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Mike wacht wie jeden morgen viel zu spät auf. Viel zu spät, aber gerade noch rechtzeitig um sich eine Flasche Bier aus dem halb leeren Kasten neben seinem Bett zu nehmen. Er setzt sich aufrecht auf sein Bett und leert die Flasche in zwei großen Zügen. Mike ist 23 und Alkoholiker. Alkoholiker so ungefähr seit seinem achtzehnten Lebensjahr; aber so ganz genau weiß er es selbst nicht mehr. Während er sich auf den Weg ins Bad begibt, hört er auch schon das Hupsignal draußen vor dem Haus. Es ist sein türkischer Kollege Ergün, der ihn zur Arbeit abholt. Er lässt sich Zeit. Wie jeden morgen. Er geht ins Bad und scheißt erstmal ausgiebig. Danach nimmt er eine der angebrochenen Korn-Flaschen vom Vortag und eine Liter Flasche Sprite in einer alten Einkaufstüte mit auf den Weg nach unten. Mike wohnt im vierten Stock in einer Sozialbausiedlung in Essen-Altenessen. Er mag die Anonymität dieses Großstadtviertels. Die Häuser befinden sich größtenteils in sehr heruntergekommenen Zuständen, aber dafür sind die Nachbarn wenig penibel, stellen wenige Fragen und lassen ihn in Ruhe sein Leben leben. Mike bezieht Arbeitslosengeld II. Dennoch arbeitet er regelmäßig. Wenn man ihn fragt, wie er denn eigentlich seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, wo er sich doch offensichtlich permanent dem Alkohol hingibt, antwortet er spöttisch: „Mit Hartz und Schwarz.“

Mike arbeitet in einem Forstbetrieb. Sein Chef ist nur wenige Jahre älter als er selbst und hat die Firma von seinem Vater übernommen, als dieser vor 16 Monaten an einer Überdosis Heroin gestorben ist. Der Vater seines Chefs wohnte ebenfalls in Altenessen. Dieser Stadtteil richtet die Menschen zu grunde, denkt er.
Mike sieht den klapprigen Transporter und den Fahrer, Ergün. Ergün holt ihn jeden morgen ab. Mike selbst hat keinen Führerschein. Er hat nie einen gemacht. Und selbst wenn er jemals die Fahrprüfung absolviert hätte, wäre ihm die Fahrerlaubnis spätestens in der zweiten Woche wegen Trunkenheit am Steuer wieder entzogen worden.
Er nuschelt ein zähes „morgen“ in Richtung Ergün.
„Warst du gestern wieder getrunken?“ fragt Ergün. Ergün ist Türke und spricht nur gebrochen deutsch, obwohl er schon seit über 20 Jahren in Deutschland lebt. Einmal erzählte er, dass seine Kinder ihm gesagt hätten, er solle doch endlich einmal vernünftig deutsch lernen, sie würden ihn nicht verstehen. Mike hat sich mittlerweile angewöhnt, in Gesprächen mit Ergün dieselbe Grammatik zu verwenden wie er.
„Hab ich jeden Tag getrunken.“
„Hast du wieder Automatik gespielt?“
Spielautomaten sind nach dem Alkohol Mikes zweite große Leidenschaft.
„Ach hör auf! Gestern wieder 150 Euro weg....“
„Das is nix gut....“ schüttelt Ergün den Kopf.
Routiniert öffnet Mike das Handschuhfach und es kommt das Glas, das er Anfang dieser Woche dort deponiert hat, zum Vorschein. Es könnte auch mal gespült werden, denkt er. Er wischt es an seinen Arbeitsklamotten ab, füllt es halb mit Korn, halb mit Sprite und trinkt einen Schluck.
„Wo müssen wir fahren?“ erkundigt sich Ergün.
Mike erinnert sich, dass sein Chef ihm gestern Abend per SMS die Adresse des heutigen Kunden mitgeteilt hat. Er holt sein Handy raus.
„Richtung Oberhausen.“
Mike holt den Stadtplan aus dem Handschuhfach. Karten lesen ist anstrengender als Bäume zu fällen, denkt er. Vor allem in seinem Zustand. Die Straßennamen verschwimmen vor seinem Auge. Er muss sich jetzt konzentrieren.
„Wo Oberhausen?“ fragt Ergün.
„Oberhausen-Lirich. In der ... Ulmenstraße heißt das glaube ich....“
Sie machen sich auf den Weg. Das Frühstück entfällt heute. Mike hat nicht einen Cent in der Tasche. Er war gestern Abend bis 3 Uhr nachts beim Griechen und hat die Spielautomaten gefüttert. Der Imbiss war längst geschlossen, aber für „gute Kunden“, werden hinter verschlossenen Türen auch gerne mal zwei oder drei zusätzliche Runden Ouzo spendiert. Mike lässt pro Tag 50 bis 60 Euro dort; seinen Tageslohn.
Hunger hat er eh keinen. Nur Durst. Und was für einen. Er trinkt einen weiteren Schluck.
Manchmal denkt er so bei sich, was er wohl machen würde, wenn er nicht diesen Job hätte. Es ist ein harter Job, ein Knochenjob, aber er wird jeden Tag in bar bezahlt. 60 Euro gibt es pro Tag egal wie lange gearbeitet wird. Bei durchschnittlich 20 Arbeitstagen pro Monat macht das immerhin 1.200 Euro netto. Plus Trinkgelder und manchmal wird auch Samstags gearbeitet, was natürlich zusätzlich bezahlt wird. Das Geld für seine Miete zahlt der Staat, außerdem bekommt er monatlich knapp über 300 Euro Hartz IV. Damit lässt es sich leben, sollte man meinen. Dennoch steht Mike heute wie an so vielen vorangegangen Tagen morgens ohne einen einzigen Cent Geld in der Tasche da. Rücklagen hat er keine. Eine eidesstattliche Versicherung hat er schon vor Jahren abgegeben, ohne in dem Moment damals wirklich zu wissen, was das eigentlich ist.
Wenigstens ist die Korn-Flasche noch zu gut einem Viertel gefüllt. Immerhin. Ein kleiner Lichtblick.
Sie erreichen die Baustelle. Ihr Chef wartet schon.
„Seit ihr wieder spazieren gefahren? Es ist schon halb neun!“ brüllt er.
„Du weißt doch: Ich und Karten lesen....“
„Na los, an die Arbeit jetzt....“

Der Arbeitstag zieht sich. Zum Glück hat der Kunde Wasser für die Jungs rausgestellt, so dass Mikes Korn-Glas zwischen den übrigen Wassergläsern gar nicht auffällt. Es hat auch Vorteile, nur noch klare Spirituosen zu trinken, denkt er sich. Früher hat er es geschafft, den ganzen Arbeitstag ausschließlich mit Bier zu überstehen. Doch seit ca. zwei Wochen trinkt er selbst während der Arbeit regelmäßig Schnaps. Er ist ein sogenannter Spiegeltrinker. Er muss immer auf dem gleichen Pegel bleiben, sonst geht es ihm schlecht. Allerdings hat er das Gefühl, dass sein Normalpegel in den letzten Wochen um mindestens 0,3 Promille gestiegen sein muss.
Seine Trunksucht ist für seine Arbeitskollegen (und selbst für seinen Chef) kein Problem, solange er gut arbeitet. Und das tut er. Man merkt ihm (wie jedem starken Alkoholiker) nicht an, wenn er was getrunken hat. Vielleicht, weil er immer etwas getrunken hat. Mike ist ein unverzichtbarer Arbeiter in seiner Firma. Das sagt selbst sein Chef; und der muss es wissen.

Heute gilt es vier große Tannen zu fällen und zu entsorgen. Das ist kein leichtes Unterfangen, da in dem Garten des Kunden kaum ausreichend Platz ist, um auch nur einen der Bäume frei fallen lassen zu können. Das heißt sie müssen stückchenweise abgetragen werden. Das heißt ER muss die Bäume stückchenweise abtragen. Die größte der Tannen ist etwa 20 Meter hoch. Mike geht zurück zum Auto und gießt sich ein neues Glas ein. Er schnallt sich seinen Klettergurt um, zieht seinen Helm auf und leert das Glas.
In der Zwischenzeit haben die anderen die Vorbereitungen getroffen: Die Motorsägen sind vollgetankt, Gartenzwerge und Blumenkübel wurden evakuiert und die Leiter ist einsatzbereit an den Baum gelegt. Er müht sich ab. Nach circa 1,5 Stunden hat er den Baum so weit runtergeschnitten, dass nur noch ein Reststamm von vielleicht 3 Metern steht. Der Rest ist Formsache.
Mike mag seinen Job. Er lenkt ihn von seinem übrigen Leben ab. An manchen Tagen, an denen nicht viel los ist und sie schon früh Feierabend machen, weiß er den restlichen Tag oft nichts mit sich anzufangen. Er könnte mal wieder in seiner Wohnung vorbeischauen und den Briefkasten leeren, denkt er. Er war schon seit einigen Wochen nicht mehr dort. Seit der Trennung von seiner Freundin ist er quasi bei seiner Mutter und ihrem neuen Freund eingezogen. Gut, „eingezogen“ wäre übertrieben formuliert. Zumindest schläft er dort.
Der Arbeitstag dauert länger als erwartet. Aber gegen 18 Uhr ist endlich Feierabend und Mike lässt sich von Ergün bei seinem Lieblings-Griechen absetzen. Nach hause geht er nicht. Ihn stört es nicht, in Arbeitsklamotten irgendwo etwas essen zu gehen. Duschen kann er auch später. Er isst, trinkt und füttert die Spielautomaten. Ein Abend wie jeder andere.
Gegen 23:30 Uhr beschließt er sein Gastspiel beim Griechen zu beenden und heute ausnahsweise mal in seiner eigenen Wohnung zu schlafen. Seiner Mutter will er auch nicht länger zur Last fallen.
Er geht die paar hundert Meter und gelangt zu seiner Wohnung. Die Vordertür ist auf und Mike hat um diese Uhrzeit und in diesen Zustand nur wenig Lust seine Post aus dem Briefkasten zu fischen. Immerhin ist es schon fast 2 Uhr nachts. Er wirft nur einen flüchtigen Blick auf den Briefkasten und glaubt einen anderen Namen als den seinen auf seinem Briefkasten geschrieben zu sehen. Er muss ganz schön betrunken sein, denkt er sich. Er geht die Treppen hoch und regt sich über den ganzen Sperr-Müll auf, der im Haus verteilt ist. Der war letzte Woche noch nicht da, denkt er. Etliche Kisten und Kartons mit allen möglichen Sachen darin versperren ihm den Weg. Vermutlich zieht mal wieder jemand um, vermutet er. Er erreicht den vierten Stock und steckt den Schlüssel in seine Wohnungstür. Aber irgendetwas stimmt nicht. Der Schlüssel klemmt. Mike denkt nach und erinnert sich an all die Abende zuvor, an denen er wie üblich viel zu viel getrunken hatte und jedes mal Probleme hatte den Schlüssel richtig ins Schloss zu stecken.
Er erinnert sich nur ungern an den einen, in seinem Freundeskreis mittlerweile berühmt/berüchtigten Abend, an dem er spät nach hause kam und seinen Wohnungsschlüssel verloren glaubte. Damals stand er vor seiner Wohnungstür, hatte starke Schlagseite und sehnte sich im Prinzip nur noch nach seinem warmen Bettchen. Irgendwie passte der Wohnungsschlüssel nicht oder er hatte den falschen Schlüsselbund dabei; er weiß es selbst nicht mehr so genau. Völlig frustriert und von dem Wunsch endlich schlafen zu können angetrieben, begann er damals seine eigene Wohnungstür einzutreten. Es dauerte nicht besonders lange, Mike ist ziemlich kräftig. Nach zwei bis drei Anläufen hatte er die Tür aus den Angeln gehoben. Für die Reparatur-Kosten würde er schon aufkommen; das war ihm in diesem Moment egal. Hauptsache, er kann endlich schlafen. Als die Tür endlich einkrachte und er seine Wohnung betrat, stand plötzlich die völlig verschreckte Familie Pinar, die ein Stockwerk unter ihm wohnte, vor ihm. Vater, Mutter und zwei Kinder blickten ihn angsterfüllt an. Was machen DIE in MEINER Wohnung, dachte Mike. Der Vater hielt eine Art Eisenstange in der Hand und stierte Mike mit großen Augen an. Erst in diesem Moment wurde ihm klar: Er hatte sich im Stockwerk geirrt! Deswegen passte der Schlüssel nicht. Er hatte die Wohnungstür der Pinars eingetreten und diese vermuteten, wohl zu Recht, einen Einbrecher.
Aber diesmal war es anders. Er war sich sicher im richtigen Stockwerk zu sein. Auch wenn der Schlüssel nicht passte. Erst nachdem er in diesen Erinnerungen schwelgte kam ihm das Namenschild von unten an den Briefkästen in den Sinn. Er ging wieder runter und stellte fest, dass sowohl an seiner Klingel als auch an seinem Briefkasten ein anderer Name klebte. Er war sich seiner selbst nicht mehr sicher. Völlig geistesabwesend ging er nochmals die Treppen hoch und erst jetzt viel ihm auf, dass der Sperrmüll, der im Treppenhaus verteilt war, SEINE Möbel waren. Alles lag hier in Kisten gestapelt: Fernseher, Bücher, Bilder, Gläser, Besteck. Einfach alles was sich vorher in seiner Wohnung befand.
Mike wird schwindelig. Er geht raus auf den Hof und sieht sein Sofa in der Einfahrt stehen. Im Regen. Das Schwindelgefühl wird immer starker. Mittlerweile muss es so gegen halb zwei Uhr nachts sein. Er beschließt seinen Vermieter aus dem Bett zu klingeln. Scheiss auf die Uhrzeit. Dies ist ein Notfall. Er klingelt und nach einiger Zeit öffnet die Frau seines Vermieters die Tür.
„Ich komm nicht in meine Wohnung rein!“
„Ach, Herr Rogat!“ sagt die verschlafen aussehende Frau überrascht. „Wir dachten, sie kommen gar nicht mehr... Sie waren seit 6 Wochen nicht mehr hier.“
„Ja, wie!? Was ist mit meiner Wohnung??“ brüllt Mike.
„Da wohnt jetzt jemand anders.“
Mike erstarrt. Sie hatten seine Wohnung einfach weitervermietet.
„Ich will sofort ihren Mann sprechen! Auf der Stelle!“
„Der ist jetzt nicht da. Kommen sie morgen wieder. Und nehmen sie ihren Müll mit.“ Sie knallt die Tür zu.
Mike steht wieder im Regen. Er ist verzweifelt. Er ruft die Polizei. Was hätte er anderes tun sollen?
Die Beamten erklären ihm, er solle morgen früh zur Wache kommen und Anzeige erstatten. Das Verhalten des Vermieters sei nicht rechtmäßig, selbst wenn er drei Monate lang die Miete nicht bezahlt habe, so sei es immer noch Sache der Vollstreckungsbeamten säumige Mieter auf die Straße zu setzten. Miete nicht gezahlt? Mike grübelt. Er muss ungefähr seit 6 Wochen im Rückstand sein. Das Jobcenter hat nicht überwiesen. Auch sein Arbeitslosengeld II für diesen Monat ist noch nicht auf seinem Konto. Vermutlich haben sie es ihm komplett gestrichen, weil er vor einiger Zeit die Annahme eines 1-Euro-Jobs verweigert hatte.
Mike ist verzweifelt. Es ist fast 3 Uhr nachts. Vielleicht wäre es besser sich um sich jetzt um einen Schlafplatz für die Rest-Nacht zu bemühen, denk er. Andererseits ist er im Moment zu aufgewühlt, um auch nur eine Sekunde an Schlaf denken zu können. Folglich bestellt er sich ein Taxi und steuert die nächste Bar an. Er muss an seinen Pegel denken; schließlich beginnt morgen ein neuer Tag in Altenessen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Jenny M.

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