! Was er da sah, war ein Monster! Ein scheußliches Monster, das die Menschen töten wollten, weil sie Angst vor ihm hatten.
Ihn wollten sie töten.

Er war dieses Monster. Er würde es werden, wann immer der Schein des Vollmondes ihn berührte.



Der Werwolf im Wasser hob den Kopf, schaute das Spiegelbild seines Gottes an und öffnete das Maul zu einem unterwürfigen Heulen.

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Scorpius hatte den Klang des Heulens noch im Ohr, als er erwachte. Er war nach der Beerdigung für ein paar Stunden eingeschlafen. Jetzt wischte er sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich auf. Verdammt, hoffentlich krieg ich keine Blutvergiftung oder so’n Dreck. Wäre minimal unpraktisch…


Seufzend langte er nach seinem Rucksack und kramte ein paar von Bertie Botts Bohnen heraus. Er steckte sie nacheinander in den Mund, hoffte, dass er nichts allzu ekliges erwischte – Pfeffer, Zwiebeln und Schokolade. Dann kroch er auf das Wasser zu, tauchte die Hände hinein und spritzte es sich ins Gesicht.
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und ließ sich zurück fallen. Nachdenklich starrte er die flauschigen Schäfchenwolken an, die über ihm vorbei zogen.
„Warum habe ich von Feli geträumt?“ Schon allein, weil er ihren Namen aussprach, wurden seine Wangen warm. Er fand es nicht schlimm, von ihr zu träumen – ganz im Gegenteil! Er wusste nur nicht warum.
Schließlich hatte er in den letzten Tagen eigentlich gar nicht an sie gedacht. Scorpius zupfte nervös an ein paar Grashalmen herum.
Wie würde sie wohl reagieren, wenn er zurückgehen würde? Würde sie sich freuen oder wäre es ihr einfach egal?
Er kaute auf seiner Unterlippe herum. Feli hatte so schöne Lippen, vor allem, wenn sie lächelte. Und sie hatte ein süßes Lachen. Eigentlich müsste sich Scorpius mitten im Wald vor niemandem genieren, aber er drehte sich trotzdem beschämt zur Seite, als wollte er seine geröteten Wangen verstecken.
Vielleicht hätte ich sie einfach ansprechen sollen…?

Noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, kam er sich dämlich vor. „Laber doch keinen Mist, du Idiot! Was hätte ich denn sagen sollen?“ Er schlug sich mit einer Hand an die Stirn. „Ich liege hier rum und überlege, was ich zu dem Mädchen, in das ich verknallt bin, hätte sagen sollen, bevor oder lieber, anstatt, dass ich… Eh?“ Er seufzte und schlug sich erneut an die Stirn. „Jetzt bekomme ich nicht einmal mehr einen normalen Satz raus! Ich liege hier rum und überlege, was ich zu dem Mädchen, in das ich verknallt bin, hätte sagen sollen…? Wenn ich nicht weggelaufen wäre. Oder bevor ich weggelaufen wäre?“

Er rollte sich wieder auf den Rücken und schaute die Schäfchen vorwurfsvoll an. „Das kann doch gar nicht so schwer sein. Ich trau mich nur einfach nichts. Schließlich sind wir in einer Klasse und sehen uns jeden Tag und eigentlich… KANN DAS DOCH NICHT SO SCHWER SEIN! Verdammt! Wenn ich doch nur nicht so ein Feigling wäre.“ Er drehte sich auf die andere Seite und rupfte ein paar Grashalme aus dem Boden. „Einfach hingehen und ‚Hi’ sagen. Und vielleicht fragen, wie es ihr geht. Was sie am Wochenende macht. Und das ist total dämlich, weil ich das sowieso niemals machen werde. Und fragen, ob sie mit mir was macht. Ist so unwahrscheinlich wie, dass mich James und die anderen in Ruhe lassen würden - wenn ich dageblieben wäre. Also hat das überhaupt keinen Sinn. Dass ich hier im Dreck rumliege und über sowas nachdenke. Aber vielleicht ist sie ja irgendwie ein bisschen traurig, dass ich weg bin. Nein, wahrscheinlich nicht. Weil ich seit fast drei Jahren mit ihr in einer Klasse bin und gerade mal fünf Sätze mit ihr geredet habe. Vielleicht hat sie Angst vor mir, weil mein Papa ein Todesser war und sie Angst hat, dass ich das auch werde oder bin. Dann wird sie vermutlich wegrennen, wenn ich sie anrede. Oder sie findet mich hässlich. Oder sie mag meine Stimme nicht. Oder meine Kleidung. Oder sie mag keine Streber. Und vielleicht kann sie mich einfach nicht leiden. Ich weiß zwar nicht warum, aber James und die anderen… na ja die sagen mir ja immer, warum. Aber sie hat doch eigentlich keinen Grund. Aber sie ist ja so hübsch und süß und alle in der Klasse mögen sie. Und sie hat viele Freunde und bestimmt hat sie bald einen Freund. Der ist wahrscheinlich aus einer höheren Klasse und sieht total cool aus. Und hat auch viele Freunde. Und spielt Quidditch. Und kann noch ganz viele andere tolle Sachen. Und auf keinen Fall traut sich irgendjemand, den blöd anzumachen oder noch schlimmer. Auch wenn das nicht passieren sollte, würde sie sich trotzdem nie in mich verknallen, weil ich total unwichtig und ein Feigling bin. Und...“ Scorpius hatte alles leise vor sich hin gebrabbelt und seufzte schließlich leise.
Er kämpfte sich auf den Bauch und stützte sich auf die Ellbogen. Jack kam durch das Gebüsch heraus auf ihn zu, neigte den Kopf herab und stupste ihn an. „Du bist mein Lebensretter, weißt du das?“, sagte Scorpius grinsend und streichelte die fedrige Stirn. Der Karamell-Greif gurrte leise und schloss die Augen. „Ja, klar weißt du das.“
Scorpius legte den Kopf an Jacks Schnabel, streichelte ihn unentwegt weiter. „Bin ich so schlimm? Oder meinst du, dass ich einfach mit ihr hätte reden sollen? Das wäre doch sicher nicht so schlimm geworden, oder?“ Jack grummelte zur Antwort.
„Ja ja, was frag ich dich? Du kennst mich ja noch gar nicht lange. Und du weißt nicht, wie Feli ist. Du weißt nicht, wie toll sie ist. Und weißt du, ich glaube, Albus ist auch in sie verknallt und bestimmt ist sie bald mit ihm zusammen. Und dann laufen sie die ganze Zeit Händchen-haltend durchs Schloss und knutschen und kuscheln. Und.. mhhrrm…“
Er murrte voller Selbstmitleid und ließ den Kopf auf die Erde sinken. Der Greif blinzelte verwirrt. Warum hörte der Kerl auf ihn zu streicheln?! So ging das ja nicht! Empört krächzte Jack und stieß den Jungen grob gegen die Schulter.
Scorpius hob den Kopf, schaute auf. „Sei du jetzt nicht auch noch gegen mich! Tut mir leid, ich mach ja schon weiter.“ Er stützte den Kopf in seine rechte Hand und kraulte Jack mit der linken. „Hey! Aber- wenn- ich-… Wenn ich den Sommer über hier bleib und dann nach den Ferien wieder zurückgehe. Dann findet sie das vielleicht voll cool, weißt du? So ‚Wow, der hat einen ganzen Sommer lang allein in der Wildnis überlebt!’.“ Scorpius grinste. Das würde ihm schon gefallen. „Oder sie hält mich für einen kompletten Vollidiot. Ach was, bestimmt freut sie sich, dass mir nichts passiert ist. Na ja, außer dem Wolfsbiss. Und dann umarmt sie mich und sagt, dass sie so froh ist, dass ich wieder da bin. Und ich glaube, ich werde wirklich irgendwie krank, wenn ich mir sowas vorstelle.“
Er rollte sich wieder auf den Rücken und blinzelte die Schäfchen an. Aber vielleicht… Vielleicht ist das wirklich irgendwie cool, wenn ich einen ganzen Sommer in der Wildnis überlebe. Und dann bin ich der große Held. Na ja, nicht so groß. Aber wir werden ja sehen. Ich muss es nur auch wirklich überleben. Da ist nämlich dieses verdammte Problem mit dem Werwolf-Ding. Ich glaube, die werden wohl alle nicht so begeistert sein, wenn ich ankomme und sag: „Hey, ich bin jetzt ein Werwolf!“. Hoffentlich machen sie dann nicht auch so einen Mob. Gott, das war ja wie im Film. Vielleicht sollte ich mir sowas aufschreiben. Ich könnte ja ein Tagebuch führen. Das wird dann auch so ein Bestseller wie andere, die erzählen, was sie so durch gemacht haben. Wie der Typ, der sich den Arm abgeschnitten hat. Vielleicht sollte ich mir den Fuß abschneiden?... Nein, lieber nicht. Das ist jetzt wohl schon zu spät. Okay, ich schreibe jetzt einfach alles auf, was ich so erlebe. Mal schauen, was dabei rauskommt…



Gravity don’t mean too much to me


Gravity don’t mean too much to me



Scorpius verschob das Aufschreiben seiner bisherigen Erlebnisse dann aber doch auf später - jetzt gab es erst einmal ein neues Problem zu bewältigen: Hunger!
Er saß mit knurrendem Magen vor seinem Rucksack und starrte missmutig auf seine belegten Brote. Ich kann doch nicht den ganzen Sommer lang von Wurst- und Käsebroten leben!
Er kramte nach seinem Buch. Wenn da drin stand, wie man Essen verdoppeln konnte, dann gab es doch sicher auch einen Zauber, mit dem man etwas in Essen verwandeln konnte.
Scorpius schluckte. Ob das wohl mit allem funktionierte? Aus einem Stein konnte man wohl kaum einfach so ein Steak machen. Oder zumindest kein besonders schmackhaftes.
Er musste es trotzdem versuchen! Also schlug Klein-Malfoy seinen Wälzer auf und begann, das Kapitel „Verwandlungen“ zu studieren. Er las, wie man Tassen in Stühle und Tiere in Gefäße verwandelte, man die Kleidung änderte und sogar wie man Menschen in Tiere verwandeln konnte, aber er fand nichts über Nahrung. Ein Bild von einer Hexe, die jemanden in eine Kröte verzauberte, kreiste in seinen Gedanken.
Frustriert und verärgert schlug er das Buch zu und biss in ein Käsebrot.
Dabei sah er sich um.
Im März gab es noch nicht einmal irgendwelche Wurzeln oder Beeren, die er essen konnte. Sein Blick fiel auf den Fluss. Vielleicht waren darin Fische. Es wäre eine Möglichkeit, aber beim Gedanken, einen Fisch zu fangen, zu erschlagen und auszunehmen, wurde Scorpius schlecht.
Ja, er war wirklich ein Weichei. Er würde wohl eher Gras und Dreck essen, als ein Tier zu töten. Wenn er dagegen an das herrliche Essen in Hogwarts dachte, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

„Verdammt, ich will jetzt was Richtiges zu Essen!“ Er schleuderte sein Brot weg. Jack guckte ihm verdutzt nach, bevor sich auf den Weg machte und es auffraß. Dann kam er zu Scorpius.
Der Junge streckte die Hand aus und streichelte seinen Schnabel. „Ja klar, für dich ist das ’ne Abwechslung, aber ich kann’s jetzt schon nicht mehr sehen.“
Er lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm und schloss die Augen. „Wie soll ich das einen ganzen Sommer durchhalten? Es ist März und der Sommer geht bis September. Das sind…“ Er zog seine blonden Augenbrauen zusammen. „… das sind fünfeinhalb Monate! Und ich hab nichts Gescheites zu Essen und keinen Unterschlupf und ein kaputtes Bein und werde zum Werwolf und wenn das hier ’ne Unterhaltungsshow wäre, dann würden die Leute vermutlich einschlafen, weil ich mich andauernd über das Gleiche beschwere.“ Die Augenlider hoben sich und graue Augen blickten traurig in die Ferne.
„Ich will nur ein Mal, nur ein einziges Mal etwas richtig Tolles erleben. Nicht immer
nur rumsitzen und lernen, sondern wirklich mal was machen.“
Jack ließ sich neben ihm nieder und Scorpius lehnte sich gegen ihn. „Ich will nicht zurück, aber ich hab auch wirklich keine Lust, hier zu verhungern oder zu erfrieren.“ Er seufzte und legte sich über Jacks Rücken. Der Greif erhob sich vorsichtig und stand solange still, bis Scorpius sich richtig auf seinem Rücken platziert hatte, bevor er langsam los trottete.
Scorpius ließ seine Arme an den Seiten hinunter baumeln, legte die Wange auf den gefiederten Hals und schloss die Augen. Er sog den Geruch nach Wald und Dreck und Natur tief ein. Auf irgendeine Weise beruhigte ihn das. Ebenso das gleichmäßige Schaukeln des gemächlichen Schrittes Jacks.
Umso mehr erschreckte es ihn, als der Greif seinen Schritt beschleunigte und anfing, mit den Flügeln zu schlagen.
Um ein Haar wäre Scorpius von dem blanken Rücken gerutscht. Schnell griff er in das dichte Gefieder am Hals und setzte sich auf.
„He, was soll denn das?“, rief er entrüstet. Das Tier trabte unbeeindruckt weiter und Scorpius konnte nichts anderes tun, als sich festzuhalten und nicht allzu sehr auf dem Rücken herum zu hüpfen. Als der Hippogreif immer schneller wurde, presste er seine Unterschenkel gegen den Bauch, um mehr Halt zu haben. Diesen Fehler bereute er sofort, als das Tier einen Satz nach vorn machte und los galoppierte. Er rutschte ein Stück nach hinten und hatte nun überhaupt keinen Halt mehr. Er stieß einen erschrockenen Schrei aus. „Stopp! Stopp!!“
Er hatte keine Ahnung, wie er den Greif wieder zum Stehen bringen sollte.
Also streckte er sich erst mal, schlang die Arme um Jacks Hals und zog sich wieder nach vorn. So würde er wenigstens nicht herunterfallen, wenn Jack bei diesem Tempo blieb. Wenn…
Jetzt konnte sich Scorpius darauf konzentrieren, das Tier zu beruhigen. Wie bringt man Pferde zum Stehen? Ho? Steh? Verdammt!
Scorpius überlegte fieberhaft, während die ungleichen Beine unter ihm über den gefrorenen Waldboden trampelten und ihm vereiste Zweige um die Ohren klatschten.
„Ho! Hoo! Jack, steh!“ Scorpius schrie ihm die Worte vergeblich zu. Das Tier bannte sich seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch, wobei dem jungen Malfoy schreckliche Erinnerungen aufkamen. Erinnerungen an den Vorfall mit der peitschenden Weide.
Er hörte James Stimme und sein Lachen, sah Lily, wie sie ihm in die Augen blickte und nichts unternahm. Er erinnerte sich an die Schmerzen, diese furchtbaren Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatten. Zorn packte ihn, er wurde von Hass überwältigt. Hass, den er auf diese Menschen hatte. Die, die ihm so lange solches Leid angetan hatten.
Er vergaß beinahe, dass er auf einem galoppierenden Hippogreifen saß, doch vor ihnen lichteten sich die Bäume, Jack verlängerte seinen Galoppsprünge und breitete seine Flügel aus. Angst erfüllte den blonden Jungen auf seinem Rücken, aber die Wut blieb. Scorpius’ panisches „Nein!“ kam zu spät.
Jack sprang nur wenige Meter auf die Lichtung, dann stieß er sich vom Boden ab und schlug kräftig mit den Flügeln. Scorpius kniff die Augen zu und kreischte wie am Spieß, während der Hippogreif mit wenigen Flügelschlägen immer höher stieg. „Nein! NEIN! Geh runter! Geh wieder runter!“ Er krallte seine Finger in die Federn und klammerte sich mit Armen und Beinen an das Tier. Wenn er fallen würde, dann… Sein Blick glitt nach unten und er schrie erneut. Er kniff seine Augen schnell wieder zu, verstärkte seinen Klammergriff und versuchte, das Übelkeitsgefühl hinunter zu schlucken.

Seine Eingeweide spielten verrückt, ihm war schwindelig. Sein Puls raste, während sein Herz in einem irren Tempo Blut und Adrenalin durch seinen Körper pumpte. Ich sterbe! Ich sterbe! Oh Gott, ich sterbe!
Der Wind riss an seinen Haaren und an seiner Kleidung, versuchte ihn von dem Greifen herunter zu zerren. Scorpius wünschte sich, er könnte aus einem Traum aufwachen. Noch nie hatte er so sehr gewollt, dass etwas aufhörte. Oder doch… ? Nein! Er durfte jetzt auf keinen Fall an etwas anderes denken. Herrgott! Er flog auf einem wilden Hippogreif in weiß-Gott-wie-viel Metern Höhe und machte sich Gedanken, was in seinem Leben Schlimmeres geschehen war!
Er musste sich im Moment ganz auf das Jetzige konzentrieren.
Scorpius versuchte, ruhiger zu werden, seine Atmung zu kontrollieren und seinen Herzschlag etwas zu verlangsamen. Die ersten beiden Dinge klappten überraschenderweise sogar einigermaßen gut. Aber seinen Herzschlag konnte er weiterhin im ganzen Körper spüren.
Allmählich wurde es besser. Jack glitt ruhig durch die Luft und schlug nur ab und an mit den Flügeln, um nicht abzusinken. Auch Scorpius beruhigte sich etwas und das leichte Schaukeln auf Jacks Rücken empfand er zunehmend als angenehm. Er lockerte seine Umklammerung, öffnete ein Auge und blinzelte zum Boden hinunter. Erschrocken riss er beide Augen auf.
Tief unter ihm erstreckte sich die kahle Frühlingslandschaft Schottlands. Nackte Bäume und Sträucher zierten felsige Hügel, die zum Teil mit grauem, trockenem Gras überzogen waren. Alles wirkt trüb und trostlos, doch für Scorpius war es ein unglaublicher Anblick. Er konnte nicht einschätzen wie hoch er flog – obwohl er ein schlauer Junge war – aber das war auch eigentlich nicht wichtig. Wenn er abstürzen würde, wäre er sowieso tot.
Doch auch das interessierte ihn im Moment nicht. Er war zu überwältigt von dem Bild, das sich ihm bot.
In der Ferne konnte er tatsächlich den schwarzen See in der Mittagssonne glitzern sehen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie weit er eigentlich von Hogwarts entfernt war und – es gefiel ihm. Auch das Fliegen war eigentlich gar nicht so schlimm. Nun, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, war es wirklich – befreiend. Ja, befreiend. Scorpius fühlte sich leicht, unbeschwert. Er hatte das Gefühl, seine Sorgen und seinen Kummer auf der Erde liegen gelassen zu haben. Die Angst, die Anspannung und der ganze Stress, der ihn in den letzten Wochen und Monaten so erdrückt hatte, schienen einfach von ihm abzufallen. Scorpius stellte sich vor, wie sie in die Tiefe stürzten und in tausend kleine Teile zersprangen und ihn frei ließen. Seine Lippen, die er die ganze Zeit krampfhaft aufeinander gepresst hatte, entspannten sich und verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

How can they say,
"... could you come back home?"
'Cause everybody knows you don't
Ever wanna come back,
let me be the one to save you

Gravity
Don't mean too much to me
Is this our destiny?
This world is after me,
After you

Run away
Like it was yesterday
And we could run away,
Run away, run away,
Run away from here



Fliegen war schöner, als Scorpius es sich je hätte erträumen lassen. Nach einer Weile empfand er es nicht mehr als unangenehm, dass der Wind an seinen Haaren zog. Er hatte vielmehr das Gefühl, als würde er alles Schlechte von Scorpius reißen und es mit sich fort tragen. Frei und unbeschwert zog der Hippogreif seine Bahn zwischen den Hügeln hindurch. Die Gipfel der Höchsten waren mit Schnee bedeckt. Für Scorpius sah es aus, als wären sie mit Puderzucker bestäubt. Eigentlich war diese Vorstellung lächerlich und kindisch, aber Scorpius befand sich in einem geradezu euphorischen Zustand. Alles um ihn herum wirkte irgendwie unecht, sogar er selbst fühlte sich nicht richtig real.
Jack flog weiter. Scorpius fragte sich, ob sie nicht bald schon über Hogwarts fliegen würden. Und tatsächlich erkannte er in der Ferne das Schloss, was etwas Panik in ihm aufwallen ließ. Wenn ihn jemand entdecken würde, wie er am helllichten Tag über der Schule herumflog, würden sie ihn sofort vom Himmel schießen. Immerhin war er weggelaufen und demnach vermutlich vermisst.
Nur hatte der junge Malfoy keine Ahnung, wie er das Tier davon abhalten konnte, noch weiter zu fliegen, sondern stattdessen umzukehren. Er lehnte sich etwas nach rechts, wollte dem Tier verständlich machen, das es in diese Richtung drehen sollte. Das Ergebnis war allerdings, dass der Hippogreif aus der Balance geriet und einen bedenklichen Schlenker nach unten machte.
„Tut mir leid“, stammelte Scorpius erschrocken, während er sich noch einmal – diesmal jedoch vorsichtiger – nach rechts lehnte, um Jack zu lenken. Der verstand das Signal und machte einen leichten Bogen. Danach hing er jedoch unsicher in der Schwebe, ob er nun weiter geradeaus oder zurück zu seiner Herde fliegen sollte. Da Scorpius weiterhin an seiner rechten Flanke hing, folgte er dem Befehl und machte sich auf den Rückweg.
Der kam Scorpius um einiges kürzer vor, aber das war bei ihm immer so. Die Heimfahrt ging viel schneller vorbei als die Hinfahrt. Jetzt stand ihm jedoch noch ein kleines Hindernis bevor. Schließlich musste er wieder zurück auf den Boden.
Scorpius’ Magen zog sich etwas zusammen, als der Greif zur Landung ansetzte. Er hatte keine Ahnung, wie das Tier mit den ungleichen Beinpaaren landen wollte, aber hoffte, dass es nicht allzu holperig wurde. Er wurde im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaft enttäuscht, als er mit viel Schwung unsanft auf dem Hals des Hippogreifen landete. Er japste und fasste an die schmerzende Stelle. Dabei rutschte er von Jacks Rücken und landete unsanft im Dreck.
Jammernd rollte er sich auf den Rücken und schaute hinauf in den Himmel. Dort oben war er bis vor wenigen Augenblicken noch geflogen. Es kam ihm unwirklich vor, doch bevor er sich in Gedanken vertiefen konnte, trabte Jack von hinten heran und schaute auf ihn herab.
Scorpius streckte die Hand aus und streichelte seinen Schnabel. „Du bist schon ein komischer Vogel, weißt du das? Dein Big Boss ist total angsteinflößend und du? Du bist der Quatschkopf der Truppe. Freundest dich mit einem Menschen an.“ Jack gurrte leise, Scorpius lächelte. „Werden wir einen schönen Sommer haben? Ja, ich glaube schon. Ich muss nur das mit der Werwolfsache irgendwie hinkriegen. Und Essen muss ich irgendwo her kriegen.“
Er rappelte sich auf, klopfte sich den Dreck von den Klamotten und humpelte zurück zu seinem kleinen Lager. „Ich muss doch irgendwo Essen her kriegen…“, grummelte er und setzte sich auf seinen Hosenboden. Das Buch legte er auf seinen Schoß und las jede Seite sorgfältig durch. Sein knurrender Bauch drängte ihn und falls er keinen Zauberspruch fand, mussten wohl doch noch die Fische dran glauben.
„Dann kann ich zumindest schon das Zerfleischen üben…“, seufzte Scorpius und warf einen zweifelnden Blick auf den Weiher vor ihm. Als ob er überhaupt jemals eines dieser glitschigen Viecher in die Finger bekommen würde…

Food and Sleep


Food and Sleep




„Also… Essen. Essen. Essenessenessenessen. Essen. Ähäsöön. ESSEN!“ Scorpius quasselte unaufhörlich vor sich hin. Es war so ruhig hier draußen und er fühlte sich einsam, wenn er keine menschliche Stimme hörte. Da führte er lieber Selbstgespräche. „Ahaa! Da ist ja was! Cenam paro. Ermöglicht es, organische Zutaten in eine schmackhafte Mahlzeit zu verwandeln. Das soll wohl n Witz sein.“
Er starrte kritisch auf den Zauberspruch, der in einer ziemlich krakeligen Handschrift an den Rand gekritzelt wurde. Eine blonde Augenbraue zog sich nach oben „Viel Übung nötig um- Hää? Um… um ein gutes Errrrgebnis zu erlangen. Na toll.“ Scorpius seufzte genervt. „Organische Zutaten. Was soll das denn heißen? Dass ich aus Unkraut einen Ceasar Salad machen kann?“
Er rupfte einige Grashalme aus der harten Erde, legte sie auf ein Häufchen vor sich und richtete seinen Zauberstab darauf. „Da steht nicht mal dabei, wie ich schwingen muss“, meckerte er. „Cenam paro! Cenaam paro! Ceenam paroo!“ Er fuchtelte mit seinem Zauberstab in der Luft herum, immer heftiger, bis er ihn schließlich frustriert wegschmiss.
„Das wird ja nie was.“ Zögernd nahm er ein paar Grashalme und kaute langsam darauf herum. Nach wenigen Sekunden verzog er angewidert das Gesicht und spuckte sie wieder aus. „Bähh! Dann muss jetzt wohl doch ein Fisch dran glauben. Armer Fisch.“ Scorpius warf einen traurigen Blick ins Wasser, doch sein knurrender Bauch überzeugte ihn.
Er stemmte sich hoch und hüpfte einige Meter in den Wald hinein. Erst einmal musste er ein Feuer machen. „Tut mir leid, Fische“, murmelte er, während er sich bückte und verschiedene Äste einsammelte. Einen langen, dünnen drehte er eine Weile in seiner Hand. Mit Angeln würde er wohl nicht sehr weit kommen. Also zerbrach er ihn und warf ihn zu den anderen auf einen unordentlichen Haufen. Um nicht den ganzen Wald in Brand zu setzen, trocknete er mit Hilfe seines Zauberstabes eine kleine Fläche am steinigen Ufer. Während er umständlich die Äste ordnete, warf Scorpius immer wieder einen Blick auf die Fische und seufzte. „Gestern hab ich noch gesagt, dass ich kein Tier umbringen will. Aber das ist jetzt nur einmal. Dann versuch ich es weiter mit dem Zauber. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich den Fisch fangen soll…“

Als es schließlich keinen Sinn mehr machte, die Sache noch länger hinaus zu zögern, suchte Scorpius einen großen, kantigen Stein. Hoffentlich bring ich genug Kraft auf, um das arme Tier schnell zu töten.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend griff er nach seinem Zauberstab und stellte sich ganz an den Rand des Ufers. Er umklammerte das glatte Holz, schaffte es aber nicht, den Arm zu heben und auf einen der Fische zu zielen.
„Ach verdammt!“ Scorpius schmiss seinen Zauberstab auf den Boden, krempelte seine Hosenbeine hoch und watete langsam in das kalte Wasser. Sofort überzog ihn eine Gänsehaut, er schauderte. „Scheiße, ist das eisig.“ Er setzte einen Fuß vor den anderen, wie in Zeitlupe, um die Fische nicht zu verscheuchen. Er stand schon ganz nah vor einem und wollte gerade die Hände ausstrecken, um ihn zu packen, als ein großes, braunes, gefiedertes Etwas mit einem großen Platscher neben ihm im Wasser landete. „Argh! Jack!“
Wütend blinzelte Scorpius den Hippogreif durch die nassen, blonden Strähnen, die ihm Gesicht klebten, an. Jack blinzelte zurück und legte dabei unschuldig den Kopf schief, als wüsste er nicht, was an seiner Aktion so schlimm war. Scorpius schaute seinem Mittagessen nach, das in alle Richtungen ausschwärmte und sich in Sicherheit brachte. Seufzend tätschelte er Jacks Schnabel und watete zurück ans Ufer, um sich zu trocknen. Es würde erst mal wieder eine Weile dauernd, bis die Fische zurückkamen.
Also legte er sich ins Gras und schaute in den Himmel. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht und wärmte seinen Körper angenehm auf. Ein paar Meter entfernt planschte Jack im Wasser herum. „Na klar. Verscheuch die Viecher nur noch mehr. Dann bekomme ich heute gar nichts mehr zu essen“, knurrte Scorpius vor sich hin. Er schloss die Augen. Nur ein paar Minuten ausruhen...



Als Scorpius wieder aufwachte, lag er schon halb im Schatten. „Verdammt!“ Er setzte sich auf und blinzelte verschlafen in den Himmel. Sein knurrender Bauch schmerzte schon richtig. „Ich muss jetzt endlich so einen verfluchten Fisch fangen.“ Er rappelte sich auf und humpelte zum Ufer. Bevor er sich ins Wasser wagte, schaute er sich suchend um. Jack war nirgends zu sehen. Zögernd machte Scorpius einen Schritt ins Wasser. Er hatte das Gefühl, dass es jetzt noch kälter war. Die Fische trieben ruhig vor ihm in der Strömung und wackelten hin und wieder mit ihren Schwanzflossen.
Nichts ahnend von der tödlichen Gefahr, die nur wenige Schritte entfernt lauert. Haha, weil ich ja auch so gefährlich bin.


Scorpius war nun wieder an dem Punkt angelangt, an dem Jack ihn vorhin gestört hatte. Er streckte langsam die Hände aus, ließ sie einen Moment über der Wasseroberfläche schweben und stieß sie hinein. Seine Finger streiften die glitschigen Schuppen und dann war der Fisch auch schon wieder weg.
Scorpius musste sich zusammenreißen, um nicht mit den Fäusten ins Wasser zu schlagen. Der Fisch war ihm entwischt, dafür gesellte sich nun jemand anders zu ihm - wenn auch nicht so stürmisch wie zuvor. Der Karamellgreif trottete aus dem Schatten der Bäume zu seinem neuen Freund. Bevor er das Ufer erreichte, drohte Scorpius ihm mit dem Zeigefinger. „Nein! Stopp! Stehen bleiben! Halthalthalt! Bleib stehen! Du verjagst mir nur wieder alle Fische!“
Jack blieb tatsächlich einen Moment stehen, aber dann kam er doch auf den Jungen zu. „Neiiin! Nicht herkommen. Ach, Jack.“ Der Greif machte sich nicht die Mühe, seine Beine zu heben, sondern schleppte sie einfach durchs Wasser und spritzte dabei in alle Richtungen. Vor allem in Scorpius’. Missmutig wischte er über seine nasse Hose. „Bleib wenigstens hier stehen, Jack. Bitte.“ Er drückte gegen die gefiederte Brust, um das Tier zum Stillstehen zu bringen. Es gelang. Jack wollte ja sowieso nur bei Scorpius sein.
„Okay. Gut. Dann warten wir jetzt, bis die Viecher wieder herkommen. Hoffentlich bevor mir die Füße abfrieren.“ Aber schon nach wenigen Minuten traute sich einer wieder her. Jack reckte den Kopf nach vor und glotzte den Fisch gierig an. Es fehlte nur noch, dass ihm die Zunge aus dem Schnabel hing, er anfing zu sabbern und „chrhrchrhr… Fisch“ machte, wie Homer Simpson. Scorpius warf ihm einen warnenden Blick zu. „Wehe…“

Dann beugt er sich ein wenig nach vorn und geht in Angriffstellung.
Seine Hände nähern sich der Wasseroberfläche.
Scorpius beißt sich auf die Lippen, verharrt konzentriert.
Seine Fingerspitzen berühren das kalte Wasser.
Der Fisch wackelt mit der Schwanzflosse, treibt Zentimeter für Zentimeter auf ihn zu.
Die Zeit scheint beinahe still zu stehen.
Die Wasseroberfläche ist ganz ruhig, spiegelt das angespannte Gesicht.
Einen Moment verharrt der Fisch.
So knapp. So knapp.
Nur noch einen Zentimeter. Komm schon!


Scorpius hält die Luft an.
Ein letzter Blick auf das Opfer.
Ein letzter Blick auf den Feind.
Ein letztes Wackeln mit der Flosse.

Scorpius Hände schnellten durch das Wasser, seine Finger umfassten blitzschnell den glitschigen Körper. Scorpius riss die Hände nach oben, drückte seine Finger, so fest er konnte, zusammen. Auf keinen Fall wollte er seinen Fang wieder verlieren. Der Fisch zappelte in seinen Händen, kämpfte sich Stück für Stück aus der Umklammerung. Scorpius war kurz vorm Schreien vor Verzweiflung. Das Tier entglitt seinem Griff. Er sah es schon im Wasser verschwinden, als Jacks Kopf nach unten schoss und den Fang erwischte. „Ja! Nein! Neinneinnein! Jack! Komm wieder her! Bitte!“ Jack trabte eilig davon, präsentierte stolz seinen Fang. Scorpius hüpfte so schnell er konnte aus dem Weiher und auf den Fischdieb zu. „Gib den wieder her! Ich hatte ihn zuerst!“, schrie er wütend. Er dachte nicht daran, wie lächerlich es war, sich mit einem Hippogreifen ums Essen zu streiten, dazu war er viel zu sauer.
Er packte das hintere Ende des Fisches, das seitlich aus dem Schnabel hing und zog daran. „Meins! Gib her!“
Es wurde eine richtige Rangelei und Scorpius hatte eigentlich keine Chance gegen das Tier, aber er hatte immer noch eine freie Hand. Er benutzte sie, um Jack auf den Kopf zu hauen. „Lass los! Lass endlich los!“ Der Greif sprang erschrocken zurück, als ihn die Hand traf und Scorpius brachte seinen wiedererlangten Schatz in Sicherheit.
Er stolperte zurück zum Ufer, wo er das Holz aufgeschichtet hatte, kniete sich hin und legte den Fisch auf seinen Schoß.
Wenigstens ist er jetzt schon tot.

Er setzte das Holz in Brand und kramte sein Taschenmesser aus dem Rucksack. Bevor er das Messer ansetzte, schaute er zu Jack hinüber. Der stand immer noch zurückgezogen zwischen den Bäumen und tänzelte nervös auf der Stelle.
Scorpius ließ das Messer sinken, sofort plagten ihn Schuldgefühle. „Tut mir leid, Jack. Das war nicht böse gemeint. Komm wieder her“, rief er ihm zu. Doch Jack blieb wo er war. Scorpius nagte an seiner Lippe, schaute auf den Fisch, dann zu Jack und wieder auf den Fisch. Er setzte das Messer hinter den Kiemen an und fing an zu säbeln. „Nein. Lieber nicht.“ Er legte ihn auf die Steine und machte dort weiter. Er musste sich nicht auch noch die Oberschenkel aufschneiden. Den abgetrennten Kopf warf er in Jacks Richtung. Der machte keine Anstalten, sich von seinem Platz weg zu bewegen.
Scorpius wandte sich wieder seinem Essen zu. Zuerst schnitt er die Flossen weg, dann schabte er die Schuppen ab. Dabei bemühte er sich nicht noch mehr Fleisch kaputt zu machen, als Jacks Schnabel es schon getan hatte. Zum Schluss musste er den Fisch noch aufschneiden. Scorpius würgte. Das war wirklich keine angenehme Prozedur, aber schließlich hatte er auch das geschafft. Er spießte den Fisch auf einen Ast, den er vorher ein wenig mit dem Taschenmesser anspitzte und hielt ihn über die Flammen.

Während er den Ast in seinen Händen drehte, schielte zu Jack hinüber. Der hatte sich inzwischen ein paar Schritte aus seinem Versteck gewagt und machte den Hals lang, um an den Fischkopf zu gelangen. Er traute sich nicht so recht und Scorpius vergaß beinahe auf sein Essen zu achten, weil er das Tier so gespannt beobachtete. Der Hunger siegte dann aber doch und Jack schnappte sich den kleinen Imbiss. Nachdem er ihn verschlungen hatte, trabte er auf seinen Menschenfreund zu. Der streckte die Hand aus und streichelte über die weichen Federn.
„Alles wieder gut? Das war wirklich nicht böse gemeint.“ Der Hippogreif gurrte und schmiegte sich gegen Scorpius’ Hand. „Alles wieder gut“, flüsterte er.

//.\\

Die nächsten Tage hatte Scorpius ungemeines Glück mit dem Wetter. Nachts wurde es zwar ziemlich kalt, aber tagsüber schien die Frühlingssonne kräftig vom Himmel. So konnte er sich auf den komplizierten Zauber konzentrieren. Nachdem er einen ganzen Nachmittag damit verbracht hatte seinen Zauberstab auf jede erdenkliche Weise zu schwenken, war er schließlich auf die richtige Methode gekommen. Danach hatte er allerdings keine große Lust mehr auch noch die richtige Aussprache zu finden. Er gab sich also erst einmal wieder mit den belegten Broten und den Süßigkeiten zufrieden.
Wohlerzogen wie er war, hatte er sogar eine Zahnbürste eingepackt. Er war sich jedoch erst nicht sicher, ob er sein Trinkwasser aus der Flasche opfern oder die Bürste in den Weiher eintauchen sollte. War Waldwasser nicht eigentlich gesund? Außerdem war er ja mehr oder weniger in den Bergen, also gab es bestimmt irgendwo eine Quelle. Er entschied sich nicht direkt den kleinen angestauten Weiher zu nehmen, sondern ein Stück weiter hoch zu laufen.
Am nächsten Tag schmerzte sein Arm etwas vom vielen Zauberstab schwingen, aber die Mühe hatte sich ausgezahlt. Kurz nach Mittag hatte er auch die richtige Aussprache gefunden und zauberte sich abends einen kleinen Salat aus Unkraut. Der würde es zwar nie in eine halbwegs gute Küche schaffen, aber besser als richtiges Unkraut war er allemal.
Zudem rieb er seine Verletzung jeden Tag mit ein bisschen Diptam ein. So heilte sie relativ gut. Außerdem war Jack immer den ganzen Nachmittag über bei ihm. Ein Mal folgte Scorpius ihm zurück zur Herde. Die Hippogreife, die noch vor einer Woche so dicke Bäuche gehabt hatten, waren nun von ihrem Nachwuchs umgeben. Scorpius konnte sich kaum satt sehen an den niedlichen Geschöpfen.

An diesem Tag geschah auch ein absolutes Highlight. Als es schon längst dämmerte, ging Scorpius zurück zu seinem Lager und dieses Mal folgte ihm Jack. Normalerweise verschwand er um diese Zeit. „Bleibst du heute ein bisschen länger bei mir, hm?“, flüsterte Scorpius, an ihn gelehnt. Er vergrub das Gesicht an seinem Hals und streichelte seinen Rücken. Als er sich kurz darauf in schlafen legen wollte, ließ sich der Greif neben ihm nieder. Etwas verdutzt blinzelte Scorpius ihn an. Was wird denn das jetzt?

Jack machte keine Anstalten wieder aufzustehen. Scorpius war das aber doch nicht ganz geheuer. Er drückte sich in seine Mulde und deckte sich zu.
Die Sonne war schon lange untergegangen und der kalten Nach gewichen und Scorpius schlief schon, da rückte Jack näher an ihn heran. Genauer gesagt legte er sich fast auf ihn drauf. Scorpius schreckte auf. „W-Was? Was machst du denn?“ Er stemmte die Hände gegen den Körper, der ihn platt walzen wollte. „He! Lass das doch! Du zerquetschst mich ja!“ Jack ließ sich auf die andere Seite fallen und blinzelte ihn unschuldig an. Scorpius strich sich verschlafen das blonde Haar zurück und tätschelte ihn dann. „Was sollte das denn werden? Willst du etwa bei mir schlafen?“ Er zögerte, kaute auf seiner Lippe, wusste nicht so recht, ob er sich traute. Aber der Hippogreif hatte sich schließlich von selbst zu ihm gelegt, also rutschte Scorpius langsam näher zu ihm.
Jack beobachtete ihn aufmerksam dabei. Nur zur Sicherheit neigte Scorpius vor ihm den Kopf, bevor er weiter kroch. „Okay, du tust mir nichts, oder? Du bist ganz lieb. Ich tu dir auch nichts. Ich bin auch ganz lieb“, wisperte er, dann hockte er vor Jacks Flügel. Er zog seine Decke zu sich heran und kuschelte sich gegen die Federn. Vor Anspannung hielt er die Luft an, aber Jack schob nur gurrend den Kopf unter seinen Flügel. Scorpius stieß die angehaltene Luft aus und schmiegte sich an seinen Freund. An so einem Hippogreifflügel schlief es sich ausgezeichnet.

Impressum

Texte: Alle Personen und Handlungsorte gehören J. K. Rowling!
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

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