Wann immer Kinder etwas behaupten und es versuchen den Erwachsenen zu erklären, werden sie sofort in ihren Fehlern zurechtgewiesen. Niemand hinterfragt ihre Thesen und Behauptungen. Mit einem Schlag werden sie zunichte gemacht. Fast ebenso wie die Träume, die Wünsche, die in uns langsam aus der Erde brechen, wie kleine Pflanzen, und hoffen weiter zu wachsen. Doch sobald etwas am wachsen ist, dass nicht in den denkenden Raum der Großen passt, wird es herausgerissen, wie Unkraut aus einem Beet.
Ich habe es schon oft beobachten können und selber auch erlebt. Damals lebte ich mit meinen Eltern in einem Haus, draußen auf dem Lande. Ich war Einzelkind und hatte auch keine Freunde. Zudem gab es im Dorf in dem ich wohnte, kaum Kinder in der Nachbarschaft. Und die meisten waren alle älter als ich. So kam es, dass ich oft alleine spielen musste, aber das hat mich nie gestört. Ich hatte mir immer die tollsten Sachen einfallen lassen. Draußen im Wald, der direkt hinter unserem Haus lag, ließ ich meiner Fantasie freien Lauf. Ich war schon vieles im Leben gewesen. Ein Indianer auf der Jagd, ein Schatzjäger der nach einer Höhle voller Schätze suchte, ein Pilot der Bruchgelandet ist, ein Astronaut auf einem fremden Planeten …
Es gab so vieles was ich sein wollte. Doch am meisten wollte ich anderen von meinen Abenteuern erzählen.
Aber weil meine Eltern nicht immer die Zeit hatten mir am Tag zuzuhören, fing ich an meine Abenteuer aufzumalen und ihnen somit die Geschichten zu erzählen. Zunächst fanden sie noch alles sehr lustig, was ich ihnen da erzählte, aber als ich in die Schule kam wunderten sie sich darüber, dass meine Erzählungen nie abnahmen. Ich malte und schrieb – als ich in der Lage war es einigermaßen zu können – so viel wie vor meinem Schulbeginn. Ich glaube sogar noch etwas mehr.
»Das alles klingt sehr interessant …«, hatte mein Vater eines Tages zu mir gesagt. »Aber beschäftige dich lieber mit ernsteren Dingen. Der Realität, als mit deiner Fantasie. Denn die brauchst du später nicht, wenn du etwas lernen willst.«
Ich verstand damals nicht genau was er damit meinte, aber weil ich ein guter Junge sein wollte widersprach ich nicht und hörte mit dem Geschichten erzählen auf. Ich widmete mich den ernsteren Dingen im Leben, wie Mathematik, Rechtschreibung und Grammatik, der Wissenschaft und Politik. Denn das seien, der großen Erwachsenen nach, die wichtigeren Dinge im Leben, die man können müsse, als sich Geschichten auszudenken und anderen zu erzählen.
So ließ ich das Geschichten erzählen sein, verstaute all meine Abenteuererzählungen samt den Zeichnungen in einem Karton unter dem Bett und holte ihn nie wieder hervor. Trotzdem brachte ich es nie übers Herz ihn wegzuwerfen.
All die Jahre lernte ich fleißig, erlangte einen Abschluss nach den anderen, bis ich studierte und voll im Berufsleben stand. Ich zog von Zuhause aus und wohnte nun selbst in einem Haus, in einer Vorstadt, mit einem kleinen Garten. Vielleicht hatte ich mich für dieses Haus der Kindheitserinnerungen wegen entschieden, oder weil es mir von allen die günstigste Lage zu meinem Arbeitsplatz hatte – ich wusste es nicht mehr so ganz genau.
Das ganze Wissen das ich mir mit der Zeit angeeignet hatte, führte mich letztendlich dazu, dass ich Professor an einer Universität wurde um das was ich wusste, an andere weiter gab. Ich glaubte alles zu wissen, was für das Leben wichtig wäre. Doch da hatte ich noch nicht die Bekanntschaft mit dem Mädchen gemacht, welches eines Nachmittags in meinem Garten auftauchte.
Es war an einem Samstagnachmittag. Der Frühling war in vollem Gange und die Luft war angenehm warm, mit einem leichten kühlen Wind. Ich saß draußen im Garten, auf der Hollywoodschaukel und korrigierte die Klausuren meiner Schüler.
Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich ganz erstaunt und auch ein wenig erschrocken war, als vor mir ein kleines Mädchen stand und mich anschaute. Es hatte kupferfarbenes Haar, dass ihr wild und zottelig vom Kopf ab stand. Kleine Zweige und Blätter hatten sich darin verfangen und ihr Gesicht war schmutzig vom Dreck der Erde, ebenso wie der Rest von ihr samt den paar Kleidungsstücken die es trug. Schuhe hatte es nicht an. Dementsprechend waren die Füße noch dreckiger, als schon der Rest – fast schon schwarz. Insgesamt machte das Mädchen einen sehr verwilderten Eindruck. Nur seine Augen strahlten eine Wärme, wie an einem Sommertag, aus. Sie waren goldbraun, wie kleine Bernsteinknopfaugen.
»Hast du das Eichhörnchen gesehen?«, fragte es mich.
Ich schüttelte den Kopf. »Welches Eichhörnchen?«, fragte ich zurück. Doch das Mädchen ignorierte meine Frage.
»Schade. Dann ist es mir entwischt«, meinte es bedauernd und sah sich interessiert im Garten um. Dann fiel ihr Blick auf meinen Stapel Klausuren, den ich bereits kontrolliert hatte. »Was ist das?«, fragte es und nahm einige Blätter in die Hand, um sie sich anzusehen.
»Klausuren«, antwortete ich. »Ich korrigiere sie, damit meine Schüler wissen, was sie falsch gemacht haben.« Das Mädchen schaute mich aus großen Augen an.
»Warum?«
»Damit sie die Fehler nicht nochmal machen.«
»Zeigst du ihnen auch was sie richtig gemacht haben?«
Ich schüttelte wieder den Kopf. »Nein, warum? Das sehen sie doch, wenn sie die Klausur zurückbekommen.« Ich wusste nicht ob das Mädchen mich verstanden hatte. Um weiteren Fragen zu entgehen, lenkte ich geschickt auf ein anderes Thema um. »Wer bist du eigentlich?«
»Ich?«, fragte das Mädchen und schaute mich dabei an, als würde ich das nicht sofort erkennen. »Ich bin ein Fuchs«, antwortete es in einem Tonfall, als wäre dies nicht offensichtlich.
Einen Moment lang war ich verdutzt, sowie sprachlos, als auch verwirrt. »Du bist aber ein Mädchen«, sagte ich dann belehrend.
»Nein«, widersprach das Kind. »Ich bin ein Fuchs. Siehst du es denn nicht?«
Ich betrachtete sie von neuem. »Du siehst aus wie ein Mädchen«, sagte ich dann.
»Ich bin aber ein Fuchs«, beteuerte das Mädchen. »Du musst ganz genau hinschauen. Und? Siehst du es?«
Noch einmal schaute ich sie mir an, kniff sogar meine Augen leicht zusammen, aber ich sah nichts an dem Mädchen, dass auf einen Fuchs hindeuten könnte. Rein nach einem Biologiebuch, würde sie jeder als Mensch der weibliche Form ansehen. Bedauernd schüttle ich den Kopf. »Nein, ich sehe es nicht«, gab ich zu und hörte auf sie zu belehren. Kinder und ihre Fantasien. Man musste sie einfach machen lassen und mitspielen.
»Dann schaust du nicht richtig hin. Aber das wundert mich nicht. Die wenigstens Großen und Älteren können das sehen. Aber das macht nichts, jetzt weißt du es ja.« Sie legte die Blätter zurück auf den Stapel und setzte sich neben mich auf die Hollywoodschaukel. »Mit den Augen allein sieht man nicht gut«, sagte es und ließ die Beine baumeln.
»Hast du auch einen Namen?«, fragte ich sie.
»Ich bin ein Fuchs«, sagte das Mädchen.
»Das sagtest du bereits. Aber hast du keinen Namen? So wie Marie, Julia oder Emely …«
»Alle nennen mich Fuchs.«
»Aber das ist doch kein Name.«
»Warum nicht?« Das Mädchen schaute mich aus großen fragenden Augen an. »Warum soll 'Fuchs' kein Name sein?«
Da wusste ich auch nicht mehr weiter. »Weil … weil-«, stammelte ich. »Weil es so einen Namen nicht gibt«, versuchte ich meine Aussage zu rechtfertigen.
»Wer bestimmt das?«, fragte sie.
Ich überlegte erneut, doch diesmal viel mir keine Begründung ein. Wer hatte überhaupt das Recht zu bestimmen was ein Name ist und was nicht? Eigentlich niemand. Jeder konnte selber das bestimmen.
»Niemand«, gab ich zu. »Dann heißt du also Fuchs.«
»Ich heiße nicht nur Fuchs, ich bin auch einer«, erinnerte mich das Mädchen.
»Natürlich. Ein Fuchs namens Fuchs.« Ich stupste ein wenig die Schaukel mit dem Fuß an. »Woher kommst du?«, stellte ich die nächste Frage, die mir auf der Zunge lag.
Aber Fuchs hörte mir schon gar nicht mehr zu, sondern streckte ihre Nase in den leichten Abendwind und hatte ihre Augen geschlossen.
»Der Frühling geht zu Ende.«
»Es ist Mitte April«, sagte ich. »Der Frühling ist gerade in seiner Hochsaison. Ende Mai ist er erst vorbei.« Und wieder belehrte mich das kleine Mädchen eines besseren.
»Der Frühling geht zu Ende. Es riecht schon nach nach Sommer. Die nächsten Tage wird es heißer werden.« Ich versuchte erst gar nicht ihr zu widersprechen und widmete mich wieder meinen Klausuren. Ein paar Minuten arbeitete ich weiter, konnte mich aber nicht so recht konzentrieren, da mir immer wieder Fragen im Kopf herumschwirrten, die ich dem Fuchsmädchen noch stellen wollte.
»Hast du ein Zuhause?«, stellte ich die nächste Frage meinem Gast, doch auch diesmal bekam ich keine Antwort. Aber nicht weil meine Frage wieder ignoriert wurde, sondern weil das Mädchen neben mir auf der Schaukel verschwunden war. Still und leise hatte sie sich aus dem Staub gemacht.
So hatte ich die Begegnung mit Fuchs gemacht.
Den restlichen Abend sann ich darüber nach, ob das, was mir vor wenigen Stunden im Garten passiert war, nur Einbildung gewesen oder wirklich passiert ist.
Ein sonderbares Mädchen war vor mir aufgetaucht und behauptete ein Fuchs zu sein, stellte lauter merkwürdiger Fragen – die für Kinder in ihrem Alter, eigentlich nicht so merkwürdig sein sollten – und verschwand von der einen auf die nächste Minute einfach so.
Es erschien mir fast schon mehr wie ein Traum, als eine sonderbare Begegnung. Ich konnte aber diese nicht einfach als geschehen und vergessen in irgendeine Schublade meines Kopfes stecken, sondern hatte das Bedürfnis ihr, aus einem unerfindlichem Grund, noch einmal beizuwohnen. Es war wie der erste Geschmack einer unbekannten Süßigkeit nach dem Probieren. Wenn man einmal probiert hatte konnte man einem zweiten Mal nicht widerstehen. So kam es das ich am Sonntagnachmittag wieder auf der Hollywoodschaukel in meinem Garten saß und darauf wartete, dass mein kleiner Besuch von gestern noch einmal auftauchen würde.
Doch still herumsitzen konnte ich dann doch nicht und vertrieb mir die Zeit mit dem bewässern meiner Pflanzen im Garten. Zwar regnete es im Frühling immer mal wieder, aber in den letzten Tagen gab es nicht sehr viel Niederschlag und gerade nach dem harten Winter brauchen die Zier- und Nutzpflanzen neben viel Sonnenlicht auch viel Wasser.
Von den Blumen blühten bisher nur diejenigen, die man im Frühling häufig antraf. Den anderen war es bis jetzt noch zu kalt. So waren in meinem Garten allen voran Krokusse, Schneeglöckchen (noch wenige davon), Narzissen und auch einige Tulpen wie bei vielen anderen vorzufinden. Aber auch einige extravagante Arten, wie zum Beispiel Schneeglanz, Hyazinthen, Buschwindröschen oder Duftveilchen. Außerdem war die Auswahl an Farben nicht verachtenswert. Gerade von den Hyazinthen gab es sie fast in allen Farben und es hatte mich viel Zeit gekostet sie alle zusammenzusammeln und unter guten Bedingungen ungefähr gleich schnell wachsen zu lassen. Irgendwie hatte ich einen Narren an Blumen gefressen. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass sie, wie so vieles andere, sie mich an meine Kindheit auf dem Lande erinnerten. Anfangs war es nicht leicht, da ich nicht viel von Blumen verstand, aber mithilfe von einigen Büchern und ein paar guten Tipps von Nachbarn und Freunden, war es mir mit schwerer Arbeit gelungen eine große Vielzahl an Pflanzen in meinem Garten anzupflanzen. Und wenn ich mir das Ergebnis nun ansah, konnte ich mir umso mehr gewiss sein, dass sich die Mühe allemal gelohnt hatte.
»Oh wie schön du es hast«, sagte plötzlich eine kleine Stimme neben mir. »Wie ein buntes Meer. Ich wünschte ich hätte auch so etwas bei mir Zuhause.« Das kleine Mädchen namens Fuchs war still und leise neben mir aufgetaucht und betrachtete mit großen Augen die Blumen.
»Gibt es bei dir Zuhause keine Blumen?«, fragte ich sie, was ich mir aber nicht vorstellen konnte. Es wuchsen immer irgendwo Blumen und mochten sie noch so klein sein. Außer man lebte in einer großen Stadt, in der alles zubetoniert war und nur so vor Abgasen stank. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass das kleine Mädchen so weit weg wohnen würde.
Fuchs reagierte auf meine Frage nicht. Stattdessen erschien ein leuchtendes Funkeln in ihren Augen und sie rief: »Du hast sogar Sternenblumen! Wie schön.« Sie hockte sich vor den gelben Narzissen und betrachtete sie mit einem seligen Lächeln.
»Das sind Narzissen. Aber wir nennen sie auch Osterglocken.« Ich hockte mich neben sie.
»Die sind mit am schönsten. Sie sehen aus wie kleine Sterne die vom Himmel gefallen sind und hier als Blume wieder zum Leben erwachten.« Diese Vorstellung war natürlich viel schöner, als das öde Gerede was alle immer von sich gaben. »Die Blumen müssen dich sehr gern haben«, sagte Fuchs und schaute mich an.
»Warum das denn?«, fragte ich. »Sie wachsen hier, weil es guter Boden ist und ich ihnen zu trinken gebe. Mehr mache ich nicht. Woher willst du da wissen das sie mich gern haben?«
»Weil du kein Eitler bist«, sagte Fuchs. »Du bewunderst die Blumen für ihre Schönheit und nicht deine eigene. Ich kannte mal einen Eitlen, der kümmerte sich nur um sein Aussehen. Aber weil er wollte das seine Schönheit besonders unterstrichen wird, schaffte er sich hunderte Blumen an. Aber Blumen sind auch eitel musst du wissen. Ihnen gefiel das gar nicht, dass der Eitle sie nur haben wollte, um damit seine Schönheit noch besser zur Geltung zu bringen. Also beschlossen sie zu welken und ließen so den Eitlen als schlechten Mensch da stehen, der sich nur für sich selbst interessierte.«
»Das klingt sehr einleuchtend.«
»Nicht wahr.« Fuchs lachte einen kurzen Moment – ein sehr schönes Lachen wie ich fand – doch dann wurde ich Blick etwas betrübt. »Es muss schön sein, ihnen beim wachsen zuzusehen«, sagte sie mit einem Hauch von Schwermut in der Stimme. Sie tat mir leid wie sie die Blumen voller Sehnsucht ansah, als ob sie sich nichts mehr wünschen würde nur einer Blume beim wachse zuzusehen und sie ihr eigen zu nennen. Da reifte in mir eine Idee.
»Wenn du möchtest können wir zusammen ein paar neue Blumen säen. Wenn du regelmäßig vorbeikommst, kannst du ihnen beim wachsen zuschauen«, schlug ich vor. Kaum hatte ich dies gesagt, hellte sich das Gesicht des Mädchens wieder auf.
»Das wäre schön.«
Ich ging ins Haus und kam mit einer Tüte Sonnenblumenkerne zurück. Es war eine der Sorte Blumen, die ich in meinem Garten noch gar nicht angepflanzt hatte. Aber jetzt schien mir ein guter Zeitpunkt dafür zu sein.
Fuchs lief die ganze Zeit gespannt neben mir hin und her, während ich einen geeigneten Platz suchte, um die Samen auszustreuen. Ich entschied mich sie nahe der Hollywoodschaukel zu pflanzen. Im Beet wäre nicht genug Platz und sie könnten durch ihre große Statur, wenn sie ausgewachsen sind, den anderen Blumen das Licht nehmen.
»Hier.« Ich legte Fuchs einen der Samen in die Hand.
»Aber das ist ja keine Blume«, sagte Fuchs ein bisschen enttäuscht.
»Gut erkannt. Das ist der Samen. Wenn man ihn in die Erde gräbt und täglich bewässert, wird daraus nach einiger Zeit eine Blume werden«, erklärte ich.
Fuchs Augen begannen zu leuchten, als sie das hörten. »Dann ist das ja wie Magie.«
Ich lachte. »Ja das könnte man fast meinen.«
»Aber wo sollen wir die Samen vergraben?« Fuchs sah sich um.
»Ich hatte da an diese Stelle hier gedacht.« Ich zeigte auf den Platz neben der Hollywoodschaukel. »Die Blumen haben genug Platz und es kommt genug Sonnenlicht heran.«
Fuchs stimmte mir zu und gemeinsam gruben wir ein paar Löcher in die Erde. Ich zeigte ihr wie tief sie sein sollten und ließ sie dann selber eins graben für ihre eigene Blume. Die Löcher wurden wieder zugeschüttet und zu guter Letzt begossen wir noch die frisch eingepflanzten Samen.
Nun hieß es warten. Eine wirklich strapazierende Tätigkeit – vor allem für ein kleines Mädchen.
Ich räumte alles wieder an seinen Platz weg. Als ich wieder in den Garten kam, saß Fuchs immer noch vor den frisch ausgesäten Samen und konnte nicht eine Sekunde wegblicken (aus Angst vermutlich sie würde verpassen, wie die Pflanzen zu wachsen beginnen). Ich hockte mich neben sie und wollte ihr sagen, dass es eine Weile dauern würde bis sie aufkeimen werden, aber da kam sie mir zuvor.
»Sie schlafen noch«, flüsterte sie. »Was denkst du wann sie aufwachen?«
»Ich weiß nicht«, gab ich ehrlich zu. »Vielleicht in ein paar Tagen.«
Fuchs war in einer Minute meiner Unachtsamkeit verschwunden. Lautlos wie letztes Mal.
Und wieder einmal stellte ich mir die Frage, woher dieses Mädchen eigentlich kam, das sich einen Fuchs nannte und dafür hielt. Sie schien auf jeden Fall kein Leben zu führen, wie andere Kinder in ihrem Alter. Wobei ich hier nicht mal genau sagen konnte, wie alt sie den wirklich wahr. Ich vermutete sie im Alter von sechs bis acht Jahren, aber das war natürlich nur spekuliert.
Eines stand jedoch fest. Sie war ein Kind, das jedem in Erinnerung bleiben würde und wem sie nicht auffiel, der habe keinen Blick für das Leben. Allein ihre Erscheinung war ungewöhnlich und faszinierend zugleich.
Das Wochenende war nun vorbei und ich musste den nächsten Tag zur Uni. Ein Montag wie jeder anderer begann und ich erledigte meine Arbeit wie jeden Tag. Kaum waren meine Stunden vorbei, konnte ich es kaum erwarten nach Hause zu kommen und wieder auf Fuchs zu treffen. Vielleicht wartete sie schon auf mich. Ein bisschen habe ich mich über meine Ungeduld, dass Mädchen wieder zu sehen, gewundert. In all den Jahren hatte ich mich noch nie so gefreut jemanden erneut zu treffen. Versteht mich nicht falsch, mit meinen Kollegen verstand ich mich gut. Aber sie redeten alle nur über die üblichen Sachen, sprachen kaum etwas interessantes an. Wollte man mal eine Thema ansprechen das rein auf Spekulationen beruhte und kaum Fakten beinhaltete, so blockten sie ab oder wichen aus.
Als ich in meinem Haus ankam machte ich mir eine Kleinigkeit zu essen und setzte mich auf die Hollywoodschaukel im Garten. Ich wartete und aß meine beschmierten Brote. Der kühlende Wind hatte abgenommen und die Luft war etwas wärmer als zuvor. Ich musste lächeln. Also hatte sie doch recht gehabt. Der Frühling neigte sich dem Ende zu und der Sommer begann zu erwachen.
Den ganzen Abend saß ich im Garten und wartete. Aber Fuchs tauchte nicht auf.
Ein wenig enttäuscht war ich schon darüber, dass Fuchs nicht gekommen war. Auch wenn sie etwas sonderbar ist, so mochte ich die Gesellschaft des kleinen Mädchens.
Da ich mir sicher war das ihr nur etwas dazwischen gekommen sein musste, wartete ich am nächsten Tag wieder auf sie im Garten, aber da kam sie auch nicht. Ich sagte mir immer wieder, um die Sorgen zu überspielen die ich mir langsam machte, dass sie ganz gewiss wieder kommen würde. Immerhin hatte sie nun eine eigene Blume und der wollte sie doch beim wachsen zusehen.
Aber auch den nächsten Tag kam sie nicht.
Ich kümmerte mich wie gewohnt um die Pflanzen und versuchte mich mit Spekulationen und Fantastereien, weshalb sie nicht kommen könne, zu beruhigen. Schließlich wusste ich so gut wie nichts über sie – das sollte sich vielleicht mal ändern.
Trotzdem hörte ich nicht auf zu warten.
Am nächsten Nachmittag saß ich wieder wie gewohnt auf der Hollywoodschaukel im Garten und wartete darauf, das Fuchs nun endlich erscheinen würde.
Ich vertrieb mir die Zeit bis dahin mit Lesen. Um den Roman, dem ich mich widmete, – nebenbei gesagt ich lese sehr viel – handelte es sich diesmal um eine Abenteuergeschichte einer anderen Welt. Der Prinz eines bedrohten Landes, welches womöglich einen Krieg mit anderen Ländern zu befürchten habe, zieht los, um nach einer Lösung zu suchen diesen Krieg zu verhindern. Auf seiner Reise wird er von einer Hand voll Freunde begleitet, die sich ihm nach und nach anschließen.
Gerade war ich an einer spannenden Stelle angelangt, als ich etwas rascheln hörte. Ich hob meinen Blick und sah vor mir das Fuchsmädchen stehen. Diesmal hatte sie keine Blätter und Zweige im Haar. Nur der Schmutz von unserer ersten Begegnung und vermutlich allen anderen Tagen in ihrem Leben, seit dem letzten Waschtag, klebte weiterhin an ihr. Sie lächelte mich an.
»Hallo«, grüßte sie mich.
»Da bist du ja«, grüßte ich zurück. Aber ehe ich dazu kam sie mit ihrem Fehlen der letzten Tage zu konfrontieren, kam sie mir schon zuvor.
»Was machst du da?«, fragte sie und beugte sich interessiert über mein Buch. »Da stehen lauter Wörter drinnen. Ist das ein Buch zum lesen?«
Ich verstand ihre Frage nicht so recht. »Natürlich ist es ein Buch zu lesen«, antwortete ich ein wenig verwirrt. »Jedes Buch ist doch zum lesen.«
Fuchs schüttelte den Kopf. »Aber nein«, sagte sie. » Ich war einmal bei einem Mann zu Besuch gewesen, der hatte einen grooooooßen Raum voller Bücher gehabt.« Das Mädchen versuchte mit ihrem Armen zu zeigen wie groß ich mir den Raum vorstellen musste. Ich vermutete das sie von einer Bibliothek oder ähnlichem sprach. »Er besaß fast alles Bücher die es auf der Welt gab.« Ich wollte zuerst widersprechen weil ich mir das nicht vorstellen konnte, aber unterbrach nicht und ließ Fuchs weiter erzählen. »Ich lernte das es viele verschiedene Bücher gibt«, fuhr sie fort. »Es gibt Bücher die machen einen nicht fröhlich. Die quälen einen nur. Man versteht die Dinge die darin stehen nicht, aber trotzdem muss man sie lesen. Dann gibt es Bücher die sind nur zum Betrachten. Man darf sie nicht anfassen und schon gar nicht öffnen. Deswegen sind einige von ihnen hinter dicken Wänden aus Glas eingeschlossen, obwohl sie sehr interessant aussehen. Einige Bücher haben auch ganz viele Bilder in sich drinnen. Die erzählen dann von anderen Ländern oder Dingen von denen man noch nichts weiß. Und um sich das alles besser vorstellen zu können, sind große Bilder dabei, damit man auch ja nichts falsch versteht. Aber die Bücher die Geschichten erzählen, sind die, die am meisten Spaß machen. Am tollsten ist es noch wenn Bilder dabei sind, aber das haben die wenigsten. Bücher zum lesen sind die Bücher, die am meisten Spaß machen zu lesen.« Ich hatte Fuchs's Erklärung aufmerksam zugehört und sie fragte mich nun erneut: »Ist das ein Buch zum lesen?«
»Ich finde es bis jetzt ganz in Ordnung«, gestand ich. »Aber richtig beurteilen kann ich es noch nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Fuchs.
»Ich habe es noch nicht zu Ende gelesen. Erst wenn ich fertig bin, kann ich sagen, ob es ein Buch war das mir Spaß gemacht hat und im Ganzen gefällt oder nicht.« Fuchs wackelte mit der Nase.
»Da hast du Recht«, sagte sie dann. »Aber würdest du es noch einmal lesen?«, fragte sie.
»Wenn es mir gefallen hat sicherlich«, antwortete ich ehrlich.
»Das sind dann Bücher die einen richtig Spaß machen«, sagte Fuchs und ihre Augen leuchteten dabei ein kleines bisschen.
»Gewiss. Hast du denn ein Buch das dir richtig Spaß macht?«
»Ich mag keine Bücher lesen«, sagte Fuchs.
»Aber woher willst du dann wissen welche Spaß machen und welche nicht?«, fragte ich ein bisschen perplex.
»Ich lasse mir lieber Geschichten erzählen«, sagte sie, ignorierte meine Frage und setzte sich auf die Hollywoodschaukel. »Kennst du eine schöne Geschichte?«
»Ich kenne einige schöne Geschichten«, sagte ich und dachte an die Anzahl von Büchern die ich schon gelesen hatte.
»Dann erzähl mir eine«, bat mich Fuchs.
»Was für eine möchtest du denn hören?«, fragte ich und legte das Buch beiseite. Fuchs wackelte wieder mit der Nase.
»Eine über die man Lachen muss«, sagte sie. »Mir ist heute nach einer Geschichte über die man Lachen muss. Erzähl mir von den Minimeos. Die sind ein lustiges Volk. Über die muss man immer lachen.«
Ich runzelte die Stirn und schüttelte dann bedauernd den Kopf. »Von so einem Volk habe ich noch nie gehört.«
»Nein?« Fuchs schien darüber ein bisschen enttäuscht. »Dann vielleicht von dem Mann der dachte das die Zeit zu schnell vergehen würde«, sagte Fuchs und hoffte das ich zumindest diese Geschichte kennen würde.
Ich schüttelte abermals den Kopf. Das Mädchen schien Dinge gesehen zu haben oder zu kennen, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. Aber ich war mir sicher, dass ich sie nie zu Gesicht bekommen werde. Schließlich war doch alles erfunden, was Fuchs mir da erzählte. Oder?
»Schade«, meinte Fuchs ein bisschen traurig. »Dann kannst du mir keine Geschichten erzählen.«
»Ja sieht so aus.«
Fuchs ließ ein wehmütiges Seufzen von sich und ich merkte wie ich langsam Schuldgefühle bekam. Natürlich konnte ich nichts dafür, dass ich nicht all die tollen Sachen kannte, von denen Fuchs erzählte. Trotzdem wollte ich das sonderbare Mädchen nicht so niedergeschlagen und enttäuscht sehen. Fröhlich gefiel sie mir viel besser.
Da kam mir einen Idee.
»Also ich«, sagte ich nach einer Weile. »Ich mag es auch wenn man mir Geschichten erzählt.« Fuchs's Nase zuckte kurz als ich diese Aussage machte und sie schaute mich erwartungsvoll an. »Würdest du mir vielleicht eine erzählen?«
Und da war es wieder. Das Leuchten in ihren Augen. Es spiegelte ihre Freude wieder und passte wunderbar zu ihrem Lächeln. Eifrig nickte Fuchs mit dem Kopf.
Doch dann wich ihr Lächeln aus dem Gesicht, als ob ihr plötzlich etwas eingefallen wäre. Sie wirkte ein bisschen traurig und enttäuscht.
»Was hast du kleines Mädchen?«, fragte ich sie und war schon gewillt sie zu trösten – falls ich sie überhaupt trösten konnte. Ich glaube nämlich nicht das ich sonderlich gut darin bin.
»Heute kann ich dir leider keine Geschichte erzählen«, gestand sie mir und rutschte von der Hollywoodschaukel. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Und wenn ich zu spät komme, dann kann ich das nicht mehr machen.«
»Dann beeil dich lieber schnell, sonst schaffst du es heute nicht mehr«, sagte ich ihr mit einem Lächeln. Zwar konnte ich nur darüber mutmaßen, was Fuchs denn noch vorhaben könnte, aber bei ihrem Charakter war das nicht so einfach etwas plausibles zu finden.
»Dann erzähl ich dir das nächste Mal eine Geschichte«, versprach mir Fuchs.
»Ich freu mich schon drauf.«
Fuchs verabschiedete sich von mir und nun konnte ich auch endlich sehen, wie sie immer leise und fast ungesehen in meinen Garten kam. Sie schob eine lose Zaunlatte zur Seite und schlüpfte flink hindurch. Bei ihrem kleinen zierlichen Körper auch nicht sonderlich schwer. Hierbei muss ich noch erwähnen, dass mein Zaun aus breiten Brettern bestand, damit man nicht so einfach hindurch sehen konnte. Aber auch das Tiere nicht durch die Lücken schlüpfen und dann mein Beet verwüsten konnten. Glücklicherweise zählte Fuchs nicht zu dieser Sorte Tiere.
Bis zum nächsten Tag fragte ich mich immer wieder, ob ich durch Fuchs Geschichten vielleicht erfahren könnte, von woher sie eigentlich kam und warum sie sich für einen Fuchs hielt. Aber ein plausibler Grund fiel mir nicht ein und eine Hypothese konnte ich auch nicht aufstellen und so wartete ich ungeduldig auf den Nachmittag des nächsten Tages. Wie immer saß ich auf der Hollywoodschaukel und wartete bis Fuchs durch die Lücke im Zaun schlüpfte.
Ich versuchte mir die Zeit mit dem erstellen einer Einkaufsliste zu vertreiben, doch ertappte ich mich immer wieder dabei, wie mein Blick ununterbrochen zum Zaun huschte, voller Sehnsucht endlich die roten Haare zu erblicken. Aber mit Ungeduld konnte ich nichts herbeizwingen und schon gar nicht ein Mädchen, dass wie ein wildes Tier wirkte und hieß.
Ich hatte schon die Hälfte meiner Liste fertig, als sich ein Schatten über mich erhob. Rasch blickte ich auf und sah Fuchs vor mir stehen. Still und leise – wie immer, dachte ich mir.
»Ich habe schon auf dich gewartet«, sagte ich und legte meine Liste, samt Stift beiseite. Ich hoffte nun endlich etwas zu hören, doch meine Geduld wurde noch eine Weile auf die Probe gestellt. Fuchs setzte sich keineswegs zu mir und begann aus freien Stücken zu erzählen, sondern nahm sich den Zettel mit meinen noch zu erledigen Einkäufen.
»Was ist das?«, fragte sie interessiert.
»Das ist eine Einkaufsliste.« Ein Stirnrunzeln seitens Fuchs. »Ich schreibe mir die Dinge auf, die ich benötige und mir kaufen muss, damit ich es nicht vergesse«, erklärte ich schnell und hoffte das wir das erledigt hätten, damit wir endlich zu dem Interessanten kommen könnten. Nämlich den Geschichten von Fuchs.
Aber wie so oft, ließ sich das Mädchen nicht mit einfachen Erklärungen abschütteln. Sie wollte ihre Neugierde befriedigen. Wenn sie etwas wissen wollte, dann musste das sofort sein und nicht auf später vertröstet werden.
»Wo bekommst du diese ganzen Dinge her, wenn du sie aufgeschrieben hast?«
»In einem Supermarkt.« Es wunderte mich ein bisschen, dass Fuchs das nicht kannte. So abgeschieden von der Welt konnte sie doch nicht sein. Oder doch? Aber auch ich irrte mich anscheinend.
»Was ist ein … Supermarkt? Das hört sich nach Spaß an«, sagte sie und ihre Augen leuchteten gespannt.
»Es kann mitunter Spaß sein. Man bekommt dort alles was man will«, sagte ich und Fuchs wurde immer interessierter.
»Wirklich alles?«, fragte sie. »Auch leckere Früchte, die es hier sonst gar nicht gibt und diese süßen Sachen, die die meisten Kinder immer gerne Essen?«
»Natürlich. Die Auswahl ist sehr groß. Es gibt dort Essen und Trinken in den verschiedensten Sorten, Varianten und Herkünften.« Ich hatte dem Fuchsmädchen anscheinend zu viel erzählt, denn sie starrte mich nun aus großen Augen an, die nur ein Kind zustande brachte, wenn es etwas unbedingt haben wollte.
»Gehen wir dahin?« Ihre Augen glichen den eines Welpen – schwer zu widerstehen. »Bitteeeee.«
Wie hätte man da auch »Nein« sagen können.
»Na schön«, willigte ich ein. »Dann kann ich meine Einkäufe schon heute erledigen«, sah ich es positiv. Ich holte schnell meinen Autoschlüssel und etwas Geld und ging mit Fuchs zu meinem Auto, das vor dem Haus am Bordstein stand.
»Was ist das für ein großes Metallding?«, fragte Fuchs als wir vor meinem Wagen standen. »Das habe ich schon oft gesehen. Die Menschen lassen sich davon durch die Gegend tragen, wie bei einem Pferd – allerdings sind die von den Menschen aus Metall. Ist das auch so ein Metallpferd?« Sie lief einmal um das Auto rundherum und betrachtete es von allen Seiten und aus jeder Perspektive. Ich musste bei Fuchs Ansichten ein bisschen lachen. Das klang alles sehr lustig. Ich mochte ihre Sichtweise sehr. Sie eröffnete einem immer etwas vollkommen neues.
»Wir nennen das Auto. Es ist eine Maschine mit einem Motor. Mit dem Lenkrad können wir es steuern und überall hinbringen wohin wir wollen.« Ich öffnete die Tür und setzte Fuchs auf den Beifahrersitz.
»Toll. Dann läuft es von ganz alleine? So wie ein Pferd?«
»So ähnlich wie ein Pferd, ja. Aber wenn kein Mensch in dem Auto säße, würde es nicht fahren. Der Mensch bringt das Auto zum fahren.« Ich schnallte sie an.
»Wozu ist dieses breite Seil?«
»Damit dir nichts passieren kann.« Ihre Augen weiteten sich erschrocken.
»Was?! Das Metallpferd ist gefährlich?« Sie zerrte an ihrem Gurt, konnte ihn aber natürlich nicht von alleine öffnen. »Dann möchte ich nicht mit ihm reiten. Ich soll immer vorsichtig sein.«
»Und wenn ich das Metallpferd lenke?«, fragte ich. »Ich verspreche auch ganz vorsichtig zu sein und wenn es dir zu schnell wird, fahren wir langsamer.« Fuchs überlegte kurz, aber dann nickte sie schließlich. Ich stieg auf der anderen Seite ein und startete den Motor. Langsam rollte ich auf die Straße und fuhr die ersten hundert Meter langsam und beschleunigte immer etwas, wenn Fuchs das nicht zu stören schien. Aber sie klebte ohnehin fasst die ganze Fahrt über an der Scheibe und schaute nach draußen. Es faszinierte sie ungeheuer, wie schnell die Außenwelt an einem vorbeizog und die weißen Markierungen auf der Straße fast zu einer Linie verschmolzen.
Immer wenn ich einen Blick zu ihr rüber warf, musste ich schmunzeln. So eine Faszination hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Als wir auf den Parkplatz fuhren, wurde Fuchs ganz aufgeregt.
»Da stehen ja noch mehr Metallpferde!«, sagte sie und schaute sich jedes an, an dem wir vorbeifuhren. Ich parkte in eine freie Lücke und schnallte Fuchs und mich ab.
Als wir über den Parkplatz zum Supermarkt gingen – ich ging, Fuchs hüpfte wie ein Flummi neben mir her – kamen wir noch an den Einkaufswagen vorbei, wovon ich einen mitnahm.
»Wozu brauchst du den rollenden Kasten?«, fragte Fuchs stellte sich am anderen Ende drauf, um sich fahren zu lassen.
»Damit ich meine Einkäufe nicht schleppen muss«, erklärte ich. »So geht es viel einfacher.«
»Das ist klug«, bemerkte Fuchs.
Das indirekte Lob freute mich und wollte noch einen oben drauf setzen. »Und wenn du nicht mehr laufen willst, dann kannst du dich auch rein setzen«, bot ich ihr an. »Ich schiebe dich dann.«
Fuchs schaute mich begeistert an. »Au ja! Das machen wir.«
Ich musste ein bisschen lächeln. Mit dem kleinen Mädchen schien es nie mehr langweilig zu werden.
Fuchs war ganz aufgeregt und hibbelig, als wir durch die Schiebetür in den großen Supermarkt hineinfuhren. Und ich war es auch. Ich war so gespannt darauf, wie meine kleine Freundin auf die verschiedenen Dinge in den großen Hallen voller Überraschungen wohl reagieren würde. Es war wie ein kleines Abenteuer.
Kaum hatten wir die automatischen Schranken passiert, sprang Fuchs vom Wagen runter und lief los. Ich hatte Mühe ihr zu folgen. Geschickt manövrierte ich meinen Wagen durch die ganzen anderen Menschen im Supermarkt und holte das Mädchen bei der Gemüse- und Obstabteilung ein.
»Fuchs, du darfst nicht einfach so wegrennen«, ermahnte ich sie.
»Warum nicht?«, fragte Fuchs, ganz wie es ihre Art war.
»Wenn du wegläufst und ich dich nicht mehr sehe, dann gehst du verloren. Wer soll dich denn dann wieder nach Hause bringen?«
»Aber du würdest nicht ohne mich fahren«, sagte Fuchs voller Überzeugung und hopste davon, um sich das Gemüse anzusehen. Ich schüttelte lachend den Kopf und ging ihr hinterher.
»Das sieht alles so anders hier aus«, meinte Fuchs und schnupperte an den verschiedenen Gemüsesorten. »Sie riechen auch ganz anders.«
»So?« Ich nahm mir eine Tomate und roch daran. Wie immer. »Nach was riechen sie denn?«, fragte ich.
»Nicht wie immer«, sagte Fuchs. »Das Gemüse was ich immer sehe und esse riecht ganz anders. Mehr nach … Erde, Sonne und frischer Luft.« Ich runzelte die Stirn über ihre Worte. Bestimmt hatte sie noch nie Gemüse aus dem Supermarkt gekauft, deswegen kam es ihr auch so anders vor. »Und was ist das?!«, rief sie ganz aufgeregt und zeigte auf einen Brokkoli. Sogleich nahm sie einen aus der Kiste, um ihn näher zu betrachten. »Das sieht aus wie ein kleiner grüner Baum«, stellte sie fest. Plötzlich wurde ihr Gesicht ganz traurig. »Warum habt ihr ihn aus der Erde gerupft? Er hätte noch groß und stark werden können! So etwas darf man nicht machen!« Fuchs wurde ganz aufgebracht und ihre Stimme lauter. Ich wollte sie beruhigen und ihr erklären, dass das keine Bäume seien, doch da fing sie schon hemmungslos zu weinen an. »Und dann auch noch so viele von ihnen!«, heulte sie.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Eine Frau war aufgetaucht. Sie trug Arbeitskleidung und war demnach in diesem Supermarkt eine Verkäuferin.
Ich versuchte zu erklären was los sei. »Nein es ist-«
»Sie haben die Baby-Bäume umgebracht!«, unterbrach mich Fuchs und zeigte auf die Kiste Brokkoli. Die Frau folgte mit den Augen Fuchs Fingerzeig und versuchte zu verstehen, was sie so aufregte. Sie begriff schnell, ging in die Hocke, um mit dem Mädchen auf einer Augenhöhe zu sein, und lächelte sie verständnisvoll an.
»Weißt du, das sind ganz besondere Baby-Bäume«, sagte sie und Fuchs hörte auf zu weinen. »Diese werden nicht größer und wenn man sie nicht erntet gehen sie ein und haben keinen Nutzen mehr.«
»Dann sind das keine Baby-Bäume?«, fragte sie verwirrt und wischte sich die Tränen weg.
»Nein, die sind schon ausgewachsen«, versicherte ihr die Frau.
»Und was macht man mit ihnen, wenn sie ausgewachsen sind?«, fragte Fuchs wissbegierig.
»Man holt sie aus der Erde und nimmt sie mit. Dann werden sie gewaschen und zum Essen verwendet. Das sind nämlich besondere Bäume die man essen kann.«
»Und es wachsen ganz sicher wieder neue nach?«, versicherte sich Fuchs.
»Diese besonderen Bäume wachsen immer in riesengroßen Mengen. Ich glaube nicht, das sie bald nicht mehr da sein werden. Es wird sie noch lange geben und wir passen auf, dass nicht zu viele von ihnen zum essen genommen werden.« Fuchs Augen begannen zu leuchten.
»Dann bist du eine Art Baumwächterin!«, rief sie begeistert aus.
»Ja so könnte man das bezeichnen«, lachte die Verkäuferin.
»Dann Entschuldigung für meine Dummheit. Jetzt weiß ich es besser.« Fuchs verbeugte sich vor der Frau, dann trat sie zu den Brokkolis. »Ihr werdet den Menschen bestimmt sehr gut schmecken!«, sagte sie und zog weiter, um sich die anderen Gemüsearten anzusehen.
»Ein lustiges Kind«, sagte die Frau und erhob sich lachend.
»Ja«, stimmte ich zu. »Und sehr temperamentvoll.«
»Ist sie ihr Kind?«
»Nein. Nur eine kleine Freundin.« Ich verabschiedete mich und schob den Wagen weiter. Fuchs war inzwischen bei den Milch- und Eierprodukten angekommen.
»Das kenne ich«, sagte sie aufgeregt. »Das sind Eier von Hühnern. Manchmal schlüpfen daraus Küken und manchmal ist da auch nur so eine Wassermaße mit einem gelben Ball drin.« Ich stimmte ihr zu und erwähnte erst gar nicht, das aus diesen Eiern vielleicht auch Küken hätten werden können. Dann würde sie vermutlich einen noch größeren Aufstand machen.
Wir gingen weiter und in jeder Abteilung fragte Fuchs neugierig was dies und das sei. Sie wollte alles wissen. Ab und zu packte ich einige Sachen mit in den Wagen, die nur für Fuchs bestimmt waren. Ich wollte ihr eine kleine Freude machen, aber sagte ihr noch nichts.
Bei den Süßigkeiten bekam Fuchs besonders große Augen. Sie fand die bunte Vielfalt überwältigend und als ich ihr anbot sich eins mitzunehmen, hatte sie schon ein dutzend verschiedener Sachen im Arm.
An der Kasse wurde es wieder sehr spannend für das Mädchen. Offenbar hatte sie noch nie ein Fließband gesehen oder dergleichen. Ebenso wenig eine Kasse und den elektronischen Barcode Scanner.
»Warum piept es immer wenn die Frau etwas von dem selbst laufenden Band nimmt und auf die andere Seite zieht?«
»Damit kann man herausfinden wie viel das Produkt kostet. Ein Computer rechnet alles zusammen und zeigt dann an, wie viel man am Ende bezahlen muss«, versuchte ich zu erklären.
Als der Preis genannt wurde den ich zu bezahlen hatte, schaute Fuchs interessiert dabei zu wie ich das Geld hingab und welches zurück bekam. Auf dem Weg zum Auto fragte sie: »War es teuer gewesen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich konnte es mir leisten«, sagte ich.
Fuchs schwieg.
»Wie bekommt man eigentlich Geld?«, fragte sie dann, als wir am Auto angekommen waren und alles in den Kofferraum packten.
»Man geht arbeiten und verdient es sich. Warum fragst du?«
»Also muss man, wenn man Hunger hat, erst arbeiten gehen, damit man dann einkaufen gehen kann, um es zu bekommen?« Ich nickte.
»Wenn vorher noch kein Geld hat, muss man es so machen.«
»Wie viel muss man arbeiten, damit man so viel Geld bekommt, um sich essen zu kaufen?«
»Ungefähr einen Monat«, sagte ich. »30 Tage. Das ist meist so üblich, wenn man in einer Firma fest angestellt ist.«
»Dann ist man doch schon längst verhungert!«, rief Fuchs entsetzt. »Musstest du schon mal so lange warten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann hast du aber Glück gehabt.«
Auf der Rückfahrt hörte ich Fuchs immer wieder vor sich hin murmeln: »Die armen Menschen. Müssen einen Monat lang warten und arbeiten, bis sie etwas zu essen bekommen.«
Ein leichtes Lüftchen wehte. Ich saß, wie nun jeden Nachmittag, auf der Hollywoodschaukel und tat nichts. Ich saß einfach da, ließ mich von der Sonne bescheinen und wartete darauf, dass vielleicht etwas passierte oder jemand vor mir auftauchte.
Es musste schon über eine halbe Stunde vergangen sein und ich glaubte kurz eingedöst zu sein, denn als ich aufwachte, saß neben mir Fuchs. Sie hatte ebenfalls die Augen geschlossen. Ob sie schlief oder wach war, konnte ich nicht beurteilen.
In den Bäumen über uns sangen die Vögel und einige setzte sich auch in meinen Garten nieder, um nach essbarem zu suchen. Ich überlegte ob ich mir vielleicht eine Vogeltränke anschaffen sollte, dann könnte Fuchs die Vögel aus der Nähe betrachten. Außerdem würde es gut aussehen und dem Garten etwas Leben verschaffen neben den Pflanzen. Ich vermerkte mir die Idee im Hinterkopf.
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich wie meine kleine Freundin die Nase in den Wind streckte und schnupperte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Morgen wird es regnen«, sagte sie mit geschlossen Augen und ich schaute sie verwundert von der Seite an. Aber nur kurz, dann lächelte ich ebenfalls. An so etwas hatte ich mich schon gewöhnt. Es mag zwar wunderlich sein, was Fuchs von sich gibt, aber für mich schon normal. Irgendwie ist es komisch. Ich weiß rein gar nichts über das Mädchen und trotzdem vertraue ich ihr und auf das was sie sagte. Andere würden mich für verrückt halten.
»Kindern soll man nicht trauen. Sie erzählen nur Unsinn und haben Flausen im Kopf. Ihre Fantasie geht einfach immer mit ihnen durch.« Solche und ähnliche Aussage habe ich immer oft zu hören bekommen. Als Kind und Erwachsener. Es hat sich nie geändert.
»Was wollen wir heute machen?«, fragte ich nach einer Weile.
»Nichts«, antwortete Fuchs nach einer Weile. »Heute machen wir einfach mal nichts. Es gibt nicht viele Leute die das können. Ich war mal bei einem Mann der konnte nie still sitzen. Immer musste er etwas tun, egal wie unsinnig es auch war. Etwas tun kann jeder, aber Nichts tun gehört zu einer ganz besonderen Sache, die nicht viele können.« Ich musste schmunzeln. Wie recht sie doch hat.
Ich schloss wieder die Augen und lehnte mich zurück. Für wenige Sekunden musste ich daran denken, dass ich eigentlich mich noch auf das Seminar Morgen vorbereiten müsse, aber dann wimmelte ich den Gedanken wieder ab. Das hatte Zeit.
Heute wollte ich nichts tun und einfach nur Fuchs Nähe genießen.
Nach einem typischen Arbeitstag, kehrte ich wie immer mit dem Auto zurück und schaute in den Briefkasten, bevor ich ins Haus ging. Normalerweise erwartete mich im Briefkasten immer nichts anderes als Werbung oder Rechnungen. Nichts Spektakuläres also. Deswegen war ich umso überraschter, als ich eine Einladung darin fand.
Meine Cousine feierte ihren 30. Geburtstag und wollte dies mit einigen Verwandten und Freunden feiern. Es sprach eigentlich nichts dagegen hinzugehen. Ich mochte meine Cousine und gegen Geburtstage hatte ich auch keine Abneigung. Und trotzdem verspürte ich nicht wirklich die Lust hinzugehen. Vielleicht lag das daran, dass mir meine Nachmittage mit Fuchs inzwischen viel schöner und wichtiger für mich waren, als andere Sachen. Ich ging immer seltener aus dem Haus oder meinem Garten, außer ich musste etwas wirklich Wichtiges erledigen.
Ich brachte meine Tasche ins Haus und trat durch die Glastür auf die Veranda heraus. Die Einladung hatte ich noch immer in der Hand und starrte sie nachdenklich an. Es stand auch dabei, dass ich mich bitte melden soll, egal ob Zu- oder Absage. Ich war so mit meiner Entscheidung vertieft, dass ich mich wie automatisch auf die Hollywoodschaukel setzte und weiter vor mich hinstarrte.
»Was hast du da?«, fragte eine Stimme und plötzlich sprang etwas auf meinen Schoß. Ich erschrak so sehr, dass ich aufschrie und meine Beine vom Boden abstieß, sodass die Schaukel sich in Bewegung setzte.
»Fuchs!«, stieß ich erleichtert aber auch überrascht aus. »Ich habe dich gar nicht gesehen«, sagte ich ehrlich.
»Weil du auch sehr in Gedanken warst. Ich war die ganze Zeit schon da gewesen und du hast mich trotzdem nicht bemerkt. Aber das ist nicht schlimm, denn ich bin ja auch eine Meisterin der Tarnung und des Anschleichens. Alle Füchse sind das.« Sie sprang neben mich auf die Schaukel und setzte sich hin. »Was hast du da?«, fragte sie erneut.
Mein vor Schreck rasendes Herz hatte sich wieder beruhigt und nun musste ich doch Schmunzeln. Es ist Jahre her, seit ich das letzte Mal so erschreckt worden bin. »Das ist eine Einladung.« Ich zeigte ihr das Stück Papier.
»Einladung?« Fuchs legte den Kopf schief und blinzelte. Sie schnupperte am Papier. »Es riecht nicht nach etwas essbarem.«
Ich schüttelte lachend den Kopf. »Nein ist sie auch nicht. Eine Einladung meint, dass eine Person eine andere Person zu sich nach Hause einlädt, um mit ihm zu feiern.« Fuchs Augen wurden bei meiner Erklärung ganz groß.
»Dann … ist das so etwas wie eine Party?!« Fuchs war ganz aufgeregt. »Davon habe ich schon einmal gehört. Da gibt es ganz leckere Dinge zum Essen und die bunten Bälle, die in der Luft schweben. Und Kinder lachen immer ganz viel, wenn sie eine Party feiern.«
»Ja das stimmt. Das ist dann eine Party für Kinder. Aber es gibt auch viele verschiedene Partys.«
»Auch für die großen Erwachsenen?«
»Ja. Und meine Cousine lädt mich zu einer ein.«
»Hast du ein Glück. Ich hatte noch nie eine Einladung«, sagte Fuchs und klang schon ein bisschen neidisch. »Du gehst doch hin.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte ich ehrlich.
»Aber warum denn nicht?«, rief Fuchs und sprang auf. »Deine ... Cousiebe wird sich bestimmt freuen wenn du kommst.« Ich musste ein bisschen lachen. Fuchs konnte einige Wörter nicht so gut aussprechen und das hört sich auch immer dementsprechend lustig an. Doch manchmal verblüfft sie einen auch und holt die tollsten Wörter aus ihrem Wortschatz. »Und du kannst viele süße Sachen essen! So viel wie du willst«, wies sie mich noch darauf hin.
Da war etwas Wahres dran. Ich dachte kurz nach.
»Vielleicht gehe ich doch hin«, verkündete ich und Fuchs nickte eifrig.
»Genau und wenn du hingehst,«, sagte sie, »dann vergiss nicht mir ein paar süße Sachen mitzubringen.«
Meine Cousine freute sich über meine positive Antwort – was anderes hätte ich auch nicht erwartet. Sie fragte mich auch, ob ich jemanden mitbringen möchte. Ich überlegte eine Weile. Unentschlossen, ob ich ja oder nein sagen soll, sagte ich ihr, dass ich später nochmal anrufen würde deswegen.
Nachdenklich ging ich in den Garten. Ich wusste nicht ob eine Party für Erwachsene etwas für Fuchs war und ob sie überhaupt Lust hatte mitzukommen. Schließlich kennt sie niemanden der Leute außer mich. Und nicht mal ich kenne sie alle. »Über was denkst du nach?«, fragte Fuchs als ich mich wieder auf die Bank setzte. »Du gehst doch zur Party?«Ich nickte. »Meine Cousine hat gesagt, dass ich noch jemanden mitbringen möchte, wenn ich mag.« Ich schaute Fuchs an. »Willst du mitkommen?« Fuchs Augen wurden riesengroß, als ich ihr das sagte. Doch dann schüttelte sie ein wenig traurig den Kopf. »Hast du keine Lust?«, fragte ich sie.
»Doch«, sagte sie.
»Dann … warum?«
»Manchmal ist es besser wenn man nicht alles zusammen macht. Und das ist auch gut so. Ich kannte mal zwei Leute, die haben ständig alles zusammen gemacht. Egal was. Doch dann begannen sie den anderen als nervend zu empfinden und stritten sich immer öfters.«
»Und warum haben die zwei Leute sich nicht mal getrennt?«
»Weil sie nicht konnten«, sagte Fuchs. »Sie klebten zusammen.«
Für einen Moment war ich sprachlos. Doch dann verstand ich was sie meinte. »Ach so, du meinst es waren siamesische Zwillinge.« Doch Fuchs schüttelte den Kopf.
»Nein waren sie nicht. Sie sahen ganz unterschiedlich aus und sie klebten zusammen.« Darauf wusste ich auch keine Antwort mehr. Ich hatte noch nie von zwei Menschen gehört, die aneinander klebten. »Abstand kann manchmal ganz gut sein, auch wenn man das erst nicht so empfindet.«
Ich sagte nichts. Blieb ruhig und dachte über das nach was Fuchs gerade eben gesagt hatte. Wie in den meisten Fällen, hatte das Mädchen mich mit ihrer überraschenden Reife und Weisheit, mal wieder vollkommen aus dem Konzept gebracht.
»Du hast Recht«, sagte ich. »Aber du wirst es mir doch bestimmt nicht übel nehmen wenn ich einige Leckereien mitbringe. Dann können wir auch eine Art Party feiern. Nur wir zwei.« Fuchs Augen wurden groß und ich merkte wie ihr das Wasser im Munde zusammenlief.
»Und ich darf alles aufessen?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»So viel du schaffst.«
»Das wird toll«, rief sie aus und grinste breit. Plötzlich wurde sie wieder still und wackelte mit der Nase. Was es mit dem Phänomen »Nasewackeln« auf sich hat, wusste ich mittlerweile, oder ich glaubte es zu wissen. Immer wenn Fuchs über etwas nachdachte, wackelte sie dabei mit der Nase. Ich bin mir nicht sicher ob das stimmt, aber ich vermute es stark. Auf einmal fiel mir auch etwas ein. Etwas das ich nicht von Fuchs wusste und was mich brennend interessierte.
»Wann hast du Geburtstag?« Fuchs starrte mich ahnungslos an.
»Gebur…?«, wiederholte sie langsam mit einem fragenden Gesichtsausdruck.
»Geburtstag«, sagte ich erneut und lachte leise. Sie hatte anscheinend wirklich keine Ahnung was man darunter versteht. »Das ist, wenn man den Tag der Geburt eines Menschen feiert. An diesem Tag wird er immer ein Jahr älter. So können wir wissen, wann der Mensch geboren wurde und wie lange er schon auf der Erde lebt.« Fuchs bekam Augen so groß wie Spiegeleier und sie hörte mir interessiert zu. Jedes Wort ich sagte, so schien es mir, sog sie in sich auf wie Schwamm Wasser.
»Und das feiert man mit einer Party?«, fragte sie fasziniert. Ich nickte.
»Genau. Deinen Geburtstag werden wir natürlich auch feiern. Wann hast du denn Geburtstag?«
Fuchs wackelte erneut mit der Nase und starrte vor sich her, die Augenbrauen zusammengezogen und den Mund grüblerisch verzogen.
»Es war warm«, sagte sie dann in einem Ton voll Erinnerungen. »Aber auch nass. Es roch nach Gras und frischer Erde.«
Eigentlich bin ich kein Fan von großen Geburtstagsfeiern. Bin ich nie gewesen.
Vor allem nicht, wenn sie groß und verschwenderisch gefeiert werden. Meiner Meinung nach reichte schon eine kleine Feier. Denn man feiert doch jedes Jahr seinen Geburtstag. Was sollte dann einer mit einer Null oder Fünf hinten an der ersten Ziffer dran, so besonders sein? Es ist nur ein weiteres Jahr im stetig fortschreitenden Leben eines Menschen vergangen. Er wird älter und reift an Lebenserfahrung und Weisheit. Statt nach vorne zu schauen, wird an diesem Tag nur in die Vergangenheit gesehen.
Der Tag der Geburt des Geburtstagskindes.
Alle sagen einem wie froh sie doch sind, diesen Menschen zu kennen und das er geboren ist. Aber warum hebt man sich diese Worte nur zu diesem Tag auf? Warum sagt man sie nicht immer im Jahr?
Inzwischen ist es doch zu einer Floskel geworden. Genau wie mit den Wünschen.
»Ich wünsche dir alles Gute, viel Glück und Gesundheit ... und so weiter.«
Uns ist schon gar nicht mehr bewusst, was wir eigentlich sagen. Es ist wie ein vorgefertigtes Skript, welches wir zum passenden Zeitpunkt aufsagen – wie auswendig gelernt.
Aber kann man so etwas wie Glück, Gesundheit und gute Dinge im Leben wünschen? Trotz der ausgesprochenen Wünsche, kann das Geburtstagskind trotzdem die Woche darauf krank, in einen Unfall verwickelt werden, den Job verlieren oder Liebeskummer haben.
Ich weiß nie was ich der Hauptperson des Tages sagen soll, wenn es ans gratulieren geht. Meist versuche ich es zu vermeiden. Doch auf der Feier der eigenen Cousine, kommt man meist nicht drum herum ihr persönlich die Hand zu schütteln.
Die Feier war mittelgroß und es waren an die 30 bis 40 Leute gekommen. Menschen mit Gläsern, deren Inhalt ganz bestimmt Alkoholisch war, liefen durch den Garten und das Haus (der Veranstaltungsort der Feier) und waren alle gut drauf. Die Dekoration war bunt und verschwenderisch – fast schon zu viel. Mitten drinnen in dem Getümmel stand meine Cousine. Sie hatte ein hübsches Kleid an und ein zufriedenes Grinsen im Gesicht.
Kaum hatte sie mich gesehen, kam sie mir entgegen und umarmte mich. Sie freute sich über mein Kommen und ich bedankte mich für die Einladung. Als ich ihr das Geschenk überreichte und wieder den gewohnten Glückwunschtext aufsagen wollte – wie automatisch – hielt ich einen Moment inne und überlegte.
Für einen Moment musste ich an Fuchs denken und dann war mir klar, was ich ihr wünschen würde.
»Ich wünsche dir, dass du jemanden im Leben findest, der dir einen klaren Blick für die Welt verschafft. Und jeder Tag für dich ein einmaliges Erlebnis wird.«
»Fuchs ich bin wieder da.« Ich stellte die Plastiktüte mit den Restkuchenstücken von der Geburtstagsfeier in die Küche und trat durch die Glastür auf die Terrasse, hinaus in den Garten. »Fuchs? Ich hab dir Torte mitgebracht.« Ich wusste, dass sie mich hören konnte. Sie musste hier ganz in der Nähe sein. Schließlich hatte ich ihr versprochen, dass ich ihr Kuchen mitbringen würde.
Aber nichts regte sich.
»Okay, dann werde ich wohl die GANZE LECKERE TORTE, die ich für dich mitgebracht habe, GANZ ALLEINE AUFESSEN«, rief ich laut genug. Ich war mir sicher, dass sie sich das nicht entgehen lassen würde.
Und ich behielt Recht.
Tripelschritte erklangen von irgendwoher und ich hörte ich nur noch wie jemand »TORTE!« rief und dann merkte ich, wie etwas auf mir drauf fiel und mich zu Boden riss. Für eine Weile sah ich nur noch Sterne, doch verlor Gott sei Dank, nicht das Bewusstsein.
Ich spürte wie etwas auf meinem Brustkorb auf und ab hüpfte und immer wieder »Torte, Torte, Torte«, sagte. Um zu wissen wer mich erstklassig halb ausgeknockt hatte, brauchte ich gar nicht die Augen zu öffnen. Doch als ich es trotzdem tat, blickten mir Fuchs leuchtende Augen entgegen.
»Torte, Torte. Ich will Torte essen«, sagte sie aufgeregt und schlug mit ihren flachen Händen auf meine Brust ein, damit ich langsam mal in die Gänge komme.
Stöhnend richtete ich mich auf.
»Wo kamst du denn plötzlich her?«, fragte ich und rieb mir meinen Kopf. Fuchs zeigte zum Dach. »Du warst auf dem Dach?« Sie nickte.
»Da oben ist es so schön warm. Ich habe ein bisschen in der Sonne geschlafen und gewartet bis du wiederkommst.«
»Aber du hättest mir ja nicht gleich auf den Kopf springen müssen.«
»Ich habe dich nicht gesehen. Entschuldige«, sagte Fuchs sofort. »Aber jetzt lass uns endlich Torte essen.« Sie krabbelte von mir herunter und rannte auf die Terrasse Richtung Küche.
»Halt Fuchs warte!«, rief ich ihr hinterher und wollte sie noch warnen, doch da donnerte das Mädchen schon gegen die Glastür, die ich beim Hinausgehen hinter mir geschlossen hatte. Es gab ein dumpfes Dong! und Fuchs taumelte benommen rückwärts. Sie plumpste auf den Boden und hielt sich den Kopf.
»Alles okay?«, fragte ich und stand auf.
Fuchs schaute zu mir hoch und nickte. »Hat überhaupt nicht weh getan«, sagte sie, doch ihre Mimik sprach eine ganz andere Sprache. In ihren Augen hatten sich schon Tränen gesammelt und beide Lippen waren fest aufeinander gepresst. Und auch wenn es schien, als wenn sie kurz davor war gleich laut loszuheulen, schluckte sie ihren Schmerz hinunter.
Ich staunte nicht schlecht, wie tapfer sie war.
Drinnen legte ich ihr einen kalten Lappen auf die Stirn, aber der konnte die Beule auch nicht mehr verhindern. Fuchs gab keinen Laut von sich und vergoss auch keine einzige Träne. Ich setze sie an den Küchentisch und schob ihr einen Teller mit zwei Stück von der Geburtstagstorte hin.
»Weil du so tapfer warst«, sagte ich und da begannen Fuchs Augen gleich noch mehr zu leuchten. Sofort verschlang sie die beiden Stücke und ich könnte mich irren, aber ich glaube doch dabei eine Träne auf ihrer Wange gesehen zu haben.
Texte: Momo Harper
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2015
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