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Mirco ist bei seinen Eltern eingeladen. Besser gesagt: Er ist bei seiner Mutter eingeladen. Und bei ihrem neuen Freund, Jochen. Die beiden wohnen in Hamminkeln, in dieser gottverdammten Kleinstadt im Kreis Wesel. In dieser gottverdammten Kleinstadt, die Mircos Heimatstadt ist.
Er war seit einem guten halben Jahr nicht mehr hier. Fahrten nach Hamminkeln meidet er wie der Teufel das Weihwasser. Gleiches trifft auf den Kontakt mit seiner Mutter zu. Sein Vater ist mittlerweile mit einer anderen Frau verheiratet und mit ihm hat Mirco noch weniger Kontakt. Mirco selbst ist das egal. Er ist in dieser Beziehung über die Jahre hinweg relativ gefühlskalt geworden. Es interessiert ihn nicht, was seine Mutter macht. Und womit sein Vater sich beschäftigt, interessiert ihn noch weniger.
Mirco selbst wohnt im Ruhrgebiet. Er hasst es zurück in „sein“ Dorf zu kommen. In „sein“ Dorf, in dem er ja doch nur Schlechtes erlebt hat. Die ganze verdammte Kindheit, die verdammte Schule und ... ja, nach seinem Schulabbruch ist er ja damals auch schon geflüchtet. Er war damals 19 Jahre alt, als er sein Dorf verlief und ins Ruhrgebiet zog. Er zog seine Ausbildung durch und verdiente seinen Lebensunterhalt in den folgenden Jahren in Bochum. Jetzt ist er 25. Er sitzt im Auto und hört laut Musik. Von Bochum bis nach Hamminkeln sind es gute 70 Kilometer. Er befindet sich auf der A43 Höhe Herne-Horsthausen. Gleich muss er auf die Autobahn 42 wechseln. Er kennt die Strecke aus dem Effeff. Er HASST diese Stecke. Für ihn bedeutet die Strecke Rückschritt. Konfrontation mit der Vergangenheit.
Üble Gedanken steigen in ihm hoch.
Kurz vor Oberhausen hält er es nicht mehr aus. Er braucht jetzt unbedingt ein Bier. Sonst steht er diesen Abend nicht durch. Die Vorstellung mit seiner Mutter, die er seit sechs Monaten nicht gesehen und nur sporadisch gesprochen hat, und mit ihrem neuen Freund, den er nicht mal kennt, zusammen zu Abend zu essen, macht ihn nervös. Er muss irgendwie runter kommen.
Er hält an einer Tankstelle und kauft sich zwei 0,5er Bier. Er legt die Flaschen auf den Beifahrersitz und fährt zurück auf die Autobahn. Sobald er sich eingeordnet hat, schnallt er sich ab und öffnet mit Hilfe der Steckzunge am Ende des Gurts eine der beiden Flaschen. Er platziert die Flasche zwischen seinen Beinen, schnallt sich wieder an und dreht die Musik lauter.
Mirco ist einer der wenigen Menschen, die den Begriff „Alkohol am Steuer“ noch wörtlich nehmen. Aber was soll schon passieren? Wegen EINEM Bier werden sie ihn schon nicht verhaften, denkt er sich.
Er fährt weiter. Er fährt langsam. Mirco ist generell schon niemand, den man unbedingt als Raser einstufen würde. Aber heute fährt er extrem langsam. Er WILL nicht angekommen.
Als er seine Flasche gerade zur Hälfte geleert hat, muss er die Autobahn verlassen. In dem Moment, als er die Ortseinfahrt von Hamminkeln passiert, klingelt sein Handy.
Es ist Firpo. Firpo, in erster Linie ein flüchtiger Bekannter von Mirco mit der sich ab und an ganz gut unterhalten kann; in zweiter Linie Mircos Drogendealer. „Linie“ ist in diesem Fall durchaus wörtlich zu verstehen. Mirco muss unvermittelt lachen.
Firpo heißt in Wirklichkeit gar nicht Firpo, sondern besitzt einen arabischen Vornamen, den Mirco nicht kennt und auch nicht kennen will. Mirco weiß, wie es in Firpos Branche läuft: Decknamen, anonyme Anrufe und häufig wechselnde Rufnummern sind an der Tagesordnung. Über die Jahre hinweg, ist zwischen den beiden eine Art Freundschaft entstanden und auch mit Firpos Frau versteht er sich ganz gut. Die beiden sind nur ein paar Jahre älter als er und wohnen in Mircos alter Heimatstadt Hamminkeln. Ein Zufall wollte es, dass die beiden sich vor circa drei Jahren über einen Freund von Mirco in Oberhausen kennenlernten. Mircos damaliger Freund kaufte sein Koks ausschließlich in Oberhausen, obwohl er genau wie Mirco in Bochum wohnte. In Bochum kriege man nur Schrott, sagte sein damaliger Kollege: „Mit Rattengift gestrecktes Milchpulver für 50 Euro“, echauffierte er sich. In Oberhausen zahle man zwar 70 Euro pro Gramm, aber dafür sei auch die Qualität um Klassen besser.
Mirco drückt auf das grüne Hörer-Symbol seines Handy und sagt: „Ja...?“
„Hi Mirco, hier ist Firpo.“
So begrüßen sie sich immer.
Vor ein paar Monaten war Firpos Auto in der Werkstatt und er und seine Frau baten Mirco um einen Gefallen. Ob er nicht einen Tag mit ihnen ihre Auslieferungs-Route abfahren könnten, fragten sie. Mirco willigte ein, da er eh nichts zu tun hatte, ein Auto besaß und Firpo eh noch einen Gefallen schuldete. Während dieser Tour belieferten sie mehrere Kunden im gesamten Ruhrgebiet und endlich stieg Mirco dahinter, wie sein Mittelsmann auf den bescheuerten Namen „Firpo“ gekommen war: Immer wenn Firpo einen von seinen Kunden anrief, startete das Telefonat in etwa so:
„Hi Gerald! Hier ist Herald.“
Oder: „Hi Rico! Hier is Nico.“
Oder aber auch: „Hi Susanne! Hier is Anne“, wenn seine Frau das Gespräch führte.
Mirco fasste es nicht: „Firpo“ hatte für jeden seiner Kunden einen eigenen Decknamen. Für Mirko war er also Firpo. Wen kümmerts. Wenn Mirco so einen Beruf hätte, wäre er vermutlich auch vorsichtig, denkt er.
„Firpo, mein Freund“ spricht er in den Hörer, das Handy in der linken, das Steuer in der rechten Hand und zwischen seinen Beinen, die fast vollständig geleerte Flasche Bier.
„Mirco, wie geht es dir?“ Eigentlich möchte er fragen: „Willst du was kaufen?“, stattdessen fragt er zunächst danach, wie es um das Wohlbefinden seines Kunden bestellt ist. Mirco kennt das Spielchen.
„Geht so, wie immer“ antwortest Mirco. In seinem Kopf rumort es. Plötzlich entschied er sich und sagte: „Firpo, mein Freund. Hast du nachher 2 Minuten Zeit für mich?“
„Okay, kommst du zu mir? Wann bist du da?“
„Gegen 18 Uhr ist okay?“
„Okay.“
„Okay, bis dann.“
Zwei Minuten Zeit sind in Firpos Sprache gleichbedeutend mit zwei Gramm. Genau das, was Mirco jetzt braucht. Nur einmal kurz die Nase reinhalten, dann wird es schon laufen, denkt er. Er erreicht die Wohnung und wählt Firpos Nummer. Er lässt nur kurz durchklingeln, damit Firpo runterkommt und ihm die Tür aufmacht. Anschellen kann er nicht, da er nicht weiß wie Firpo richtig heißt. Die Tür wird aufgemacht und die beiden begrüßen sich mit Handschlag. Sie gehen die Treppen hoch zu Firpos Wohnung. Sie liegt in der obersten Etage. Die Wohnung ist sehr geräumig, jedoch ausschließlich mit den notwendigesten Möbeln ausgestattet. Mircos Lieblingsmöbelstück ist der kleine Glastisch, der vor der Couch steht.
Firpos Frau Diana ist auch da. Aus früheren Gesprächen während Treffen dieser Art weiß Mirco, dass Diana früher die gleiche Schule wie Mirco besuchte. Sie ist auch in etwa so alt wie Mirco. Seltsam, dass sie sich vorher nie begegnet sind; Hamminkeln ist nun nicht gerade Tokio.
Firpo und Diana bestreiten ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich durch Firpos Geschäfte. Vermutlich werden beide noch zusätzlich Geld vom Sozial- oder Arbeitsamt beziehen, aber darüber sprechen sie nicht. Mirco interessiert das sowieso nicht großartig, ihn interessiert jetzt eh nur noch eins und Small-Talk ist ohnehin nicht gerade eine seiner Stärken.
„Wie geht’s dir? Was macht die Arbeit?“ fragt Diana und lädt ihn mit einer Geste ein auf der Couch Platz zu nehmen. Sie selbst setzt sich in den Sessel der am Kopf des Glastisches steht, während Firpo aus der Küche rufend fragt, ob jemand was zu trinken haben wolle.
Mirco verneint dies höflich und Firpo erscheint mit zwei kleinen Tütchen und setzt sich neben ihn auf die Couch. Auf dem Tisch liegt eine Schachtel Zigaretten mit der Aufschrift „Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen.“ Kann. Immer dieser verdammten Konjunktive. Wen wollen die damit beeindrucken, fragt sich Mirco.
„Jobtechnisch läuft es momentan ganz gut; ich kann mich nicht beklagen“, sagt er während er drei Scheine und seine Krankenversicherungs-Karte aus seinem Portemonnaies fingert und auf den Tisch legt.
„Hast du immer noch Pizzeria?“ fragt der Libanese, dessen wahren Namen Mirco immer noch nicht kennt.
„Ja.“
„Und läuft gut Geschäft?“
„Ja, die Kohle stimmt. Nur ist es auch eine Menge Stress. Man hat verdammt wenig Freizeit und muss sich um jeden Scheiss kümmern. Nicht umsonst heißt es `selbständig´. Man macht alles selbst und ständig...“
Diana macht mit großen Augen eine zustimmende Miene, während Firpo nur nickt und damit beginnt ein Test-Line vorzubereiten. Mirco weiß, dass Firpo oft nur die Hälfte von dem versteht, was er zu erzählen hat, aber für solche Fälle ist ja immer Diana dabei; sie ist so eine Art Dolmetscher.
„Und hast du noch Kontakt zu Marian?“ fragt Diana sichtlich um ein Gesprächsthema bemüht.
„Hab ihn schon länger nicht gesehen. Vor ein paar Monaten das letzte Mal. Kauf der noch bei euch?“ fragt Mirco, während er mit einer routinierten Handbewegung einen der Scheine, die auf dem Tisch liegen, zusammenrollt.
„Oh ja, fast jede Woche“, antwortet Firpo und steckt die restlichen beiden Scheine in seine Tasche. „Ruft jede Woche an und wir bringen ihm.“
„Ich bin wohl der einzige den ihr nicht zuhause beliefert, was?“ fragt Mirco gespielt entrüstet.
„Bei dir ist das was anderes, dir kann man vertrauen“, sagt Diana ernst. Und Mirco weiß, dass sie nicht lügt.
Mirco setzt an und zieht sich eine fette Portion durch die Nase.
„Und? Ist gute Qualität?“ will Firpo wissen. Firpo selbst nimmt keine Drogen, er verkauft sie nur.
„Was weiß ich, gib mir ne Minute!“ antwortet Mirco. Diana lacht.
„Ja, ist doch so. Es wirkt zwar schnell, aber so schnell nun auch wieder nicht...“ kontert Mirco und steck den zusammengerollten Zwanziger zurück in sein Portemonnaie.
Firpo guckt ihn schief an.
„Was ist??“ raunzt Mirco und fühlt, wie sich die Droge langsam bemerkbar macht. „Achso, der Zwanziger is ja jetzt deiner... sorry, hab ich gar nicht drauf geachtet.“
„Schon okay. Willst du jetzt was trinken?“
„Ja, vielleicht. Bier habt ihr nicht hier, oder?“
„Nein, nur Fanta.“
„Okay, dann Fanta.“
Firpo geht in die Küche. Mirco sieht Diana an und fragt „Ihr lebt so gesund und vernünftig. Hab eine schöne Wohnung und ihr seid seit Ewigkeiten ein Paar. Warum verdient ihr euer Geld nur mit so einer Scheiße.?“
„Das ist nicht so einfach, Mirco“ entgegnet Diana. „Es ist für ihn nicht so leicht, Arbeit zu finden. Er hat seit seiner Flucht aus dem Libanon immer noch keine deutschen Papiere und auch mit der Sprache tut er sich sehr schwer, wie du weißt.“
Firpo ist zurück mit einem Glas Fanta. Er und Diana trinken nichts.
„Warum bist du eigentlich damals aus der Libanesischen Republik geflüchtet?“ will Mirco zu Firpo gewandt wissen.
„Als ich noch war in Libanon, ich war bei der Armee“ beginnt Firpo. „Aber nicht als Soldat, wie bei euch Bundeswehr. Ich war höher. Für Landessicherheit.“
„Sowas wie Staatsschutz?“ wirf Mirco ein.
„Ja, genau. Wir haben Verhöre gemacht mit Bürgern die gegen die Regierung waren.“
„Oh, Mann. Dann warst du ja ein richtig hohes Tier! Was ist passiert? Warum hast aufgehört?“
„An einem Tag, wir haben gemacht Verhöre. Wir waren drei Polizisten. Der Angeklagte saß auf Stuhl in Zimmer. Zimmer ohne Fenster. Ohne alles. Verstehst du?“
„Ja.“
„Wir haben gefragt und gefragt – er nicht geantwortet. Meine Kollege haut ihm in Gesicht. Immer noch keine Antwort. Mein anderer Kollege auch haut ihn in Gesicht. Immer noch keine Anwort.“
„Und dann?“ Mirco rollt erneut einen Schein zusammen.
„Dann war ich dran. Aber ich wollte nicht. Ich wollte nicht Gewalt machen, verstehst du?“
„Ja, verstehe ich gut. Sehr gut sogar.“
„Ich wusste nicht, was hat dieser Mann getan. Ich wusste nur, wir müssen zwingen ihn zu sprechen.
Aber ich wollte nicht Gewalt machen. Dann kamen Kollegen und fragen mich „Warum du nicht schlagen diese Mann? Kennst du diese Mann?“ und „Was weißt du über diese Mann?“ Ich nix kannte diese Mann, ich nur nicht wollten schlagen.“
„Und weiter?“ Mirco schnieft.
„Dann saß ICH auf diese Stuhl. Später ich konnte nicht mehr machen meine Arbeit. Ich wurden beobachtet jeden Tag. Dann über alte Kontakte bei Polizei ich habe geschafft nach Deutschland zu kommen.“
„Und jetzt bist du hier und verkauft Drogen“ konstatiert Mirco.
„Ja, es ist nicht leicht zu finden Arbeit in Deutschland. Ich hab viele libanesische Freunde hier, aber alle keine Arbeit.“
Mirco wird einiges klar. Ihm ist schon öfter aufgefallen, dass „Firpo“ wesentlich vorsichtiger vorgeht als alle anderen Leute seines Gewerbes. Er transportiert seine Ware immer im Mund, wenn er zu einem seiner Kunden fährt. Er wechselt häufig die Telefon-Nummer und nennt nie seinen richtigen Namen. Er ist ein echter Profi auf dem Gebiet, das muss man ihm lassen.
Mirco fühlt wie sich langsam die Wirkung der Droge verstärkt. Er braucht jetzt unbedingt eine weitere Nase und ein alkoholisches Getränk. Und einen Plan für den weiteren Abend.
„Entschuldigt mich, ich muss mal kurz telefonieren“ sagt er zu Firpo und Diana und geht ins Nebenzimmer. Er ruf seinen Freund Danny an. Er denkt an das Abendessen bei seiner Mutter, während es tutet.
Danny meldet sich.
„Hi.“
„Was machst du heute Abend?“
„Ich geh mit ein paar Jungs in die Stadt, schließ dich an, wenn du willst, wir starten gegen zehn.“
„Alles klar, ich komm vorbei.“
Mirco verabschiedet sich hastig von Firpo und Diana und steigt ins Auto. Er hasst es Auto zu fahren, wenn er was eingenommen hat. Aber bis zu Dannys Haus sind es nur ein paar Minuten. Er startet den Motor und hört wieder Musik. An der Tankstelle hält er und holt sich zwei weitere Flaschen Bier und einen kleinen Jägermeister. Eine der Flaschen steckt er in die Innentasche seiner Jacke. Den Jägermeister trinkt er sofort. Das brauchte er jetzt, um etwas ruhiger zu werden. Der Stoff von Firpo ist echt einmalige Qualität. Er erreicht das Haus von Tommys Eltern und schellt an. „Daniel ist oben“ sagt seine Mutter, nachdem sie ihm die Tür öffnet. Danny ist in seinem Zimmer und hat sich unter einer Art Schulheft bereits eine Nase Speed zurechtgelegt. Es muss wirklich scheiße sein, wenn man mit Anfang zwanzig noch zuhause bei seinen Eltern wohnt, denkt Mirco. Dann würde er vermutlich auch jeden Tag Drogen nehmen.
„Lass den Scheiss“ sagt er „ich hab was besseres“ und entnimmt eine der Kokstütchen aus seinem Portemonnaie. Er streut zwei Lines und Danny lehnt sich dankbar darüber.
Sobald Danny etwas intus hat, wird er erfahrungs gemäß redselig. Ansonsten ist er eher der schweigsame Typ. Nicht dass Mirco jetzt die Extrovertiertheit in Person wäre, aber an seinen Freund Danny kommt er nicht ran. An normalen Tagen redet er vermutlich nicht mehr als vier oder fünf Sätze schätzt Mirco.
Wenig später landen die beiden in der Innenstadt und treffen auf weitere gemeinsame Freunde und Bekannte. Das „No Escape“ in der City ist bereits die dritte oder vierte Lokalität die an diesem Abend von seiner Truppe besucht wird. Die anderen strömen entweder auf die Tanzfläche oder zur Toilette, um die letzten Speed-Reste zu vernichten. Mirco zieht es an die Bar. Er setzt sich auf einen der Hocker und bestellt sich Wodka-Redbull. Er denkt an seine Mutter und ihren neuen Lebensgefährten. „Lebensabschnittsbegleiter“, wie sie ihn selbst manchmal spöttisch bezeichnet. Er sieht den anderen bei ihren unglücklichen Tanzversuchen zu und ist in Gedanken vertieft. Plötzlich steht sie neben ihm. Der Blickkontakt zwischen den beiden bestand schon einige Zeit, ohne dass es Mirco wirklich bewusst war. Sie fragt nach seinem Namen. Er fragt statt einer Antwort, ob sie etwas trinken wolle. Sein Zustand verschlechtert sich. Er nimmt seine Außenwelt nur noch am Rande war. Bei der nächsten Gelegenheit muss er dringend zur Toilette und nachlegen, denkt er sich. Er bestellt zwei Sambuca mit Kaffeebohnen. Die Kaffeebohnen sind ihr wichtig. Das ist das beste am Sambuca, meint sie. Sie redeten den üblichen Quatsch. Fragen sich gegenseitig nach Alter und Beruf und wenige Minuten später sitzen sie gemeinsam auf dem Hocker und küssten sich. Im Gespräch lässt sie ihn schätzen, wie alt sie wohl sei. Um ihr zu schmeicheln sagt er 24. Sie sieht schon etwas verbraucht aus und er hätte sie mindestens auf 27 geschätzt, zog aber des Flirts wegen drei Jahre ab. Er hatte schon lange keinen Sex mehr und eine feste Freundin erst recht nicht. Sie war 30. Und sie hatte gerade ihr Jura-Studium beendet. Es vergingen Stunden oder Minuten, so genau kann er es im Nachhinein nicht mehr einschätzen. Auf die Frage, was er denn beruflich mache, erzählt er ihr ein paar wenige Sätze über seine Pizzeria in Bochum. Wenig später sitzen sie im Taxi zu ihr nach hause. Sie wohnte nicht weit entfernt von der Disco.
Während der Taxifahrt bemerkt Mirco, dass nicht nur er, sondern auch seine neue Errungenschaft bereits mächtig Schlagseite hat. Umso besser, denkt er sich.
„Wie heißt du eigentlich noch mal? Tut mir leid, ich hab irgendwie deinen Namen vergessen“, fragt er und schämt sich. Sein Namensgedächtnis ist nicht gerade das beste.
„Das ist nicht weiter schlimm, ich habe dir meinen Namen noch gar nicht gesagt.“
In diesem Moment hält das Taxi vor ihrer Wohnung. Mirco zieht einen 10-Euro-Schein aus der Tasche und überreicht ihn dem Fahrer. Der Fahrer nimmt die Banknote entgegen und streicht sie glatt; erst da fällt Mirco auf, dass der Schein noch gerollt war... Der Fahrer lässt sich nichts anmerken. Guter Mann, denkt Mirco.
Oben angekommen stolpern die beiden Arm in Arm in die Wohnung der Frau, dessen Namen Mirco immer noch nicht kennt. Wie kann jemand nur so viele namenlose Freunde haben?
„Entschuldige mich bitte kurz, ich muss mal eben...“ sagt Mirco und stürzt zur Toilette. Er sieht in den Spiegel und sucht hastig nach seinem Portemonnaie. Er streut die letzten Koks-Reste auf die Ablage über dem Waschbecken. Er rollt einen Schein zusammen, will gerade ansetzen, als SIE plötzlich in der Tür steht. Verdammt, warum hatte er die Tür aufgelassen?!
„Ich habe gleich gemerkt, dass du was genommen hast. Ich erkenne sowas immer sofort. Ich verfüge über eine außergewöhnliche Menschenkenntnis“, sagte sie ohne eine Mine zu verziehen.
„Ja... so ist das. Ich würde dir ja was abgeben, aber das ist der letzte Rest.“
„Das macht nichts, ich hab noch was besseres hier“, sagte sie und führte ihn ins Wohnzimmer.
Auf dem Tisch sieht Mirco einen Haufen Alu-Folie, einen Ammoniak-Behälter und einen Löffel. Er weiß längst worum es sich handelt. Er hat ein oder zwei Bekannte, die regelmäßig Heroin oder auch Kokain rauchen. Die Wirkung ist angeblich 10mal so stark, als wenn man es durch die Nase einnimmt. Die Wirkung bei Heroin kann nur noch verstärkt werden, wenn man es spritzt. Mirco laufen kalte Schauer über den Rücken. Er hat schon oft gesehen, wie Freunde von ihm mit diesem Zeug experimentierten. Es hat ihn nicht beeindruckt. Mal ab und zu eine Nase ziehen, dass war für Mirco immer okay. Koks und Speed, die klassischen Partydrogen, denen war Mirco nie abgeneigt. Aber Heroin? Das ist eine andere Liga. Nicht Mircos Liga.
„Du hast das noch nie probiert, stimmt's?“ fragt sie immer noch mit derselben stoischen Ruhe wie einige Augenblicke zuvor.
„Nein....“
„Siehst du, ich sage doch ich verfüge über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das hier ist echt reiner Stoff. Keine Scheiße. Und die Wirkung ist einmalig. Nicht zu vergleichen, mit dem Mist, den du dir ständig durch die Nase ziehst. Und ich sag dir noch was....“
„Was?“
„Der Sex danach ist phänomenal.“

Das genügte. Mirco probierte es und die Nacht wurde wirklich einmalig. Diese Gefühle, die er während des Geschlechtsaktes mit seiner Unbekannten Gastgeberin empfand waren unbeschreiblich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Glücksgefühle solchen Ausmaßes empfand. Bei der Geburt seiner Tochter? Nein, dieses Gefühl war noch stärker. Viel stärker. Er konsumierte mehr und mehr von der Droge und ließ es sich mit der Unbekannten richtig gut gehen. Sie kannte Stellungen, die selbst Mirco maximal aus Porno-Filmen geläufig waren. Je später es wurde, desto mehr ließ Mirco sich gleiten. Er glitt in eine Oase des Wohlwollens des Lustgefühls und ... der Einsamkeit. Er lag alleine auf dem Bett. Die Unbekannte lag zwar neben ihm, dennoch war allein. Allein mit seinen Gedanken und mit sich selbst. Es war jedoch keine bedrückende, sondern eher eine wohltuende Einsamkeit. Ich fühlte sich im Reinen mit sich und der Welt und ... schlief ein.

Am nächsten Morgen klingelte es an der Tür. Mircos Mutter öffnete. Zwei Beamte in Zivil mit bedrückten Minen traten vor.
„Frau Meer?“
„Ja...?“
„Wir haben heute morgen ihren Sohn aufgefunden und ...“
„Gott im Himmel!! Was ist passiert??“ kreischte sie, obwohl sie längst ahnte, was passiert war.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
gewidmet all den unzähligen Kaputten in der Welt

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