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Kapitel 01

Mit leerem Blick stehe ich immer noch an der selben Stelle, wie wenige Stunden zuvor. Ich hatte den ganzen Prozess verfolgt und jetzt war er schon seit einer halben Stunde zu ende, wenn ich mich nicht irrte. Die dunklen Wolken hatten sich innerhalb der Zeit, zu einem einzig großen finsteren Vorhang zusammengetan und gaben ein tiefes Grollen von sich. Es würde sicher gleich anfangen zu regnen. Doch das störte mich nicht. Regen würde jetzt perfekt zu dieser trostlosen Stimmung passen. Nur kam er einige Stunden zu spät. Komischerweise war zuvor strahlender Sonnenschein gewesen und das zu einem solchen Anlass.
Die Erde vor mir war frisch umgegraben. Doch das dreckige braun wurde von zahlreichen Blumen, Kerzen, Fotos und anderen farbenfrohen Sachen überdeckt, die doch gleichzeitig traurig wirkten. Die ersten Regentropfen fielen vom Himmel. Vermischt mit den Tränen, die mir stumm das Gesicht hinab liefen, sammelten sie sich am Kinn, um dann schwer wie ein Wassertropfen an einem lecken Hahn, herunterzufallen.
Ich habe immer gedacht das dieser Moment noch weit in der Ferne lag. Ich dachte ich hätte noch lange Zeit um mir darüber Sorgen zu machen – wenn ich älter wäre. Doch anscheinend hatte ich da nicht mit dem Unerwarteten gerechnet. Es war alles so schnell passiert, das sie nicht hätten leiden müssen, sagte man mir immer. Obwohl ich auch dabei gewesen war, konnte ich mich an gar nichts mehr erinnern und wenn ich ehrlich war, wollte ich das auch nicht.
Es wäre schön, wenn ich sie glücklich in Erinnerung gehabt hätte. Mit einem Lächeln auf dem Lippen. Keinerlei Sorgen ins Gesicht geschrieben. Aber so war das nicht an diesem Morgen gewesen. Ihre schlechte Laune stand ihnen schon ins Gesicht geschrieben und als sie im Auto saßen wurde es nur noch schlimmer. Sie fingen an sich zu streiten. Ich versuchte alles zu verdrängen, in dem ich – wie fast immer – mir die Ohren mit Musik zudröhnen ließ und in ein Buch vertieft war. Das letzte woran ich mich noch erinnern konnte war ein spitzer Schrei von ihr und dann wurde alles schwarz.
Mittlerweile hatte der Regen so sehr zugenommen, das die Kerzen und Teelichter ertränkt und ausgegangen waren. Von den Blüten der Sträuße rutschten die Tropfen elegant hinunter, was als einziges schönes aussah. Das Foto, in einem dunklen Holzrahmen, zeigte das Bild der beiden Verstorbenen. Die Regentropfen, die langsam an dem Bild hinunter rannen, schienen das derzeitige Gefühl des Ehepaares widerspiegeln zu wollen.
In meiner stillen Trauer legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. Jemand trat an meine Seite und eine Stimme, die sich zuvor kurz räusperte, sprach mich an. »Entschuldigt, Miss. Aber seid ihr die Tochter von Sir Charles und Lady Margret?«, fragte mich ein hochgewachsener Mann, mit Regenschirm in der Hand. »Miss Fanny Haddingtion?« Ich sah ihn mir genauer an. Er trug einen Anzug, hatte weiße Handschuhe an, sehr ordentliches Haar, welches schon weißlich war und die Haltung eines Bediensteten. Er schien schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben. Vor mir stand der perfekte James aus 'Dinner for One'. Ich schenkte ihm nur ein knappes Nicken als Antwort und wischte mir schnell die Tränen aus dem Gesicht. James schien dies nicht entgangen zu sein und zückte kurzerhand ein Taschentuch aus seinem Anzug. Wieder schenkte ich ihm ein kurzes Nicken als Dank, trocknete mein Gesicht und schnäuzte mir die Nase.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich. »Die Beerdigungsfeier ist schon vorbei, wenn Sie also nur hier sind um mir ihr Beileid auszusprechen, danke ich Ihnen.« An diesem Tag hatte ich schon etliche Beileidsworte entgegen nehmen müssen und war schon geübt darin. Die Hälfte der Anwesenden kannte ich nicht mal und wusste auch nicht, wie sie mit meinen Eltern in Verbindung standen. »Welche Beziehung hatten Sie zu meinen Eltern?«
»Deswegen bin ich hier Miss.«, sagte James. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich unser Gespräch gerne im Trockenen weiterführen. Mit Verlaub, aber Sie fangen sich noch eine Erkältung ein.« Ich nickte zustimmend. Mit einem letzten Blick auf das Grab, legte ich eine einzelne Blume, eine Schwertlilie, zu den anderen Sachen und wandte mich zum gehen.
»Lebt wohl. Mama. Papa.«

»Ihr Großvater schickt mich.«, erklärte mir James, der, wie ich herausgefunden hatte, Kenton Grantham hieß. James gefiel mir trotzdem besser. Wir waren zu mir nach Hause gefahren, das nun, ohne meine Eltern, sehr verlassen wirkte und viel zu groß. Eigentlich hatte ich vorgehabt uns beiden einen Kaffee zu machen, aber ich war so verstreut, das James, also Mr Grantham, diese Aufgabe übernahm und in kurzer Zeit uns beiden einen Tee gezaubert hatte – auch wenn mir Kaffee lieber gewesen wäre. Wie ein wahrer Butler servierte er ihn. Nachdem alles zu meiner Zufriedenheit war, hatte er sich mir gegenüber gesetzt und erzählte mir nun seinen Besuch. »Er hat sich bereit erklärt Sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufzunehmen und hat mich hierher geschickt, um alles für Ihre Reise nach London bereit zu machen.«, fuhr er fort. Für einen Moment war ich verwirrt.
»Ich habe einen Großvater?« In meinem Gedächtnis kramte ich nach einem mir bekannten Großvater, der zumindest erwähnt wurde. Aber ich fand nichts. Meine Eltern hatten nie einen Großvater oder dergleichen erwähnt. »In London?«
»Verzeiht, ich vergaß das euer Vater und Großvater vereinbart hatten, das Sie nichts voneinander wissen sollten.« Diese Bemerkung machte mich noch sprachloser.
»Warum das denn? Ist er ein schlechter Mensch?«
»Oh nein. Der Herzog ist ein äußerst freundlicher Mensch.« Herzog? Jetzt wurde es immer absurder. Meine Eltern waren nie reich gewesen oder hatten zumindest nicht so einen Eindruck gemacht. »Und er verstand sich gut mit eurem Vater. Jedoch wollte dieser nicht, das Ihr von dem großen Wohlstand eures Großvaters beeinflusst werdet und nun ja …« Ein wenig beschämt schaute James auf den Boden, als ob er sich unwohl dabei fühle auch nur den nächsten Gedanken in Erwägung gezogen zu haben. Aussprechen wollte er ihn anscheinend auf keinen Fall, weshalb ich das für ihn erledigte.
»Sie wollten nicht, das ich ein verzogenes Balg werde.«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen Miss.« Ich fand diesen Gedanken zwar vollkommen lächerlich und glaube auch nicht das ich so geworden wäre. Mein Vater war, und ist noch immer, mein großes Vorbild. Er lebte stets bescheiden und achtete andere genauso sehr wie sich selbst. Aber wer weiß schon was in dem Kopf der Eltern vor sich ging. Sie sorgten sich wirklich um alles.
Was mich nicht überraschte war, das mich nun mein Opa (übrigens väterlicherseits) um mich kümmern wollte. Andere Verwandten hatte ich nämlich nicht. Die Eltern meiner Mutter sind schon gestorben, da war ich fünf oder sechs gewesen. Und Geschwister hatten sie keine. Vater behauptete immer das gleiche und hinzukam, dass er keine Großeltern mehr habe – wie sich jetzt herausstellt das Gegenteil.
»Er lässt ausrichten, dass alles auf dem Anwesen für Ihre Ankunft bereit gemacht wird und ich dafür zuständig bin, Sie heil nach London zu bringen. Natürlich werden die Güter dieses Hauses und der der Familie hinterher geschickt, sofern dies möglich ist. Des weiteren wird nach speziellen Wünschen, ihrerseits gefragt, was die künstlerische Gestaltung oder, wie man heutzutage zu sagen pflegt, das Design ihrer Gemächer angeht. Die Abreise erfolgt übrigens in zwei Tagen, wenn alles nach Plan verläuft.«
Tja, was sollte man dazu noch sagen. Mein ganz neues Leben schien schon bestens vorherbestimmt zu werden. Mitspracherecht hatte ich anscheinend nicht (habe ich übrigens wirklich nicht, da ich noch minderjährig bin – 16). Also würde von nun mein Großvater mein Vormund sein, den ich nicht im geringsten kannte. Besser konnte es also nicht mehr werden. Auf mich wartete ein vollkommenes fremdes Leben.

Zwei Tage nach der Beerdigung meiner Eltern, war unser Haus verlassener als je zuvor. Überall, in jedem Zimmer, herrschte absolute Stille. Nichts wies mehr darauf hin, das hier mal eine glückliche Familie gelebt hatte. Das meiste Zeug war in Kisten verpackt worden, die überall herumstanden. Sogar draußen stapelten sie sich, seitdem es mit dem regnen aufgehört hatte. Im Haus wuselten Leute von einem Umzugsservice herum und James wies sie an, was sie zu tun hatten.
Die Kopfhörer auf (sie waren eines der wenigen Dinge, die den Unfall überlebt haben – auf wundersame Weise) und einem Notizbuch in der Hand, saß ich auf eine Kisten, ließ die Beine baumeln und schrieb kurz und knapp die Ereignisse der letzten Tage auf. Nach dem Unfall war ich bei einer Psychiaterin gewesen, die mir geraten hatte meine Erlebnisse in ein Buch zu schreiben, damit ich sie besser verarbeiten konnte. Ich glaubte zwar nicht, dass, wenn ich etwas aufschreibe, es alle meine Probleme einfach so löst, aber ich tat es für die nette Frau. Durch diese Tätigkeit hatte ich wenigstens etwas zu tun.
Neben mir standen ein Koffer und ein paar Taschen. Es war nicht viel, aber für eine Woche müsste es reichen. Denn dann, so meinte James, müssten meine ganzen Sachen spätestens in London eingetroffen sein.
London.
Ich hatte kein Problem mit der Vorstellung in ein anderes Land zu ziehen. Meine Eltern haben mich zweisprachig erzogen, schon allein aus dem Aspekt das Dad aus England stammte und wir dort schon einige male Urlaub gemacht haben. In der Schule war ich immer mit Eifer dabei die Sprache zu lernen und war nun so weit, das ich von mir behaupten konnte, ein Profi in der Sprache zu sein. Nur die unterschiedlichen Akzente verstand ich manchmal schwer, aber da war ich schon dran es zu lernen. Ich würde nur Deutschland etwas vermissen. Ich hatte hier in meiner Stadt einige Freunde, vor allem unsere Nachbarn, die sich nach dem Ableben meiner Eltern sehr um mich gekümmert hatten.
»Miss?« James stand vor mir. Ich nahm die Kopfhörer herunter. »Es wird nun Zeit, das Taxi ist schon da.« Ich nickte knapp und stand auf, schulterte meine Taschen, denn Koffer nahm James, und marschierte zum Taxi. Als alles im Kofferraum verstaut war, räusperte sich jemand hinter mir und als ich mich umdrehte, stand die Nachbarfamilie hinter mir. Ausnahmslos alle.
»Wir wollten uns noch von dir verabschieden.«, sagte Mr Dycon. »Wir wünschen dir das Beste und das du dich bei deinem Großvater wohl fühlst.« Wird schwer wenn man ihn nicht kennt, dachte ich mir. Mrs Dycon überreichte mir eine Tüte. »Da ist mein Apfelkuchen. Ich dachte so eine Spezialität würde dir in England nicht wieder unterkommen. Das Rezept liegt mit bei, dann kannst du ihn ja mal nachmachen und mir ein Foto davon schicken.« Sie war den Tränen nahe. Doch nicht nur sie, auch die Kinder schauten alle sehr traurig. Und auch mir wurden schon die Augen feucht. Während ich mich von allen verabschiedete, mich bedankte und alle noch einmal fest drückte, flossen doch die Tränen, die ich versucht hatte zurückzuhalten. Schniefend stieg ich in das Taxi, als James höflich drängte nun endlich loszufahren, da wir sonst noch unseren Flug verpassen würden. Er reichte mir erneut ein Taschentuch.
Ich lehnte mich aus dem Fenster hinaus und winkte noch einmal zum Abschied, ehe wir um die nächste Ecke bogen und auf dem Weg zum Flughafen waren. Nun würde für mich ein Neuer Lebensabschnitt beginnen und ich hatte keine Ahnung ob ich dafür bereit war. Der beunruhigenste Gedanke für mich war, dass ich mit einem Menschen zusammenleben musste, den ich noch nie vorher gesehen oder kennengelernt habe. Und offenkundig war er wohlbetucht. Das sagte ja schon sein Titel. Herzog.
Ein Seufzen entfuhr mir als ich aus dem Fenster schaute und die vorbeiziehende Bäume, die am Rand der Straße standen, beobachtete.
Der Flughafen war voll und es wimmelte nur so von Menschen, die alle in den Urlaub, zu einem Geschäftstermin, nach Hause, oder wohin auch immer wollten. Nach kurzer Wartezeit wurde durch Lautsprecher durchgegeben, das mein Flug nun bereit wäre und sich alle Passagiere bitte an Bord begeben sollen. James begleitete mich zum Gateway, wo er meine Boardkarte abgab. Nur eine. Ich drehte mich zu ihm um. »Fliegen Sie nicht mit?«
»Ich bedaure Miss, aber ich habe hier noch Pflichten, ich werde in wenigen Tagen nachkommen. Aber keine Sorge man wird Sie am Flughafen abholen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.« Er machte ein leichte Verbeugung und ich stieg in das Flugzeug ein.
Jetzt lag ein völlig neues Leben vor mir. Mal sehen was es mir so bringen mag.

Kapitel 02

Der Flug nach London dauerte zwar nicht lange, doch die Ereignisse der letzten Tage hatten mich total erschöpft und Schlaf fand ich nicht wirklich. Irgendwie hatte ich es dann doch geschafft einzuschlafen. Die Sitze der ersten Klasse waren aber auch bequem. Ja, erste Klasse. Ich schätze mein Großvater wollte, dass ich schon von Anfang an einen guten Eindruck von ihm bekomme. Jedenfalls schien das ein bisschen zu funktionieren.
Nachdem ich endlich wieder Boden unter den Füßen hatte, meine Sachen zusammengefunden und auf dem Weg zum Ausgang war - ich war eine der letzten die aus dem Flugzeug ausstieg, da ich kurz vor Landeanflug dummerweise eingeschlafen bin - bemerkte ich einen Käfig, der immer noch auf dem Gepäckband herumfuhr. Weil keine Menschenseele mehr zu sehen war, erlöste ich das arme Tier von seinem Leid und stellte den Plastikbehälter auf den Boden. Sofort war eine Schnauze an dem Gitter und eine süße kleine, feuchte Nase schnupperte an meinen Fingern und schleckten sie schließlich mit der rauen rosa Zunge ab. Zwei große Augen schauten mich aus dem Inneren an und wollten wohl so etwas sagen wie: »Nimm mich mit. Bitte!« Anscheinend wurde der kleine arme Kerl vergessen oder absichtlich nicht mitgenommen. Trotz der Tatsache das ich nicht wusste wie mein Großvater auf Hunde reagierte, nahm ich ihn kurzerhand mit mir.
Ich besorgte mir einen Wagen für mein Gepäck und steuerte gleich nach der Kontrolle zum Informationsstand, um den Hund zu melden. Ich hoffte das er nur vergessen wurde, aber mal ehrlich, was war das für ein Besitzer, der seinen Hund vergisst. Die Dame am Empfang war sehr nett und nahm sich der Sache an. Dabei erzählte sie mir, dass es oft vorkam, das Tiere vor Urlaubsreise ausgesetzt wurden. Einfach weil der Auffand zu groß war. Mein kleiner Findling war gerade mal ein Welpe und gehörte, laut meiner Vermutung, zur Gattung der Huskys. Der Kontakt zu den Besitzern wurde aufgenommen, aber derzeit meldete sich keiner. Also hatte der kleine Hund die Möglichkeit in ein Tierheim zu kommen oder …
»Ich nehme ihn zu mir.«, sagte ich entschlossen. »Mein Großvater hat viel Platz da kann er sich austoben.«
»Oh, das ist sehr nett von dir. Dann brauch ich noch deine Adresse und deinen Namen.« Der Name war gar nicht so schwer, bei der Adresse stockte ich schon. Doch die Frau kam mir zu Hilfe. »Gib mir doch mal den Strichcode von einem deiner Gepäckstücke.« Ich reichte ihn ihr und sie scannte ihn ein. »Damit dein Gepäck wieder zu dir kommt, falls es mal verloren gehen sollte, sind im Strichcode Adresse und Name, sowie das Ziel deines Fluges gespeichert.«, erklärte sie mir. Als sie meine Daten sah, schien sie zu stutzen. »Ihr seid die Enkelin von Sir Richard Haddington.«, stellte sie fest und schaute mich immer wieder verwundert an. »Wir haben von dem Unfall eurer Eltern gehört. Mein herzliches Beileid.«
»Danke.«, murmelte ich und packte alle meine Sachen zusammen. »Ich geh dann mal. Danke für ihre Hilfe.«
»Auf Wiedersehen und Willkommen in Großbritannien.«
Ich rollte meinen Koffer zum Ausgang, den kleinen Hund mit im Gepäck. Ich musste ihm dringend eine Leine besorgen, denn so wäre es umständlich ihn herumzutragen.
»Wie soll ich dich eigentlich nennen?« Diese Frage ging wohl eher an mich selbst, als an den Hund. Dieser presste seine Schnauze an das Gitter und schaute in welche Richtung seine große Reise gehen würde. Anscheinend war er genauso gespannt wie ich.
Ich war die letzte, die von dem Bereich, wo unser Flugzeug lag, kam. In der großen Vorhalle hatte sich eine Menge Menschen angesammelt. Viele waren anscheinend da, um jemanden abzuholen, weshalb die Anzahl der Fluggäste, plus die Leute die sie abholten und dazu noch diejenigen die am heutigen Tag weg fliegen wollten, aber noch warten mussten, das Dreifache überstieg. Es war voll. Nein, es war voller als voll. Und in all dem Chaos, musste ich jemanden finden, der mich zu meinem Großvater fuhr. Oder vielleicht holte Großvater persönlich mich auch ab. Wer weiß.
Dem kleinen Husky schienen die Menschenmassen auch nicht zu gefallen. Er verkroch sich in die hinterste Ecke seiner Transportbox und winselte leise. Weil mir die Massen auch unangenehm waren, versuchte ich schnell voran zu kommen und schob Koffer, samt Hund und geschulterten Taschen, den Gang hinunter, drängte mich vorbei an den Menschen und steuerte auf den Ausgang zu.
Plötzlich kam etwas an mir vorbei und streifte mich. Vielleicht war es meine Einbildung, aber dafür fühlte es sich zu echt an. Es schwebte oder flog an mir vorbei, streifte meine linke Wange und setzte sich einmal kurz auf meine Schulter ehe es sich abstieß und weiter zog. Durch die abrupten Kraftausübung auf meiner Schulter, versagten meine Muskeln auf der linken Schulter plötzlich ihrem Dienst und klatschend fiel die Tasche, die ich geschultert hatte, zu Boden und ich zog die Blicke der, mir nahestehenden, Menschen auf mich. Mir entwich ein leises Fluchen, als ich mich bückte, um meine Taschen aufzuheben und warf dabei einen Blick über meine Schulter, während der kleine Husky in der Box anfing zu bellen. Doch hinter mir war nichts, dass so aussah, als ob es durch die Gegend schweben würde. Was war das denn gewesen? Es hatte sich so wie ein Windhauch angefühlt. Aber …
Ehe ich noch einen weiteren Gedanken an diesen merkwürdigen Vorfall verschwenden konnte, stellte sich jemand vor mich. Ich blickte auf und fand vor mir einen Mann. Er trug, wie James, einen piekfeinen Anzug und schaute auf mich herab. Dieser hatte jedoch nach hinten gegeltes, dunkles Haar, zwar auch gepflegt, aber anders als James, zudem sah er viel jünger aus. Ein Räuspern entfuhr dem Mann. »Entschuldigt. Sind Sie Fanny Haddingtion?«, fragte er mich in einem gebrochenen Deutsch.
Ich nickte schnell. »Mein Name ist Theodor Humble. Ich bin der Berater und persönliche Diener ihres Großvater und bin hier um sie abzuholen.«
Und vorbei war es mit dem guten Eindruck, den Opa hinterlassen wollte. Diese Punkte würde er nicht bekommen, sodass er auf seiner Punkteskala immer noch zwischen „mal sehen“ und „einigermaßen okay“ stand. Wäre er persönlich zum abholen gekommen, wäre er mindestens über „einigermaßen okay“ gestiegen. Aber was konnte ich schon dafür, das sich mein Großvater keine Mühe gab.
Humble schnippte nur einmal mit dem Finger und schon kamen, von wo her auch immer, zwei weitere Pinguine an und schnappten sich meine Taschen und den Koffer. Sie wollten auch noch den Transportkäfig an sich nehmen, doch den rettete ich als erstes und sagte schnell »Den trage ich lieber selber.«, sagte ich im perfekten Englisch. Ein verständnisvolles Nicken, seitens der Butler und schon wurde ich von Humble Richtung Ausgang begleitet.
»Man hat uns nicht darüber unterrichtet, das Ihr einen Hund mit euch führt. Sonst hätten wir für Ihn schon etwas vorbereitet.« Nun da er wusste das ich die Sprache beherrschte, redete er weiter auf englisch mit mir. Nichts gegen sein deutsch, die Grammatik war okay, nur an der Aussprache musste er noch mehr feilen, das war alles.
»Er ist mir vor 10 Minuten zugelaufen.«, antwortete ich ehrlich. Butler Humble zog erstaunt eine Augenbraue nach oben. »Ich kümmere mich um ihn bis sich der Besitzer meldet.«, erklärte ich und schaute einmal prüfend in die Box. Der Husky, der übrigens ein caramel-weißes Fell hatte, blickte durch die Schlitze nach hinten, da wo ich meine Tasche hatte fallen lassen und knurrte leise. Was hatte er denn?

Das Auto, in Deutschland würden wir dazu schicker Schlitten sagen, der vorfuhr war eines der edelsten Autos, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Aber ich fand, dass viele englische Autos edel aussahen. Man machte mir die Tür auf, verstaute mein Gepäck im Kofferraum, der kleine Hund kam vorne mit zu mir und dann ging die Fahrt los nach … wohin auch immer.
Die Landschaften die während der Fahrt an mir vorüberzogen, waren einfach malerisch. Und immer wenn ich interessiert aus dem Fenster schaute, und das war fast während der ganzen Fahrt, erzählte mir Humble etwas dazu. Doch ich konnte nicht allen seinen spannenden Vorträgen lauschen. Anfangs bemühte ich mich aufmerksam zuzuhören, doch irgendwann schaltete ich ab und genoss nur noch die Landschaft. Ab und zu ließ ich ein »Aha« oder »Interessant« in seine Erzählungen mit einfließen, damit ich nicht unhöflich und desinteressiert rüberkam.
Wir fuhren durch London und ich bestaunte die ganzen Sachen, die es hier gab. Die Häuser hatten einen wunderschönen Baustil und einige Stadtteile waren einfach malerisch. Als wir etwas außerhalb der Stadt waren und an den Gebäuden vorbeifuhren, die den Leuten, welche in die Kategorie „wohlhabenderer Stand der Gesellschaft“ gehörten und sich so etwas leisten konnten, kam ich aus den Staunen nicht mehr heraus. So wie es aussah gehörte mein Großvater auch zu dieser Sorte Leute. Ein paar Minuten fuhren wir noch durch einer Allee von Bäumen und als ich nach vorne schaute, sah ich schon ein großes Tor. Bei dem Anblick was dahinter lag, raubte mir fast den Atem. Humble schien meinen Blick zu bemerken und ich glaubte, dass meine Augen so groß wie Spiegeleier waren, so … unglaublich kam mir das vor was ich da sah.
Das Tor öffnete sich von allein und ließ uns hinein. Weiter ging es einen schönen Weg entlang, vorbei an gepflegten Rasen und Bäumen und schließlich hielten wir vor einem großen Haus. Obwohl Schloss es wohl eher traf. Fassungslos stieg ich aus und sah bis zur spitze des gigantischen Gebäudes hinauf.
»Willkommen auf Haddington Hall.«, hörte ich Humble sagen.
»Hier werde ich wohnen?« Ich war so geschockt, das ich vergaß Englisch zu reden.
»Wenn sie mir bitte folgen wollen.« Die Transportbox mit dem kleinen Hund fest umklammert folgte ich dem Butler. Auf der Treppe standen rechts, wie kleine Spielzeugsoldaten aufgestellt, ein feiner Pinguin neben dem anderen. Das ganze Butleraussehen wurde durch weibliches Personal etwas aufgelockert. Auch wenn nicht jeder die gleiche Uniform trug, die Farben waren immer gleich. Was anderes als schwarz-weiß kannten sie hier wohl nicht. Mein Großvater beschäftigte mehr Angestellte, als man an zwei Händen abzählen konnte. Wozu brauchte er die nur alle?
Nacheinander stellte mir Humble die Diener vor, wobei ich die Hälfte der Namen gleich wieder vergaß. Ich war einfach zu aufgeregt. Für mich fing nun ein völlig neues Leben, in einem anderen Land an. Zum Glück eines, das ich mochte. Nachdem mir alle Angestellten vorgestellt wurden, führte mich Humble weiter in das Schloss hinein. Nun kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus. Die Fließen auf dem Boden waren blitzblank und wenn das Licht richtig fiel, konnte man sich vermutlich auch darin spiegeln. Aber nicht nur die Fliesen, fast alles was sich hier befand war sauber und poliert.
»Hier blitzt ja alles.«, meinte ich zu Humble.
»Hier wird ja auch jeden Tag geputzt, Miss. Sir Richard legt großen Wert auf Sauberkeit.« Ach du je. Heißt das jetzt, dass mein Großvater ein penibler Reinigungsfanatiker ist? »Des weiteren beherbergen wir hier äußerst wertvolle Kunstschätze, die eine saubere Umgebung brauchen und selber gepflegt werden müssen.« Ich besah mir die verschiedenen Gemälde an der Wand, die im Korridor hingen - der selber mit einem schönen Teppich ausgelegt war - und die Mitglieder der Herzogsfamilie zeigte von verschiedenen Jahrzehnten und chronologisch geordnet. Vor einem von den vielen blieb ich stehen.
Es war ein Bild von meinem Vater, in seinen jungen Jahren, aber man konnte ihn dennoch erkennen. Die schönen Augen, die auch ich von ihm geerbt hatte, stachen besonders aus dem Bild hervor. Meine Mutter hatte mir mal gesagt, dass das eines der Gründe war, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Diese Augen hatten sie immer in den Bann gezogen, weshalb sie ihn damals in der Uni fast ein Loch ins Gesicht gestarrt hatte, so fasziniert war sie von ihm gewesen. Hinzu kam noch sein betörend gutes Aussehen. Eigentlich hätte mein Vater jede haben können, aber warum er gerade mein Mutter einst zur Frau nahm, hatte er mir verschwiegen. Wenn ich ihn deswegen ansprach, sagte er mir immer: »Das wirst du eines Tages schon selber merken.«
»Hier geht es weiter Miss Haddington.« Humble machte eine Bewegung mit der Hand und wies in die Richtung, in die wir gehen mussten. Vor einer großen Flügeltür, die fast zweieinhalb mal so groß war wie ich, blieben wir stehen. Wie ein wahrer Butler klopfte Humble an der Tür, wartete auf das »Herein!« und öffnete sie dann.
»Sir. Miss Fanny Haddington aus Deutschland ist eingetroffen.« Ein gemurmeltes »Lass sie rein.« war zu hören, dann trat Humble zur Seite und ich betrat das Zimmer. Hinter mir wurde die Tür geschlossen und ich befand mich ganz alleine in dem Raum mit meinem Opa. Dieser saß an seinem Schreibtisch. Ein sehr edler, also der Schreibtisch. Er war aus einem dunklen Holz hergestellt und hatte wunderschöne Verzierungen. Großvater selbst jedoch, schien älter als der Tisch zu sein. Jedenfalls sah er so aus. Dennoch konnte man von ihm sagen, dass er sich bis jetzt gut in Schuss gehalten hatte.
»Du bist also Fanny. Die Tochter von meinem Sohn Charles und meine Enkelin.« Ich nickte, wagte es aber nicht ein Wort zu sagen, weil mir nicht einfiel was. »Kannst du nicht sprechen?« Ich hätte doch was sagen sollen.
»Doch … also, ja Sir.«, stammelte ich. »Danke das ich bei Ihnen wohnen darf.«
»Irgendjemand musste dich ja aufnehmen, nachdem deine Eltern gestorben sind. Ich schätze dein Vater hat dir nicht sehr viel über mich erzählt.«
»Nein, gar nichts.«, gab ich kleinlaut zu.
»Das sieht ihm ähnlich.« Er lachte einmal kurz auf. »Nachdem er dieses einfache Mädchen ohne Namen und Titel geheiratet hat, gegen meinem Willen, habe ich nie wieder ein Wort mit ihm geredet. Er tat das selbe. Wir gingen beide unsere Wege und nun ist er tot.« Der letzte Satz kam ein bisschen nachdenklich über seine Lippen. Ich sagte nichts zu seiner Geschichte. Hielt meinen Mund und das was ich ihm gerne an den Kopf geworfen hätte, tief in mir drinnen verborgen.
Was für ein Idiot konnte man auch sein und seinem Sohn nicht die große Liebe gönnen, nur weil diese keinen Namen oder Titel von Adel oder sonst was hatte. War das nicht völlig egal. Und was war ich denn dann für ihn. Seine lästige Enkelin, die er sich lieber von einer anderen Frau gegönnt hätte, als von einer Titellosen Frau?
Ganz ruhig Fanny, mahnte ich mich selber. Wer freundlich ist kommt weiter, ein Versuch ist es jedenfalls wert. »Darf ich dich Grandpa nennen?«
Ich fing einen irritierten Blick seinerseits ein. »Ist mir egal.«, gab er brummend zurück. Sein Blick wanderte zu der Transportbox. »Was ist das? Gehört der dir?«
»Ich hab ihn am Flughafen gefunden und kümmere mich solange bis der Besitzer sich meldet.«
»Sorg dafür, dass das Vieh ruhig bleibt. Und jetzt geh, Humble wird dir zeigen wo dein Zimmer ist. Humble?« Die Tür ging auf und der Butler trat herein.
»Sie haben gerufen Sir.«
»Zeig Fanny ihr Zimmer und bring irgendwelche Sachen für den Hund, damit der nicht ins Haus macht. Hundeklo … sie wissen schon was ich meine. Ist das Tier überhaupt geimpft?« Ich zuckte mit den Schultern. »Dann soll er am besten noch zum Tierarzt, nicht das er uns noch ansteckt mit irgendwelchen Krankheiten.«
»Sehr wohl Sir.«

»Ist er immer so schlecht drauf?«, fragte ich Humble, als wir durch die endlosen Gänge liefen.
»Nein, es gibt auch mal Tage, an denen der Herzog recht gut gelaunt ist.«
»Die scheinen aber selten zu sein.«
»Ihr müsst es ihm nachsehen. Er hat zurzeit viel um die Ohren. Probleme mit seinen Geschäften und so weiter und nun ist auch noch sein Sohn tot.« Ich fragte mich was das wohl für Geschäfte sein mochten, die mein Grandpa da betrieb, aber da hielten wir auch schon vor einer der vielen Türen. »Dies ist von nun an euer persönlicher Bereich.«, sagte der Butler und öffnete die beiden Flügeltüren. Ich glaubte zu spinnen als ich das sah. Ich hatte einen Raum erwartet, aber gleich so viele. Ich hatte sogar ein eigenes Badezimmer, ein Schlafzimmer, ein Ankleidezimmer und ein kleines Vorzimmer, mit Couch und allem drum und dran.
»Das soll meins sein?«, fragte ich ungläubig.
»Ist es nicht zu eurer Zufriedenheit?«
»Nein, das ist es nicht. Ich hatte nur nicht so etwas großes erwartet.« Fasziniert besah ich mir alle Räume und fand immer wieder etwas neues um darüber zu staunen. Vielleicht ließ es sich ja doch hier aushalten.

Zusammen mit dem kleinen Husky ging ich auf Entdeckungstour und erkundete das ganze Schloss auf eigene Faust. Zwar hatte man mir angeboten mir alles zu zeigen, aber das hatte ich höflichst abgelehnt. Das war eines der Dinge die ich schon immer mal tun wollte. Ein altes Schloss erkunden, wie ein richtiger Entdecker. Den Spaß wollte ich mir nicht nehmen lassen.
Schon hinter der ersten Tür entdeckte ich die Bibliothek, die ein riesiges Ausmaß hatte. Ich war sprachlos und fasziniert zugleich. Den kleinen Hund an meinen Fersen, schaute ich mir alles genau an und entdeckte sogar eine meiner Lieblingsbücher. Da war zum Beispiel eine deutsche Ausgabe von Astrid Lindgrens Buch „Pippi Langstrumpf“ dabei. Ich blätterte das Buch durch und besah mir die schönen Illustration. Auf einem war die Villa Kunterbunt, mit Pippi, Herrn Nilson und Kleiner Onkel und da viel mir auf, das mein kleiner Freund noch keinen Namen hatte.
»Wie soll ich dich eigentlich nennen?«, fragte ich. Die Knopfaugen schauten mich interessiert an. »Du bist klein, süß und man würde dich am liebsten auffressen.«, alberte ich herum. »Ich hab's.«, sagte ich dann. »Wie wäre es mit Cupcake?« Der kleine Husky legte nur den Kopf schief und sah mich weiter interessiert an. Er verstand kein Wort. »Cupcake.«, sagte ich. »Dein Name.« Nichts.
»Ich glaube nicht das er dich versteht.«, ertönte plötzlich eine Stimme und ich erschrak furchtbar.

Kapitel 03

Erschrocken fuhr ich herum und sah zu meiner Überraschung, keinen Butler oder etwas in der Art, sondern einen Jungen. Er schien in meinem Alter zu sein, wenn nicht sogar darüber. Ich musterte ihn. Von seinem Aussehen her zu urteilen, musste er ebenfalls aus dieser Familie kommen, oder zumindest Verwandt mit ihr sein. Seine blonden kurzen Haare lagen wuschelig auf seinem Kopf und standen vorne an der Stirn etwas ab. Aber das passte zu seinem Gesamtbild. Es machte ihn zuckersüß und unwiderstehlich. Er sah aus wie einer dieser süßen Typen von den Boygroups. Seine grau-grünen Augen musterten mich ebenfalls und auf seinem Lippen lag ein kleines Schmunzeln. Der Typ sah einfach zum niederknien gut aus.
»Kannst du nicht sprechen?«, fragte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich hätte schwören können, dass ich dich gerade eben noch mit dem Hund hab reden hören. Oder hat der Hund mit dir geredet?« Wieder dieses Lächeln.
»Ich … also …« Ich bekam nicht mal einen ordentlichen Satz heraus. Cupcake fand den neuen Besucher noch interessanter als ich und lief ihm entgegen. Der Junge bückte sich, streichelte den Hund ausgelassen und ließ sich von ihm die Hände abschlecken.
»Scheint so als würde deine Besitzerin nicht sehr gesprächig sein. Nicht wahr, Cupcake?« Er grinste erst den Husky und dann mich an.
»Cupcake gehört nicht mir.«, fand ich meine Sprache wieder. »Ich hab ihn auf dem Flughafen gefunden und warte bis sich sein Besitzer meldet.«
»Sieh an, eine Tierretterin also.« Er erhob sich und hielt mir seine Hand hin. »Ethan Haddington. Und du musst die Enkelin von Grandpa sein, von der schon jeder spricht.«
»Fanny.«, sagte ich und schüttelte seine Hand.
»Aus Deutschland, richtig?« Ich nickte. »Ich hatte mich dir eigentlich ganz anders vorgestellt. Naja, mehr deutsch halt. Aber du siehst eigentlich ganz normal aus.« Normal? Was sollte das denn jetzt heißen. »Dafür ist dein Haar sehr schön.« Er griff nach einer meiner Strähnen und ließ sie durch seine Finger gleiten. Was geht denn hier bitteschön ab? Soll das eine Anmache sein?
»Tut mir leid das ich nur normal bin.« Ich schlug seine Hand weg. »Komm Cupcake wir gehen.« Im vorbeigehen schnappte ich mir den Husky und marschierte mit ihm die zur Tür hinaus.
»Hat mich gefreut Fanny!«, rief mir Ethan noch hinterher.

»Das gibt es doch nicht. Wie kann man nur so ein Idiot sein.«, zischte ich immer wieder verärgert, während ich weiter durch die Gänge lief. »Ich bin nur normal.«, äffte ich ihn nach. »Und was soll das heißen: „Ich bin nur normal.“ Was bildet er sich eigentlich ein. Er ist auch nicht gerade besonders.«
Doch. Das war er. Leider.
Ethan, mein Cousin, war das totale Gegenteil von „normal“. Er war super hübsch, hatte ein charmantes Lächeln, strahlende Augen und schien vollkommen perfekt zu sein. Äußerlich. Vom Charakter her hat er nicht gerade bei mir gepunktet.
Cupcake hatte ich wieder runter gelassen und der kleine Husky tobte nun ausgelassen vor meinen Füßen herum. Er wollte spielen. Aber ich hatte leider nichts dabei, mit dem ich mit ihm hätte spielen können.
Als ich zufällig in die große Eingangshalle kam, keine Ahnung wie ich das geschafft hatte, stand da Butler Humble. »Humble.«, sagte ich und Cupcake rannte auf ihn zu und bellte fröhlich. Der Kleine schien ganz schön zutraulich zu jedem zu sein. »Warten sie auf jemanden?«
»Allerdings. Ich warte auf sie Miss Fanny.«, gestand er. »Ich wollte sie und den kleinen Hund zum Tierarzt bringen, wie vereinbart, aber sie waren nicht in ihrem Zimmer aufzufinden.«
»Ja, Entschuldigung. Ich war noch unterwegs und hab ein bisschen das Schloss erkundet.« Ich nahm Cupcake wieder auf den Arm. »Von mir aus können wir los.«
Der Besuch beim Tierarzt war recht interessant. Wir fanden heraus das Cupcake männlich war, kerngesund und keine weiteren Impfungen oder in der Art brauchte. Sein Herrchen oder Frauchen vor ihm hatte sich gut um ihn gekümmert. Des weiteren versprach der Tierarzt sich zu melden, wenn der Besitzer bei ihm vorbeigeschaut hätte.
Zurück auf Haddington Hall neigte sich die Sonne schon langsam ihrem Ende zu und der Tag läutete den Beginn der ersten Nacht in meinem neuen Zuhause ein. Vorher aber fand noch das Abendessen statt, an dem alle beteiligt sein sollten. Nur stellte sich mir da die Frage, wer mit „alle“ denn gemeint war.
Als ich frisch, mit neuen Klamotten und ein bisschen meine Haare gemacht hatte, aus dem Zimmer trat, verflog mein Appetit urplötzlich und in meinem Magen machte sich ein unangenehmes Gefühl breit. Irgendwie hatte ich Angst. Auch wenn ich genau wusste warum.
Cupcake musste ich im Zimmer zurücklassen. Leider. Grandpa erlaubte es nicht, das er beim Abendessen dabei saß. Vielleicht erst wieder, wenn ich ihn richtig erzogen hätte. Und außerdem gehörte er mir ja nicht wirklich, hatte man mir immer wieder gesagt. Ich erhaschte einen letzten Blick in mein Zimmer, wo Cupcake gemütlich, in seinem Körbchen eingerollt, schlief. Leise schloss ich die Tür und ließ einen Seufzer von mir.
»Du hast dich aber ganz schön herausgeputzt.«, sagte eine Stimme zu mir. Ethan. Er kam gerade aus einem Zimmer, das nur zwei Türen weiter, etwas schräg von meinem lag. Mein Zimmer befand sich direkt in einer Ecke und so hatte ich gleich zwei Korridore in meinem Blickfeld und einen unsympathischen Typen quasi als Nachbarn.
Eigentlich würde ich auf diese Aussage hin etwas weniger schmeichelndes entgegnen, aber da ich aus gutem Hause komme und man mit Freundlichkeit bekanntlich weiterkommt, lächelte ich ihn nur an und sagte: »Dankeschön. Du aber auch.«
»Nun denn.« Er räusperte sich kurz, trat neben mich und hielt mir seinen Arm hin. »Wollen wir dann?« Ich hatte diese Geste schon oft gesehen. Im Fernsehen. Früher taten das die Männer immer, um Frauen zu ihrem Platz oder woanders hin zu geleiten.
»Aber sehr gerne.«, sagte ich gespielt und hakte mich bei ihm unter. Zu zweit schritten wir mit erhobenen Kopf den Gang zum Saal entlang. Doch schon nach fünf Schritten begann ich zu prusten und brach schließlich in schallendes Gelächter aus. Das war aber auch zu lächerlich. Ethan stimmte mit mir in mein Lachen ein.
»Tut mir leid.«, brachte ich nach meinem Lachanfall hervor. »Ich komm mir nur so albern vor.«
»Glaubst du wirklich wir würden uns die ganze Zeit so benehmen?«, fragte Ethan mit hochgezogener Augenbraue.
»Alles ist möglich.«, antwortete ich. Doch schon nach zwei Sekunden fügte ich hinzu. »Nur ein Witz.«
»Eigentlich sind wir ganz normal. Nur zu feierlichen Anlässen sind wir für eine Weile die Herren der alten Zeit, mit den adligen Manieren. Normalerweise reden wir alle normal, wie auch die anderen Menschen. Nur meine Tante Abigail hält es nicht für nötig sich der „niederen Sprache von Heute“ anzupassen, wie sie sagt. Zum Glück wohnt sie nicht hier und hat ihr eigenes kleines Reich.« Ich kicherte.
»Dann bin ich ja froh, dass ich nichts zu befürchten habe.«
»Befürchten?«
»Naja, als ich hierher kam, waren die einzigen die mich richtig nett empfangen haben die Bediensteten.«
»Soll das heißen ich habe einen schlechten Eindruck auf dich gemacht?« Jetzt war ich verwirrt. Tut er nur so unschuldig oder habe ich da was falsch verstanden, als er mit mir geredet hat. Was wenn er mir ein Kompliment gemacht hat und ich so etwas unfreundliches geantwortet habe. Oh nein, das wäre super peinlich. In solchen Momenten wie diesen wünsche ich mir immer unsichtbar zu sein, damit man mein rot angelaufenes Gesicht nicht sieht. »Eigentlich sollte das ein Kompliment sein. Das du normal bist, mein ich.« Erde tu dich auf und verschlinge mich in einem Stück, bitte! Ich wollte jetzt nur noch verschwinden und mich schämen. »Die meisten Mädchen verunstalten ihr Gesicht doch immer mit so viel Make-Up, jedenfalls ist das an meiner Schule so. Und du hast fast so gut wie gar nichts im Gesicht.«
»Meist hab ich auch gar nichts im Gesicht.«, gestand ich. »Make-Up ist teuer und ich kaufe mir stattdessen lieber Bücher. Außerdem ist das eine aufwendige, akkurate Arbeit vor dem Spiegel. Und das jeden Morgen?« Im Augenwinkel sah ich wie Ethan schmunzelte. »Das soll jetzt aber nicht heißen, dass ich keinen Wert auf mein Äußeres lege.«, sagte ich schnell, um Missverständnisse zu beseitigen. Das von heute Mittag war schon peinlich genug.
»Schon klar.«, erwiderte Ethan, aber sein Schmunzeln blieb weiterhin auf den Lippen. Ich wurde noch einen Tick röter. Das wird ja immer peinlicher. Der muss doch denken das ich vollkommen bescheuert bin und nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.

»Da seid ihr ja endlich. Ethan Schatz wir haben schon gewartet.« Wir traten ins Esszimmer, in dem ein langer Tisch stand, an dessen Kopf schon vier Leute saßen. Einer von ihnen war Grandpa, die anderen kannte ich nicht – vermutlich Ethans Eltern und die andere musste seine Großmutter sein oder so.
»Verzeih Mutter. Wir sind auf dem Weg hierher in ein sehr interessantes Gespräch gekommen.« Sie stand auf und er gab ihr zur Begrüßung rechts und links einen Kuss auf die Wange. Ethans Mutter war eine große schlanke Frau, hatte schönes, blondes, leicht gewelltes Haar und sah einfach wunderschön aus. Ich machte einen Schritt nach vorne und stellte mich vor.
»Fanny Haddington. Es freut mich sehr sie kennenzulernen und entschuldige mich für die Verspätung. Das geht auf meine Kappe.«, sagte ich und reichte ihr die Hand, die sie auch freudestrahlend ergriff.
»Was für ein reizendes Mädchen. Und so wohlerzogen. Das ist also deine Cousine Ethan. Mit ihr wirst du sicher blendet auskommen. Nicht wahr Liebling?« Mit Liebling, war Ethans Vater gemeint, der zur Rechten von Großvater saß. Er war ganz vertieft in eine Zeitung, schaute kurz auf und murmelte etwas wie, bin ganz deiner Meinung Schatz.
»Davon bin ich auch überzeugt.«, erwiderte Ethan. »Das sind meine beiden Eltern. Und das ist Granny Croft.«
»Wenn ich so jung wär wie ihr, dann würde ich besser als diese Lara Croft sein. Aber wenn man älter wird lassen die Knochen leider nach. Das soll aber nicht heißen das ich nicht in Topform bin. Wenn ich will könnte ich jeden mit meinem rechten Hacken niederstrecken.«, gab Granny von sich und sah mich dabei musternd an. »Du siehst aus wie ein anständiges Mädchen. Nicht so dünn und dürr wie die anderen Püppchen auf Ethans Schule. Scheinst einen gesunden Appetit zu haben. Ich mag dich jetzt schon, wir werden bestimmt gut miteinander auskommen.« Sollte das jetzt heißen das ich fett bin?
»Das hoffe ich doch sehr.«, antwortete ich schnell und schob meinen Gedanken beiseite.
Ethan zog einen Stuhl zurück. »Setz dich doch Fanny.« Mit einem dankenden Kopfnicken ließ ich mich zwischen Granny Croft und Ethans Mutter nieder. Ethan selber nahm gegenüber von mir Platz und Grandpa hatte und uns alle am Kopfende im Blick.
Dann wurde auch schon das Essen aufgetragen.

Als das Essen vorbei war und ich endlich in mein Zimmer durfte, begleitete mich Ethan. Er wir inzwischen doch wieder sympathisch geworden und ich hoffte das wir gute Freunde werden würden.
»Und? Was denkst du von meiner Familie?«
»Deine Eltern sind sehr nett. Und deine Granny mag ich sehr.«, beantwortete ich seine Frage.
»Ja. Granny ist schon ein verrückter Vogel. Aber ich mag sie und sie mich. Und du bist wohl ihr nächster Lieblingskandidat auf der Liste.« Er stieß mir lachend mit den Ellenbogen in die Seite.
»Mag sie den Rest der Familie etwa nicht.«
»Ach die halten sie alle schon für senil und verrückt. Grandpa würde sie am liebsten ins Altersheim stecken. Zu ihrer eigenen Sicherheit, wie er immer sagte.«
»Gemein.«, meinte ich.
»Außerdem behauptet sie in die Zukunft sehen zu können.«, flüsterte Ethan hinter hervor gehaltener Hand.
»Was echt? Stimmt das auch?« Ethan zuckte mit den Schultern.
»Das weiß keiner, aber sie lag schon oft richtig. Naja wer weiß schon was in ihrem Kopf vorgeht. Vielleicht hat sie auch einfach nur eine Menge Fantasie, das meint Großvater jedenfalls.«
»Sind die zwei nicht verheiratet?«
»Wer? Granny und Grandpa?« Ethan brach in schallendes Gelächter aus. Hatte ich etwa schon wieder was falsches gesagt. »Granny ist die Mutter von meinem Vater. Sie hatte damals in die Haddington Familie eingeheiratet, aber ihr Mann ist schon seit einigen Jahren tot. Mein Vater ist ihr einziger Sohn. Grandpa und Granny sind also nicht miteinander verwandt.«
»Achso. Das erklärt alles.« Inzwischen waren wir an der Tür zu meinem Zimmer angekommen. »Also, ...«
»Morgen ist es dann soweit.«, beendete Ethan meinen Satz.
»Häh? Was ist morgen?«, fragte ich verwirrt.
»Dein erster Schultag?« Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Mein erster Schultag. Ich muss ja auf eine andere Schule gehen.
»Stimmt.«, sagte ich. »Dann geh ich jetzt besser mal schlafen.« Doch da fiel mir erneut was ein. »Wo bekomme ich denn hier einen Wecker her?« Ich war nämlich Weltmeisterin, wenn es darum ging zu verschlafen. Und manchmal kam es sogar vor, das ich den Wecker nicht höre, obwohl er direkt neben mir stand. Da könnte auch gleich eine Bombe einschlagen und ich würde mich nur genervt auf die andere Seite drehen und weiterschlafen.
»Mach dir keine Sorgen das du verschläfst.«, meinte Ethan. »Humble weckt uns meist. Oder bei dir bestimmt das Dienstmädchen das dir zugeteilt ist.«
»Ich habe ein eigenes Dienstmädchen?«
»Aber klar doch. Jeder der hier wohnt hat eins.«
»Dann hat sich meine mir noch nicht vorgestellt.« Ich zuckte mit den Schultern. Hat sie wohl vergessen. »Na dann, schlaf gut Ethan.«
»Du auch, Fanny.« Er zwinkerte mir zu. Ein göttliches Zwinkern, bei dem man aufpassen musste nicht rot zu werden. »Bis morgen.« Er ging durch seine Tür und verschwand.
»Ja, bis morgen.«, rief ich ihm noch hinterher und ging dann auch in mein Zimmer. Morgen mein erster Schultag, an einer neuen Schule in einem anderen Land. Das wird bestimmt lustig.

Kapitel 04

Ich saß auf einer Wiese, inmitten von hohem Gras, das mich bis fast zur Hälfte verdeckte. Es war eine meiner Lieblingswiesen. Diese lag hinter dem Hof von Oma und Opa. Mit Mama und Papa kam ich sehr gerne hier her. Auch wenn ich immer älter wurde und der Baum, nicht weit weg vom Haus, nicht mehr wie einer der größten und am schwersten zu erklimmenden aussah, mochte ich es immer wieder bis in die Spitze zu klettern, um mir die Welt von oben anzusehen oder meiner Fantasie einfach freien lauf zu lassen.
Auf dieser Wiese war ich schon vieles gewesen. Ein Gepard im hohen Savannengras, der sich an seine Beute anschlich. Oder ein Entdecker in einem Dschungel, ein Cowboy im Wilden Westen oder ein Indianer auf dem Kriegspfad. Auf einem fremden Planeten war ich auch schon gewesen. Mir sind immer wieder neue Sachen eingefallen und das tun sie noch heute, aber alleine spielen macht nicht so viel Spaß. Damals war Bobby, der Junge vom Nachbarschaftshof, mein Spielgefährte. Dessen Eltern besaßen auch eigene Pferde, von denen wir einige reiten durften, weshalb dann einige unsere Fantasiespiel immer sehr echt wirkten.
Doch diesmal saß ich ganz alleine in dem hohen Gras und schaute den Baum hinauf. Ich bekam richtig Lust ihn wieder hinauf zu klettern. Stück für Stück arbeitete ich mich nach oben, nur komischerweise schien er diesmal kein Ende zu haben. Völlig aus der Puste setzte ich mich auf einen Ast. Ich hatte gerade mal die Hälfte geschafft, aber trotzdem war die Höhe schon beachtlich. Das Haus von Oma und Opa konnte ich problemlos überblicken und auch in den Hof der Nachbarn zu schauen, war ein leichtes. Als ich weiterklettern wollte rief jemand von unten.
»Fanny! Komm runter wir wollen fahren!« Es war meine Mutter. Enttäuscht kletterte ich wieder runter. Immer wenn es am schönsten wurde mussten wir gehen. Unten angekommen merkte ich schon das etwas nicht mit Mama stimmte. Sie schaute nicht gerade glücklich. Ich setzte mich schon mal ins Auto und als wir losfuhren, fingen Mama und Papa sich wieder an zu streiten. In letzter Zeit passierte das immer häufig und es dauerte meist die ganze Fahrt an. Um nicht mitzuhören über was sie stritten, und ehrlich gesagt hatte es mich meist nie interessiert, außer es ging um mich, setzte ich mir wie immer meine Kopfhörer auf und drehte die Musik so laut, das ich nichts mehr verstehen konnte. Dazu vertrieb ich mir die lange Fahr mit einem Buch. Ab und zu blickte ich von meiner Lektüre auf, doch hören konnte ich, wie gesagt, nichts. Nur ihre stummen Münder, die wie aufgeregte Fische immer auf und zu gingen, musste ich mir dabei ansehen, doch das war besser als die dazugehörige Lautstärke und hysterischen Stimmen.
Wir fuhren sehr lange – hauptsächlich Autobahn. Und nachdem ich mit dem lesen aufgehört und mir vom ständigen Zählen der Bäume, die an uns vorbeirauschten, schlecht wurde, versuchte ich es mit einer bestimmt farbigen Autos. Doch das wurde irgendwann langweilig. Also starrte ich weiterhin aus dem Fenster und versuchte an nichts zu denken. Der Streit meiner Eltern schien ihren Siedepunkt erreicht zu haben. Jedenfalls wurden ihre Bewegungen immer hektischer und ihre Gesichtsausdrücke noch wütender.
Ich fragte mich worüber sie sich wohl stritten, hielt es aber für das beste, mich nicht einzumischen. Wenn ich dies tat, bekam ich meist immer eine unfreundliche Antwort und dann stritten sie sich weiter. Es würde also rein gar nichts nützen. So sind Erwachsene halt.
Ich starrte durch die zwei Streitenden nach vorne auf die Fahrbahn, wo ein Lastwagen direkt vor uns fuhr. LKWs waren nichts seltenes auf der Autobahn. Doch den LKW vor uns kannte ich von irgendwoher. Es kam mir wie ein Deja-vú vor, als ich ihn da vor uns fahren sah.
Plötzlich fiel es mir ein woher ich glaubte ihn zu kennen und ich schrie aus Leibeskräften: »BREMS!« Doch da war es schon zu spät. Der LKW vor uns legte eine Vollbremsung hin. Papa trat ebenfalls das Bremspedal durch und riss den Lenker herum, um noch auszuweichen . Mit quietschenden Reifen schlitterten wir auf das linke hintere Heck des Lastwagens zu, streiften ihn und knallten mit voller Wucht gegen den Mittelstreifen.
Da ich wusste was danach geschehen würde, hatte ich mich abgeschnallt die Tür geöffnet und war, während das Auto bremste herausgesprungen. Doch das änderte nichts an der Tatsache, das sich der Wagen meiner Eltern beim Zusammenprall des Mittelstreifens überschlugen und auf der anderen Seite der Autobahn landeten. Ich hatte keinen schmerzfreieren Aufprall hinter mir, auch wenn der Asphalt nicht so hart aussah.
Mir tat alles weh, als ich mich langsam bewegte. Erstaunlicherweise schaffte ich es noch irgendwie mich auf die Beine zu raffen. Um mich herum waren lauter Stimmen zu hören, die durcheinander redeten. Das Auto meiner Eltern stand in Flammen und in der Ferne hörte man Sirenen.
Ehe ich begriff was hier passiert war und die Traurigkeit von mir Besitz ergreifen konnte, erschien neben mir mein Großvater. »Bilde dir bloß nicht ein, das ich dich bei mir aufnehmen. Ich habe schon genug Ärger und kann kein Balg gebrauchen, das mir nur Scherereien bringt.«
Ich brachte kein Wort heraus. Was soll das denn? Hat er nicht das Sorgerecht übernommen? Will er mich einfach so im Stich lassen? Muss ich jetzt etwa auf der Straße leben?
Ein Bellen durchbrach meine Gedanken. Das ist Cupcake, schoss es mir durch meinen Kopf. Ich folgte dem Bellen und fand Cupcake abseits an der Straße in einem Straßengraben. Er saß wie ein Häufchen Elend da und schaute mich aus großen traurigen Augen an.
»Hey mein Kleiner.«, sagte ich und kam in den Graben, um ihn da heraus zu holen. »Was machst du denn hier? Komm ich hol dich hier raus.« Gerade wollt ich nach ihm greifen, als er knurrend die Zähne fletschte, die Ohren anlegte und in eine geduckte Haltung ging. In Hundesprache war dies eine bedrohliche Geste und bedeutete, das er zum Angriff übergehen würde, wenn er glaubte sich wehren zu müssen.
Ich schreckte zurück. »Was hast du denn? Cupcake es ist alles in Ordnung. Ich tu dir doch nichts.« In meiner Stimme schwang Angst, auch wenn ich sie nicht zeigen wollte. Trotzdem war sie da und nahm meinen Körper ein. Cupcakes Knurren wurde lauter und tiefer und urplötzlich fing er an zu wachsen. Aber nicht auf eine große, niedliche Version von dem Baby Husky, sondern eine Mischung aus einem ausgewachsenen Wolf, mit glühenden Augen, abgemagerten Körper. Er war zu einem Monsterhund mutiert, die man meist in irgendwelche Gruselfilmen sieht. Das machte mir noch mehr Angst. »Cupcake?!« Ich stolperte rückwärts und kroch aus dem Straßengraben. »Cupcake?! Cupcake hör auf!«, sagte ich mit fester Stimme. Doch das nutzte nichts. Meine Angst war immer noch zu hören. Ich war gefundenes Fressen für das Monster.
Weil die Angst meinen Körper übermannte, rappelte ich mich auf und ergriff die Flucht. Wie in einem schlechten Traum kam ich aber nicht schnell genug voran. Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an und der Boden unter meinen Füßen schien Treibsand zu sein. Ich hörte Cupcakes Knurren hinter mir bedrohlich nahe kommen und Panik kam über mich. Verzweifelt schrie ich nach Hilfe, doch wer sollte mir schon zur Hilfe kommen. Alle die ich kannte waren entweder tot oder wollten mir nicht helfen.
Plötzlich bohrte sich etwas schmerzhaft in meinen Arm und zog mich nach oben. Monster-Cupcake hatte mich eingeholt und mit seinen Monsterzähnen gefangen, die er in meinem linken Arm gejagt hatte. Wie eine hilflose Puppe hing ich in der Luft und schrie wie am Spieß. Aber Cupcake ließ mich nicht runter.
Das ist mein Ende! Ich werde hier jämmerlich sterben. Gefressen von einem Monsterhund, von dem ich glaubte er würde mich mögen.
Als ich schon dachte mein letztes Stündlein habe jeden Moment geschlagen, schallte ein Jaulen durch die Luft und der Monsterhund ließ mich los. Hart fiel ich zu Boden, hielt mir den Arm, der nicht aufhörte zu bluten und in dem sich drei tiefe Löcher gebohrt hatten – vielleicht war auch ein Knochen durchgetrennt worden. Der Schmerz durchzuckte unaufhörlich meinen Körper und ich konnte kaum klar denken. Was ich aber mitbekam war, wie Monster-Cupcake zurückwich und winselte. Ein sauberer Schnitt zeichnete sich quer über das ganze Gesicht ab. Schwarzes Blut quoll daraus hervor.
Schwarz?
»Wäre ich nicht rechtzeitig gekommen, hätte er dich vermutlich gefressen.«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir. »Am besten wird es sein wenn ich ihn jetzt sofort töte, ansonsten besteht die Gefahr das er noch weiter wächst.« Neben mir tauchte ein Junge auf. Er war ungefähr so groß wie Ethan, wenn nicht sogar noch größer. In der Hand hielt er eine Art Schwert, das an die Waffe eines Ninjas oder Samurais erinnert.
»Wer bist du?« Der Unbekannte ignorierte meine Frage und wandte sich Monster-Cupcake zu, der immer noch blutete. Was ist hier verdammt nochmal los?
»Interessant.«, murmelte er. »Er ist schon auf Stufe zwei und das innerhalb von kürzester Zeit.«
»Wovon sprichst du? Was hast du vor?« Er antwortete wieder nicht. Stattdessen nahm er eine Kampfstellung ein und hielt das Schwert vor sich, jeden Moment darauf bedacht anzugreifen. »Nein tu Cupcake nichts!«, flehte ich ihn an. »Er kann doch nichts dafür, er hat nur Angst.«
»Dieses Vieh da ist nicht dein Haustier!«
»Natürlich ist das Cupcake!« Der Typ war nicht mehr ganz bei Verstand, oder war ich es? Ist das denn hier noch ganz normal?
Cupcake hatte sich inzwischen wieder seiner Wunde abgewandt und in seinen Augen glühte der Zorn und die Wut. Mit einem unheimlichen Knurren und Brüllen, stürzte sich der Monsterhund auf uns beide. Der fremde Typ stand vor mir, ob schützend oder nicht, kann ich nicht beurteilen, aber auf alle Fälle für einen Kampf bereit. Und ich war mir sicher, dass er nicht davor zurückschrecken würde Cupcake zu töten.
»Nein! Cupcake!« Ehe ich wusste was ich tat, stieß ich den Kerl beiseite und stand nun Cupcake selber gegenüber. Für einen Augenblick lang konnte ich in seine Augen blicken, dann riss der Monsterhund sein Maul auf und schnappte zu.
Ein erstickender Schrei kam über meine Lippen. Es tat so weh. Anders als vorher hatten sich die Zähne von meinem Bauch, über die Brust, bis in die rechte Schulter gebohrt, sowie einen Teil des Armes - vermutlich hätte es nicht mehr viel gefehlt und ich wär ihn losgeworden.
Heftig atmete ich ein und aus, unterdrückte dabei immer wieder die Schreie, die über meine Lippen kommen wollten, indem ich meinen Mund fest zusammenpresste. Meine freie linke Hand krallte sich in das Fell des Biestes. Dabei kam ich ausversehenen an die Verletzung, die sich quer über das ganze Gesicht zog und Cupcake zeigte den Schmerz, indem er noch fester seine Zähne in mich biss.
Ich würde garantiert an Blutverlust sterben, dessen war ich mir sicher. Aber ich konnte Cupcake auch verstehen. Nach dieser Verletzung hatte er Angst, dass man ihm noch mehr wehtun würde. Aber ich wollte das nicht. Nur wie konnte ich ihm das zeigen?
In der Not fiel mir ein kleines Sprüchlein ein, das meine Mutter immer aufgesagt hat, wenn ich mir mal wehgetan hatte und bitterlich weinte. Danach ging es mir meist immer besser, oder ich hörte wenigstens auf zu weinen.
Sachte fing ich an durch das Fell zu streicheln und passte dabei ganz genau auf, nicht an die Wunde zu kommen. »H … Heile, heile, Kätzchen, … d … Kätzchen hat vie … Tätzchen. Vier Bei...ne und … langen Schwanz, … morgen ist … heil un … ganz.« Ich bekam den Spruch nur mühsam über meine Lippen, ohne großartige Schmerzen dabei zu bekommen. Meine rechte Lunge tat höllisch weh. Aber ich bemühte mich das Sprüchlein immer und immer wieder aufzusagen, wenn auch mit einigen Lücken, und streichelte weiter den Kopf des Monsterhundes.
Der Spruch den meine Mutter immer aufsagte ging in etwa so:

Heile, heile Kätzchen,
das Kätzchen hat vier Tätzchen.
Vier Beine und einen langen Schwanz,
morgen ist alles wieder ganz.

Und irgendwie schien es zu funktionieren. Cupcake beruhigte sich allmählich, ließ mich los und alles an ihm begann wieder zurück zu schrumpfen, bis schließlich der kleine Husky wieder vor mir saß, wie ich ihn in der Transportbox gefunden hatte.
Völlig verwirrt saß er vor mir, legte seinen Kopf schief und sah mich an. Vermutlich fragte er sich, was mit mir passiert war. Ein kurzer Blick an mir herab, brachte mich fast der Ohnmacht nahe. Das Blut floss weiter aus meinen Wunden und die großen Löcher, die die Zähne hinterlassen hatten, gähnten wie schwarze Krater in meinem Körper.
Ich schnappte nach Luft und versuchte den Drang meinen Magen zu entleeren zu unterdrücken. Cupcake winselte mitfühlend und schlich auf meinen Schoß. Mit einem wehmütigen Lächeln strich ich ihm durchs Fell und er begann meine Hand abzulecken. In seinen Augen war die puren Schuldgefühle geschrieben. »Mir geht’s gut.«, flüsterte ich kaum hörbar.
»Du bist wirklich der dümmste Mensch, der mir je untergekommen ist.«, meldete sich der Fremde nun endlich auch mal wieder zu Wort. Nachdem ich ihn zur Seite geschubst hatte, war er für kurze Zeit in Vergessenheit geraten. Nun kam er auf mich zu – das Schwert zum Glück weggesteckt. »Man stellt sich einem Traumfresser nicht unbewaffnet in den Weg und schon gar nicht mit der Absicht ihn zur Vernunft zu bringen.«
»Traumfresser?« Ich sah ihn verwirrt an. »Cupcake ist vielleicht ein Vielfraß, aber Träume stehen nicht auf seiner Speisekarte.« Seufzend fuhr sich der Typ durch das Haar und murmelte etwas vor sich hin. Erfreut schien der über diese ganze Situation nicht zu sein. Aber er wollte Cupcake töten, was hätte ich denn tun sollen?
»Das da ist nicht dein Hund.« Er zeigte auf Cupcake, der ihn genauso verwirrt ansah wie ich. »Ach das hat ja alles keinen Sinn.« Mit entschlossenen Schritten kam er auf Cupcake und mich zu. Knurrend sprang Cupcake von meinem Schoß und ging in seine Kampfstellung. Doch die geduckte Haltung und die kleinen Zähne imponierten den Typen genauso wenig, wie die Monsterversion.
Ehe ich etwas dagegen machen konnte, stürzte sich der kleine Husky auf den Fremden. Cupcake setzte zum Sprung an, um ihm an die Kehle zu gehen, doch der andere war schneller. In weniger als einer Sekunde hatte er sein Schwert gezogen und den kleinen Hund darauf aufgespießt.
Mir brach das Herz entzwei. Das Atmen fiel mir nun noch schwerer und meine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich bekam keinen Ton aus mir heraus. Der kleine Körper rutschte von der Klinge und schwarzes Blut floss aus ihm heraus und färbte den Asphalt um uns herum.
Die Miene des Mörders blieb gleichgültig wie eh und je. Nicht mal gezuckt hatte sie, als er Cupcake getötet hatte. Wie konnte er so etwas nur tun?
»CUPCAKE!«

Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich aus meinem Schlaf hoch. Ich war kurz davor aus dem Bett zu springen und durch die nächste Wand zu rennen. Ja durch, nicht dagegen, so viel Adrenalin hatte ich in meinem Körper. Der Schweiß lief mir eiskalt von der Stirn.
Für einige Minuten war ich vollkommen verwirrt und wusste nicht was geschehen war. Als ich jedoch Cupcake in seinem Körbchen friedlich schlafen sah, atmete ich erleichtert auf. Es war also nur ein Traum gewesen.
Mein erster Gang ging ins Bad, wo ich mir das Gesicht wusch und alles nochmal Revue passieren ließ. »Das war ein komischer Traum.«, murmelte ich. »Er schien so echt zu sein.« Und mit echt meinte ich täuschend echt. Aber das war bei Träumen ja meist so.
An Schlaf war jedenfalls nicht mehr zu denken. Als ich es trotzdem versuchte und nach einer Stunde immer noch nicht in den Schlaf gefunden hatte, beschloss ich es ganz sein zu lassen. In zwei Stunden musste ich sowieso aufstehen, da konnte ich es auch jetzt tun.
Ein unerklärlicher Drang nach heißen Kakao überkam mich und im Dunkeln, mit Hilfe von dem Licht der Sterne und dem Mond, suchte ich mir den Weg nach unten. Im Haus war es totenstill und nirgendwo brannte Licht. Nur in vereinzelten Gängen schien, wenn überhaupt, eine kleine gedämmte Lampe, aber ansonsten nichts. Wie in einem Geisterschloss kam ich mir vor und zuckte bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen – nach so einem Traum bestimmt verständlich.
In der Küche brannte erstaunlicherweise Licht. Die Tür stand einen kleinen Spalt offen, wodurch das Licht auf den Flur fiel. Erst wollte ich reingehen, überlegte es mir dann aber doch anders, weil ich plötzlich mit der Angst bekam – nach so einem Traum auch verständlich. Vielleicht war da drinnen auch gerade ein Einbrecher und räumt den Kühlschrank leer.
Ehe ich mich für eine Sachen, Flucht oder nicht, entscheiden konnte, ging die Tür auf und ich hätte beinah einen Herzinfarkt bekommen, als Ethan plötzlich vor mir stand.
»Ethan.«, flüsterte ich und legte meine Hand auf meine Brust, damit mein Herz sich endlich wieder beruhigte. »Was tust du denn hier?«
»Ich hab mir einen Kaffee geholt.«, antwortete er gelassen. »Und du? Kannst du nicht schlafen.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.
»Aufgeregt?«, fragte er mich.
»Was?« Wegen was sollte ich denn aufgeregt sein?
»Na wegen deinem ersten Schultag, der in genau … vier Stunden beginnt.« Wenn ich ihm jetzt sagen würde ich hätte einen Alptraum gehabt, wäre ich für ihn das Baby aus Deutschland. Deshalb nickte ich nur. »Willst du dir auch was zu trinken holen?« Wieder nickte ich und folgte ihm in die Küche. »Kaffee?«, fragte er mich.
»Lieber Kakao.«, erwiderte ich und setzte mich an den großen Küchentisch. Ethan stellte die Kaffeemaschine ein, mit der man auch Kakao produzieren konnte und stellte eine Tasse unter die Düsen. »Warum bist du denn wach?«, erkundigte ich mich.
»Konnte nicht schlafen.«
»Achso.«
Der Kakao war fertig und dampfte. Heiß und süß, so hatte ich es am liebsten. Dankend nahm ich die Tasse entgegen und schlurfte langsam den wenigen Milchschaum, der sich oben gebildet hatte, weg. Einfach lecker.
»Was ist das an deinem Arm?« Ich folgte Ethans Blick und sah zu meinem linken Arm. Ich schaute auf meinen Arm und erschrak. Drei dunkle Male hatten sich auf meiner Haut gebildet. Sie hatten einen lila-blauen Ton angenommen und sahen aus wie blaue Flecke. Dieselben Male fand ich parallel zur Innenseite wieder. Aber das merkwürdigste daran war, dass sie sich der Wunde aus meinem Traum ähnelten. Vor Schreck hätte ich fast die Tasse Kakao fallen gelassen. Was hat das zu bedeuten?
»Sind das … Bissspuren?« Er nahm meinen Arm in die Hand und drehte ihn, um sich das alles genauer anzusehen. »Das muss aber ein großes Tier gewesen sein.«
»Ähhh … ja.«, sagte ich und entzog mich seiner Hand. »Der Hund vom Nachbarn. Ein großes Vieh.« Stirn runzelnd blickte Ethan mich an. Was hätte ich ihm sonst erzählen sollen. Das mich im Traum ein Monsterhund angegriffen hätte und die Bissspuren vermutlich von ihm stammen. Ethan würde mich für verrückt halten und Grandpa sagen er solle mich zum Psychiater schicken.
»Du kennst unseren Nachbarn nicht. Er wohnt am anderen Ende unseres Grundstücks.«
»Ich meinte den Hund von meinem Nachbarn aus Deutschland.«, klärte ich ihn auf. »Das ist unmittelbar davor passiert, bevor ich hierher kam.«
»Bist du damit nicht zum Arzt gegangen?«
»Ne. Es hat ja nicht geblutet.«
»Wenn es noch weh tut und nicht besser wird, solltest du das tun. Es ist nämlich noch angeschwollen.« Ich tastete die Male ab. Tatsächlich. Angeschwollen. Und wenn man es berührte tat es auch weh. Warum habe ich das nicht schon vorher gemerkt.
»Ja, werde ich machen.«, versprach ich. Ethan ging zum Kühlschrank und nahm einen Eisbeutel aus dem Gefrierfach.
»Hier.« Er legte den Beutel voll Eis auf meinen geschwollenen Arm. »Wenn du es kühlst geht die Schwellung vielleicht eher weg.«
»Danke.« Ich lächelte ihn an. Er war ein netter Cousin. Fast schon ein Bruder.

Kapitel 05

Ich weiß nicht was blöder ist. Wenn man unausgeschlafen ist und in die Schule muss oder wenn man unausgeschlafen ist und seinen ersten Schultag an einer neuen Schule hat, wo man ja keinen schlechten Eindruck am Anfang hinterlassen darf. Vor allem dann nicht, wenn man auf eine so noble Schule geht, wie Ethan es tut – und ich nun auch.

Die Liongate Academy ist eine sehr angesehene Schule, die vorwiegend Schüler aus dem Hause von High Society Familien beschäftigt, oder anders gesagt, Familien die eine Menge Kohle haben. Aber auch ganz „normale“ Schüler, mit herausragenden Fähigkeiten, sind dort zu gegen. Ich fand das alles ganz schön eingebildet. Meiner Meinung nach heißt es nicht gleich, dass man klug und gebildet ist, nur weil man aus einer reichen Familie kommt, die einen hohen Stand in der Gesellschaft hat. Aber es ist natürlich egal was man für eine Meinung hat, denn das einzige was solche Schulen sehen wollen ist Geld und Zack! schon ist man drinnen – so stellte ich mir das jedenfalls vor. Und wahrscheinlich war das bei mir auch der Fall gewesen, sonst würde ich nicht so schnell da reingekommen sein.

»Ihr seht toll aus Miss Fanny.«, sagte mein Zimmermädchen und betrachtete mich mit mir im Spiegel. Alice heißt sie und ich mochte sie schon vom ersten Augenblick an. Sie erinnerte mich genau an die Alice aus dem Märchen, die in ein Wunderland kommt und dort auf sonderbare Gestalten trifft. Ihre Statur war auch der Alice, die ich mir immer vorgestellt hatte, sehr ähnlich. Langes blondes Haar, welches sie zu einem schönen lockeren Zopf geflochten und elegant über die Schulter gelegte hatte. Es gab ihr etwas kindliches und anmutiges zugleich. Die Dienstmädchenuniform ergänzte das Gesamtbild perfekt und es würde sicher noch perfekter sein, wenn sie blau wäre und eine weiße Schürze hätte.

Hier und da zupfte Alice noch an meiner Schuluniform herum. Sie bestand aus einem dunkelblauen Blazer, mit weißem Hemd darunter und einem karierten Rock in dunklem Blau und Rot. Dazu gab es noch ein rotes Band in dem selben Rot-Ton wie im Rock, das zu einer Schleife um den Kragen gebunden wurde. Auf dem Blazer war das Logo der Schule aufgenäht.

Ich musste zugeben, das diese Uniform was hatte. Sie gefiel mir. »Und? Seid Ihr denn schon aufgeregt?«, fragte Alice weiter.

»Ein bisschen.«, gestand ich. »Es ist eine neue Umstellung und meine alte Schule war ganz anders.« In Deutschland ging ich auf eine stinknormalen Mittelschule und war auch froh darüber. Ich hatte gute Freunde gefunden und schnitt in den meisten Fächern nicht schlecht ab.

»Das wird schon. Der erste Tag ist immer etwas schlimm, aber nach und nach wird es besser.« Sie versuchte mir Mut zu machen.

»Ich muss nur aufpassen das ich nicht einschlafe.«, murmelte ich leise zu mir selbst. Zum Frühstück hatte ich es wie Ethan versucht und eine Tasse Kaffee, mit viel Milch und Zucker, getrunken, damit ich wach blieb. Bis jetzt macht sich der Koffein mittelmäßig gut in meinen Körper. Aber richtig wach würde ich wohl nie werden. Der linke Arm, an dem sich die Male befanden, pochte immer mal leicht, aber tat nur richtig weh, wenn ich dran kam oder etwas schweres halten musste, sodass es dann immer höllisch zog.

Den Rucksack geschultert ging ich nach unten in die Eingangshalle. Cupcake begleitete mich bis zur Tür, wo ich mich von ihm verabschiedete. »Sei ja brav wenn ich nicht da bin. Hast du mich verstanden? Grandpa kann dich jederzeit rauswerfen, denn zur Familie gehörst du ja nicht.« Mit dem unschuldigsten Blick den ich je gesehen hatte, saß der kleine Husky vor mir und legte den Kopf schief.

»Ich glaube nicht das er dich je verstehen wird.«, ertönte Ethans Stimme hinter mir. Auch er trug die Schuluniform – natürlich eine Hose statt einen Rock, das wäre auch ziemlich albern gewesen.

»Vielleicht doch und er tut nur so.« Ich hielt alles für möglich.

»Die Uniform steht dir.«, sagte er mit einem Lächeln.

»Danke.« Verlegen schaute ich zu Boden. Ethan konnte Lächeln wie ein Engel und vermutlich ist er auch einer. Wie gesagt, möglich ist alles. Doch eines stand schon von vornherein für mich fest, ich bin bestimmt nicht die einzige die Ethan hübsch und attraktiv fand. Tausend andere Mädchen der Liongate Academy würden das genauso sehen.

Ein Chauffeur fuhr uns beiden zur Schule. Die Fahrt dauerte in etwa zwanzig Minuten, wenn man den Straßenverkehr an schlimmen Tagen mitrechnete, etwa dreißig. Der Wagen fuhr uns direkt vor das Tor und wir stiegen aus. Ich blieb wie versteinert stehen.

Das was ich da vor mir sah war keine Schule. Das war eine halbe Uni. Ein riesiges Gebäude erstreckte sich vor uns und auch wenn ich noch einige Meter bis zum Eingang zu laufen hatte, kam es mir jetzt schon riesig vor.

»Was starrst du denn so?«, lachte Ethan und zog mich mit sich. »Los komm, der Eingang ist da vorne.« Kaum waren wir durch das Tor gegangen und hatten das Schulgrundstück betreten, kamen von überall her plötzlich Mädchen. Weiß der Himmel aus welchen Löchern die gekrochen sind, aber innerhalb eines Wimpernschlags waren Ethan und ich von Mädchen umringt, wobei ich glaube das die Aufmerksamkeit eher meinem Cousin, als mir, galt. Als hätten sie schon auf ihn gewartet umringten sie ihn und wurden von Sekunde zu Sekunde immer mehr. Mich beachtete kaum jemand, - eigentlich gar keiner - weshalb ich auch drohte zwischen der Mädchenmasse zerquetscht zu werden, doch Ethan hielt mich weiterhin fest, während sich die Völkerschar immer näher an ihn drängte. Und sie alle plapperten durcheinander.

»Hallo Ethan.«

»Ich hab dich schon vermisst.«

»Das Wochenende ohne dich war nicht zum aushalten.«

»Deine Haare sehen wieder toll aus.«

»Setzt du dich heute Mittag mit an meinen Tisch?«

»Wie findest du meine neuen Schuhe?«

»Wer ist denn das Mädchen da?«

»Ist sie etwa deine Freundin?« Kaum hatte jemand diesen Satz gesagt, klingelten bei den anderen die Alarmglocken. Plötzlich war alles still und jedes Augenpaar der ganzen Mädchenschar lag nun auf mir. Neidvolle und Feindliche Blicke trafen mich und ich wollte am liebsten unsichtbar werden. Ethan war zu beliebt, fast schon ein Star. Das ganze schüchterte mich ungemein ein, doch Ethan lachte nur.

»Das ist meine Cousine Fanny. Sie ist aus Deutschland hierhergezogen und geht ab heute auf unsere Schule.« Ich hätte mich ja eigentlich auch selber vorstellen können, aber aufgrund der ganzen Blicke die mich durchbohrten, wie Speere ein Stück Käse, bekam ich kein einziges Wort heraus.

»Ach nur deine Cousine. Ich dachte schon du hast dir eine andere Freundin gesucht als mich.«, sagte eine der Mädchen und hatte sich an Ethans freien Arm geklammert und drückte sich an ihn und auch ihre Brüste, die man, dank den drei offenen Knöpfen, fast aus dem Hemd heraussprangen. Ich bekam Augen so groß wie Spiegeleier, als ich sah wie das blonde Mädchen da versuchte mit ihrem „weiblichen Charme“ bei Ethan zu landen. Doch den störte das kein bisschen und ließ ihn auch nicht ein klein wenig rot werden. Nichts. Nada!

»Was redest du da für einen Unsinn! Natürlich wird Ethan sich für mich entscheiden.«, warf sich ein anderes Mädchen in den Kanidatinentopf für den Freundinposten des gutaussehenden Schüler. »Schließlich weiß er das man nicht nur gutes Aussehen, sondern auch Charakter zu schätzen hat. Nicht wahr, Ethan?«

»So früh am Morgen und schon hast du alle Mädchen am Hals.«, schaltete sich jemand in diese Unterhaltung. Wofür ich übrigens sehr dankbar war, da ich befürchtet hatte, dass das ganze noch in einem Zickenkrieg ausarten würde.

Natürlich drehten sich alle Köpfe zu der Person um und fast alle Mädchen erstarrten. Ich gehörte auch zu den Erstarrten, aber aus einem vermutlich anderen Grund. Im ersten Moment dachte ich: Ich spinne. Wenige Meter von mir entfernt stand genau derselbe Typ, den ich in meinem Traum gesehen hatte. Er hatte die selbe Statur, die selben blauen Augen, die aus seinem Gesicht hervorstachen, die dunkelbraunen Haare, mit einem modernen Schnitt und die markanten Wangenknochen. Er war ein perfektes Abbild von dem Typen in meinem Traum.

»Wer ist denn die Neue?« Und die selbe Stimme. Ich werd wahnsinnig!

Wieder flogen alle Blicke zu mir. Die gleichen Neid und Feindseligen Blicke wie vorhin. Anscheinend reichte es nicht das ich mit meinem gutaussehenden Cousin ankomme, jetzt muss sich auch noch ein anderer gut aussehender und augenscheinlich ebenso beliebter Junge nach mir erkundigen und alle anderen ignorieren. Ich würde hier nicht mehr lebend rauskommen.

»Meine Cousine aus Deutschland. Gestern hierhergezogen.«, berichtete Ethan knapp.

»Freut mich.« Das war alles was ich herausbrachte.

»Noah Castor.«, stellte er sich vor und schritt auf mich zu. Wie von Zauberhand teilte sich die Menschenmenge und ließ ihn zu mir hindurch. Widerwillig, wie ich in einigen Blicken der Mädchen ablesen konnte. Anscheinend war auch Noah eine Art Idol von ihnen, wie Ethan. Direkt vor mir blieb er stehen und musterte mich. Ich wollte eigentlich das gleiche tun, aber weil mich seine Augen so sehr fesselten, kam ich gar nicht dazu. Sie waren blau. Richtig blau, wie das Meer in der Karibik. Na schön vielleicht etwas dunkler, aber auf alle Fälle faszinierend. Ich musste ständig an den Traum denken, wo er plötzlich aus dem Nichts auftauchte und mich rettete. Doch das hat nichts zu bedeuten, schließlich hat er Cupcake getötet und damit stand er bei mir auf der schwarzen Liste – egal ob das nur ein Traum war. Auch er schaute mich skeptisch an, so als ob er noch entscheiden müsste, in welche Kategorie er mich einteilen müsste. »Schönes Haar …«, murmelte er und nahm eine Strähne. Er ließ sie langsam zwischen seine Finger gleiten, so wie Ethan es getan hatte. Aber bei ihm fühlte es sich komisch an. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.

»Ist das ein Kompliment?«, fragte ich unsicher. Vielleicht war es auch Gang und Gebe das man Frauen einfach so sagte, ihr Haar sei schön. Ich schaute zu Ethan, doch der grinste mich nur an.

»Du solltest dich geehrt fühlen.«, meinte mein Cousin. »Noah gibt Mädchen sonst nie Komplimente. Und wenn, dann ist es selten.«

Ich stand immer noch wie erstarrt da, genauso wie die Meute um mir herum. Wären die Jungs nicht da gewesen, so war ich mir sicher, das sie mich aufgespießt oder an den nächsten Baum gehangen hätten.

»Und hat du auch einen Namen?«, erkundigte sich der Junge kühl.

»F-Fanny.«, stotterte ich. Meine Güte, wieso bekam ich vor dem denn kein vernünftiges Wort heraus?!

»Fanny also.« Ich nickte und er machte ein überlegtes Gesicht. Irgendwas war komisch an ihm. Sein Verhalten war irgendwie … seltsam. Die Mädchenschar um mich herum durchbohrten mich weiterhin mit ihren eiskalten Blicken. Ich musste schleunigst hier weg, sonst war ich Geschichte wenn die Jungs gingen, da war ich mir sicher.

»Ich geh mich dann schon mal anmelden … äh registrieren. Ja, genau … das werde ich jetzt tun. Bis später dann.« Ich schaffte es irgendwie mich beim Reden aus der Menge zu befreien und ging eiligen Schrittes Richtung Schuleingang.

»Hat mich gefreut Fanny Bunny.«, rief mir Noah hinterher. Ein wenig verdutzt schaute ich über meine Schulter auf ihn zurück. Fanny Bunny? Wie kam er denn auf den Namen?

Als ich durch die große Eingangstür trat und in eine Halle kam, blickte ich mich ein wenig verloren um. Wo sollte ich jetzt eigentlich hin? Ich schaute nach rechts und links, doch nirgendwo erblickte ich ein Schild oder etwas in der Art, das mir den Weg wies. Einen Lehrer sah ich auch nicht.

»Du bist doch die Neue.«, ertönte es plötzlich hinter mir. Ich drehte mich langsam um und dachte ich werde noch verrückt. Vor mir stand wieder ein Junge. Rechts und Links im Arm hatte er je ein Mädchen und ebenso wie Etan und Noah, nur nicht ganz so groß, eine Schar anderer makellos perfekt Aussehenden, die ihm auf Schritt und Tritt folgten. Er war groß, hatte braunes Haar, heller als das von Noah, braune Augen, die einen an einen Teddybären erinnerten und war recht dünn – aber nicht magersüchtig dünn.

»Ja, ich suche das Sekretariat. Ich muss mich da melden.«

»Den Gang immer weiter, dann die Treppe hoch in den ersten Stock, nach rechts und dann links. Wenn du willst bringe ich dich gerne hin.«

»Nein, nein … danke, aber ich finde den Weg schon alleine. Danke.« Und schon zischte ich ab. Wenn ich auf das Angebot eingegangen wäre, hätte ich bestimmt bald alle Mädchen der Schule am Hals, weil ich alle Aufmerksamkeit der beliebten Jungs bekam – warum auch immer.

 

Ich kam in die zehnte Klasse und war die einzige die neu hinzukam. Alle anderen waren schon länger hier. Da ich nicht am Anfang des neues Schuljahres hierherkam, sondern erst einen Monat später, hatte ich ganz schön viel nachzuholen und würde nur schwer Leute finden, mit denen ich gut auskäme. Alle hatten sich schon zu Grüppchen gebildet und ich konnte mich nicht wirklich gleich einbringen.

In der großen Pause hatte die Stellvertretende Direktorin mir eine Führerin für die Schule aufgezwungen, die mit mir in die selbe Klasse geht, beziehungsweise die meisten Kurse wie ich belegte. Obwohl ich ihr sagte, dass das nicht nötig sei und ich mich schon zurecht finden würde, konnte ich nicht gegen ihren Willen ankommen.

Meine Führerin war Holly. Sie war ein ganzes Stück kleiner als ich hatte schwarzes Haar und einen asiatischen Touch. Sie sah sehr niedlich aus, doch leider war sie auch sehr schüchtern und redete nicht besonders laut und viel.

»Und das hier ist das schwarze Brett.«, sagte sie und blieb vor einer großen Pinnwand stehen, an der eine Menge Zettel hingen. Alles Angebote von Club, die nach dem Unterricht stattfanden und andere Sachen. Wortlos reichte mir Holly einen Zettel. »Musst du ausfüllen.«, murmelte sie und ich las mir den Zettel durch. Es war ein Anmeldezettel für eine Clubaktivität die man gerne betreiben wollte. Erst gab man seine persönlichen Daten an und den Club den man gerne beitreten möchte.

»Bei wem muss ich denn den Zettel dann abgeben?«, erkundigte ich mich. Holly zuckte nur mit den Schultern.

»Lehrer.«, sagte sie. Dieses Mädchen war mir absolut nicht geheuer und ich wusste nicht was ich von ihr halten sollte.

Als letztes zeigte Holly mir meinen Spind, in dem ich meine Schulsachen unterbringen konnte. Ich öffnete ihn und tat die Bücher rein, die ich für heute nicht brauchte. Als ich den Spind wieder schloss war Holly verschwunden. Ich schaute in näherer Umgebung nach ihr, aber fand sie nicht. Sie ist wirklich sonderbar, dachte ich mir und ging zurück ins Klassenzimmer.

In den Pausen schaute ich immer wieder am schwarzen Brett vorbei und sah mir die verschiedenen Clubangebote an. Es war schwer sich zwischen den ganzen interessanten Sachen zu entscheiden. Astronomie, Astrologie, Badminton, Tennis, Judo, Karate, Kochen, Backen, Literatur, Sprachen, Zeichnen, Tanzen, Chor, Theater, Fitness, Fußball, Basketball, Lacross ... Die Schule bot wirklich eine Menge an. Wie sollte man sich da entscheiden.

Als die Schule vorbei war ging ich noch in die Schulbibliothek. Ich wollte nach einen Buch suchen, das übernatürliche Phänomene erklärt, wie den Biss den ich aus dem Traum hatte. Natürlich hatte ich immer nach einer logischen Erklärung gesucht, um mir das ganze zu erklären und um mich zu beruhigen, aber ich fand nichts. Alles was ich versuchte mir zusammenzureimen, brach nach wenigen Sekunden wie ein Kartenhaus zusammen. Aber ein blödes Gefühl wollte mich damit nicht in Ruhe lassen, weshalb ich unbedingt eine Antwort finden musste.

Ich lief die ganzen Bücherregale ab und suchte die Abteilung für unerklärliche Phänomene - oder so etwas in der Art. In der Bibliothek war so gut wie niemand. Nur ab und zu sah ich eine einzige Person durch einen Gang gehen oder vor den Regalen stehen, ansonsten war da niemand und absolute Stille herrschte.

Ich hatte das Regal mit den Büchern gefunden und nahm mir einige davon raus. Mit sieben Büchern suchte ich nach einem Tisch und fing an jedes einzelne von ihnen durchzuschauen. Nach einer halben Stunde gab ich mich geschlagen und brachte die Bücher wieder zurück. In keinem von ihnen stand irgendwas darüber, das Träume Realität werden konnten oder so. Nur solche Sachen über BigFoot, Muster in Maisfeldern und andere Sachen waren darin aufgelistet. Nicht gerade das wonach ich suchte. Doch zu meinem Glück hatte die Bibliothek auch Schulcomputer die man nutzen konnte. Ich setzte mich also an einen und fuhr mit meiner Suche im Internet fort. Aber auch da war meine Suche hoffnungslos. Ich fand nur lauter Theorien, die in meinen Ohren ziemlich absurd klangen. Und psychologischen Kram, worum es aber nur ging Verletzungen in Träumen zu deuten. Nirgendwo stand aber etwas davon, ob Verletzungen in Träumen aber auch Realität werden konnten. Ich schaltete den Computer wieder ab und versuchte mein Glück nochmal bei den Büchern. Diesmal ging ich auch in die Abteilung für Psychologie, auch wenn mein Erlebnis eigentlich nicht wirklich etwas mit meiner Psyche zu tun hatte – meiner Meinung nach. Aber wer weiß möglich ist alles.

Ich ging wieder die ganzen Regale ab, als ich plötzlich ein Knarren vernahm, das von einem der Schränke kam. Ich schaute mich um, aber da war niemand. Schulterzuckend ging ich weiter. Wahrscheinlich nur meine Einbildung.

Ein Buch fiel mir ins Auge, dessen Titel vielversprechend klang und das etwas höher in einem Regal stand. Als ich mich auf Zehenspitzen stellte, um es hinauszuziehen, hielt ich mich ein wenig an den unteren Regalbrettern fest um nicht den Halt zu verlieren. Auf einmal knarrte bedrohlich der ganze Schrank und kippte leicht nach vorne.

»Oh nein, nein, nein, nein!« Ich stemmte mich dagegen, was gar nicht so einfach war, denn schon fielen die ersten Bücher aus den obersten Regalen. Immer mehr drohte der Schrank zu kippen und ich versuchte verzweifelt ihn wieder in die ursprüngliche Position zu bringen. Doch alleine einen über zwei Meter großen Schrank, mit über zehn dutzend Büchern darin zu halten, war nicht gerade ein leichtes für mich. Zumal die Verletzung an meinem Arm schmerzte und ich mit einer Hand so gut wie keine Kraft hatte. Nach langem Versuch es zu halten, kippte der Schrank endgültig vornüber und begrub mich unter einen Berg von Büchern, die mir das Licht ausknipsten.

Kapitel 06

 

Mit fürchterlichen Kopfschmerzen kam ich wieder zu mir. Einige der Bücher hatten mich voll am Kopf erwischt und mir garantiert ein paar Dellen in meine Rübe geschlagen. Vorsichtig tastete ich meinen Kopf ab und zählte mindestens drei Beulen.

Als meine Augen wieder klar sehen konnten, bekam ich fast einen Herzkasper, als ich über mir den Schrank sah, der mich jeden Moment drohte zu zerquetschen. Ich krabbelte Rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen einen anderen Schrank. Glücklicherweise musste ich feststellen, das dieser den Sturz des andere gebremst hatte und so verhindert hatte, mich platt zu drücken wie eine Flunder. Erleichtert blieb ich sitzen und versuchte keine abrupten Bewegungen zu machen. Mein Kopf tat mörderisch weh wenn ich ihn zu sehr bewegte.

Eine Weile saß ich so da und versuchte den Schrecken zu überwinden und meinem Kopf die Möglichkeit zu geben, sich zu beruhigen. Als ich jedoch etwas im Augenwinkel wahrnahm, das am Ende des Schrankes stand und zu mir schaute, zuckte ich doch unweigerlich mit dem Kopf in die Richtung. Blöde Idee wie sich herausstellte. Ich kniff die Augen zusammen um den Schmerz zu unterdrücken. Als ich sie wieder öffnete war die Gestalt weg. Ich krabbelte unter dem Schrank hervor und sah mich um. Ich stand jetzt genau da, wo die Person vorhin auch stand. Aber sie war nicht mehr da. Ich schaute in die daneben liegenden Gänge, doch da war nichts.

»Um Himmelswillen was ist denn hier passiert?!«, rief plötzlich eine Stimme. Es war Mrs Prilla, die Bibliothekarin. »Da ist man nur einen Moment auf der Toilette und schon passiert so etwas.«

»Es war ein Unfall.«, rief ich zu ihr hinüber. »Der Schrank ist plötzlich umgekippt, anscheinend stand der nicht richtig fest auf dem Boden.«

»Das kann gar nicht sein, alle Schränke sind doch fest verhakt-«, sie stockte. »Das ist doch nicht möglich.« Sie blickte auf den Boden, wo sich die Verankerungen der Schränke befanden. Ich kam zu ihr und schaute mir ihre Entdeckung an. »Jemand hat den Schrank aus seiner Verankerung gelöst.« Sie schaute zu mir.

»Ich kann das nicht gewesen sein. So viel Kraft habe ich gar nicht.«

»Auch wieder wahr.«, stimmte sie mir zu. »Ist Ihnen was passiert?«

»Nur ein paar Beulen von den Büchern, die mir auf den Kopf gefallen sind.«

»Du liebe Güte! Sie waren darunter begraben!«

»Was ist denn hier passiert?« Ethan stand in der Tür. Hinter ihm Noah, der große Braunhaarige von heute Morgen und noch ein paar andere Schüler, die ebenfalls wissen wollten was hier los war. Oh bitte nur das nicht, stöhnte ich innerlich. Ich war erledigt. Fazit: Erster Schultag ist eine Katastrophe geworden.

»Jemand hat den Schrank aus seiner Verankerung gerissen und hätte fast das Mädchen unter ihm begraben.«, berichtete Mrs Prilla aufgescheucht, so als ob sie dem Tod nahe gestanden hätte und nicht ich. Sie fuchtelte mit den Armen und sah dabei wie ein Huhn aus.

»Es ist nichts passiert.«, beruhigte ich meinen Cousin, der schon ganz schockiert drein schaute.

»Sie hat bestimmt eine Gehirnerschütterung.«, sponn Mrs. Prilla weiter und ihre Stimme wurde immer aufgeregter.

»Nur ein paar Beulen.« Meine ganzen Versuche die Situation runter zu spielen nutzte mir nichts. Ethan kam auf mich zu und nahm mich an die Hand. »Ethan es ist nicht so schlimm.«, versuchte ich es noch einmal, doch er hörte nicht auf mich und zog mich weiter, ohne ein Wort zu sagen.

Er hatte mich direkt bis zur Krankenstation gezerrt, wo sich ein Schularzt meine Verletzung anschaute. Seiner Meinung nach habe ich nochmal Glück gehabt und nichts schlimmes wäre meinem Kopf zugestoßen. Die Beulen würden mit Eis wieder weggehen. Ich hatte also keine allzu schweren Schäden davongetragen – äußerlich. Trotzdem sollten wir meinen Kopf zur Sicherheit noch im Krankenhaus untersuchen und röntgen lassen.

Schweigend gingen wir nach draußen, wo unser Chauffeur schon auf uns wartete. »Tut mir leid.«, entschuldigte ich mich bei ihm. »Ich wollte keinen Ärger am ersten Schultag machen. Bist du mir jetzt böse?«

»Nein Fanny, bin ich nicht. Ich hatte nur Angst dir wäre etwas passiert.«

»Oh.« Das hätte ich nicht erwartet. Es ist irgendwie unglaublich wie schnell wir eine Verbindung zwischen uns aufgebaut haben und das innerhalb von einem Tag. Fast schon ein bisschen zu schnellBevor wir beide in den Wagen einsteigen wollten, kam Noah auf uns zu.

»Hey Ethan. Fanny Bunny.«, begrüßte er uns. Ich runzelte die Stirn. Was hatte er nur immer mit dem „Fanny Bunny?“ »Wollen wir uns heute noch treffen oder bist du verhindert? « Er wies mit seinem Kopf in meine Richtung.

»Nein, nein. Du kannst auch gerne gleich mitkommen. Wir müssen nur kurz beim Krankenhaus vorbei.«

»Ich komme gerne mit.«, antwortete Noah und zwinkerte mir zu (oder hatte ich mir das nur eingebildet?). Ehtan stieg auf der anderen Seite in den Wagen ein, doch ich blieb immer noch stehen und fragte mich, ob ich mir das Zuzwinkern doch nur eingebildet habe.

»Wollen wir dann Fanny Bunny?« Noah stand nun direkt vor mir und riss mich aus meinen Gedanken. Einen Moment lang war ich wie erstarrt. Von nahem sah er sogar noch besser aus und ich musste mich zusammenreißen ihn nicht direkt in die Augen zu starren, die – zugegeben – sehr fesselnd waren und etwas hypnotisches an sich hatte. Noah griff hinter mich und öffnete die Tür zum Wagen. Eigentlich war das Aufgabe des Chauffeur, aber der stand nur daneben als wäre nichts passiert. »Nach dir.« Ich stieg ein und rutschte neben Ethan. Noah stieg ebenfalls ein und setzte sich neben mich. Da saß ich nun, während der Fahrt zum Krankenhaus eingepfercht zwischen zwei Super-Kerle. Auch wenn es sich wie in einem schönen Traum anfühlte, war es mir ein wenig unbehaglich zwischen den beiden zu sitzen. Noah strahlte etwas kühles, unnahbares aus, aber zugleich etwas charmant und Ethan machte ein nachdenkliches Gesicht. Keiner sagte etwas auf der Fahrt und mir wurde noch etwas mulmiger zumute. Es schien als wären sie ziemlich ernst wegen irgendwas. Ob es meinetwegen ist?

Als der Wagen dann endlich vor dem Krankenhaus hielt und ich erleichtert ausstieg, ging es meinem Kopf schon etwas besser. Schon allein aus dem Grund, weil ich mir nicht so viele Gedanken wegen den Jungs machen musste. Wir gingen an den Empfang und Ethan schilderte kurz unser Anliegen. Ich musste meine Personalien angeben und dann wurden wir gebeten Platz zu nehmen und zu warten bis man uns aufrufen würde. Auch wenn ich darauf überhaupt keine Lust hatte, mir aber nichts anderes übrig blieb, setzte ich mich. Zuerst wollte ich mir etwas zum lesen nehmen, doch als ich schon versuchte die Titel auf dem Cover zu entziffern, pochte mein Schädel und ich ließ es bleiben.

Ethans Handy klingelte und er schaute auf das Display und schaute dann kurz seinen Freund an. »Entschuldigt mich.«, sagte er und ging nach draußen. Noah und ich schauten ihm nach. Ich mit einem neutralen Blick, er mit einem ernsten.

»Ist etwas schlimmes?«, sprach ich meine Gedanken auf seinem Blick hin aus. Doch er schüttelte nur den Kopf, wirkte dabei aber immer noch ernst.

»Nur etwas geschäftliches, weiter nichts.« Ich runzelte die Stirn. Geschäftliches? Weil dieses Stirnrunzeln meinem angeschlagenen Kopf nicht gut tat, schloss ich für einen Moment die Augen und lehnte mich gegen die Wand. Als ich sie wieder öffnete, war Noah verschwunden. Ein wenig verwirrt schaute ich mich um. War ich eingeschlafen?

Mit dem Gedanken, das er nur aufs Klo musste, beruhigte ich mich und schloss wieder die Augen. Um dann nur wenig später wieder die Augen aufzuschlagen, von etwas kaltem im Nacken. Vor Schreck sprang ich fast von meinem Sitz auf. Vor mir stand Noah, mit einer Flasche Wasser in der Hand.

»Hier.«, er warf mir die Flasche in den Schoß. »Ich dachte etwas kühles tut dir gut.«

»Danke.«, murmelte ich und trank etwas. Noah lehnte sich gegen die Wand und musterte mich, wie er es heute Morgen getan hatte. Was hatte er nur? »Kennt du und Ethan euch schon lange?«, versuchte ich ihn abzulenken – das angestarre ging mir auf den Kranz.

»Seit unserer Kindheit.«, antwortete er kurz angebunden und hörte nicht auf mich anzustarren. Er hatte nun wieder seinen kühlen bedachten Blick aufgesetzt und sprach so wie heute Morgen. Das verwirrte mich. Erst ist er distanziert und kühl, dann wieder charmant und freundlich, sodass man ihm am liebsten vor die Füße fallen möchte. Aus diesem hin und her wurde ich nicht schlau. Wie ist er nun wirklich? Oder habe ich ihn wegen irgendetwas verärgert? Aber wir kennen uns erst seit heute.

»Und wie lange genau?«

»Schon über 10 Jahre.« Sein Blick blieb weiter auf mich gerichtet. Langsam machte er mir Angst. Ich war zwar auch nicht so gut auf ihn zu sprechen, wegen der Sache im Traum, aber vielleicht ist er ja auch anders. Es ist doch schließlich nur ein Traum gewesen. Nur wie erklärt sich dann der Biss?, fragte sich mein Kopf.

»Fanny Haddington?«, wurde ich aufgerufen.

»Ja.«

 

Der Arzt hatte, wie der in der Schule, festgestellt, dass außer den Beulen alles in Ordnung war und man sich keine Sorgen machen musste. Ich wurde dennoch angewiesen sicherheitshalber keinen Leistungssport zu treiben (was auch immer er darunter verstand, denn schon die Sportstunde an sich, war für mich Leistungssport) und sollte mich den Rest des Tages ausruhen, kein Fernsehen, nicht lange Lesen oder Arbeiten, wenigstens für heute. Nicht gerade eine tolle Nachricht für mich, da ich noch die Schulsachen nachholen musste und das möglichst schnell. Wenn es mir am darauffolgenden Tag nicht besser gehen würde, sollte ich nochmal wiederkommen.

Als wir endlich wieder auf Haddington Hall waren, - Noah war mitgekommen - holte ich zunächst alles nach, was mir fehlte. Holly war so nett mir ihre Unterlagen zu leihen und ich hatte ihr noch meine E-Mail Adresse gegeben, damit sie mir Kopien von den Blättern digital schicken konnte. Mein Posteingang quoll förmlich über, so viele E-Mails sammelten sich da an. Ich beschränkte mich darauf alles zu kopieren und auszudrucken, aber das lesen ließ ich sein.

Beim überfliegen der Zettel musste ich feststellen, dass es da einige Themen gab, die ich noch nicht behandelt hatte oder von denen ich gar nichts verstand. Diese Schule schien wirklich sehr weit voran zu preschen, was die Thema im Unterricht angingen. Ich fühlte mich ein klein wenig überfordert mit der ganzen Situation.

Seufzend schaltete ich den Laptop ab und schaute zu Cupcake, der sich in einer Ecke mit einem Ball beschäftigte. »Du hast es gut Kleiner. Ein Hundeleben muss schön sein.« Obwohl … wenn ich so genau darüber nachdachte muss es das nicht sein. Denn jedem Hund konnte es passieren, das seine Besitzer ihn nicht mehr haben wollen und im nächsten Moment findest du dich ausgesetzt irgendwo wieder. Ein schrecklicher Gedanke wenn man Angst haben muss, jeden Moment vor der Tür zu landen.

Um mir die Beine etwas zu vertreten und um auf andere Gedanken zu kommen, machte ich mit Cupcake einen Spaziergang durch das Schloss. Ich blieb lange bei den Gemälden der Ahnen stehen und schaute mir die verschiedenen Herren des Schlosses an. Sie alle hatten etwas würdiges in ihren Augen, fast schon hoheitsvoll. Etwas das ich bestimmt nie haben werde.

Kapitel 07

 

Ich ging den Flur meiner neuen Schule entlang, so als würde ich ihn schon seit Jahren entlang gehen. Zielsicher bahnte ich mir einen Weg durch die ganzen anderen Schüler und suchte meinen Spind. Einige Meter davor, kreuzte Ethan meinen Weg.

»Fanny.«

»Hey Ethan. Ich hab gleich Biologie und schreibe einen Test.«, berichtete ich ihm.

»Interessant.«, meinte dieser. »Was ist das Thema?«

»Kreuzung.«, erwiderte ich in einem nicht gerade begeisterten Tonfall.

»Nicht dein Thema?« Ich schüttelte den Kopf. Wir kamen beide an meinem Spinnt an. Ich öffnete ihn und holte meine Bücher für den Unterricht heraus.

»Ich werd das Ding schon schaukeln.«, versuchte ich mir selbst Mut zu machen.

Ethan nickte. »Davon bin ich überzeugt.« Er legte eine Hand auf meine Schulter und kam meinem Gesicht ganz nah. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte er mich leise.

»Na klar.«, antwortete ich. Ethan hat sich so lieb um mich gekümmert als mir der Unfall mit dem Bücherschrank passiert ist, da will ich ihm jetzt auch helfen.

»Noah verhält sich komisch in letzter Zeit. Könntest du vielleicht mal nach ihm sehen.«

»Was? Wieso ich denn? Ich kenne ihn doch kaum.« Und außerdem scheint er etwas gegen mich zu haben, doch das sagte ich nicht laut.

»Bitte. Mit mir will er nicht reden.« Ethan schaute mich mit so einem Hundeblick an, das es mir fast das Herz brach.

»Na gut.«, wendete ich schließlich ein. »Wo ist er?«

Laut den Angaben meines Cousins, befand sich Noah in der Bibliothek. Dort fand ich ihn auch. Er stand genau bei dem Bücherschrank, der am Vortag auf mich gestürzt war. Dieser stand wieder fest an seinem Platz, aber ohne Sicherung.

»Hey.«, sagte ich und stellte mich neben ihn. Er sah mich nicht an. Nicht mal aus den Augenwinkel. Sein Blick war starr auf die Schrauben gerichtet, die aus dem Metallwinkel entfernt wurden waren und so den Schrank nicht mehr unbeweglich machen konnten. Wie ich ihn so dabei betrachtete – das eine Bein mit dem Knie auf den Boden, das andere mit dem Fuß, den einen Arm aufgestützt auf dem angewinkelten Bein abgestützt und dieses nachdenkliche Gesicht – erinnerte er mich sehr stark an einen Detektiven. Er sah sich den Tatort an, um Fakten zu sammeln, um daraus seine Schlüsse zu ziehen. Ich hockte mich neben ihn und schaute mir die Sabotage ebenfalls an.

»Fanny.«, sagte er als Begrüßung, beachtete mich aber nicht weiter und sah sich weiter das Mordinstrument an, das mich töten sollte. Ein Schweigen breitete sich zwischen uns aus und ich hatte das Gefühl, als ob er auf eine Erklärung wartete, warum ich hier war.

»Nach was suchst du?«, fragte ich ihn.

»Spuren.«

»Die dich zum Täter führen?« Er nickte, wendete immer noch nicht seinen Blick ab. Er stand auf und betrat den Gang, in dem ich fast zerquetscht worden war. Ich folgte ihm. Sein Augen wanderten interessiert über den Schrank, der am oberen Rand nun Kratzer, Dellen und Splitter aufwies, von seinem Aufprall gegen den anderen. Die Bücher waren noch nicht wieder einsortiert worden, sondern stapelten sich auf einen der vielen Tische in der Bibliothek. »Ethan schickt mich.« Nun hatte ich seine Aufmerksamkeit. Sein Kopf drehte sich zu mir und er sah mich an.

»Ist das so?«, fragte er und klang weder beeindruckt noch interessiert.

»Er macht sich sorgen. Du bist so anders in letzter Zeit, hat er gesagt. Stimmt etwas nicht?«

»Ich mache mir nur Gedanken über diesen Vorfall sonst nichts.«, antwortete mir Noah und suchte die Regale bis zum Ende ab. Ich beobachtete ihn dabei, blieb aber stehen, um ihn nicht zu stören. »Kommt dir das nicht komisch vor?«

»Dass der Schrank auf mich gekippt ist?«

Er nickte.

»Die Halterung könnte schon alt und rostig gewesen sein. Als ich mich auf den Regalen abstützte um an ein oben gelegenes Buch zu kommen, könnten sie unter der Last nachgegeben haben.«

Noah schüttelte den Kopf. »Sehr unwahrscheinlich. Hinzu kommt das man beachten muss, dass die Metallwinkel neu waren und somit sich nicht sofort hätten lösen können – schon gar nicht unter deiner Last. Da keine Spuren von grober Gewalt an den Schrauben zu finden sind, die auf ein lösen durch puren Kraftaufwand hätten hindeuten können, muss jemand die Schrauben absichtlich gelöst haben, um dann den Schrank umzukippen.«

»Also hätte jemand ein Interesse daran mich umzubringen?«, fragte ich ungläubig. »Aber warum denn?« Noah war nun am anderen Ende des Schranks angekommen und drehte sich zu mir um.

»Ja. Warum wohl?« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, das etwas diabolisches an sich hatte. Im nächsten Moment hatte er beide Hände am Schrank und kippte ihn in meine Richtung. Ich stand da wie erstarrt. Du musst wegrennen!, schoss es mir durch den Kopf, aber meine Beine konnten sich nicht bewegen. Ich sah erneut wie die vielen Regale, diesmal leer, auf mich zukamen, nur diesmal würden der Schrank mich definitiv unter sich begraben. Kurz bevor dies jedoch geschah, wurde ich am Genick gepackt und nach hinten gerissen. Ich landete auf etwas oder besser gesagt jemanden.

Krachend fiel der Schrank gegen den nächsten, der ebenfalls umfiel. Dieses Mal hätten er mich tatsächlich erschlagen. Die zwei umfallenden Bücherregale lösten eine Kettenreaktion aus und rissen die nächsten Schränke mit sich wie Dominosteine.

»Du bist wirklich die dümmste Person, die mir je begegnet ist, FannyBunny.«, drang eine Stimme an mein Ohr. Ich drehte mich um und glaubte ich spinne.

»Noah?!« Mit verwirrten Augen starrte ich ihn an. »Aber … du … wieso?«, stotterte ich und versuchte einen vollständigen Satz herauszubringen.

»Später. Erst muss ich meinen Doppelgänger erledigen.« Er stand auf, ließ mich auf dem Boden sitzen und zog sein japanisches Schwert. Moment mal. Japanisches Schwert?! Dann muss das hier wieder ein Traum sein. Das würde auch den Doppelgänger erklären.

Weil ich wusste was für Ausmaße ein Traumfresser haben konnte (Erfahrung am eigenen Leib) ging ich sicherheitshalber hinter einem der Tische in Deckung. Und das war vermutlich auch eine weise Entscheidung, denn im nächsten Moment flog schon ein halbes Regal durch die Luft. Doch bei dem einen blieb es nicht. Noah, also der echte, hatte Mühe sich nicht von dem fliegenden Holz treffen zu lassen.

Aber Moment mal. Das war doch mein Traum, oder nicht? Dann kann ich doch als auch bestimmen was hier geschieht. Ich muss es mir nur vorstellen. Meine Gedanken waren durcheinander, sodass ich mich nicht richtig konzentrieren konnte. Das alles war so verwirrend, dass ich nur wollte das sich alles änderte. Es sollte aufhören. Ich stellte mir also vor wie das ganze Szenario einfach verschwinden würde. Sich auflösen oder zerplatzen wie eine Seifenblase, doch das tat es nicht. Wieso funktioniert das nicht? Das ist doch mein Traum, oder? Ich versuchte es erneut. Konzentrierte mich und stellte mir alles Stück für Stück vor. Aber das hatte zur Folge, das ich mit meinen Gedanken abschweifte. Wie aus dem Nichts stiegen plötzlich kleine und große bunte Blasen aus dem Boden, wurden immer größer und schwebten nach oben. Es sah wunderschön aus und für eine Weile vergaß ich den Vorfall. Völlig fasziniert ging ich auf eine der Blasen zu und berührte sie. Merkwürdigerweise hielt sie meiner Berührung stand und zerplatzte nicht sofort. Ich drückte fester dagegen, doch die Hülle gab nicht nach. Wie um Himmelswillen kam ich bitte auf Seifenblasen?!

»Wie putzig.«, spottete eine Stimme. »Willst du mich etwa mit Seifenblasen besiegen? Da muss dir schon etwas besseres einfallen.« Die Stimme hatte ich vorher noch nie gehört, doch sie hatte etwas böses an sich. Ich war mir sicher, dass sie dem „falschen Noah“ gehörte.

Ein vertrautes Knurren erklang hinter mir und ein Schauer lief über meinen Rücken. Ganz langsam drehte ich mich um und sah Monster-Cupcake in die Augen. Wo kam der denn auf einmal her?

Überstürzt ergriff ich die Flucht und rannte durch die Gänge der Bücherregale und versuchte dabei das Biest abzuschütteln. Doch das blieb mir auf den Fersen und stieß dabei immer mehr Schränke um, die dann wiederum eine Kettenreaktion wie zuvor auslösten und schon bald gab es keine Gänge mehr in die ich flüchten konnte. Ich musste mich wohl oder Übel meiner Gefahr stellen.

Aber theoretisch bestand doch eigentlich keine Gefahr, oder? Das Biest stürmte auf mich zu und würde mir diesmal wahrscheinlich den Kopf abreißen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und meine Knie zitterten wie verrückt. Aber dann fiel es mir wieder ein. Das hier war schließlich ein Traum und da war alles möglich, also konnte ich auch dieses Monster besiegen wenn ich wollte.

Ich dachte an so etwas wie eine unsichtbare Wand oder dickes Glas, das vor mir war und mich beschützen würde. Um mich mehr zu konzentrieren und schloss die Augen. Ein lautes Dong! ertönte und ich öffnete die Augen wieder. Ich hatte es geschafft. Der Monsterhund war vor mir gegen eine Glaswand gelaufen.

Wütend funkelten mich seine roten Augen an und er fletschte noch mehr die Zähne. Er nahm erneut Anlauf, riss sein Maul auf und machte einen Satz. Mich hatte diese Aktion so erschreckt, das ich einen Schritt zurückwich, dabei hätte ich keine Angst haben brauchen, denn das Glas würde ja halten. Doch meine Konzentration hatte durch die plötzliche Angst nachgelassen und als das Biest gegen das Glas krachte, bekam einen großen Riss. Mir wurde klar, dass ich nicht mehr sicher sein würde und ergriff erneut die Flucht. Diesmal bahnte ich mir einen Weg über die umgestürzten Schränke. Ich hörte wie das Glas hinter mir zu Bruch ging und versuchte noch schneller zu rennen. Doch in meiner Panik stolperte ich und fiel der Länge nach hin. Als ich aufblickte sah ich vor mir ein ideales Versteck. Einen Spalt der dadurch entstanden war, als die Schränke wie beim Dominoprinzip aufeinander gelandet sind. Ich kroch schnell in das dunkle Versteck und machte mich so klein wie möglich.

Der Monsterhund wusste aber wo ich mich versteckt hielt und kam zielstrebig darauf zu. Doch bevor er mich erreichen konnte, jaulte er plötzlich auf und Blut lief von seinem Rücken. Noah landete nur wenige Meter von meinem Versteck entfernt. Von der Klinge seiner Waffe tropfte schwarzes Blut. Nun sah er so aus, wie in meinem ersten Traum. Ein knallharter Kämpfer dem man nichts anhaben konnte und der jeden töten würde, bevor man ihm auch nur ein Kratzer hinzufügt hatte. Kurz gesagt, Monster-Cupcake hatte keine Chance gegen ihn.

Nach einem kurzen Kampf, hatte Noah ihn außer Gefecht gesetzt. Schwer blutend lag das Monster auf dem Boden, das schwarze Blut floss weiterhin aus dem Körper. Normalerweise verabscheue ich solche Bilder, sie wecken in mir ein Verlangen, denjenigen der das getan hat für seine Taten büßen zu lassen. Doch diese Gefühle konnten nicht in mir hochkommen, als ich das Folgende beobachtete. Noah murmelte etwas vor sich hin, dann umfing ein Licht den verletzten Körper und der Monsterhund begann immer kleiner zu werden, so als ob man ihm die Energie nehmen würde. Kaum war er auf die normale Größe geschrumpft, ging Noah auf ihn zu und erstach ihn, wie in meinem Traum zuvor. Erneut sprach er was vor sich hin und diesmal schien es so, als würde der kleine Körper anfangen zu brennen. In den Flammen konnte ich erkennen, wie sich Cupcake zu etwas anderem verformte, etwas wesentlich hässlicherem. Es erinnerte mich an eine Gestalt aus Schauergeschichten, die man meist als Diener einer Hexe oder Teufel wiederfinden würde. Es sah aus wie eine kleine magere Gestalt, mit einem gekrümmten Rücken. Die Haut oder das Fell war schwarz. Die Augen waren riesengroß im Vergleich zum Kopf und hatten etwas von Gollum aus Herr der Ringe. Die kleine Gestalt wand sich in den Flammen und machte schreiende Krächzgeräusche, während sein Leben dahin schied.

Als Noah mit dem Ritual fertig war und sein Schwert wieder wegsteckte, war von der Kreatur nichts mehr zu sehen. Nur ein verbrannter Fleck am Boden wies daraufhin, das etwas an der Stelle gestanden hatte, was in den Flammen zerstört wurde. Flüchtig blickte sich mein Retter um, aber unter dem Schrank entdeckte er mich nicht. Als ich schon dachte verrückter kann es nicht mehr werden, machte er eine Handbewegung und plötzlich erschien eine Art leuchtende Tür oder zumindest der Umriss einer leuchtenden Tür, durch die Noah hindurch trat und verschwand. Ich kroch unter meinem Versteck hervor und näherte mich dem leuchtenden Ding. Meine Neugier war groß und wuchs mit jedem merkwürdigen Ereignis das sich hier auftat. Ich wollte unbedingt herausfinden warum ich in letzter Zeit immer von Noah träumte, der mich vor irgendwelchen unheimlichen Kreaturen rettete. Vorsichtig streckte ich meine Hand durch die leuchtende Fläche die ganz in ihr verschwand und wieder auftauchte, wenn ich sie zurückzog.

Mit dem Gedanken, das mir sowieso nichts passieren konnte, da das hier ein Traum sei – abgesehen von den unerklärlichen Bissspuren – ging ich durch die leuchtende Tür.

Kapitel 08

 

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich durch diese seltsame Tür trat und mich kurz darauf woanders befand. Das Licht blendete meine Augen für wenige Sekunden. Aber die Neugier, was sich wohl dahinter befinden würde, wuchs immer mehr je klarer meine Sicht wurde. Voll Staunen stellte ich fest, dass ich mich einer riesigen Bibliothek befand. Sie war noch größer als die Schulbibliothek und sah viel Antiker aus. Die Regale waren zum größten Teil in die Wand eingearbeitet und Leitern, mit denen man auch an die höheren gelegenen Bücher rankam (diese hier hatten sogar Rollen unten dran, so dass man sie hin und her schieben konnte) standen bereit, um benutzt zu werden. An einigen Enden der oberen Gänge, waren Wendeltreppen, die nach unten führten. Es war alles so überwältigend, dass erst eine Stimme mich aus dem Staunen riss.

»Ah, Noah. Wie war dein Auftrag? Bist aber schnell zurück.« Ein älterer Mann saß an einem Schreibtisch und war in einem Buch vertieft. Den Oberschüler musste er nicht mal anblicken um zu wissen wer es ist, der gerade mitten aus dem Nichts auftauchte. Ich stand zehn Meter hinter Noah. Die leuchtende Tür war immer noch da.

»Es war ja auch fast das gleiche, was sich abgespielt hatte. Und trotzdem …«

»Trotzdem?«, fragte der Mann nach. Ich fühlte mich plötzlich unwohl. Ich würde wie ein Eindringling aussehen. Auf leisen Sohlen schlich ich mich hinters nächste Bücherregal und spähte zwischen ein paar Lektüren hindurch auf die andere Seite.

»Trotzdem war heute etwas anders. Dieses Mädchen, … diese Fanny.«

»Macht sie Probleme?«

»Sie weist Fähigkeiten auf, die normalerweise nur Traumjäger haben können.« Traumjäger?

»Ohho, na das hört sich ja ganz interessant an.«, meinte der alte Mann.

»Finde ich nicht. Sie könnte eine Gefahr darstellen.« Ich? Eine Gefahr? Ach bitte, ich könnte keiner Fliege was zuleide tun und immerhin ist das hier nur ein Traum, beschwerte ich mich in Gedanken bei ihn. »Irgendwie scheint sie die Traumfresser magisch anzuziehen. Ich hatte es heute mal wieder mit Shadow zu tun.« Auf einmal hatte Noah die volle Aufmerksamkeit des alten Mannes.

»Shadow? Schon wieder? Das ist jetzt das dritte Mal in der Woche. Und er erscheint immer nur bei deinen Aufträgen.« Wer ist dieser Shadow? »Wir müssen etwas dagegen unternehmen, sonst kommt alles ins wanken.«

»Ja das glaube ich auch. Aber zuerst muss ich mich noch um was anderes Kümmern.« Noah drehte sich um und ging wieder auf die leuchtende Tür zu. Vor ihr bückte er sich und hob etwas auf. Im selben Moment verschwand das leuchten und in den Händen hielt er ein Buch.

Ich verstand überhaupt nichts mehr. Wie konnte ein Buch denn eine Tür sein? Mit dem Buch in den Händen, kam er direkt auf die freie Stelle zu, durch die ich hindurch spähte. Ich verließ schnell mein Versteck, um mich in der Bibliothek noch etwas umzusehen, aber allem voran nicht entdeckt zu werden. Sie war wirklich groß, sogar noch größer als alle Bibliotheken die ich bisher besucht hatte.

Ich schaute mir die Bücher an, die sie hier anboten. Einige davon waren dick und groß, andere waren dünner, einige waren alt und verstaubt oder hatten einen etwas antiken Touch und manche sahen eher modern aus, mit einem quietschrosa Einband oder einem neutralen Grün. Vielleicht kenne ich ja einige Titel, dachte ich mir als ich eines der Bücher herauszog.

Hamisch Carow

»Ein komischer Titel …«, murmelte ich und stellte das Buch wieder zurück und nahm mir ein anderes.

Lousia Hearton

Ich runzelte die Stirn. Diese Titel klangen eher wie Namen. Vielleicht waren es die Namen der Autoren und die Bücher haben keinen Titel. Doch meine Theorie machte mir einen Strich durch die Rechnung, als mir etwas einfiel. Nachdem ich schon das zehnte Buch aus einem Regal genommen hatte, eilte ich wieder zurück zu der Stelle, an der ich mich versteckt hatte. Unterwegs musste ich acht geben, denn es liefen vereinzelt Leute durch die Gänge, doch ich versuchte wie ein ganz normaler Besucher zu wirken – aber anscheinend war das hier keine normale Bibliothek. Ich fand die Stelle und nahm mir das Buch, welches Noah vor wenigen Minuten da hingestellt hatte. Als ich dessen Name las, der offensichtlich als Titel fungierte, stockte mir der Atem.

Fanny Haddington

Da stand wirklich mein Name drauf. Aber wie kann das sein? Ich klappte das Buch auf, um mir den Inhalt anzusehen. Vielleicht steht da eine Art Lebenslauf oder Biografie über mich drinne. Noch schlimmer wären Fotos! Ist das hier eine Art Spionage-Verein? Irgendwie unheimlich der Gedanke daran, mich hätte jemand mein ganzes Leben lang beobachtet. Aber in dem Buch stand nichts. Nichts außer leere weiße Seiten, die unschuldig unbeschrieben waren.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Was hatte ein Buch mit meinem Namen, aber ohne Inhalt hier zu suchen. Vermutlich waren dann auch die anderen Buchtitel Namen von Personen. Aber ohne Inhalt kann man nichts mit den Büchern anfangen. Sie müssen also einen anderen Nutzen haben, als man annimmt, dachte ich mir.

»Hey du!« Ich zuckte heftig zusammen als die Stimme ertönte und stieß mit dem Rücken gegen das Regal hinter mir. Mein Herz hämmerte so laut, das es vermutlich ein Erdbeben hätte auslösen können, so ertappt fühlte ich mich.

»Wer ich?«, fragte ich mit wackliger Stimme.

»Ja du. Hast du nichts besseres zu tun, als hier herumzulungern?« Ein Mann trat auf mich zu und packt mich am Arm. »Es sind noch genügend Aufträge da und die müssen noch heute erledigt werden.« Aufträge? Wovon redete der bitte? Ohne das ich es wollte, wurde ich mitgeschleift. Wir hielten vor einem Regal, in dem einige der Buchrücken rot leuchteten. Manche leuchteten in einem schwachen rot, andere stärker.

»Warum leuchten einige Bücher rot?«, fragte ich sogleich.

»Oh Gott, eine Anfängerin.«, stöhnte der Mann und griff sich an den Kopf. Er musste so um die Mitte 20 sein. Vielleicht war er Student. Auf alle Fälle kein Schüler mehr. Sein braunes strubbeliges Haar erinnerte mich an Vollmilchschokolade, die ich als kleines Kind immer so gern gegessen hatte. Seine Hände waren groß und rau. Die erinnerten mich wiederum an die Hände meines Vaters. Er hatte auch große Hände gehabt und weil er eine Vorliebe für selbstgebaute Möbelstücke besaß, waren sie auch meist rau. Fast alles an diesem Kerl erinnerte mich an meinen Vater. Er hatte sehr viel Ähnlichkeiten mit ihm. »Hast wohl noch nicht so viele Stunden hinter dir. Aber naja aus der Praxis lernt man bekanntlich am besten.« Er zog ein Buch aus dem Regal das schwach rot leuchtete und legte es auf den Boden. In der Mitte schlug er es auf und schaute mich erwartungsvoll an.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte. Ein wenig verloren schaute ich das Buch vor meinen Füßen an und dann den jungen Mann. Mein Blick musste quasi ›Hilf mir!‹ geschrien haben, denn der Brünette kratzte sich am Kopf und seufzte.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein …«, murmelte er leise. Dann stellte er sich neben mich und streckte einen Arm über das Buch aus. Auf seinen Blick hin, tat ich es ihm gleich. »Um eine Tür in den Traum eines anderen zu öffnen, muss man zu Beginn einen Schwur leisten. Erst dann ist es einem erlaubt diese Traumwelt und alle anderen zu betreten.« Ich hörte ihm aufmerksam zu und nickte nur ab und zu. Aber in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung wovon er da gerade redete.

»Da du anscheinend ein Neuling bist, sprich es mir einfach nach.« Der Spruch war nicht schwer und das nachsprechen war wirklich sehr einfach, aber die Bedeutung davon … es kam mir so vor als hätte ich ihn schon einmal gehört.

Er ging in etwa so:

 

Mit der Gabe die mir zu Teil,

erbitte ich die Erlaubnis die Träume anderer zu betreten.

Mit dem Versprechen,

nur Gutes tun zu wollen und Licht ins Dunkel zu bringen.

 

Kaum hatten wir das letzte Wort fertig gesprochen, begann das Buch zu leuchten und eine Tür aus purem Licht erschien. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das war so cool!

»Der Traumfresser befindet sich zurzeit nur auf Stufe eins. Für einen Anfänger wie dich, dürfte das also nicht allzu schwer sein. Also dann viel Erfolg.« Mit diesen Worten gab er mir einen Schubs von hinten und ich stolperte durch die Tür. Ehe ich ihm den eigentlichen Sachverhalt erklären konnte, war es auch schon zu spät und ich konnte nicht mehr zurück, denn kaum war ich durch die Tür getreten, fiel ich ins Leere.

Alles um mich herum war schwarz und es war kalt. Hart schlug ich auf steinigen Boden auf und fiel sogleich weiter. Nach meinem Absturz blieb ich zunächst am Boden liegen. Mein Rücken schmerzte und meinem Kopf ging es auch nicht gerade blendend. Laut meinen Schmerzen und wie ich gefallen bin, musste ich eine Treppe hinunter gekullert sein. Wobei „gekullert“ noch harmlos klang. Ich fühlte mich, als wäre ich von einem Bus überfahren worden. Stöhnend stemmte ich mich hoch und rieb mir den Kopf. Mehr als eine Beule und ein paar Kratzer und Schrammen konnte ich von den Sturz nicht davontragen. Vielleicht waren auch ein paar Blaue Flecke dabei und kleine Schwellungen, aber mehr konnte es nicht sein, dass wusste ich aus Erfahrung. Als ich noch ganz klein war, bin ich oft diverse Treppen hinuntergefallen und habe mir bis zum heutigen Tag noch nicht einen Knochen gebrochen – Glück im Unglück.

Trotz der Dunkelheit gewöhnten sich meine Augen recht schnell daran und in kurzer Zeit konnte ich meine Umgebung besser erkennen. Wie erwartet befand sich vor mir eine Steintreppe, dessen Stufen krumm und schief nach oben führten. Einige Meter weiter befand sich eine andere Treppe, die ebenfalls das gleiche Bild aufwies, wie die andere. Die Plattform auf der ich stand, war vielleicht fünf Meter breit und bestand ebenfalls aus zusammengesetzten Steinen. Wenn man über den Rand sah, konnte man in eine unendliche schwarze Tiefe blicken, die scheinbar kein Ende nahm. Allein schon der Gedanke daran dort hinunterzufallen, brachte mir eine Gänsehaut ein.

Ich klopfte mir den Dreck von den Klamotten und überlegte wie ich nun weiter verfahren sollte. Wenn ich nur wüsste nach was ich eigentlich suchen muss, würde mir das enorm weiter helfen. Aber das hatte ich vergessen zu fragen, während ich in einen komischen neuen Job eingewiesen wurde. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich umzuschauen. Vielleicht würde ich dann herausfinden, wonach ich suchen musste oder warum ich hier war.

Ich stieg die nächste Treppe hinauf, die kein Ende nehmen wollte. Die krummen Stufen machten den Aufstieg auch nicht gerade leichter. Da ich aufpassen musste um nicht zu stolpern, hatte ich meine Augen auf die Stufen gerichtet und schaute nicht nach vorne, bis ich Doing! mit den Kopf gegen etwas stieß. »Das wird noch eine Beule auf der Stirn geben.«, sagte ich zu mir selbst und rieb mit der Hand an der gestoßenen Stelle, damit der Schmerz schnell verfliegt. Als ich dann den Kopf hob und sah was mir da wieder Schmerzen bereitet hatte, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Genau vor mir befand sich ein Türrahmen. An sich war das ja nichts ungewöhnliches, aber wenn der Türrahmen kopfüber von der Decke hing schon. Ich duckte mich und lief die Treppenstufen weiter hinauf. Doch schon nach wenigen Schritten musste ich stehen bleiben. Vor mir versperrte mir ein kleiner Wandabschnitt den Weg und einen Kopf über mir führten die Treppenstufe weiter hinauf. Nur hingen diese auch kopfüber, wie die Tür.

»Komisch.«, murmelte ich. »Das muss so seine Art Wunderland sein. Wobei es Irrenhaus eher trifft.« Aber diese Erkenntnis half mir nicht an Wänden hoch zulaufen – oder doch? Ich setzte einen Fuß an die Wand und stellte mir vor wie er haften blieb. Dann nahm ich den anderen Fuß vom Boden und … Tatsächlich! Mein Fuß blieb an der Wand kleben. »Die Gesetzte der Schwerkraft scheinen hier anscheinend nicht zu wirken.«, freute ich mich und setzte meinen Weg an der Decke fort. Vor mir sah ich schon den Türrahmen, der immer näher kam. Kurz vor der Schwelle blieb ich stehen. Dahinter befand sich nichts. Nur schwarze Leere. Entweder zurück oder vorwärts, dachte ich mir. Vorsichtig setzte ich einen Fuß über die Schwelle und tastete nach etwas, das mir halt geben konnte. Dabei verlor ich aber das Gleichgewicht und stürzte nach unten. Während meines Sturzes raste eine Tür auf mich zu und stoppte mich in meinem Fall. Da dies schon mein zweiter Aufprall war, tat er nicht so sehr weh wie mein erster. Die Tür war aus massiven Holz und wunderschön verziert, mit Blättern und Ranken. Die Türklinke hatte eine wunderschöne geschwungene Form und war vergoldet. Ich drückte sie leicht hinunter und konnte mich noch geistesgegenwärtig an ihr festhalten, als die Tür unter mir nachgab und fast wieder ins Leere gefallen wäre. Doch dann spielte die Schwerkraft verrückt und ich landete mit meinem Hintern auf Steinboden. Die ganze Welt schien sich einmal gedreht zu haben und ich konnte kaum noch unterscheiden, wo oben und wo unten war. Ich saß schon wieder auf einer große Plattform aus zusammengesetzten Steinen, wie zu Beginn.

Vielleicht war das so eine Art Prüfung, dachte ich. Vielleicht ist das eine Art Labyrinth und ich muss den Weg nach draußen finden.

Ich lief weiter und kam zu einem Eingang. Rechts und links befanden sich hohe Mauern, hinter denen sich der Weg teilte. »Hier fängt das wirkliche Labyrinth also an.« Ich entschied mich für rechts und bog dann immer wieder unterschiedlich ab. So verlief ich mich immer mehr und wusste gar nicht mehr woher ich gekommen war. Dabei hatte ich eigentlich einen guten Orientierungssinn.

Ein Schluchzen durchbrach mein angestrengtes Denken, als ich wieder an einer Kreuzung stand und mich entscheiden musste, ob ich nun rechts oder links abbog. Das leise Weinen hörte sich ganz stark nach einem Kind an. Einem Mädchen, um ganz genau zu sein. Ich folgte dem weinerlichen Lauten und fand schließlich das Häufchen Elend in einer Sackgasse zusammengekauert dasitzen.

»Hallo du.«, sprach ich das Mädchen an. »Was machst du denn hier?«

»Ich hab mich verlaufen.«, schluchzte die Kleine und schaute mich aus rot verquollenen Augen an. Sie trug ein weißes Nachthemd, das mit schönen verspielten Rüschen hier und da verziert war. Das dunkle braune Haar, fiel leicht über ihre Schultern. Sie Haut war weiß und blass, fast so wie Schnee. Fehlen nur noch die roten Lippen und sie wäre Schneewittchen, meinte mein inneres Ich.

»Trifft sich ja gut.« Ich ging vor ihr in die Hocke. »Ich nämlich auch. Wollen wir zusammen nach dem Ausgang suchen?« Nun hob sie ihr ganzes Gesicht und ich musste mich zusammenreißen nicht sofort breit zu grinsen. Da waren die roten Lippen. Ich habe ein kleines Schneewittchen gefunden.

Schneewittchen nahm meine Hand und ließ sich von mir hochziehen. Mit dem freien Arm wischte sie sich einmal über das Gesicht und zog die Nase hoch.

»Wie heißt du denn?«

»Liz. Und du?«

»Ich bin Fanny.« Wir kamen an eine Kreuzung und gingen nach rechts. Ich hatte mal gelesen, dass wenn man sich in einem Labyrinth verirrt hat, man immer nach rechts gehen soll. Irgendwann würde man dann herausfinden. »Warum hast du dich hier versteckt?«

»Ich werde gejagt.«, erzählte mir Schneewittchen-Liz.

»Du wirst gejagt?«

»Ja von einem Monster. Es will mich fressen.«

»Wie sieht dieses Monster denn aus?«, fragte ich sie und musste an Monster-Cupcake denken. Vielleicht hatte jeder solche Wesen in seinem Traum?

»So wie ein Bär, nur viel schrecklicher und furchteinflößender.« Okay also kein Cupcake, dass war schon mal gut, beruhigte ich mich. Aber eines verstand ich nicht. Der Student hatte mir gesagt, das dies eine Aufgabe für Anfänger sei, aber wieso hörte sich das eher nach einem meiner Träume an? Vielleicht war dieses Niveau dieser Leute auch ganz schön hoch angesetzt. »Aber man kann ihn nicht richtig sehen. Man sieht nur seinen Schatten.«, fügte Liz hinzu.

»Einen Schatten?« Jetzt verstand ich. Das war der älteste Trick in der Geschichte. Dieser „Monsterbär“ hatte sich viel Mühe gegeben groß und furchteinflößend zu wirken.

Wir suchten weiter unseren Weg nach draußen, wobei ich mit dem unguten Gefühl begleitet wurde, das wir verfolgt wurden. Der Wind fegte flüsternd durch die Labyrinthgänge und brachte mir eine Gänsehaut ein. Doch nicht nur wegen dem unguten Gefühl. Mir war auch ganz schön kalt an den Füßen und freien Körperpartien, die mein Schlafanzug nicht abdeckte. Ich trug einfach Shorts und ein T-Shirt, mehr brauchte ich nicht zum schlafen.

»Da!«, schrie auf einmal das Schneewittchen neben mir und zeigte mit ihrem Zeigefinger in den Gang vor uns. Aber ich sah da nichts ungewöhnliches.

»Was ist denn da?«, fragte ich sie.

»Da war er wieder.« Ihr ausgestreckter Arm fing an zu zittern und ihre Hand drückte meine ganz fest. Ich sah noch einmal in die Richtung in der sie zeigte, konnte aber nichts ungewöhnliches sehen. Vielleicht war es aber auch zu dunkel. Ich konnte nur schwer etwas erkennen. Ach wenn ich doch nur mehr Licht hätte, dachte ich und wie auf Stichwort, flammten plötzlich ein paar Fackeln an den Wänden auf und erhellten die Gänge. Doch im nächsten Moment wünschte ich mir es wäre weiterhin dunkel geblieben. Irgendwie komisch, wir fühlen uns im Licht sicherer, weil wir alles sehen können und die Gefahr zu erkennen, wenn sie auf uns zu kommt. Aber manchmal ist es besser das Übel erst gar nicht zu erblicken und in dem Glauben zu sein, dass man sicher wäre. In dem Moment wünschte ich mir die sichere Dunkelheit – trotz des unguten Gefühls.

Vor mir an der Wand erstreckte sich ein riesiger Schatten, der nur wenige Ähnlichkeiten mit einem Bär aufwies. In Wirklichkeit sah er noch viel schlimmer aus. Ich hatte keine Ahnung wie er das anstellte, aber in dem Schatten sah ich auch zwei rot glühende Augen. Im Moment sah man nur das Seitenprofil der Kreatur, aber dann drehte er seinen Kopf in unsere Richtung und schaute Schneewittchen und mich direkt an.

»Was ist das?«, fragte ich Liz, die sich hinter mich versteckt hatte.

»Das ist der Bär.«, antwortete sie leise und hielt sich an meinem Arm fest.

Der Schatten gab ein Knurren von sich und meine ganze Theorie war zunichte. Das hier war nicht normal! Ich dachte eigentlich das sich der Bär, oder was auch immer, mithilfe von der Vergrößerung von Schatten zu einem furchteinflößenden Etwas gemacht hat. Doch dem war so nicht. Er war der Schatten selbst.

»Ich hab Angst.«, flüsterte Liz und drückte meinen Arm noch fester. Ich wollte etwas erwidern. Ihr gut zureden und sagen, dass sie sich nicht zu fürchten brauch. Aber das wäre eine Lüge, weil ich auch Angst hatte. Meine Beine waren wie festgewachsen und ich war nicht in der Lage mich zu bewegen. Dabei wäre ich zu gerne weggerannt.

»Liz renn weg.«, brachte ich über meine Lippen, doch da war es schon zu spät. Als wäre dieses Vieh den Tintenbüchern von Cornelia Funke entsprungen, löste es sich von der Wand und formte sich am Boden zu einer Art Wolke, die langsam auf uns zu kroch. »Liz weg hier!«, rief ich nun lauter und energischer. Diesmal hörte sie auf mich und zog mich gleich mit sich, als sie die Flucht ergriff.

Wir rannten durch das Labyrinth, verirrten uns noch mehr, als wir es schon hatten und verloren ganz die Orientierung. Das Schattenmonster immer auf unseren Versen. Wieder bogen wir an einer Kreuzung ab, doch diesmal …

»Sackgasse.« Schneewittchen-Liz blieb stehen und ich ebenfalls. Wir konnten weder vor noch zurück. Hinter mir hörte ich schon das Knurren dieses Schattenviehs und als ich mich umdrehte, schwebte eine große schwarze Wolke am anderen Ende des Ganges in der Luft. Aus dieser materialisierte sich eine feste Substanz und formte sich zu dem Ebenbild, was wir erst kürzlich an der Wand als Schatten gesehen hatten.

Wie ein Raubtier stürzte es sich auf uns und setzte zum Sprung an. Reflexartig schob ich Liz hinter mich und hob meinen Arm, um mich zu schützen. Das schwarze Biest sperrte sein Maul auf, das ebenso schwarze Zähne beinhaltete. Die roten Augen glühten mich an und ich glaubte dem Tod gegenüber zu stehen. Ich kniff die Augen zusammen und wartete darauf das sich die Zähne in meinen Arm bohrten. Doch es ertönte nur ein wütendes Brüllen. Als ich es wagte die Augen wieder zu öffnen, wusste ich nicht mehr was hier passierte. Das Biest wurde zurückgeschleudert und ist dabei mit einer ungeheuren Wucht gegen die Mauer geprallt. Doch das verblüffendste an der Sache war, dass ich das anscheinend verursacht hatte. Nur wie?

»Was …?« Ich hatte keine Ahnung was hier los war. Verwirrt schaute ich auf meine Hände. Ich konnte es mir nicht erklären, aber urplötzlich spürte ich etwas starkes, das meine Hände kribbeln ließ.

Das Schattenmonster war nun wütender als je zuvor. Anscheinend hatte ihm, was auch immer ich ihm angetan hatte, das richtig wehgetan. Es gab ein tiefes Knurren von sich und stürzte sich erneut auf mich. Da ich aber noch so perplex von dem war, was ich eben getan hatte, bekam ich es zu spät mit und sah das Vieh schon auf mich zu springen. Ich stolperte rückwärts, durch die Wand hindurch und verlor fast das Gleichgewicht. Doch ehe ich mich wieder fangen konnte, riss mich das Monster mit sich und wir fielen beide nach hinten in die Tiefe. Bevor ich jedoch endgültig den Boden unter den Füße verlor, griff jemand nach meiner Hand und zog mich wieder nach vorne. Fest hielt mich dieser im Arm und redete auf mich ein.

»Ruhig Fanny. Es ist alles okay. Alles gut.« Auf einmal war ich hell wach.

»Ethan.«, sagte ich atemlos. Mein Atem ging noch immer schnell. Wir saßen beide auf dem Boden des Flurs, er hielt mich im Arm, hinter mir befand sich die Treppe. Wie bin ich nur hierher gekommen?

»Alles okay?« Ethan schaute mir ins Gesicht.

»Ich … äh, ja. Was … was ist denn passiert?«, fragte ich und war verwirrt. Ist das hier gerade ein Traum oder nicht?

»Du bist geschlafwandelt.«

 

 

Kapitel 09

Etwas müde und auch frustriert saß ich am Küchentisch und schlürfte meinen heißen Kakao. Das war jetzt schon die zweite Nacht hier und ich konnte nicht einmal ruhig schlafen. Was war bloß los mit mir? Ein komischer Traum nach dem nächsten jagt mich und das gruseligste daran war, das sie auch noch so real erscheinen. Gut das tun alle Träume, aber diese sind noch ein bisschen extremer.
Granny Croft betrat die Küche und schaute mich einmal mit einem verwirrten Blick kurz an, so als ob sie sich fragen würde, was ich hier so früh schon zu suchen hatte und widmete sich dann dem Koch, der als einziger, neben mir, schon so früh am Morgen hier war. Ich schlürfte weiter meinen Kakao und versuchte nicht der Müdigkeit zu verfallen. In einer halben Stunde müsste ich sowieso aufstehen, also wäre der Schlaf jetzt auch zu spät. Nach meiner Schlafwandel-Aktion hatte mich mein Cousin ins Bett verfrachtet und war selbst wieder schlafen gegangen. Ich aber hatte kein Auge zugemacht. Bis zum dämmernden Sonnenaufgang war ich wach geblieben und beschloss dann mir etwas zu trinken zu holen, da es ja eh zwecklos war. Und wenn ich ehrlich bin, wollte ich auch nicht wieder einschlafen. Dieser verwirrende Traum hatte mich so aufgeregt, das ich Angst davor hatte, erneut einen solchen oder ähnlichen Traum zu bekommen.
»Na Fanny, wohl schlecht geschlafen?«, begrüßte mich Granny Croft und setzte sich zu mir an den Tisch.
»Guten Morgen Granny. Ich konnte nicht mehr einschlafen und dachte ich hole mir etwas zu trinken.« Granny Croft schaute in meine Tasse.
»Heiße Schokolade. Gute Wahl.«, stimmte sie mir zu. »So ein Getränk beruhigt die Seele, heißt es immer.«
»Und was führt Sie schon so früh hierher?«, fragte ich.
»Ich habe mir einen Tee bestellen lassen, den ich pünktlich jeden Dienstag um sieben Uhr in die Bibliothek bringen lasse. Es gibt für mich nichts schöneres als einen heißen leckeren Tee am frühen Morgen, bei einem guten Buch.«, schwärmte sie mir vor. Und da musste ich ihr Recht geben.
»Aber warum kommen sie dann extra runter und geben Bescheid, wenn sie es doch jeden Dienstag so tun.«, bemerkte ich.
»Kluges Kind, du passt auf und denkst mit, wenn man dir etwas erzählt.«, lobte mich Granny. »Ich trinke meinen Dienstag Morgentee jedes mal immer etwas anders. Mal ändere ich die Sorte, oder ich möchte Honig statt Zucker. Warum immer das gleiche trinken? Dann würde ich mir ja die ganzen anderen Möglichkeiten entgehen lassen und das wäre doch eine Schande.« Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Sie ist schon eine kluge alte Frau. »Ist wohl nicht so einfach sich neu einzugewöhnen.«, brach sie das Schweigen nach einer Weile.
»Es geht.«, antwortete ich nur. Das Eingewöhnen war ja nicht das Problem. Eher die Träume die ich seit neustem hatte und mich total durcheinander brachten.
»Nanu, was hast du denn da?« Granny schaute zwischen meine aufgestützten Ellenbogen auf dem Tisch, wo ich meinen Anmeldezettel, bezüglich meiner Klubaktivität, liegen hatte.
»Mein Anmeldezettel für die Klubaktivität.«
»Hast du dich schon entschieden?« Sie nahm den Zettel in die Hand und las sich die verschiedenen Angebote durch.
»Nein. Es gibt so viel, da kann ich mich einfach nicht entscheiden.« Die Auswahl war aber auch wirklich nicht gerade klein. Außerdem klangen sie alle sehr verlockend. Auch wenn ich nicht gerade das größte Ass in Sport war, konnte ich schon eine ordentliche Leistung erbringen, wenn ich mich anstrengte und es mir Spaß machte. Aber Sport alleine war ja nicht mein Interessengebiet. Der Literaturklub klang auch sehr vielversprechend. »In was für einen Klub geht denn Ethan?«, fragte ich beiläufig.
»Oh du willst wissen in welchen Klub Ethan geht?« Ihre Stimme klang ein wenig belustigt, aber auch geheimnisvoll. »Hier.« Sie zeigte auf eine Wortgruppe und ich las es laut vor.
»P.U.S.P. Police for Unknown Suspicious Phenomena.« Was sollte das denn heißen? Polizei für unbekannte verdächtige Phänomene? »Aha.«, brachte ich nur hervor und versuchte etwas begeistert oder zumindest interessiert zu klingen. »Und was macht er da? Löst er Mordfälle oder so etwas in der Art?«
»So ähnlich.«, erklang Noahs Stimme, der plötzlich mit Ethan in der Küchentür stand – beide fertig angezogen und abmarschbereit.
»Mist! Wie spät ist es?«, rief ich und wollte schon von meinem Stuhl aufspringen.
»Dreiviertel sieben.«, beruhigte mich Ethan. »Du hast noch Zeit.«
»Bei der P.U.S.P. handelt es sich um eine Gruppe von Schülern, die merkwürdigen Phänomenen und Ereignissen auf den Grund gehen.«, fuhr Noah fort. »Dabei bekommen wir meist Besuch von Schülern aus unterschiedlichen Jahrgängen, die uns zu verschiedenen ihrer Anliegen konsultieren. Wir hören zu und helfen so gut es uns eben erlaubt und möglich ist.«
»Aha.«, brachte ich wieder nur hervor. Das klang für mich ein bisschen nach Sherlock Holmes oder Miss Marple, nur mit einem Touch von GhostBuster wie mir schien. Ich fühlte mich gerade so, als würde ich mit einen dieser Sciencefiction und Fantasy Nerds sprechen würde, die mich mit allen Mitteln davon überzeugen wollten, das es wirklich so etwas wie andere Planetenbewohner, Clone, Geister und andere Wesen existieren, von deren Existenz wir allerdings nichts wissen. Einfach nur lächerlich.
»Unserem Klub ist auch nicht leicht beizutreten. Es ist nur bestimmten Leuten erlaubt Mitglied zu werden. Das entscheidet unter anderem auch noch ein Lehrer. Außerdem gibt es auch eine begrenzte Anzahl von Mitgliedern die wir aufnehmen können.« Mit dieser Aussage wollte Noah mir anscheinend sagen: »Versuch es erst gar nicht!«
Schon klar. Nachricht angekommen.
»Klingt ja alles sehr spannend, aber ich denke das liegt nicht in meinem Interessengebiet. Mit Geistern kann man mir schon keine Angst mehr machen, seit ich fünf bin. Also keine Sorge, ich habe nicht vor euren Klub beizutreten. Vor Konkurrenz braucht ihr also keine Angst zu haben.«, sagte ich und schaute dabei bewusst Noah an.
»Wieso denn Konkurrenz?«, schaltete sich Ethan ein. »Wir arbeiten dort alle zusammen, da gibt es keinen Konkurrenzkampf.«
»Schon klar.«, sagte ich mit einem Blick auf Noah und stand auf. Ethan musste das nicht verstehen, mein Kommentar galt einzig und allein dem feinen ›Lord‹ Castor, den ich mit einem etwas triumphierenden und zugleich etwas feindseligen Blick beehrte, als ich an ihm vorbeiging. Doch das kümmerte ihn kein Stück – leider. Er hatte einen ebenso guten Blick drauf, der meinem absolut ebenbürtig war – vielleicht sogar noch etwas besser. »Naja, ich mach mich dann mal fertig.«
Lange brauchte ich nicht zum umziehen für die Schule. Nach zehn Minuten war ich wieder auf dem Weg nach unten. Cupcake sprang um mich herum und wollte anscheinend noch mit mir spielen bevor ich ging.
»Tut mir leid Kleiner. Aber ich hab keine Zeit. Ich muss zur Schule. Wenn ich wieder da bin spiele ich mit dir, versprochen.« Ich tätschelte ihm dem Kopf und er schmiegte sich noch mehr an mich. Er war ziemlich aufdringlich und suchte immer meine Nähe, was aber auch hieß, das er mich als eine Art Mutter oder so ansah. Aber sein Besitzer hatte sich bis jetzt noch nicht gemeldet. Das erschien mir recht merkwürdig, da man nach wenigen Tagen die Abwesenheit des Haustieres doch bemerkt haben müsste. Es sei denn man wollte ihn loswerden und hat ihn ausgesetzt.
Ich war schon auf der Treppe und kurz vor der großen Eingangshalle, als ich laute Stimmen hörte. Ich verharrte auf der Stelle und schielte um die Ecke. Am Ende der großen Treppe die hinaufführte und sich dann rechts und links in zwei weitere aufteilte, um in die verschiedenen Flügel dieses Schlosses zu führen, standen Noah und Ethan. »Aber du hättest nicht gleich so reagieren müssen.« Das war Ethan. »Wenn sie wirklich Interesse an unseren Klub gehabt hätte, wäre sie doch sowieso von Anfang an gescheitert, weil sie ES nicht hat.«
»Sie ist mir aber zu neugierig. Auch wenn sie nur so tut. Ich glaube nicht das sie sich mit meiner Antwort zufrieden gegeben hat. Wir müssen gut aufpassen und du weißt warum. Außenstehende sind eine Gefahr und können in Gefahr kommen. Das ist eine unserer Grundregeln.«
»Ich hab es nicht vergessen.«, beruhigte ihn mein Cousin.
»Und außerdem ist etwas komisch an deiner Cousine.«, setzte Noah hinzu.
»Was denn?«
»Naja sie …« Gerade als Noah sagen wollte was so merkwürdig an mir war, hüpfte Cupcake die restlichen Stufen hinunter und polterte die große Treppe hinunter. Dabei konnte er es nicht lassen noch laut zu bellen.
»Cupcake halt!«, zischte ich dem Husky zu, doch er hörte nicht auf mich. Unten machte er vor Noah halt und sprang kläffend an ihm hoch. Sein Blick war Anfangs etwas verwirrt, wandelte sich aber dann in ein Schmunzeln um, als er sich bückte und dem kleinen Hund die Ohren kraulte.
»Na du Kleiner? Du bist aber ganz schön frech.« Für einen Moment war ich verblüfft, das Cupcake sich so gut mit dem unfreundlichen Freund von Ethan verstand. Aber da hatten wir alle, Ethan mit eingeschlossen, wohl falsch gedacht. Kaum hatte Noah ihm die Hand hingestreckt und ein weile liebkost, biss der Husky auf einmal in den Ärmel von seiner Schuluniform und begann daran kräftig zu ziehen. »Hey, hey! Lass das du kleiner … !« Doch Cupcake dachte gar nicht daran. Für ihn war das nur eine Herausforderung. Wie beim Tauziehen zogen nun beide Partien und keiner wollte sich geschlagen geben. Das sah so witzig aus, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste.
»Jetzt hilf mir doch mal Ethan! Der kleine Köter lässt mich nicht mehr los!« Doch Ethan stand nur daneben und konnte sich ebenso nur schwer ein Lachen verkneifen. »Gehört der etwa dir?«
»Nein das ist mein Hund.«, sagte ich und kam grinsend die Treppe hinunter. Meine Muskeln waren bis aufs äußerste angespannt, so sehr musste ich mich zusammenreißen nicht gleich lauthals loszulachen. »Aber nur vorübergehend.«, ergänzte ich. »Cupcake aus! Lass los!« Ich schnappte ihn mir und setzte ihn auf der Treppe ab. »Er scheint dich zu mögen.«, sagte ich zu Noah und konnte nicht aufhören mit dem Grinsen – sah bestimmt dämlich aus, aber egal.
»Der Hund ist genauso durchgeknallt wie du.« Mit einem Mal war mein Grinsen verschwunden.
»Was soll das denn heißen?«, fragte ich empört.
Er regierte auf meine Frage nicht und schaute stattdessen nach, ob sein Ärmel diese Attacke überlebt hatte. »Wir müssen los, sonst kommen wir noch zu spät.«, sagte er nur und setzt sich in Bewegung. Ethan folgte ihm, das Grinsen war ihm nicht vergangen.
»Hey, was meinst du damit?«, rief ich Noah hinterher, der mich gekonnt ignorierte. »Und du gehst schön nach oben.«, forderte ich Cupcake auf und lief den beiden hinterher.

»Wieso hat dein Freund eigentlich hier übernachtet?«, fragte ich Ethan im Auto. Es war gerade mal Anfang der Woche und nicht üblich das Schulfreunde mittendrin, einfach mal so bei wem übernachten, wenn am nächsten Tag Schule ist. Jedenfalls war das bei mir immer der Fall gewesen.
»Wir hatten an einem Schulprojekt gearbeitet, das wir übermorgen abgeben müssen.«, erklärte mir mein Cousin. »In den nächsten Tagen hätten wir keine Zeit mehr dafür gehabt.« Noah gab zu dieser Erklärung kein weiteres Kommentar ab, sondern schaute stumm aus dem Fenster.
»Achso.« Wir saßen zu dritt auf dem Rücksitz und ich war froh das Ethan in der Mitte saß und nicht Noah. Mich konnte er mit seinem Aussehen nicht reinlegen. Er war cool und hübsch, keine Frage, aber unglaublich eingebildet und arrogant – vielleicht aber war er auch nur zu mir so.
Vor der Schule war mal wieder viel los und das brave Gefolge der Jungs lauerte schon am Schultor. Kaum waren beide aus dem Auto ausgestiegen, wurden sie sofort umkreist – mich eingeschlossen. Dummerweise war ich als erste ausgestiegen und vorgegangen, sodass mich die kreischende Mädchenmenge förmlich überrannte und mit sich zog, wie ein Strom. Nur Mühsam konnte ich mich durch sie hindurch quetschen. »Zu eng, zu eng, viel zu eng!«, murmelte ich halb panisch vor mich hin. Wenn es um Menschenmassen ging wurde ich panisch. Auf den Straßen geht es noch einigermaßen, aber bei Konzerten oder Partys war mir das einfach zu wider. Ich bekam dann das Gefühl fast keine Luft mehr zu bekommen. Deshalb traf man mich auch nie bei irgendwelchen großen Feiern oder Veranstaltungen an, in denen sich die Menschen nur so aneinander drückten und man sie fast schon übereinander stapeln konnte. Wie ein Schiffbrüchiger der es endlich geschafft an Land zu kommen, verließ ich das Meer der Fan-Mädchen und konnte erleichtert aufatmen.
»Wenigstens bin ich nicht in Ohnmacht gefallen.«, atmete ich erleichtert auf und ging erst mal in die Hocke, da sich schon alles langsam zu drehen anfing. Das ist nämlich wirklich schon mal passiert, da lag ich dann mitten in einer Menschenmenge und konnte froh sein, das ich nicht überrannt wurde. Meine Freundin hatte mich damals zu einem Konzert überredet, doch als wir mitten in der kreischenden Masse waren, wurde mir das irgendwann zu viel und mein Kreislauf hat da nicht mehr mitgespielt.
»Hey du bist doch die Neue?«, sprach mich jemand an, der plötzlich vor mir stand. Ich war mir sicher, das ich diesen Satz in den nächsten Wochen noch öfter hören werde. Vor mir sah ich weiße Turnschuhe von Adidas mit roten Schnürsenkeln. Eine Sportlerin schien vor mir zu stehen, mutmaßte ich und folgte den schlanken, aber dennoch gut trainierten, Beinen nach oben und schaute einer ausgestreckten Hand entgegen. »Ist dir nicht gut?«, fragte mich die helfende Hand.
»Es geht schon.«, sagte ich und ergriff die Hand, die mich nach oben zog. Das Gesicht hinter der Hand gehörte einem Mädchen mit langen braun-orangerotem Haar, das ihr glatt bis über die Brust ging. Ihre Augen waren hell und freundlich und ein breites Grinsen hatte sich auf ihrem Gesicht breit gemacht. Sogar ein paar Sommersprossen hatte sie, was sie noch frecher wirken ließ.
»Hi! Ich bin Summer!« Ihre Stimme war laut und voller Energie. Sie redete ein bisschen zu laut und erinnerte mich an einen alten Sportlehrer denn ich mal hatte. Der hat uns fast ins Ohr geschrien und behauptet er würde in Normallautstärke reden. Verübeln konnte es ihm aber keiner, denn er hatte einen Gehörsturz gehabt und hört seitdem schlecht. Ob Summer auch solche Probleme hat? »Freut mich dich kennen zu lernen.« Sie schüttelte meine Hand energisch und drückte sie dabei fest zu. Ein bisschen zu fest. Stark scheint sie auch noch zu sein. »Du bist sicher Fanny Haddington. Die Crash-Queen höchstpersönlich.«
»Crash-Queen?«
»Ja. Nicht jeder schafft es gleich am ersten Schultag die Bibliothek in Schutt und Asche zu legen. Du musst viel Energie und Kraft haben, so etwas respektiere ich total.«
»Was?! Das war ich nicht. Es war ein Unfall und es war nur ein Regal.« Wer setzte denn solche Gerüchte in die Welt?
»Ach mach dir darüber keine Gedanken. Die Klatschpresse bei uns schreibt immer gerne solches Zeug, das ist vollkommen normal. Nur totale Idioten glauben so etwas. Aber mal was ganz anderes: Ich habe mich entschieden!«, verkündete sie laut, also lauter als sonst.
»Was?« Ich war komplett verwirrt.
»Du wirst gegen mich antreten. Du scheinst mir nämlich eine ebenbürtige Gegnerin zu sein und wir werden sehen, wer von uns beiden die Stärkere ist.«
»Was?!« Sie will gegen mich kämpfen?! Das war gar nicht gut. Absolut nicht gut! Ich kann mich nicht mal prügeln, wie will ich da gegen sie gewinnen.
Die Mädchenmenge hinter uns teilte sich und die beiden Prinzen traten aus der Menge. Ethan sprang mir förmlich ins Auge. Er war meine letzte Rettung.
»Hey, Summer.«, begrüßte er das kampflustige Mädchen. »Forderst du mal wieder jemanden heraus?« Schluck! Er kennt das schon! was mach ich jetzt bloß?! Er wird mir garantiert keine Hilfe sein.
»Hey Ethan. Ich will sehen ob mir deine Cousine meinen Platz streitig machen kann.«, erzählte sie voller Tatendrang. Anscheinend konnte sie es kaum erwarten.
»Aber … ich will mich nicht … mit dir prügeln.«, brachte ich leise hervor. Summer sah mich sprachlos an, dann lachte sie auf einmal lauthals los. Hab ich was falsches gesagt?
»Du denkst wirklich ich will mich mit dir prügeln?«
»Naja …«
»Summer ist der Sportchampion auf unserer Schule.«, erklärte Ethan. »Sie hat in jeder Sportart hier einen Rekord aufgestellt und gilt als Königin des Sports in allen Disziplinen. Jeder Konkurrent der versucht ihr diesen Titel streitig zu machen, fordert sie heraus. Doch einen Rivalen gab es schon lange nicht mehr.«
»Genau und das ist langweilig. Ich brauch mal wieder einen Herausforderer.«, offenbarte Summer ihr Leid. Sie prüfte mich hoffnungsvoll und in ihren Augen begann es zu funkeln. »Und deswegen hoffe ich, dass du meine nächste Rivalin sein wirst. Ich fordere dich heraus Fanny. Zeig mir ob du besser bist als ich. Jetzt sofort!«
»Aber ich hab jetzt Unterricht, das geht nicht.« Wenn ich sie jetzt loswerden würde, hätte ich sie spätestens in der Pause wieder am Hals. Vermutlich den ganzen Schultag. Summer scheint nicht der Typ zu sein, der sich leichtfertig abspeisen lässt. Und damit lag ich auch richtig.
»Mir entkommst du nicht. Zufällig belege ich auch viele deiner Kurse und habe jetzt mit dir Sport. Und da wirst du gegen mich antreten! Es gibt kein entkommen!« Das hörte sich wie eine Kriegserklärung an, als eine einfache Herausforderung. Summers Körper und Geist schienen regelrecht in Flammen zu stehen und ich hatte das ungute Gefühl, das ich nicht heil aus der Sache rauskommen würde. »Also los gehen wir! Lass uns keine Zeit vertrödeln!« Sie griff meine Hand und schleifte mich hinter ihr her. Großartig widerstand leisten konnte ich ja nicht. Denn es war Unterricht und da war Anwesenheitspflicht angesagt.
Ethan schaute mich mit einer lächelnden mitleidigen Miene an. Aber helfen konnte er mir auch nicht. Und so blieb mir nichts anderes übrig als mich von Summer verschleppen zu lassen.

Das Wetter war schön und angenehm warm, weshalb der Sportunterricht draußen stattfand. Es war ein Fußballplatz vorhanden, um denn sich eine zehnspurige Rennbahn erstreckte, für Läufer. Neben an befand sich ein Baseball- und Basketballplatz. Weiter hinten konnte man noch die Tennisanlage sehen.
Der heutige Sportunterricht beinhaltete die Disziplin Leichtathletik, was so leider gar nicht mein Fachgebiet war. Nur in vereinzelten Sachen war ich gut, aber damit konnte man nicht wirklich glänzen. Wie ich es erwartet hatte, schlug mich Summer in allen möglichen Disziplinen der Leichtathletik. Sie konnte glatt die ganze Klasse bei den Olympischen Spielen vertreten, oder noch besser das ganze Land. 100m Sprint, Hochsprung, Weitsprung, 400m Lauf, Ausdauerlauf (obwohl es jedes mal sehr knapp war). Ich hatte immer mein bestes gegeben, damit sie es schwer hatte, trotzdem kam es mir so vor, als würde sie sich kein bisschen anstrengen. Wahrscheinlich hatte sie schon gemerkt, dass ich nicht die beste in Sport bin. Ballsport war schon eher meine Kategorie.
Zu meiner Freude war das letzte Spiel vor Unterrichtsende Dodgeball, was bei uns so was ähnliches wie Völkerball ist. Und wie es auch anders sein sollte, waren Summer und ich am Ende die letzten auf je einem Feld. Wir waren beide total am Ende und konnten schon fast nicht mehr den Ball richtig schießen. Den ganzen Unterricht über hatten wir uns so verausgabt, das uns fast keine Kraft mehr für den Schluss blieb. Meiner Schätzung nach musste der Unterricht jeden Moment zu Ende sein und ich hatte den Ball. Ich wollte einen letzten Angriff starten und Summer mit einen meiner spezial schnellen Würfe beglücken, doch irgendwie rutschte mir der Ball beim werfen leicht aus der Hand und eierte unsicher durch die Luft ins andere Spielfeld auf meinen Gegner zu. Doch gerade weil der Ball so furchtbar durch die Luft flog wie ein betrunkener Vogel, bekam Summer ihn nicht richtig zu fassen und er rutschte ihr aus den Händen. Damit war die Stunde zu Ende und meine Mannschaft hatte gewonnen. Ich war einerseits Stolz auf das Ergebnis meiner Arbeit, auch wenn ich nur durch Zufall gewonnen hatte (aber Sieg bleibt Sieg).
Nach dieser Stunde aber war ich mir nicht mehr so sicher, ob Summer noch etwas mit mir zu tun haben wollte. Sie war ehrgeizig und verlor nicht gern, aber ich fand sie auch witzig und sympathisch – irgendwie. Ich verlor keine Zeit mit dem umziehen und machte ich mich dann in die Schulkantine auf, räumte meine Sachen zuerst noch in den Spinnt, und suchte mir einen freien Platz, um mein Pausenbrot zu essen. Irgendwo in einer Ecke fand ich einen Tisch, an dem noch niemand saß. Still setzte ich mich hin und fing an zu essen. Doch ich blieb nicht lange allein. Schon nach wenigen Minuten setzte sich jemand an meinen Tisch.
»Hier hat sich also meine Rivalin versteckt.« Es war Summer. »Du warst so schnell mit umziehen, dass das schon wieder Rekordverdächtig ist.« Hat sie so ein Art Rivalen-Aufspür-Sinn? Das wäre ja gruselig.
»Tut mir leid das ich dich beim Dodgeball geschlagen habe.«, entschuldigte ich mich. »Das war nicht meine Absicht.« Wie heute Morgen vor der Schule hatte Summer wieder diesen sprachlosen Gesichtsausdruck für einen Moment und brach wenig später wieder in ein schallendes Gelächter aus.
»Machst du Witze? Ich finde das großartig.«
»Ach echt?«
»Ja. Du bist zwar nicht so gut wie andere, aber du strengst dich an und legst dich ordentlich ins Zeug. Die anderen hatten schon alle lange vor dir aufgegeben, aber du hast weiter gemacht und mich sogar in einer Disziplin besiegt. Glückwunsch! Das schaffen nicht viele.« Sie fing an ihr Frühstück zu verzerren. Einen Hamburger, French Toast, Spiegelei mit Speck auf einem Brot, dazu ein Bagel und einen Muffin. Außerdem noch ein Joghurtdrink, Apfelsaftpäckchen, Schokomilch und Energiedrink.
»Du isst aber viel.«, bemerkte ich. Und dann auch noch so ungesundes Zeug. Wie kann eine Sportlerin nur so viel schädliches Zeug in sich hineinstopfen.
»If verbraufe halt viel Enerfie.«, antwortete Summer mit vollem Mund. Ihr Blick schweifte beim Essen durch die Kantine. Als sie plötzlich jemanden erblickte, sprang sie von ihrem Platz auf und fing an zu winken. »Hey Holly! Hier bin ich!«, schrie sie quer durch den Raum. Eigentlich dachte ich jeder würde sich nach Summer umdrehen und sie komisch anschauen, aber komischerweise störte ihr Gebrüll niemanden. Vermutlich lag das aber einfach auch nur daran, das in der Kantine ein Höllenlärm herrschte und man nur in einem kleinen Radius noch mit jemanden reden konnte. Holly war die einzige die zu uns rüber schaute.
Holly? Stimmt, da klingelte was bei mir. Holly war das Mädchen das mich herumgeführt hatte. Sie sprach nur sehr leise und sehr wenig. Ihre Sätze waren immer abgedroschen und kurz. Das kleine Mädchen kam an unseren Tisch, musterte mich kurz mit einem Blick den ich nicht wirklich einordnen konnte und setzte sich dann. In der einen Hand hielt sie ein Buch und in der anderen ein zusammengebundenes rechteckiges Bündel, das sie nun auspackte. Es war eine japanische Lunchbox, die auch Bento genannt wird. Darin befand sich ein wunderschönes zubereitetes Essen, mit vielem gesunden Bestandteilen (viel Reis, Gemüse, etwas Fleisch und Eiern). Also das totale Gegenteil von Summers Fresspaket.
»Das sieht aber lecker aus.«, bemerkte ich. »Hast du das selber gemacht?« Holly nickte nur stumm. »Ist ja der Wahnsinn.«
»Holly kann hervorragend kochen.«, sagte Summer. »Mir hat sie mal so ein leckeres großes Reisbällchen gemacht, mit ganz viel Fleisch drin. Davon bin ich eine halbe Stunde lang satt geblieben. Einfach der Hammer! Ontiniri oder so, hieß es.«
»Onigiri.«, verbesserte Holly.
»Genau! Musst du unbedingt mal probieren. Schmeckt voll gut.«
»Ah bevor ich's vergesse.« Ich kramte in meiner Tasche herum. Irgendwo hier hatte ich sie doch. Ah, da sind sie ja. »Danke fürs ausleihen. Deine Notizen haben mir sehr geholfen.« Ich schob ihr das Bündel Hefte über den Tisch. Zum Glück hatte ich mich gestern gleich hingesetzt, so konnte ich richtig viel schaffen.
»Na du bist aber flott unterwegs.«, bemerkte Summer. »Bei so etwas wirst du mich um Längen schlagen. Lernen und der ganze andere Kram liegt mir nicht so. Ich bin nur gut in Sport.« Ich grinste in mich hinein. Was für verrückte Leute es doch hier gab. »Übrigens Holly haben wir heute wieder eine Freistunde, kannst du mir da Nachhilfe geben? Ich hab auch noch so viele Hausaufgaben auf, die schaff ich nicht alleine.«
»Mit anderen Worten du willst bei mir abschreiben.«, durchschaute Holly Summers Absicht.
»Du hast es erfasst.« Sie streckte ihr die Zunge raus und grinste verlegen.
»Vergiss es ich werde dir nur Anhaltspunkte geben, den Rest musst du alleine schaffen.«
»Ach man, sei doch nicht so gemein zu mir Holly. In Sachen Lernen und Hausaufgaben bist du wirklich erbarmungslos.«
»Du wirst es nie lernen wenn du dauernd nur abschreibst und eine ruhige Kugel schiebst! Werd endlich mal selbstständig!«, fuhr Holly sie an und wir beide erstarrten. Das hätte ich gar nicht von ihr erwartet. Das Holly so laut werden konnte, mit ihrer leisen Stimme. Das war fast so als würde sie uns anschreien und ihre Lautstärke kam nicht mal an die von Summer ran.
»Dann komm du wenigstens auch mit Fanny.«, bat Summer.
»Wer ich?«
»Ja. Bitte bitte bitte.« bettelte sie und machte Augen wie ein Hundewelpe.
»Aber stör ich dann nicht.« Ich sah zu Holly, die wieder ruhig ihr Lunchpaket weiter aß.
»Summer ist die einzige die das Lernen stört. Schlimmer als sie kannst du nicht sein.«, meinte sie und steckte sich ein Sushi in den Mund.

Kapitel 10

 

»Ich versteh das nicht!«, maulte Summer und ließ ihren Kopf auf den Tisch sinken. Wir hatten uns in die Bibliothek gesetzt, die nicht sonderlich gut besucht war, (was aber anscheinend wohl eher daran lag, das wir eine Freistunde hatten und die anderen nicht) und uns den Hausaufgaben gewidmet, die für die nächsten Tage anstanden. Ich konnte Summers Verhalten verstehen, auch ich trat langsam an den Rand meiner Verzweiflung. Mathe war zwar noch nie wirklich meine Stärke gewesen, genauso wie Physik oder Chemie, aber ich konnte mich gut durchkämpfen und schaffte es ab und zu eine zwei zu bekommen. Aber bei den Aufgaben die hier gestellt wurden, grenzte das an schiere Unmöglichkeit.

»Du musst doch nur hier umstellen und aufpassen das du die Vorzeichen beachtest, der Rest ist ganz einfach«, erklärte Holly. »Ich versteh nicht wie du das nicht kannst, das ist eine der leichtesten Aufgaben.« Die soll noch leicht sein! Da bin ich ja mal auf die schwierigen gespannt.

»Ich hab keine Lust mehr. Lass uns lieber was anderes machen«, nörgelte Summer, doch Holly blieb hart.

»Ich such noch nach anderen Aufgaben. Ihr rechnet inzwischen die, die und die Aufgaben, die sind der die wir gerade gemacht haben sehr ähnlich. Wenn ich zurück komme vergleichen wir die Ergebnisse.« Holly verschwand und ich schaute ihr nach. Anscheinend hatte ich sie doch am Anfang ein wenig falsch eingeschätzt. Bei Summer war sie alles andere als schüchtern. Oder war das nur bei ihr so.

»Du sag mal Summer, ist Holly immer so? Bei mir war sie am Anfang eher schüchtern.«

»Holly ist eher ruhig als schüchtern. Sie verschwendet nicht gerne Worte an andere Leute.« Das kam jetzt ziemlich arrogant rüber. »Außerdem hatte sie mal schlechte Erfahrungen als sie klein war und passt daher immer auf was sie sagt, weshalb sie es eher vorzieht nichts zu sagen.«

»Ach echt? Das ist sehr …« Ich wollte Interessant sagen, aber das war irgendwie nicht das richtige Wort. »Hat sie vielleicht Angst vor anderen Leuten? Oder vor mir?« Summer musterte mich und schüttelte dann den Kopf.

»Vor dir kann man keine Angst haben. Du siehst eher aus wie ein totaler Durchschnittstyp.« Autsch! Das tat weh. Ich geb ja zu das ich nicht besonders aussehe. Gegen diese ganzen Mädchen mit Make-Up und Haarstyleprodukten an dieser Schule kam ich aber auch nicht an. War auch nicht unbedingt in meinem Interesse, nur ab und zu greif ich mal zum Mascara oder Lidschatten. Aber ansonsten reichte mir Grundierungs-Make-Up vollkommen. »Ich hab übrigens was ganz aufregendes gehört«, flüsterte Summer geheimnisvoll, was mich neugierig machte.

»Das hört sich aber spannend an. Was ist es denn?«

Summer lehnte sich weiter nach vorne und flüsterte mir dann mit leiser Stimme zu »Hier in der Bibliothek soll es spucken.« Ich sah sie mit einem unglaubwürdigen Blick an.

»Summer es gibt keine Geister«, klärte ich sie auf. Schon wieder das Gefasel von Geistern, das war schon das zweite Mal an diesem Tag.

»Das glaubst du, aber wie erklärst du dir dann, das ein ganzer Schrank voller Bücher gestern auf dich gefallen ist, obwohl die Schrauben, die an dem das Ding festgemacht war, alle in Takt waren und keine einzige davon rostig oder alt. Die ganzen Bücherregale wurden erst kürzlich neu festgemacht, aber die Schrauben wurden von jemandem entfernt und das führte zu deinem Unfall. Außerdem soll früher hier schon einmal jemand zu Tode gekommen sein und zwar auf die selbe Weise wie du.«

»Und was soll ein Geist mit dieser ganzen Sache zu tun haben?«

»Na was wohl, er ist wieder gekommen um Rache zu nehmen und macht jagt auf unschuldige Schüler in der Bibliothek.«

»Also soll er das Bücherregal umgestoßen haben?«, fragte ich sie und mein sarkastischer Unterton war nicht zu überhören.

»Du darfst nicht vergessen, dass er vorher die Schrauben entfernt hat«, erinnerte mich Summer.

»Soll das ein Witz sein? Summer ich falle auf deine Gruselgeschichten nicht rein. Außerdem gibt es keine Geister und selbst wenn, dann können sie keine Schrauben entfernen, weil sie nicht in der Lage sind etwas anzufassen. Sie gehen durch andere hindurch, wie … Geister eben.« Davon war ich jedenfalls fest überzeugt, weil das alles war was ich über Geister wusste, aber vielleicht konnte ich mich auch irren – hoffentlich nicht.

»Wenn du mir nicht glaubst, dann lies doch den Artikel darüber, den die Schülerzeitung geschrieben hat.« Sie drückte mir eine dünne Zeitung in die Hand, die von unserer Schule kam. Woher nehmen die nur das Geld für so etwas?

»Seite 3.«, sagte Summer und ich blätterte besagte Seite auf. Was ich fand war ein Artikel mit der Überschrift ›Suchen Tote unsere Schulbibliothek heim?‹ Dazu ein passendes Foto von der Bibliothek aus einer Zeit, in denen vermutlich sogar die letzten Jahrgänge noch nicht auf diese Schule gegangen sind. Ich fing an mir den Artikel durchzulesen.

 

Es ereignete sich genau vor 20 Jahren, als die Liongate-Academy noch am Anfang stand. Ein Junge, der noch nach dem Unterricht die Bibliothek aufsuchte, ist bei einem Unfall, bei dem eines der Bücherregale auf ihn stürzte, zu Tode gekommen.

Seit dem tragischen Tod dieses Schülers rankten sich immer wieder neue Gerüchte um die Schulbibliothek. Bücher verschwanden und tauchten an den seltsamsten Orten wieder auf, die Reihenfolgen wurden durcheinandergebracht und manchmal fand man einen umgekippten Bücherschrank am nächsten Tag wieder. Diese ganzen merkwürdigen Ereignisse wiederholten sich die ersten Jahre und verstummten dann seit einer geraumen Zeit. Doch jetzt sind sie wieder da und haben sich auch schon ein neues Opfer vorgenommen.

Fanny Haddington, die Cousine unseres beliebten Ethan Haddington, wurde gestern nach der Schule beinahe von einem Bücherschrank erschlagen worden und kam mit kleinen Verletzungen davon. Laut Zeugen konnte sie dem Tod entkommen, indem der fallende Schrank vom gegenüberliegenden gestoppt wurde und somit nur die Bücher auf die neue Schülerin niederschmetterten. Ethan brachte seine Cousine sofort ins Krankenhaus, wo sie laut unseren Informationen, keine bleibenden Schäden von dem Vorfall davon trug.

Doch wer ist dafür verantwortlich? Gibt es wirklich einen Geist oder ist da etwa Sabotage im Spiel? Und wird es noch weitere Opfer geben wie Fanny Haddington?

Wir werden sehen was in Zukunft noch alles so spannendes passieren wird. Wir halten euch auf dem laufenden. Und falls ihr mehr zu der Chaos-Queen Fanny Haddington wissen wollt, blättert weiter auf Seite 10.

 

»Die haben einen Artikel über mich geschrieben?!« Ich blätterte hastig auf Seite 10 und musste schlucken. Der Artikel war zwar nicht groß, aber es reichte aus was da über mich stand. Zusätzlich hatte man noch ein Foto hinzugefügt, das vom gestrigen Tag stammte. Ich stand da vor dem umgekippten Bücherregal und unterhielt mich mit Mrs Prilla. Meine Haare sahen zerzaust aus und meine Uniform war zerknittert.

»Das hab ich dir doch gesagt. Aber mach dir mal keine Sorgen. Was da steht ist gar nicht so schlimm.«

»Nicht so schlimm?!«, rief ich fast entsetzt. »Da steht das ich eine Vandalin wäre, eine Gefahr für die Schüler und den Ruf der Schule gefährden würde. Und das soll nicht schlimm sein?«

»Erstens stimmt es doch gar nicht oder etwa doch?«

»Nein, es war nur ein Unfall«, beharrte ich.

»Siehst du, damit kannst du dich von dem Vandalin-Ruf verabschieden und gefährlich für die Schüler bist du auch nicht. Also kein Grund zur Beunruhigung. Und zweitens darf man nicht alles so ernst nehmen was die schreiben«, riet mir Summer. »Außerdem ist das die Klatsch-Seite, da ist es normal das die übertreiben. Über mich haben sie zum Beispiel mal geschrieben das ich zu viel Essen würde, dabei stimmt das nicht. Ich verzehre nur das, was ich für den Tag an Energie brauche.« Sie lachte und ich versuchte mit einzustimmen, was mir aber nicht so recht gelang. Wenn du wüsstest Summer. Meiner Meinung nach aß sie auch ein bisschen zu viel. Aber so wie es aussah, konnte ihr Körper das alles gut verdauen.

Nach dieser Nachhilfestunde hatten wir noch gemeinsam Geschichte und danach Schulschluss. Doch nach Hause gehen konnte und wollte ich noch nicht. Ethan musste sowieso in seinen Klub und ich wollte mich ein wenig umsehen, um mich vielleicht für eine Klubaktivität zu entscheiden.

»In welchen Klub seid ihr eigentlich?«, fragte ich Summer und Holly beiläufig. Bei Summer konnte ich mir etwas sportliches vorstellen und bei Holly etwas das mit Kochen oder Büchern zu tun hatte.

»Wir sind im P.U.S.P. Klub. Hast du davon schon gehört?« Was? Heiliger BimBam, nicht die auch noch. Hat denn jeder den ich kenne etwas mit dem Klub zu tun?

»Ja hab ich schon. Aber was macht ihr denn in einem … Detektiv-Geister ..was auch immer-Klub? Summer ich dachte du machst lieber Sport und denkst nicht so viel.«

»Ich weiß passt gar nicht zu mir. Aber man hat mich angesprochen, ob ich nicht mitmachen wolle. Ich wäre sehr geeignet für den Klub gewesen und das fand ich interessant. Außerdem fand ich die Leute da alle ganz witzig und nett. Und es ist fast immer aufregend und super spannend«, erzählte sie mir. Holly sagte nichts zu alledem.

»Aha«, brachte ich nur hervor. Ich konnte es irgendwie nicht glauben. Da stimmt doch was nicht, sagte mein innerer Spürsinn zu mir. Ich kannte Summer zwar erst seit heute morgen, aber auch ich erkenne das logisches Denken nicht gerade ihre Stärke ist. Und witzig und nett passt ja mal gar nicht zu Noah Castor. Was wollte sie also in dem Klub?

Mich beschlich das Gefühl das sie etwas verbarg, wie jeder in diesem Klub und ich beschloss herauszufinden, was es mit diesem P.U.S.P. Klub auf sich hatte.

»Also dann, wir machen uns mal auf den Weg. Bis später Fanny.« Summer und Holly verschwanden um die nächste Ecke und ich ging zu meinem Spind. Ich räumte alles hinein und schloss gerade meine Tür, als jemand dahinter auftauchte und mich fast zu Tode erschreckte. Es war der Junge den ich in der Schule auf dem Gang getroffen hatte, der der mir den Weg zum Sekretariat gezeigt hatte.

»Hey, wir kennen uns schon. Du bist Fanny stimmt's?«, fragte er und lächelte dabei süß.

»Ja. Und du hast mich fast zu Tode erschreckt«, entgegnete ich.

»Tut mir leid, das war nicht meine Absicht.« Er sah wirklich gut aus und ich verstand warum ihn die Mädchen am Hemdzipfel hingen. »Mein Name ist Jayden.« Er streckte mir seine Hand hin.

»Heute mal ohne Gefolge?«, fragte ich als ich seine Hand schüttelte und hinter ihn sah. Nicht ein einziges Mädchen.

»Manchmal braucht man auch seine Ruhe«, sagte er gelassen. »Du bist sehr interessant.«

»Finde ich nicht. Was möchtest du von mir?«

»Dich ein wenig besser kennenlernen. Denn wie gesagt, ich finde dich äußerst interessant.« Ich zog eine Augenbraue hoch. Irgendwie konnte ich ihm das nur schwer abkaufen. Was sollte an mir schon interessant sein? Ich war weder besonders begabt noch talentiert. Und überdurchschnittlich aussehen tat ich auch nicht. Für andere Leute war ich ein durchschnittlicher Mensch, der nicht besonders oder sonst irgendwas war. »Ich finde du hast etwas an dir, das dich unwiderstehlich macht«, fuhr Jayden fort und wickelte eine lose Strähne um seinen Finger, die es heute Morgen geschafft hatte, meinem Pferdeschwanz zu entkommen.

»Ja, netter Versuch mich anzubaggern, aber ich bin nicht so leicht um den Finger zu wickeln, wie deine anderen Mädchen.« Ohne das es angewidert rüberkam, befreite ich meine Strähne aus seinem Finger und schob sie mir mit einer beiläufigen Geste hinters Ohr.

»Genau das finde ich an dir so interessant«, flüsterte der Mädchenschwarm mir zu und kam mir noch ein Stückchen näher. Meine Güte der ging aber ran!

»Jayden komm endlich.« An der nächsten Ecke standen zwei weitere Jungs.

»Schade ich muss dann mal los.« Zu meiner Erleichterung ließ Jayden von mir ab. Ich hätte sonst auch nicht gewusst, wie ich ihn höflich hätte abservieren sollen – falls es so weit gekommen wäre.

»Ja. Schönen Tag noch.«

»Ah, bevor ich's vergesse.« Er zog eine Visitenkarte hervor und gab sie mir. »Wenn du Probleme hast, dann komm doch einfach zu uns in den Klub. Wir helfen dir gerne weiter.« Er verabschiedete sich und eilte zu seinen Freunden.

»Äh, … danke!«, rief ich hinterher und sah mir die Karte an.

 

P.U.S.P.

Police for Unknown Suspicious Phenomena

B240

Ich dachte ich spinne. Jetzt haben die auch noch ihre eigene Visitenkarte und der Typ der eben mit mir geredet hat, sowie seine Freunde, mussten auch zu diesem Klub gehören.

»Warum kann ich nicht einfach mal 'normalen' Leuten begegnen«, seufzte ich und steckte die Visitenkarte ein.

»Der Klub der Okkulten-Spinner lässt aber auch nichts anbrennen«, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir und ich erschrak wieder, konnte aber noch einen Aufschrei unterdrücken. Einige Meter von mir entfernt stand ein Junge. Seine Haare waren schwarz, hatten einen wilden Look und hingen seitlich etwas in sein Gesicht. Sein Gesicht war eckig und seine Haut etwas dunkler. Vom Aussehen her musste er asiatischer Abstammung sein, aber bei ihm sah man es nicht so deutlich wie bei Holly. Er schien eher eine Mischung aus Asiate und Europäer zu sein. An einem seiner Arme konnte ich ein Tattoo sehen.

»Hi«, begrüßte er mich mit einem Lächeln. »Ich bin Nathan. Nathan Grimm.« Grimm? Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Grimm? So wie Gebrüder Grimm?«, fragte ich. Nathan lächelte mich weiterhin an.

»Ja. Das fragen fast alle. Jeder kennt halt die Märchen dieser Brüder.«

»Sie sind weltweit verbreitet und kommen aus meiner Heimat«, sagte ich Stolz.

»Dann bist du das Mädchen, das aus Deutschland hierher gezogen ist. Ich habe auch mal in Deutschland gewohnt, aber nur bis ich sieben Jahre alt geworden bin, dann sind wir wieder umgezogen.«

»Was wirklich?«, fragte ich begeistert.

»Yepp. Die Sprache habe ich zum Glück nicht verlernt. Ich kann immer noch so gut Deutsch sprechen wie vor über 10 Jahren – wenn man mal von einem kleinen Akzent absieht.« Ich freute mich innerlich. Ich hatte jemanden gefunden der von meinem Heimatland kam. Auch wenn er anfangs nicht danach aussah. »Hat der Klub der Okkulten-Spinner dich etwa zu sich eingeladen? Ich dachte nur privilegierte Leute dürfen dem beitreten.«

»Ich habe auch nur eine Visitenkarte bekommen, mit dem Rat mich bei ihnen zu melden, wenn ich Probleme hätte.« Ich steckte die Karte weg, um nicht weiter daran denken zu müssen. » Ich habe mich noch nicht für einen Klub entschieden. In was für einen Klub bist du eigentlich?«, wechselte ich elegant das Thema.

»Was denkst du?«, stichelte Nathan mich zu einem Ratespiel an.

»Irgendwas mit Sport?«

»Falsch.«

»Dann vielleicht die kreative Richtung? Machst du Kunst?«

»Schon nah dran. Aber noch nicht ganz.«

»Hmm …« In Gedanken rief ich den Zettel ab, auf dem alle Klubaktivitäten gestanden hatten, aber was anderes außer Kunst und Zeichnen viel mir nicht wirklich ein.

»Na komm ich zeig es dir am besten.« Er nahm mich bei der Hand und führte mich durch die Flure zu einem Zimmer. Ich wurde ein klein wenig rot, weil mir so etwas noch nie passiert ist. Aber ich muss sagen, es fühlt sich nicht schlecht an, von einem Jungen bei der Hand genommen zu werden.

Als wir beide in das Zimmer eintraten war es noch Stockfinster. Einige Minuten blieb es dunkel, bis Nathan das Licht anmachte. Ich musste für einige Minuten warten, bis sich meine Augen an das helle Lampenlicht gewöhnt hatten. Die Fenster in dem Raum waren vollkommen verdunkelt und jetzt sah ich auch warum. Ich befand mich mitten in einem Fotostudio. Staunend sah ich mich um. Das sah hier alles richtig professionell aus.

Das schließen eines Kameraverschluss war zu hören und ich erstarrte augenblicklich. Wenn es um Fotografien ging, war mein Gehör wie ein Alarmsensor. Ich mochte es nicht, wenn man Fotos von mir machte. Auf den meisten sah ich immer so komisch aus. Immer erwischte man mich in unpassenden Momenten. Zum Beispiel wenn beim Frühstück ich lange gähnte und mit Schlafanzug, strubbeligen Haaren am Tisch saß, mein Rock vom Wind hochgehoben wurde oder ich im Winter auf dem Eis hinfiel. Für jedes Jahr hatten meine Eltern immer massenweise peinliche Fotos von mir gehabt.

Als ich mich umdrehte stand einige Meter von mir entfernt Nathan und hatte eine Kamera in der Hand. Wie eine Eisskulptur stand ich da und starrte ihn an – was auch meist immer passiert, wenn ich eine Kamera erblicke.

»Du hast jetzt nicht wirklich ein Foto von mir gemacht?«, fragte ich und wünschte mir das er ›Nein sagen würde.

»Doch hab ich. Dein Gesichtsausdruck war einfach göttlich, den musste ich einfangen. Willst du das Bild sehen? Was ist denn?«

»Ich mag es nicht wenn man mich fotografiert. Dauernd erwischt man mich nur in einem peinlichen Moment oder ich habe die Augen zu. Ich bin das unfotogenste Mädchen auf der ganzen Welt.«

Nathan schaute auf das Display seiner Spiegelreflexkamera und runzelte für einen kurzen Moment die Stirn. Dann zeichnete sich jedoch ein breites Lächeln auf seinem Gesicht ab und er winkte mich zu sich an die Seite. »Also wenn das nicht fotogen ist, dann weiß ich auch nicht«, sagte er und hielt mir das Bild unter die Nase, das er eben von mir geschossen hatte.

Es zeigte mich, wie ich in dem Raum stand, mit einem erstaunten Gesichtsausdruck, der aber irgendwie nicht dämlich oder gekünstelt aussah, sondern total echt und passend. Mein Gesicht war im Halbprofil fotografiert worden und offenbar war links meine Schokoladenseite.

»Wow«, entfuhr es mir. Ich hatte noch nie so ein Bild von mir gesehen. Es war das schönste, was man je von mir gemacht hatte.

»Gefällt es dir?«

»Es ist einfach toll. Super gut. Wie hast du das gemacht?« Ich war hin und weg. Ich musste ihn unbedingt fragen, ob er es mir ausdrucken konnte.

»Danke. Das Lob nehme ich gerne an. Anscheinend habe ich doch etwas auf dem Kasten.«

»Machst du Witze? So ein Bild hat noch nie jemand von mir geschossen. Wie hast du das gemacht?« Das ich überwältigt war, hatte ich ja bereits erwähnt – mehrfach.

»Ich schätze bei uns stimmt einfach die Chemie oder ich bin ein Genie.« Er grinste mich an und ich grinste zurück. »Heißt das jetzt ich darf dich öfter fotografieren?«

»Aber keine peinlichen Bilder und nur wenn es nicht veröffentlicht wird oder so.«

»Ich werde die Fotos von dir alle unter Verschluss halten, großes Ehrenwort.« Er reichte mir den kleinen Finger als Versprechen und ich hakte meinen bei ihm ein.

»Dann hab ich nichts dagegen«, gab ich mein Einverständnis. »Und könnte ich von dem Bild vielleicht einen Abzug haben?«

 

»Und wie war dein Tag?«Ethan stieg zu mir in den Wagen, in dem ich schon auf ihn gewartet hatte.

»Ganz okay«, antwortete ich und wir fuhren los.

»Ich hab gehört du hast Freunde gefunden«, versuchte er das Gespräch weiter in Gang zu bringen.

»Hmm …«

»Stimmt was nicht?«

»Ich denke nur nach.« War doch schon komisch. In den ersten zwei Tagen an dieser Schule, treffe ich fast nur Leute, die mit diesem Klub zu tun haben – abgesehen von Nathan, den ich ehrlich gesagt sehr mochte. Und jeder von ihnen ist anders, aber doch geheimnisvoll.

»Ist wirklich alles okay?«, fragte Ethan nochmal nach.

»Natürlich. Ich mach mir nur Gedanken über den derzeitigen Stoff in der Schule. Heute habe ich mit Holly und Summer noch gelernt, aber das hat mir nur teilweise was gebracht.«

»Wenn du willst helfe ich dir«, bot mir mein Cousin an. »Falls du aber Probleme in Mathe haben solltest oder Physik, dann würde ich dir raten Noah um Hilfe zu fragen. Er ist in diesen Fächern besonders gut.«

»Was? Nie im Leben!«, reif ich aus, bevor ich mir bewusst war, das Ethan gar nichts wusste über meine Abneigung bezüglich Noah.

»Ihr kommt nicht besonders gut klar, nicht wahr?« Volltreffer.

»Nicht wirklich. Aber an mir liegt es nicht. Er verhält sich mir gegenüber einfach so unnahbar und kühl.« - und das war noch nett ausgedrückt - »Ich bin mir sicher das er mich nicht leiden kann.« Ethan schmunzelte, das sah ich aus den Augenwinkeln. Machte er sich lustig über mich?

»Ich frage gern für dich, wenn du dich nicht traust. Bei mir-«

»Auf gar keinen Fall!«, unterbreche ich ihn. »Da mache ich mich doch nur lächerlich, wenn ich meinen Cousin vor schicke. Nein das geht nicht.«

»Dann wirst du dich eines Tages überwinden müssen.« Auch wenn ich es nicht gerne zugab, aber in dem Punkt hatte mein lieber Cousin leider recht.

 

Als wir wieder auf Haddington Hall ankamen, setzte ich mich erneut an die neuen Notizen von Holly dran und brachte meinen Wissenstand auf dem der Schule. (Die vorherigen Sachen waren gerade mal ¼ von den Fächern die ich hatte)

Ich schaffte alles gut und brauchte nicht so viel Zeit wie ich anfangs gedacht hatte. Weshalb ich mich dazu entschied, gleich mit einer Hausaufgabe anzufangen, die zwar noch ein bisschen in der Ferne lag, aber was man heute kann besorgen …

Hierbei handelte es sich um eine Aufgabe in Geschichte, in der man einen kurzen Aufsatz über die Wirtschaft und Gesellschaft im 16. Jahrhunderts Großbritannien schreiben soll. Da ich aber nicht so gut in der Geschichte dieses Landes bewandert war, suchte ich die Bibliothek des Anwesens auf – irgendetwas musste dort ja zu dem Thema zu finden sein.

Zusammen mit Cupcake begab ich mich auf die Suche und fand erstaunlich viele Bücher von dieser Epoche. Mit einem ganzen Stapel Bücher in den Armen, balancierte ich zu den Tischen, die sich an den großen Fenstern in der Bibliothek befanden und ein unglaublich schönes Bild abgaben. Es war ein märchenhaftes Bild. Denn die Tische und Stühle waren keine gewöhnliches, sondern passten perfekt zu dem verzierten Holz der Bücherregale und Schränke. Sie hatten einen antiken Look und das gefiel mir besonders gut.

»Fanny, was machst du denn hier?«, ertönte plötzlich eine Stimme. Ich konnte nichts sehen, weil ich vor mir nur Buchrücken sah mit den verschiedenen Titeln und Autoren. »Das ist aber eine Überraschung. Machst du Hausaufgaben hier?« Ich drehte mich zur Seite, damit ich sehen konnte, wo mein Gesprächspartner saß. Wer es war wusste ich anhand der Stimme schon.

»Hallo Granny Croft.« Die alte Dame saß in einem der Sessel, in der Hand ein Buch und auf dem Tisch vor ihr eine Tasse Tee, mit Milch, Zucker und einer kleinen Kanne daneben. »Tut mir leid ich wusste nicht, das sie hier sind. Ich werde gleich wieder gehen.«

»Nein, nein du störst nicht. Bleib doch noch. Dein kleiner Hund ebenfalls. Ich bin sonst immer alleine in der Bibliothek. Der Herzog kommt selten hierher, ebenso wie die Bediensteten. Nur Ethan leistet mir ab und zu Gesellschaft, der gute Junge.« Ich stellte die Bücher auf einem benachbarten Tisch ab. »Setz dich doch.« Sie zeigte auf den Sessel gegenüber von ihr und ich nahm Platz und Cupcake legte sich daneben auf dem Fußboden. »Die Schuluniform steht dir übrigens sehr gut.« Ich lächelte als Dank für das Kompliment und wurde ein bisschen rot. Fast jeder sagte das, aber es war immer ein tolles Gefühl wenn man es direkt von jemanden gesagt bekam, den man auch gut leiden konnte.

»Was für ein Buch lesen sie eigentlich?«

»Oh ich bin froh das du fragst.« Sie klappte das Buch zu und strich über den Einband, der wunderschön verziert war. »Das ist ein besonderes Buch. Es erzählt die Geschichte von einem Mädchen, das sich ihre Träume verwirklichen wollte und in ein fremdes Land reiste. Sie erlebt Abenteuer, trifft auf interessante Menschen und findet die Liebe ihres Lebens.«

»Hört sich nach einem guten Buch an.«

»Nicht wahr. Wenn du willst lese ich dir jeden Tag ein Kapitel daraus vor. Mir macht es Spaß aus Büchern vorzulesen, vor allem wenn meine Zuhörer junge Mädchen, wie du es bist, sind.« Eigentlich wollte ich an meinem Aufsatz arbeiten und das Angebot schon ablehnen. Aber die Geschichte klang so verlockend und ich mochte es wenn mir jemand etwas vorlas – erinnerte mich an früher, als meine Ma' mir immer Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hatte. Also willigte ich ein und machte es mir gemütlich in dem Sessel. Die Geschichte, sowie der Schreibstil, als auch die Art und Weise wie Granny Croft vorlas, faszinierte mich und ich wollte mehr hören. Doch das erste Kapitel war schon nach wenigen Seiten zu ende und hätte ich nicht gefleht und gebettelt, wäre mir das zweite Kapitel bis morgen verwehrt geblieben. Cupcake und ich lauschten gespannt und unterbrachen nicht ein einziges Mal Grannys Vorlesung. Als sie fertig war bedankte ich mich für die tolle Lesung und verabschiedete mich.

Glücklich über den bisschen Spaß, den ich mal gehabt hatte, machte ich mich mit Cupcake und den Büchern wieder auf in mein Zimmer. Dort ging ich die Büchertitel durch, ordnete sie in welcher Reihenfolge ich sie mir anschauen wollte und machte mich dann Bett-fertig. Als ich aus meiner Schuluniform schlüpfte und die Bluse auszog, bemerkte ich den Verband an meinem Handgelenk. Ich versteckte ihn immer gut unter meiner Bluse und dem Blazer, damit mir keine Fragen dazu gestellt wurden. Darunter befand sich nämlich der Bissabdruck von diesem Monsterhund aus meinem Traum. Ich konnte mir die Tatsache, wie das eigentlich passiert sein soll, immer noch nicht erklären und wenn ich ehrlich war, wollte ich nicht mehr daran denken. Doch die Verletzung erinnerte mich immer wieder daran. Ich nahm den Verband ab und wusste was darunter zum Vorschein kommen würde. Die hässlichen drei dunklen Male sahen noch genauso aus wie vor zwei Tagen. Es hatte sich nichts getan, noch kein Heilungsprozess war eingetreten oder etwas in der Art. Nur die Schwellung war etwas zurück gegangen aber ansonsten hatte ich nichts verändert.

Seufzend strich ich über die dunklen Stellen. Was war das gewesen?

Kapitel 11

 

Die erste Schulwoche ging doch schneller rum als erwartet und ich hatte mich inzwischen gut eingelebt. Ich kam mit den meisten aus meiner Klasse klar und konnte dem Unterricht gut folgen. Bald schon musste ich die ersten Tests nachschreiben und mir graute es davor, vor allem in den Fächern in denen ich nicht so gut war (besonders Mathe und Physik).

Auf Haddington Hall ging alles seinen gewohnten Gang. Ich gewöhnte mich an die Angestellten, auch wenn ich mich nicht gerne von ihnen bedienen ließ. Aber sie waren alle ganz nett und ich unterhielt mich immer jeden Morgen mit ihnen, bevor ich zur Schule musste. Doch nicht diesen Morgen, denn den hatte ich quasi verschlafen.

»Verdammt schon so spät!« Ich schreckte hoch und sprang aus dem Bett, sowie ich das Ziffernblatt der Uhr gesehen hatte. »Warum hat mich denn nur keiner geweckt?« Sofort flog der Schlafanzug aufs Bett und ich schlüpfte schnell in meine Schuluniform, als es an der Tür klopfte. Alice steckte ihren Kopf herein.

»Verzeihen sie Miss Fanny, aber sie müssten jetzt los, der Wagen wartet schon.« Daran brauch sie mich nicht erinnern.

»Warum hast du mich denn nicht geweckt Alice?«, fragte ich verzweifelt, während ich eilig meine Strümpfe umkrempelte und in sie hinein schlüpfte.

»Mit Verlaub, Miss Fanny, das habe ich. Sogar fünf mal. Aber Ihr habt mich immer wieder aus eurem Zimmer geschickt, damit Ihr weiterschlafen könnt.« Ich bürstete mir in Rekordzeit die Haare und band mir einen Pferdeschwanz. Auf Make-up verzichtete ich, wie fast immer, und warf alles in meine Tasche, was ich für heute benötigte.

»Dann musst du durchgreifen, ich bin bei so etwas nicht sehr nachgiebig.« Eigentlich war es auch nicht Alice Schuld, dass ich so spät dran war. Die halbe Nacht war ich auf gewesen, weil ich nicht schlafen konnte. Die Nacht zuvor hatte ich einen bizarren Traum gehabt und mich beschlich die Angst, dass ich bald wieder etwas Verrücktes träumen könnte, wie damals. Dieser Gedanke ließ mich nicht schlafen und so musste ich mir die Nacht um die Ohren schlagen, bis ich endlich in den frühen Morgenstunden weggedämmert war. Den Wecker hatte ich getrost überhört und wahrscheinlich auch Alice. So wie ich mich kenne, war ich im Halbschlaf als sie reinkam und mich weckte. Und auch im Halbschlaf habe ich sie weggeschickt, ohne dass ich wirklich etwas davon mitbekam. Schöne Bescherung.

Im Eiltempo flitzte ich an Alice vorbei und rannte die Korridore entlang. Cupcake kam mir bellend hinterher. Er glaubte wahrscheinlich wir würden fangen spielen. »Cupcake ich bin spät dran. Geh zurück. Spiel mit Alice.« Bei den Treppen nahm ich zwei Stufen auf einmal, was mir beinahe einen Sturz eingebracht hätte. Unten stand schon Humble mit meinem Frühstück und meinem Morgenkaffee in einem Becher mit Verschluss. »Danke Humble.« Ich schnappte mir Frühstückstüte und Kaffee und raste weiter.

»Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen-«

»Danke, Ihnen auch.«, rief ich, bevor er seinen Satz beenden konnte. Die große Flügeltür nach draußen stand zur Hälfte offen und ich konnte schon den Wagen sehen, der draußen auf mich wartete. Ich rannte noch schneller, um Ethan nicht warten zu lassen, dabei ließ ich außer Acht, dass der Boden heute Morgen frisch geputzt und gewienert war. Meine Schuhe verloren den Halt und ich rutschte aus. In weniger als einer Sekunde lag ich mit dem Rücken auf dem Boden und starrte die Decke an. Na super Fanny, toll gemacht, tadelte ich mich selbst. Immer wenn ich es eilig hatte passiert mir so etwas.

»Ist alles in Ordnung Miss Fanny?«, fragte mich Humble und mir wurde auf geholfen.

»Ja alles klar.« Zum Glück war meinem Kaffee nichts passiert, den hatte ich beim Sturz, geistesgegenwärtig festgehalten und der, dank der neusten Kaffeebechererfindungen, einen Verschluss hatte, so konnte nichts verschütten. »Danke fürs hoch helfen, ich-« Plötzlich verstummte ich als ich meinen Gegenüber sah. Ich dachte Humble wäre derjenige gewesen der mir aufgeholfen hatte, aber vor mir stand nicht Humble. »James.«, entfuhr es mir. Hallo! Erde an Fanny! Hast du dir den Kopf zu doll gestoßen? Das da ist Mr Kenton Grantham. Stimmt ja. Das hatte ich total vergessen.

Peinlich berührt schaute ich zu Boden und wurde ganz rot. Doch Kenton schaute mit prüfenden Blick an mir herab, ob mir auch nichts passiert ist bei meinem formidablen Ausrutscher. Hat er überhaupt mitgekriegt, dass ich ihn James genannt habe?

Ein Hupen drang zu uns hervor und sagte uns allen, dass ich spät dran war. »Also dann … danke und bis heute Nachmittag.« Ich sprintete zum Wagen, stieg ein und seufzte.

»Was hast du denn so lange gebraucht?«, fragte Ethan und sah mich an, die ich puterrot war (was nicht nur vom rennen kam).

»Ich hab verschlafen.«

 

Wie ich im Unterricht noch wach blieben konnte, war mir selber ein Rätsel. Auf alle Fälle hätte ich es ohne Kaffee nie geschafft. Aber der reichte nur für die ersten beiden Stunden. In Deutsch begann ich mehrere Male langsam wegzudämmern, konnte aber wegen Mrs Hamptons lauter Stimme nicht wirklich eine Chance in den Schlaf zu finden. Und wegen noch etwas.

Immer wenn ich kurz davor war einzunicken, begann sich die Umgebung leicht zu verändern. Es hört sich vielleicht komisch an, aber der Klassenraum, bekam dann plötzlich eine andere Farbe und wirkte viel düstere.

Das heutige Thema des Unterrichts war Kommasetzung und alle damit verbunden Regeln. Ich konnte das natürlich alles schon und fragte mich, warum ich das überhaupt machte. Aber ein Vorteilfach zu haben, ist nie falsch. Wenn es nur nicht so langweilig wäre.

Ich gähnte lang und von ganz allein fiel mein Kopf in meine Hand und ich verfiel erneut in eine Art Dämmerzustand, wo ich nicht mitbekam, wie viel Zeit verging und ich einen zusammenhangslosen und total sinnfreien Traum hatte, an den ich mich dann im Nachhinein meist nie erinnern konnte.

Verschwommen nahm ich den Klassenraum wahr. Mrs Hamptons Stimme schallte zwar immer noch in meinen Ohren wieder, doch es erschien mir eher wie durch Watte gedämpft und wurde zunehmend leiser. Während meines Halbwachem Zustand, nahm ich aber statt der ihren, andere Stimmen wahr, welche unterschiedlich laut waren und wispernd, zischend, knurrend (und was es noch für andere Stimmarten gab) miteinander zu kommunizieren schienen.

»Hasssst du schon mal so etwasss sssschmackhafteres gesehen?«, zischte eine der Stimmen und hörte sich dabei wie eine Schlange an.

»Es ist noch nicht reif genug.«, brummte eine andere.

»Also ich bevorzuge ja eher die ganz frischen.«, piepste eine dritte.

Schummrig nahm ich einige Gestalten wahr, die sich mit uns im Klassenraum befanden, was ich äußerst seltsam fand. Wollten die hier etwa auch Deutsch lernen? (Wenn ich wach gewesen wäre, hätte ich so etwas lächerliches natürlich nicht gedacht. Aber wenn ich wach gewesen wäre, dann hätte ich wiederum nicht diese seltsamen Stimmen gehört. Sehr verwirrend. Ich weiß.)

Die merkwürdigen Neuzugänge sahen auch gar nicht wie Menschen aus, sondern eher … ja nach was eigentlich? Auf mich wirkten sie wie Außerirdische oder mythische Wesen. (Aber ich war auch in einem Halbschlaf, da durfte man nicht alles so real sehen.)

»Fanny Haddington?«, rief eine der Stimmen und ich wunderte, warum sie meinen Namen wusste. Etwas stupste mich in die Seite (meine Banknachbarin Yvett von und zu „Ich finde es ja so aufregend das du aus Deutschland kommst und möchte alles von dir erfahren“) und ich zuckte zusammen. Für einen Bruchteil der Sekunde war alles wieder normal. »Miss Haddington.« Mrs Hampton stand direkt vor mir.

Alarmiert sprang ich von meinem Stuhl auf und stammelte geistesgegenwärtig in Deutsch »Ja Mam. Verzeihung. Ich habe die Frage nicht verstanden.« Der Rest der Klasse kicherte leise oder schaute mich mit einem verwirrtem Blick an und ich hatte das Gefühl gerade etwas unpassendes gesagt zu haben.

»Ich habe sie gefragt ob sie sich nicht wohl fühlen und sich lieber ins Krankenzimmer begeben?«, wiederholte Mrs Hampton.

»Ähh.. nein danke, es geht schon. Ich habe nur letzte Nacht schlecht geschlafen.« Ich setzte mich verlegen und versuchte ein sorgenfreies Lächeln aufzusetzen, das mein ›Es geht schon‹ noch unterstreichen sollte. Doch nach dem Blick meiner Deutschlehrerin war es mir anscheinend nicht so recht gelungen. Sie nahm meine Aussage jedoch so hin und widmete sich wieder den Unterricht.

»Hast du Schlafentzug?«, flüsterte Yvett neben mir. »Ich hatte das auch mal, weil ich mein Noten aufbessern musste und Krach Zuhause hatte. Papa war anscheinend fremd gegangen und Mama ist richtig wütend geworden. Sie hatten sich fast jeden Tag gestritten und...« Yvett plapperte und plapperte. Doch ich konnte ihr schon nach wenigen Minuten nicht mehr zuhören. Meine Augenlider wurden wieder schwer und mein Kopf sank langsam der Tischplatte entgegen. Ich hätte doch das Angebot der Hampton annehmen sollen – aber dafür war es leider zu spät. Während mein Kopf die letzten 30cm hinunter sauste, bekam ich noch ganz am Rande mit, wie sich der Klassenraum erneut in eine düstere Stimmung veränderte, und dann knallte ich auch schon auf das harte Holz.

Ruckartig zuckte ich hoch und sprang auf. Einerseits wegen dem Schmerz, andererseits weil mir das immer passierte wenn ich kurz davor war einzuschlafen. Doch nun war ich hellwach und das jagte mir gleich noch einen Schrecken ein. Der düstere Klassenraum war düsterer als je zuvor und auch die Wesen waren da. Vorher hatte ich sie nur verschwommen wahrgenommen, (wie ein Schatten) doch nun konnte ich alles gut sehen. Dafür hatten meine Klassenkameraden an Farbe verloren und waren zunehmend blasser. Da wo sich ihr Herz befand glühte etwas auf. Es wirkte wie eine kleine Flamme. Jeder besaß so eine, aber bei manchen hatten sie eine andere Farbe. Einige waren leicht rot, andere weiß, wieder andere blau und einige wenige verliefen in ein Grau, das fast schon schwarz aussah. Um diese Personen scherten sich die Wesen und begafften sie mit gierigen Blicken. Einige von ihnen, die etwas zu klein geratenen, hatten sich sogar auf die Schulter der Leute gesetzt.

Ich fand das alles ziemlich bizarr und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ist das alles nur ein Traum? Wie aufs Stichwort meldete sich die Stimme von Mrs Hampton zu Wort, die in Wirklichkeit viel lauter gewesen sein musste. »Fanny Haddington! Ich glaube sie haben meine Frage vorhin wirklich nicht verstanden. Ich bitte Sie nun sich im Krankenzimmer zu melden. Ein Stündchen Schlaf wird Ihrem Kopf bestimmt gut tun.«

Ich wollte ihr antworten, doch merkte plötzlich, dass das gar nicht möglich war. Ich … also besser gesagt mein anderes Ich … oder so, saß immer noch auf dem Stuhl, den Kopf auf den Tisch gelegt, und schlief. Verwirrt schnappte ich nach Luft. Was war hier bloß los? Das musste ein ziemlich komischer Traum sein. Oder vielleicht war es am Ende gar keiner – wie der, den ich in meiner ersten Nacht gehabt hatte, mit Monster-Cupcake.

Yvett stupste mich erneut an und zischte mir zu, dass ich aufwachen solle. »Aber ich bin doch hier.«, sprach ich sie an. Sie hörte mich nicht. »Yvett, siehst du mich denn-« Ich stockte. Ich wollte meine Hand auf ihre Schulter legen, doch stattdessen, glitt sie einfach durch sie hindurch. »Was?« Ich versuchte das gleich bei Mrs Hampton, die neben meinem schlafenden Ich stand und immer ebenfalls an meiner Schulter rüttelte. Meine Hände glitten einfach durch sie hindurch.

»Was zum Teufel ist hier los?«, reif ich. »Das ist doch nur ein Traum, oder? Nur ein Traum, also wach auf Fanny, los!« Ich zwickte mir in den Arm. Das sollte für gewöhnlich helfen, tat es aber leider nicht. Egal was ich versuchte, ich wachte nicht auf. »Das scheint wohl die Sorte richtig schlimmer Träume zu sein.« Und das schlimmste an diesem Traum war, dass ich nicht unbeachtet blieb.

Die komischen Wesen die sich vorher noch für meine Mitschüler interessiert haben, widmeten nun mir ihre Aufmerksamkeit. »Frissssschesss Futter.«, zischte das Schlangenartige von ihnen und alle anderen drehten ihre Köpfe zu mir.

»Es riecht so rein und unschuldig, überzogen mit einem Hauch von Angst. Wie köstlich.«, kam es von einem anderen. Und nun bekam ich wirklich Angst. Aber so richtig. Ich empfand es nicht gerade als sehr schmeichelnd, wenn Alienartige Viecher mich als Delikatesse bezeichneten.

»Ich möchte zuerst davon probieren.«, piepste das kleine und leckte sich freudig die scharfen Zähne.

»Du hältsssst dich schön zzzzurück.« Die Schlange drängte sich an allen vorbei und glitt langsam auf mich zu. »Ich habe esss sschließlich zzzzuerst entdeckt.« Je näher sie mir kam, desto mehr konnte ich von dem Körper sehen. Dieses Wesen da war gar keine Schlange. Das heißt, der Unterkörper schon, aber vom Bauch aufwärts war sie eine Frau. Die Haut glänzte schuppig, wie die einer Schlange und ihre Augen leuchteten bedrohlich gelb in der Düsternis. Das schlimmste aber waren ihre Haare, die nicht aus normalen Haaren bestanden (wie man es eigentlich erwartet), sondern aus kleinen Schlangen.

Vor mir stand eine Schlangen-Medusa.

Instinktiv wich ich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Leise zischend glitt die Medusa weiter auf mich zu und ich glaubte sogar irgendwo eine Art rasseln zu hören, wie das von einer Klapperschlange. Das beruhigte mich ganz und gar nicht und ich wünschte mir, dass ich durch die Wand gehen könnte, um der irren Frau mit ihren verrückten Haaren entgehen zu können. Mit einem Mal verlor ich das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Kurz wurde es dunkel und dann befand ich mich plötzlich in einem anderen Klassenraum.

Ich war tatsächlich durch die Wand gegangen – eher gefallen. Schnelle rappelte ich mich auf und sah mich um. Ich war im Spanisch Unterricht von einen der Oberstufenklassen gelandet. Genauer genommen in die Klasse, in die auch Ethan und Noah gingen. Besagte konnte ich auch sofort ausfindig machen. Ethan saß in der Fensterreihe, bei der dritten Bank und Noah drei Plätze hinter ihm – letzte Reihe. Der Platz neben ihm war frei und ich wollte mich schon aus Spaß zu ihm setzen (er konnte mich schließlich auch nicht sehen), als plötzlich von hinten eine Hand nach mir griff und sich um meinen Hals schlang. Die Luftröhre wurde mir abgedrückt und ich merkte, wie mir der Sauerstoff langsam ausging.

»Hast du gedacht, du könntesssst mir einfach ssso entwischen?«, säuselte mir süßlich die Frauenstimme in mein Ohr. »Ich lassssse meine Beute nicht gerne gehen. Aber ich liebe essss mit ihr zu ssspielen, bevor ich sie auffresssse.« Sie leckte mir mit ihrer Schlangenzunge über die Wange, was mir einen Schauer durch den ganzen Körper jagte. Ich empfand Ekel, Abscheu, aber auch Angst.

»Fass mich nicht an!« Ich holte mit meinem Arm aus und stieß Medusa meinen Ellenbogen, so fest wie möglich, in die Magengegend (wo ich glaubte das sie dort wäre). Augenblicklich ließ sie mich los und als ich mich zu ihr umdrehte nahm ich so viel Schwung mit, dass ich mit dem Bein ausholte und nochmal auf die selbe Stelle trat – wer hätte gedacht, dass mein damaliger Turnunterricht mal zur Verteidigung gut wäre.

Ich wollte nur noch schnell weg von hier und sprintete so schnell wie möglich los, durch die Schulbankreihen. Mein Ziel war die nächste Wand, die meine ›Tür‹ zur Sicherheit wäre. Doch kaum war ich nur noch einige Meter von ihr entfernt, hielt mich plötzlich jemand am Arm fest und stoppte meinen Lauf. Noah.

Ohne großartig etwas zu sagen zog er mich hinter seinen Stuhl, blieb dabei aber immer noch sitzen, und murmelte etwas unverständliches vor sich hin. Ein leichter Schimmer legte sich in Kreisform auf den Boden um uns und ich hatte plötzlich das Gefühl, als würde etwas magisches in der Luft liegen. Für einen Moment vergaß ich den Schrecken zuvor, - der vermutlich der schlimmste meines Lebens gewesen war – was vielleicht daran lag, dass ich mich aus irgendeinem Grund sicher fühlte. (Auch wenn Noah nicht unbedingt zu denen zählten, von den ich mich gern retten ließe.)

Doch das sichere Gefühl schwand dahin, als eine wütende Medusa sich wieder gefangen hatte und mir nach stürmte. Mein erster Impuls war es weg zu rennen, aber Noah hielt weiter eisern meine Hand fest, sodass ich mich nicht aus seinem Griff befreien konnte.

»Renn nicht weg.«, flüsterte er mir zu und ich versuchte seinen Worten glauben zu schenken. Mit wild klopfendem Herzen blieb ich stehen und sah Schlangen-Medusa näher kommen und-

An mir vorbei schlängeln?

Ich war einen Moment lang verwirrt. »Was hast du gemacht?«, fragte ich meinen Retter. »Hast du so eine Art Magie eingesetzt oder so?«

»So ähnlich.«, gab er zurück. »Ich habe einen Bannkreis gezogen, durch den sie dich nicht sehen und aufspüren kann.«

»Scheint ja diesmal ein noch abgedrehter Traum zu sein.«

»Traum?« Noah wusste anscheinend nicht was ich meinte.

»Ich bin seit heute Morgen extrem müde und drohe ständig einzuschlafen. Im Deutschunterricht hat es mich dann wohl erwischt. Muss ein ganz schön fester Traum sein.«

»Du denkst, dass das alles nur ein Traum sei?«

»Natürlich. Was sollte es sonst sein? Das ist bestimmt nur so eine Art von bizarren Träumen, in denen nur lauter Blödsinn passiert. Warum sonst sollte ich also mit dir reden und so freundlich zu dir sein?« Zugegeben das war fies, aber ich sagte das ja nur im Traum. Noah ließ meine Aussage völlig kalt – wie erwartet.

»Was wenn dem nicht so wäre?«, fragte er. »Was wenn das kein Traum ist?« Ich runzelte die Stirn. Was sollte das denn jetzt? Wollte er mich jetzt extra noch in meinen Träumen durcheinander bringen?

»Ist es aber.«, sagte ich entschlossen und befreite mich aus seinem Griff und ging. »Danke für deine Hilfe. Auch wenn mir wahrscheinlich nichts passiert wäre.«, rief ich ihm noch über die Schulter zu und verschwand durch die Wand auf den Flur. Ein wirklich mysteriöser Traum war das.

 

Bei meiner Entdeckungstour durch die Schule – bei er ich natürlich sehr vorsichtig vorging – musste ich feststellen, dass manche Dinge hier anders waren. Die Atmosphäre hatte sich deutlich verändert und einige Stellen der Schule anders aussahen, als ich sie in Erinnerung hatte. Alles wirkte etwas älter und rustikaler – wie in einem alten Schloss oder Anwesen. Ich kam mir wie eine Zeitreisende cool. Nur das ich nicht alleine war und anscheinend in eine Art parallel Universum gereist bin, in dem es Monsterartige-Wesen gab, die allem voran diese farbigen Flammen von den Menschen gerne aßen. Ich bemühte mich ihnen aus den Weg zu gehen, was dank dem ›durch den Wände gehen‹ ziemlich gut funktionierte.

Ich kam gerade einen Raum, den ich als Musikzimmer identifizieren konnte. Die Fenster waren groß, um den Raum hell zu erleuchten – dennoch lastete auf ihn diese düstere Atmosphäre. Ein Flügel befand sich vor den Fenstern. Eine große Tafel mit Noten, Stühle, Notenständern, Instrumenten …

Es sah alles eindeutig wie ein typisches Musikzimmer aus.

Ich wanderte ein wenig umher, sah mir alles an und ließ meine Finger über den Flügel gleiten. Das Holz fühlte sich gut an, auch wenn eine dünne Staubschicht darauf lag – das gab dem ganzen aber einen antiken Touch. Früher, in meiner alten Heimat, wollte ich so gerne Klavier spielen können. (Meine Mutter hatte es mir sogar angeboten mir Unterricht zu geben) Doch das war nur wenige Wochen vor dem Unfall und so konnte ich nur das, was sie mir in den wenigen Momenten, an denen wir zusammen am Klavier saßen, noch beigebracht hatte.

Ich setzte mich auf den Hocker, der vor dem Flügel stand. Legte meine Finger auf die Tasten und schloss für einen Moment die Augen. Erinnerungen jagten mir durch den Kopf und lang unterdrückte Gefühle stiegen in mir hoch.

Die ersten Töne hallten dumpf und schwer von den Wänden wieder. Die Melodie wirkt sehr träumerisch, aber auch etwas melancholisches schwang in den sanften, leichten Tönen mit. Es war ein kleines Stück. Nicht gerade sehr lang. Doch die wenigen Stunden hatten gereicht, damit ich es nahezu Fehlerfrei spielen konnte. Es war die Klavierversion von dem Lied Dream a little Dream of me, das von dem berühmten Komponist aus dem Osten, Yiruma, war. Das Lied hatte immer Erinnerungen bei meinen Eltern geweckt. Denn es war das Lied, das gespielt wurde, als sie sich das erste Mal begegnet sind und das Lied das auf ihrer Hochzeit gespielt wurde.

Es war etwas besonderes gewesen.

Die letzten Erinnerungen die ich noch mit diesem Stück verband, war in unserem Wohnzimmer. Wir hatten auch ein Klavier. Ein wesentlich kleineres als dieser Flügel, aber es reichte aus, um gut darauf spielen zu können. Als ich das Lied endlich einigermaßen gut spielen konnte, verging kein Tag, an dem ich nicht am Klavier saß und es rauf und runter spielte. Und wann immer ich das tat und meine Eltern waren dabei, fingen sie an dazu zu tanzen.

Es war einer der schönsten und gleichzeitig traurigsten Erinnerungen, die ich je in meinem Herzen behalten konnte. Denn mir war klar, das ich so etwas nie wieder in meinem Leben erleben werde. Es bleibt auf Ewig eine Erinnerung. Ein flüchtiger Moment. Der sich niemals wiederholen wird und irgendwann zu Staub zerfallen wird, wenn ich ihn je vergessen sollte.

Leise fiel der erste nasse Tropfen auf die Taste. Der nächste folgte dem ersten. Ohne das ich es wollte und ich es bemerkt habe, flossen stumm die Tränen über mein Gesicht. Verschwommen sah ich die Tasten vor mir und musste aufhören mit dem spielen. Ein heftiger Heulkrampf überkam mich und ich konnte nicht anders als laut dabei zu schluchzen.

Mein Leben wird nie wieder so wie früher sein.

»Armes kleines Mädchen. So allein. Warum weinst du denn?« Ich schreckte auf und sah mich hektisch um. Doch ich war alleine in dem Raum. Oder etwa nicht?

Kapitel 12

 »Wer ist da?«, fragte ich mit zittriger Stimme.
»Du kennst mich nicht? Ich bin der Schatten der dir folgt, die Stimme die du hörst und derjenige der herbeieilt wenn du Hilfe brauchst.« Diese Vorstellung war nicht sehr präzise. Ich wusste nicht mal ob dieses etwas mir feindlich gesinnt war, wie diese Medusa. Was wenn es mich auch fressen wollte?
»Okay. Was immer du, … er, sie … oder es bist-«
»Unverschämtheit. Ich bin kein es. Ich bin ein er. Aber kannst ruhig du zu mir sagen.« Das Vieh verwirrte mich langsam noch mehr.
»Was willst du von mir? Willst du mich auch fressen? So wie die anderen. Die scheinen mich sehr schmackhaft zu finden.« Ich wischte mir die Tränen weg.
»Ihhhhh! Nein! Auf was kommst du denn für Sachen? Ich mag nicht die Seelenflammen von anderen Essen. Die bekommen mir nicht und schmecken grauenhaft. Weiß gar nicht was die anderen daran finden. Aber sie sind ja auch Traumfresser, da ist das normal.«
»Traumfresser?« Diese Betitelung hatte ich schon oft bei Noah gehört in meinen Träumen. »Dann ist das also tatsächlich nur ein Traum.«, seufzte ich zufrieden. Ich hatte schon Angst, das dem nicht so sein könnte.
»Ein Traum? Das ist aber kein Traum.«, piepste die Stimme. »Es mag dir wie einer vorkommen, aber es ist keiner. Du bist in der Geisterwelt, die parallel zu deiner Welt liegt. Man könnte es auch, bildlich gesprochen, wie mit einem Schleier vergleichen. Sie gehen flüssig ineinander über. Unsere Welt ist aber für euch nicht sichtbar. Nur wenige können sie sehen oder zu uns gelangen. Leute so wie du. Allerdings ist das hier erst eine Art Zwischenwelt, durch die man dann in die Geisterwelt geangt.«
»Was?« Ich verstand überhaupt nichts mehr. »Der Traum wird ja immer verrückter.«, murmelte ich in mich hinein. Jetzt versuchte mir schon eine unsichtbare Stimme zu erklären, das ich nicht träumen würde … im Traum. (Ja ne ist klar)
»Ich hab dir doch gerade erklärt, das ist kein Traum. Hörst du mir überhaupt zu?«
»Jaja natürlich. Und der Weihnachtsmann ist echt und Einhörner sitzen in den Wolken. Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Du bist doch auch nur ein Gebilde, oder zumindest eine Vorstellung, meines Unterbewusstseins. Mehr nicht.« Mich konnte man nicht so leicht überzeugen. »Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss so langsam mal aufwachen.« Ich verschwand durch die nächste Wand und lief den Flur der Schule entlang. Es musste gerade Pause sein, denn ich begegnete vielen Schülern, die alle auf dem Weg in die Kantine waren oder zu ihren Spinden.
Ich beschloss alles ein bisschen weiter zu erkunden, um herauszufinden, wie lange dieser Traum noch andauern würde. »Wenn das wieder ein Traum ist, dann müsste ich mir auch Dinge erscheinen lassen, die ich mir vorstelle.« Schließlich hatte es damals auch geklappt. (Der Vorfall mit den Seifenblasen war mir immer noch irgendwie peinlich) Also konnte ich auch, wenn ich wollte, nach belieben meinen Standort wechseln. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich und stellte mir vor, wie alles verschwinden würden und ich mich stattdessen in meinem Zimmer wiederfinden würde.
Doch als ich sie wieder öffnete, war ich immer noch auf dem Flur und nichts hatte sich verändert. Alles war noch so wie vorher. »Das ist merkwürdig.«, murmelte ich. Vielleicht aber war ich noch nicht gut genug für eine solche Vorstellung. Ich versuchte es mit etwas einfacherem (einer Blume), doch auch da scheiterte ich. Nun begann ich doch etwas stutzig zu werden. Hatten Noah und diese unsichtbare Stimme mir also doch die Wahrheit gesagt, als sie mir versicherten, dass das kein Traum sei. Aber was ist es dann?
Moment mal. Was hatte dieses unsichtbare Wesen mir gesagt? Ich befände mich in einer Geisterwelt, welche parallel zu der Menschenwelt liegen würde – wie ein Schleier. Die Menschen können diese Welt nicht sehen.
Ein unschöner Gedanke kam mir in den Sinn und ich schluckte heftig. »Aber das würde ja bedeuten das...«
»Du ein Geist bist?«, meldete sich die Stimme zu Wort. Sie war mir also gefolgt. »Ja das bist du.«
Panik kroch langsam in mir hoch. »Heißt das dann, dass ich tot bin?! Bin ich gestorben? Aber mir ging es doch gut! Ich war nur müde und-«
»Halt, halt, halt!«, unterbrach das Wesen meinen Panikanfall. »Du bist nicht tot. Dein Körper schläft nur. Dein Geist oder besser gesagt deine Seele hat sich von deiner menschlichen Hülle getrennt und wandelt nun in der Geisterwelt umher. Deshalb bist du auch so ein gefundenes Fressen für die Traumfresser. Du bestehst nur aus deiner Seelenflamme ohne einen schützenden Körper durmherum.«
»Also ist mir nichts schlimmes passiert? Kann man das wieder rückgängig machen? Ich will nicht als Futter für irgendwelche Monster herhalten.«
»Solange du nicht zu lange in dieser Zwischenwelt wandelst, wirst du problemlos wieder in deinen Körper zurück können. Aber da kann ich dir nicht helfen. Allerdings solltest du in nächster Zeit in deine Welt zurückkehren. Denn wenn du es nicht tust, wird dein Körper in einen ewigen Schlaf fallen und du wirst dich in dieser Welt auflösen, wenn dich nicht die Traumfresser vorher schon verspeist haben.«
»Ich löse mich auf?!« Das hörte sich überhaupt nicht gut an. Ich musste schnell meinen Körper finden und wieder in meine Welt zurück.Wer weiß, vielleicht war ich schon viel zu lange hier.
»Ja. Bei deinen Beinen hat es schon angefangen.« Ich schaute hinab und tatsächlich, meine Beine hatten schon einen durchsichtigen Schimmer. Wie von alleine fingen diese an zu laufen. Ich rannte zurück in das Zimmer, wo ich noch eben Unterricht hatte. Doch als ich ankam, war keiner mehr da und mein Körper verschwunden. Als nächstes fiel mir nur das Krankenzimmer ein. Das war meine letzte Hoffnung, denn falls sie mich in ein Krankenhaus gebracht haben, würde ich es nicht rechtzeitig schaffen.
Schon als ich das Zimmer betrat, sah ich mich in einem Bett liegen und atmete erleichtert auf. Jetzt würde ich es doch noch rechtzeitig schaffen. Ich stellte mich vor meinem schlafenden Ich und war im ersten Moment ein bisschen ratlos, was ich denn tun solle. Mein erster Versuch war es einfach mich anzufassen, ich dachte dann würde ich wieder in meinen Körper reingezogen werden. Doch mein Hände glitten einfach hindurch. Ich versuchte mich reinzulegen, doch auch das brachte nichts. Langsam bekam ich Panik und wusste nicht was ich noch alles versuchen sollte.
»Was soll ich nur tun? Nichts funktioniert.« So hatte ich mir mein Ende nicht vorgestellt. Ich würde mich auflösen, wie eine Meerjungfrau, wenn sie ihr Geheimnis ihrer großen Liebe verraten hat und der sie aber nicht liebt. Laut der Mythologie wurden sie zu einer Schaumkrone auf dem Meer. Zwar hatte ich immer die Existenz von Meerjungfrauen und allem anderen, was nicht natürlich war, angezweifelt, aber jetzt... »Wenn es sogar eine Geisterwelt gibt, was gibt es denn bitte noch alles? Hexen? Zauberer? Vielleicht sogar Einhörner?«
Plötzlich ging die Tür auf und jemand betrat das Krankenzimmer. Es war Noah. Außer ihm war niemand im Zimmer. Der Arzt war anscheinend gerade mit anderen Sachen beschäftigt. Noah trat an mein Bett und betrachtete meinen schlafenden Körper eine Zeit lang. Er beugte sich zu mir hinunter. Ich hatte schon Angst er würde etwas mit mir anstellen, doch er betrachtete nur meinen Hals. Vorsichtig drehte er meinen Kopf und ich stellte mich neben ihm, um zu sehen, was an meinem Hals denn so interessant war. Ich konnte es selbst nicht glauben, als ich es sah. An meinem Hals befanden sich Würgemale. Einen Moment war ich verwirrt, doch dann fiel es mir wieder ein. Die Form der Abdrücke erinnerten mich an die schlanken knochigen Finger von Schlange-Medusa. War ich etwa doch schon tot? Nein, ich atmete noch.
Sachte strich Noah über die roten Stellen. Sein Gesichtsausdruck war angespannt, aber ich konnte dennoch nicht deuten was er dachte oder empfand. »Du Dummkopf.«, sagte er leise er und legte seine Hand auf meinen Hals. »Ich wollte doch das du dich da raushälst.« Dann murmelte er etwas unverständliches vor sich her und ich glaubte zu sehen, wie seine Hand kurz aufgeleuchtet hat. Als er sie weg nahm, waren keine Würgemale mehr zu sehen.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich verblüfft. Bekam aber keine Antwort. Na klar, ich war ja auch ein Geist.
Diese ganze Situation war so fesselnd gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, warum ich hier war. Ich musste einen Weg finden, um wieder in meinen Körper zu gelangen und zwar schnell. Nachdenklich lief ich hin und her, aber mir wollte nichts gescheites einfallen.
Noah holte derweil einen ledernen Halbhandschuh aus seiner Hosentasche und zog ihn sich über die rechte Hand. Ehe ich mich fragen konnte, was er damit wollte, war es schon passiert.
Bevor ich überhaupt reagieren konnte, packte mich Noah am Kragen und hielt mich eisern fest. Ich
wusste gar nicht wie mir geschah. Wieso konnte er mich sehen?
»Lass mich los!«, sagte ich, als ich meine Stimme nach dem Schock wiederfand. Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, doch das nützte nichts, er war viel
stärker als ich. »Was hast du vor?« Ich schaute ihm ins Gesicht, das so wie immer keinen seiner Gedanken erschließen ließ.
»Ich werde deine Erinnerungen an die letzten Träume löschen. Du wirst dich dann an nichts mehr
erinnern können. Es ist nur zu deinem eigenen Schutz.« Seine andere Hand legte er auf meine Stirn.
Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was passierte hier nur? Ich will das nicht!
»Bitte lass mich los.« Ich war so verzweifelt, dass ich den Tränen nah war. Aber Noah hörte nicht auf
mich. »Ich hab gesagt du sollst mich loslassen!« Ich griff mit der rechten Hand nach seiner
unbehandschuhten und versuchte ihn dazu zu bringen loszulassen. »Fass mich nicht an!« Tatsächlich ließ Noah mich endlich los, doch nicht weil ich ihn angeschrien hatte, sondern aus einem ganz anderen Grund. Völlig schockiert starrte ich auf meine Hände, ebenso wie mein Gegenüber. Meine Hände glühten!
Noah zog scharf die Luft ein und hielt sich seine Hand, auf der ich einen roten Abdruck sehen konnte. Ich hatte ihm die Hand verbrannt.
»Was ist das?« Ich stolperte rückwärts und stieß gegen einen Tisch. »Was verdammt nochmal ist
das!« Ich geriet in Panik. »Du weißt doch anscheinend alles, also was passiert hier mit mir?« Meine
Stimme zitterte vor Angst. Das war einfach alles zu viel für mich. Ich wollte nur noch weg von hier.
Durch die Wand gelang mir die Flucht nach draußen auf den Hof. Ich fiel zwar aus dem zweiten Stock,
landete aber sanft, sodass ich mir nicht einen Knochen brach (wobei das sowieso nicht möglich gewesen wäre).
Mein Herz raste, von dem Schrecken den ich bekommen hatte und natürlich weil ich Angst hatte.
Angst vor mir selber. Ich hoffte das es alles nur ein Traum sei. Genauso wie ein Geist zu sein. Hoffentlich waren das alles nur Hirngespinste meines Unterbewusstseins, meiner Fantasie und ich träumte mir das alles nur zusammen in einem verrückten Traum.
Bis ich wusste was ich tun sollte, versteckte ich mich in einem Schuppen für Sportgeräte die draußen benutzt werden. Dieser grenzte gleich an der Schule an, in der Nähe des Sportplatzes, und war für mich als Geist sowieso offen.
Schluchzend versiegte ich eine Träne nach der anderen in der dunklen Ecke. Zu gerne hätte ich mir die
Augen getrocknet, aber ins Gesicht wollte ich mir vorerst nicht fassen. Und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, lief mir auch noch die Nase.
Erst nach einer Weile merkte ich, dass ich nicht alleine war. Ich bemerkte es, weil ich auf einmal so ein
komisches Gefühl bekam. Dieses Gefühl hatte ich schon einmal gehabt, nämlich als...
»Was willst du hier?«, fragte ich in die Dunkelheit hinein.
»Du bist gut. Woher weißt du das ich hier bin?«, ertönte die Stimme von neulich.
»Ich kann es spüren.«
»Was ist denn los? Wieso bist du denn hier?«
»Ich verstecke mich. Außerdem ist etwas komisch an mir. Du hast doch gesagt das du mir zur Hilfe kommst, wen ich Probleme habe.«, kam ich auf sein Angebot zurück.
»Ja das sagte ich«, bestätigte der Geist.
»Und kannst du mir denn helfen?«, fragte ich die Stimme aus dem Nichts.
»Hm. Lass mal sehen. Streck deine Arme mal weiter nach vorne.« Ich tat was er mir sagte und wartete ab. Irgendwie kam ich mir richtig dämlich vor. Ich redete mit einem unsichtbaren … was auch immer und hatte keine Ahnung ob mich da jemand vielleicht nur verarscht. »Ach das geht wieder vorbei. Mit ein bisschen Konzentration ist alles wieder beim Alten«, sagte der Unsichtbare und das beruhigte mich für einen Moment.
»Wird das wieder vorbeigehen?«
»Vorbeigehen? Es ist ein Teil von dir und es hat gerade erst begonnen.«
»Also wird das öfter vorkommen, genau so wie diese ganze Geist dingens Sache?« Mein Leben hatte in kürzester Zeit eine 180° Drehung gemacht und ich war dabei noch mehr abzudriften in abstruse und merkwürdige Sachen, von denen ich keine Ahnung hatte, die aber anscheinend ab sofort ein Teil von mir zu sein scheinen.
»Keine Sorge. Du bist doch gerade erst in der Anfangsphase, dass wird schon alles wieder. Es braucht nur ein wenig Übung, dann hast du alles unter Kontrolle. Auch deine Fähigkeiten werden sich verbessern. Aber vielleicht solltest du dir langsam einen Mentor suchen, denn-«
»Mo- Moment mal.«, unterbrach ich meinen Helfer. »Anfangsphase? Fähigkeiten? Mentor? Was hat das alles zu bedeuten?« Doch eine Antwort sollte ich nicht erhalten.
»Da kommt jemand«, sagte die Stimme. »Also ich geh dann mal. Wir hören später voneinander. Ich bin immer in deiner Nähe.« Die Stimme begann sich langsam zu entfernen.
»Warte! Wie heißt du denn?« Zu spät. Weg war er.
Die Tür zum Schuppen ging auf und Licht fiel herein. Noahs Umriss war in der Tür deutlich zu sehen. Ich saß so weit hinten, in der hintersten Ecke, dass das Licht mich bis dorthin nicht erreichte. Meine glühenden Hände hatte ich so gut es ging unter meinen angewinkelten Beinen versteckt. In der Dunkelheit machte ich mich noch kleiner, um nicht entdeckt zu werden und ich hielt die Luft an. Doch das alles brachte mir nichts. Noah steuerte Zielsicher auf mich zu. Sein Blick war nicht zu deuten und in dem schwachen Licht und der Dunkelheit nur sehr schwer zu erkennen. Nur seine Augen sah ich. Sie leuchteten fast, machten mir aber auch Angst. Er kniete sich zu mir und wollte nach meinen Händen greifen.
»Nein! Fass mich nicht an!«, wehrte ich ihn ab und er hielt inne. Ich war den Tränen wieder nah. Angst kroch in mir hoch. Nicht nur Angst um mich selbst und vor Noah, sondern auch …
»Ich will dir nicht nochmal wehtun.«, flüsterte ich und versuchte meine glühenden Hände so gut es ging zu verstecken. Natürlich wollte ich auch nicht das er mich einfach so anfasste. Was er vor wenigen Minuten mit mir anstellen wollte, hatte mich ihm gegenüber nur noch misstrauisch gemacht. Aber Noah schien das nicht zu interessieren, was ich sagte – wie fast alles. Er griff nach meinem rechten Handgelenk und nahm sie in beide Hände, dabei ging er erstaunlich vorsichtig und sanft vor – wie neulich im Krankenzimmer.
»Nicht du wirst dich verbrennen!«, sagte ich und wollte meinen Arme wieder zurückziehen, doch er hielt ihn fest.
»Du verletzt mich nur, wenn du es wirklich willst. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«, erwiderte er mit sanfter Stimme. »Du musst dich konzentrieren und ganz ruhig bleiben. Atme tief ein und aus«, wies er mich an.
»Nicht gerade einfach, wenn mir das die Person sagt, die mich eben noch umbringen wollte«, meinte ich sarkastisch und schniefte.
»Ich wollte dich nicht mitbringen, nur deine Erinnerungen löschen.«
»Das ist genauso schlimm.« Noah seufzte und ein leicht genervter Unterton schwang da mit drin.
»Tut mir leid«, sagte er und es klang zum ersten Mal ehrlich und aufrichtig. Sonst entgegnete er mir immer mit einer extremen Kühlheit und Arroganz. »Aber ich hatte dafür meine Gründe. Das wirst du sicher noch verstehen.«
»Das glaube ich eher nicht. Aber die Entschuldigung nehme ich an.«, meinte ich frech und tat was er mir zuvor gesagt hatte. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich. Langsam beruhigte ich mich und Noahs Hände machte mir keine Angst mehr. Ja irgendwie fühlte es sich ganz gut an, wenn er so zärtlich mit mir umging. So schnell wie es da waren, so schnell verschwand das Leuchten auch wieder und ich hatte wieder normale Hände. Ich seufzte erleichtert aus. Endlich war ich wieder normal, bis auf die Geist-Tatsache. Aber das wird sich sicher auch wieder normalisieren – hoffte ich.
Noah hielt noch immer meinen Arm fest. Sein Griff war weiterhin sanft. Mit dem Daumen strich er leicht über meine Haut, was ich als sehr angenehm empfand und es beruhigte mich extrem, sodass ich keine Angst mehr verspürte. Zusätzlich brachte es mir eine Gänsehaut ein und ließ mich rot werden.
»Danke«, sagte ich und er sah mich an.
»Gern geschehen.« Er lächelte. Ein Lächeln zum niederknien, das meine Beine sofort in Wackelpudding verwandelt hätte. Er half mir auf.
»Alles wieder okay?«, erkundigte er sich.
»Naja fast«, sagte ich ehrlich. »Wenn ich jetzt noch in meinen Körper komme ist alles in Ordnung.«
»Eine Sache der Konzentration«, antwortete Noah wieder. »Aber ich kann dir auch helfen.«
»Und wie?«, fragte ich mit einem Misstrauischen Unterton. Auch wenn er mir wieder zu meiner normalen Form verholfen hatte, traute ich ihm nicht so recht. Er hatte versucht meine Erinnerungen zu löschen – irgendwie, wie weiß ich noch nicht und ehrlich gesagt will ich es auch nicht wissen. Was wenn er diese günstige Gelegenheit ausnutzt, um es noch einmal zu versuchen?
»Komm her.« Wir waren zwei Schritte voneinander entfernt, doch ich bewegte mich kein Stück. »Du vertraust mir nicht«, sagte Noah, als ob er meine Gedanken lesen könnte. »Verständlich.«
Ich schaute ihm in die Augen und versuchte etwas zu finden, das mir sagte, dass ich falsch lag. Aber Noahs blaue Augen blieben undurchschaubar. Bei ihm gab es kein Fenster zur Seele. Es war so als hätte er einen schwarzen Vorhang davor gehängt, um sich vor dem enthüllen seiner Gefühle zu schützen.
»Ich verspreche dir, das ich es nicht noch einmal versuchen werde«, versicherte mir Noah.
»Wie kann ich dir das glauben?«, fragte ich ehrlich. Normalerweise hätte ich einfach durch die Wand hinter mir verschwinden können und einen anderen Weg suchen können. Aber ich wollte nicht. Obwohl ich Noah nicht vertraute, wünschte ich mir das ich es könnte. Irgendwas in mir zog mich zu ihm hin. Etwas … geheimnisvolles.
»Du musst mir einfach vertrauen, FannyBunny.« Meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Warum nannte er mich nur so? Einen Spitznamen gab man nur jemanden, wenn man sich gut kannte und gern hatte. Es sei denn er wollte mich verspotten, aber danach sah es nicht aus.
Ich atmete noch einmal tief durch und überwand den halben Meter der uns voneinander trennte. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich war total nervös. Angst hatte ich auch, aber die war nicht so groß wie die Aufregung die in mir herrschte. Was wird er jetzt mit mir machen?
Vorsichtig legte Noah zwei Finger auf meine Stirn und ich bemühte mich nicht zurück zu zucken. Ich wollte meine Erinnerung behalten, er darf sie mir nicht nehmen. Auch wenn mich alles sehr durcheinander brachte, gab es für mich keinen Grund den Problemen nicht ins Auge zu blicken.
Noah murmelte etwas vor sich hin und ich merkte wie es ganz warm an meiner Stirn wurde. Diese ganze Wärme breitete sich in meinen gesamten Körper aus und ich fühlte mich, als würde ich noch leichter werden, als ich schon war, und mich langsam auflösen.
»Wir sehen uns später. Und erzähl Ethan nichts davon«, flüsterte er mir noch zu und dann wurde alles schwarz.

Kapitel 13

 Murrend kam ich wieder zu mir. Ich fühlte mich super, so als hätte ich Stunden geschlafen und meinen Körper endlich wieder den verdienten Schlaf gegönnt, den er nach dem ganzen Stress und Anstrengungen verdient hatte. Ich rieb mir die Augen und streckte mich ausgiebig. Das Licht schien hell ins Zimmer und blendete meine müden Augen.
Doch auf einmal kam mir ein unangenehmer Gedanke. Was wenn das alles nur ein Traum war und ich wieder mal verschlafen hätte? Ungewöhnlich wäre es nicht und auch nicht das erste Mal das es passiert ist. Ich hatte schon einmal von einem gewöhnlichen Schultag geträumt. Na gut, der hatte zwar damit geendet das ich in einem Fantasykampf zwischen einem klassischen Bösewicht und Traumjäger geraten bin, aber es war trotzdem immer noch ein Traum gewesen.
»Verdammt! Hab ich verschlafen?« Kerzengerade saß ich im Bett und blickte mich um. Doch ich befand mich nicht in meinem Zimmer auf Haddington Hall, wie ich feststellen musste. Sondern im Krankenzimmer meiner Schule.
Ein wenig verwirrt sah ich mich um und entdeckte Noah, der an der Wand neben dem Fenster lehnte. Er hatte die Augen geschlossen und sah so aus, als würde er schlafen, doch dann schaute er mich direkt an, als ob er es gespürt hätte, dass ich gerade aufgewacht wäre. Ich schaute stumm zurück und versuchte in meinem Kopf eine Frage zu formulieren, die weniger danach klang, als sei ich eine Verrückte die nicht mehr zurechnungsfähig wäre.
»Das war kein Traum«, nahm mir Noah meine Frage ab. »Das war alles echt. Alles was du gesehen hast. Dein Unterbewusstsein hat nicht fantasiert wenn du das denkst.«
Ich ließ die Antwort eine Weile sacken. Wie sollte man auch darauf reagieren?
»Geht das wieder weg?«, fragte ich ihn dasselbe wie die unsichtbare Stimme. Noah schüttelte den Kopf.
»Es hat gerade erst angefangen.« Also stimmte es doch. Ich hätte mir schon denken können, dass die Antwort nicht positiv ausfallen würde. »Aber,«, fing Noah erneut an, »wenn du das nicht willst, dann kann ich dir dabei helfen, dass alles wieder normal wird. So wie am Anfang.«
Ein spöttisches Lächeln legte sich auf meine Lippen. »Ich dachte du willst meine Erinnerungen nicht mehr löschen.«
»Erwischt.« Er lächelte ebenfalls zurück. »Wenigstens bist du nicht mehr so naiv.«
»Bei dir garantiert nicht.«
»Ich mein es ernst.« Seine Miene wurde wieder ernst. »In der Traum- und Geisterwelt darfst du keinem leichtfertig vertrauen. Alles könnte nur Täuschung sein. Aber das weißt du vermutlich schon.«
»Ehrlich gesagt würde ich erst mal wissen was das ganze überhaupt ist. Ich werde hier dauernd mit Begriffen wie Traumfressser, Geisterwelt, Seelenflammen und anderen Sachen zugeschüttet und verstehe nur Bahnhof.«
»Gut.« Noah löste sich von der Wand und setzte sich zu mir aufs Bett. Dabei hielt er natürlich einen anständigen Abstand ein. »Was willst du wissen? Ich denke da ich dich nicht vom aufhören überzeugen kann, ohne das du die ganze Geschichte weißt, kann ich wenigstens versuchen dich abzuschrecken.« Er grinste leicht und ich fragte mich, ob das nur ein Witz war oder ob er es ernst meinte.
»Was sind diese Traumfresser eigentlich?«, stellte ich die erstbeste Frage die mir in den Sinn kam.
»Die Traumfresser sind böse Geister. Man kann sie auch mit Dämonen vergleichen. Eigentlich wandeln sie in der Geisterwelt umher. Da wo bis eben warst ist eher eine Zwischenwelt, eine Art Übergang zu dieser Welt. Woher diese Geister kommen weiß keiner richtig. Es wird sich nur erzählt, dass sie vermutlich schon seit dem bestehen dieser Welt existieren. Der erste Traumfresser soll heraufbeschworen worden sein. Er soll auch den meisten Einfluss haben und in der Lage sein, andere Traumfresser zu rufen. Ernähren tun sie sich hauptsächlich von schlechten Dingen, wie Streit, Hass, Verzweiflung. Eben negative Einstellungen. Doch das was sie am liebsten essen sind die Seelenflammen der Menschen.«
»Da wären wir schon bei meiner zweiten Frage.«, unterbrach ich ihn sogleich. »Was soll diese Seelenflamme sein? Das scheint diese kleine Flamme zu sein, die ich bei den Schülern und Lehrern gesehen habe.«
»Die Seelenflamme ist wie du dir denken kannst, die Seele eines Menschen.« Noah tippte mit dem Finger an die Stelle wo sein Herz lag. »Natürlich durchfließt eine Seele den ganzen Körper, aber da ist die Quelle am stärksten. In der Geister- und Zwischenwelt wird diese durch eine Flammenform sichtbar. Für einen Menschen ist dies sein Antrieb sein Elixier, das ihm zu einem Individuum macht. Wenn es dem Menschen gut geht, ist seine Seelenflamme in einer starken Verfassung und kann nicht von Traumfressern gestohlen werden. Doch ist es in einer schlechte Verfassung und mit negativen Dingen gefüllt, können sie es mit schlechten Wörtern oder Gedanken noch weiter beeinflussen und weiter ins negative ziehen, bis die Seelenflamme schwarz und antriebslos ist. Dann können die Traumfresser sie stehlen und verzerren. Was von dem Mensch übrig bleibt ist ein Häufchen Elend, das ziellos durch die Welt stolpert und nichts mehr als eine fleischliche Hülle ist.«
»Also hat der Mensch dann so etwas wie ein Depression?«
»Ja so ähnlich könnte man es nennen. Manchmal kann es aber auch so schlimm sein, das dieser Mensch nicht mehr fähig ist zu leben ohne fremde Hilfe.«
»Das hört sich furchtbar an. Und was kannst du dagegen tun?«
»Die einzige Möglichkeit die Seelenflamme wieder zurück zu bekommen, ist den Traumfresser zu finden, zu reinigen und die Seele wieder ihrem Besitzer zurückbringen.«
»Reinigen? Also man tötet ihn oder wie?«
»Nein. Beim reinigen wird ein Traumfresser ganz auf Anfang zurückgeworfen und dabei alle negativen Einflüsse die sie gefressen haben und die Seelenflamme, werden dabei gereinigt und ins positive umgewandelt. Wenn ich ihn töten würde, wäre er zwar nicht mehr da, aber die Seelenflamme würde mit ihm sterben und somit auch der Geist des Menschen.«
»Oh.« Mehr konnte ich dazu nicht sagen.
»Dafür gibt es Leute wie dich und mich. Leute mit besonderen Fähigkeiten, die zwischen Traum- und Geisterwelt hin und her springen können, um so etwas zu verhindern«, erzählte Noah weiter.
»Und sind wir die Einzigen die das können?«, fragte ich. Mich hatte schon oft diese Frage beschäftigt. Bisher kannte ich nur Noah der solche Sciencefiction Sachen machte. Noah brach auf meine Frage hin in schallendes Gelächter aus.
»Die Einzigen? So besonders sind wir nun auch nicht. Und selbst wenn wir das wären, würden wir es nicht mal ansatzweise schaffen, ein bisschen Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Gerade jetzt, in diesem Augenblick, gibt es Menschen die sich um diese Traumfresser kümmern. Aber so viele sind wir wirklich nicht, wenn man es genau nimmt. Für jeden Bezirk hier in London sind gerade mal eine Hand, manchmal auch zwei Hände, voll Leute zuständig. Außerhalb dieser Stadt konnten wir noch keine Aktivitäten von Traumfressern ausmachen. Bisher kursiert erst mal hier diese Plage. Doch wenn wir nichts dagegen unternehmen, kann sich diese ausbreiten – auf die ganze Welt.«
Ich seufzte. Das waren viel zu viele Informationen, mit denen ich nichts wirklich anfangen konnte. Aus diesem Typen wurde ich wirklich nicht schlau. Ich dachte er würde mir meine Fragen genau beantworten, aber alles was er tat, war nur oberflächlich erzählen und das reichte mir leider nicht. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, das er mich neugierig gemacht hat und ich nun mehr wissen will, als ich es anfangs wollte. Einige Sachen waren mir immer noch suspekt.
»Naja, wie dem auch sei.« Noah stand auf und kam auf mich zu. Er beugte sich zu mir runter – seine Lippen nah an mein Ohr. »Dann werden wir uns in Zukunft anscheinend öfters noch sehen, FannyBunny. Es sei denn du hast kalte Füße bekommen und willst doch nicht mehr das taffe Mädchen spielen.« Sollte das eine Herausforderung sein, wie lange ich es aushalten würde? Na gut, die nehme ich gerne an.
»Davon träumst du wohl.« Ein triumphierendes Grinsen machte sich in meinem Gesicht breit. »Ich werde keine Ruhe geben, bis ich herausgefunden habe, was es mit diesem Geisterquatsch auf sich hat und warum gerade ich diese Fähigkeiten habe. So leicht lass ich mir keine Angst machen.«
Ein amüsiertes Schnauben entfloh meinem Gegenüber. »Was anderes habe ich auch ehrlich gesagt nicht erwartet.« Er schnippte mit dem Mittelfinger gegen meine Stirn und grinste mich an. »Wir sehen uns.«

Nachdem der Arzt mich nochmal durchgecheckt und festgestellt hatte, dass mit mir alles in Ordnung wäre und ich nur ein bisschen mehr Schlaf bräuchte, steckte Ethan seinen Kopf in das Krankenzimmer. Er war hier um mich abzuholen. Während ich mich anzog, meine Sachen zusammensuchte und meine Haare in Ordnung brachte, sprach Ethan mit dem Arzt. Auch wenn ich nur nebenan war und uns nur ein Vorhang trennte, konnte ich nicht wirklich verstehen worüber sie sprachen. Vielleicht lag das auch nur daran, das ich mit meinen Gedanken ganz woanders war.
Nachdem sie fertig waren, gingen Ethan und ich zu unserem fahrbaren Untersatz. Den ganzen Weg dahin schwiegen wir, erst am Auto riss mich eine Stimme aus meinem Tranceähnlichen Zustand. Die ganze Zeit hatte ich über das nachgedacht, was mir Noah erzählt hat.
»Miss Fanny, geht es Ihnen gut?«, riss mich plötzlich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ohne das ich es gemerkt habe, waren wir schon beim Auto angekommen. Doch vor mir stand nicht nur der Chauffeur, sondern auch …
»James! Ähh ich meine … Mr Grantham«, stotterte ich. Schon wieder Fettnäpfchen.
»James?«, fragte Ethan und schaute mich irritiert an.
»Ja also …« Man ist das peinlich.
»Ich habe Miss Fanny erlaubt mir einen Spitznamen zu geben, da sie sich meinen Namen so schlecht merken konnte.«, antwortet James an meiner Stelle und zwinkerte mir zu. Ich lächelte dankbar. Das ist wirklich peinlich.
Ich stieg in das Auto ein und James setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Was ist passiert?«, fragte Ethan mich nun.
»Hat dir der Arzt das nicht erzählt?«
»Ich möchte es lieber von dir selber hören.« Er sah mich eindringlich an, so als ob ich nicht die geringste Chance hätte, auch nur daran zu denken, ihn zu belügen. Nachgiebig seufzte ich.
»Na gut. Ich war schon den ganzen Tag über schon müde und konnte mich dann schließlich nicht mehr wach halten. Selbst der Kaffee hat nichts gebracht. Das liegt aber nur daran, das ich in letzter Zeit so viel nachholen muss. Ehrlich.«
»Der Arzt vermutet das du an Schlafmangel leiden würdest.« Schon wieder dieser eindringliche Blick.
»Was? Quatsch! Das ist jetzt nur so am Anfang, ehrlich!«
»Ich glaube dir ja. Aber du bist meine Cousine und ich hab dich wirklich gern. Und als der Ältere von uns beiden, muss ich natürlich ein bisschen auf dich aufpassen.«
»Ich wusste gar nicht das du noch als Babysitter tätig bist.« Ich grinste und er tat das selbe.
»Wie dem auch sei. Auf alle Fälle musst du in nächster Zeit etwas kürzer treten.«
»Was? Niemals! Jetzt gerade läuft Mathe so gut, da kann ich nicht kürzer treten mit dem lernen«, protestierte ich.
»Hattest du nicht im letzten Test ein D geschrieben?«, fragte Ethan nach.
»Besser als vorher.«, erwiderte ich. »Am Anfang hatte ich nämlich ein E«, gab ich dann leise zu. Das war mir so peinlich gewesen, das ich es niemanden erzählt hatte. Aber meine Schuld war es nicht. Der Grund war nämlich das diese blöde Mathelehrerin, Mrs Goffrey, gleich in der zweiten Stunde einen Test über das aktuelle Thema schreiben ließ. Als ich ihr erklärte das ich noch neu hier sei und dieses Thema noch nicht in meiner alten Schule behandelt habe, entgegnete sie mir nur: »Und da sind Sie auf unsere Schule gekommen? Was für eine Schande was heutzutage für Leute hierher zugelassen werden. Wo sind wir denn? Auf einem Bauernhof für Mischtiere?«
Am liebsten hätte ich ihr gesagt: »Das müssen Sie doch am besten wissen. Schließlich passen Ziegen nicht so gut zu Schafen«, hatte es dann aber doch sein gelassen und versucht mein bestes aus diesem Test zu machen. Leider war das vollkommen in die Hose gegangen.
»Diese Frau macht mich noch fertig mit ihrem affektierten Verhalten. Die glaubt doch tatsächlich sie wäre etwas besseres.«
»Wenn du manche Sachen nicht verstehst, dann lass dir doch Nachhilfe geben«, schlug mir Ethan vor. Ich nickte. Aber wer käme dafür in Frage. Da müsste ich später noch mit Summer und Holly verhandeln. Einer der beiden musste mir doch helfen können.
»Ich habe noch etwas zu tun, aber ich versuch nicht zu lange zu bleiben. Ich will nicht das du dich noch in irgendeiner Weise übernimmst.«, sagte mein Cousin.
»Musst du nicht«, erwiderte ich. »Ich komm schon klar, schließlich habe ich ein ganzes Haus voller Leute die sich um mich kümmern und mich beschäftigen können. Außerdem war ich nur müde, nichts weiter.«
»Allein schon das lässt alle in Alarmbereitschaft verfallen. Du kannst dir sicher sein, dass sie dich alle umschwärmen werden und sich Sorgen um deine Gesundheit machen werden.«
Und er hatte Recht. Kaum waren wir auf Haddington Hall angekommen, stand schon eine ganze Kolonne bereit, die sich alle Sorgen um mein Wohl machten.
»Es ist nichts schlimmes passiert!«, rief ich gleich beim aussteigen und versuchte die Pinguine und anderen Angestellten zu beruhigen. Doch das hielt sie nicht davon ab, mich für den Rest des Tages zu bemuttern und mir alles so einfach wie möglich zu machen. Auch wenn es etwas nervig war, hatte es auch seine Vorteile.
Die leckeren süßen Sachen, die der Koch für mich als Trost zubereitete, waren der Wahnsinn. Es war einfach unmöglich zu solchen Sachen »Nein« zu sagen. Und auch Cupcake kam auf seine Kosten. Er bekam einen Hundeknochen, den er nicht mehr wieder hergab und hütete wie seinen Schatz. Mit einem Schälchen heiße Himbeeren mit Vanilleeis, ging in die Bibliothek und hoffte da Granny Croft anzutreffen. Schließlich war es Dienstag und da war sie ganz bestimmt dort anzutreffen.
Wie erwartet saß sie in einen der Sessel, vor sich ein Tischchen mit Tee und in der Hand ein Buch. Als sie mich sah, war sie keineswegs überrascht.
»Ah, Fanny da bist du ja endlich. Ich habe schon auf dich gewartet.« Sie lächelte mich an. »Komm setz dich, dann kann ich dir weiter vorlesen.«
»Woher wusstest du das ich heute eher nach Hause komme?«
»Ich hatte so eine Vorahnung«, sagte sie und grinste verschwörerisch. »Ich habe oft solche Vorahnungen und ich liege nie falsch.« Das klang sehr mysteriös und verdächtig. Was meinte sie mit Vorahnungen? Kann sie etwa Sachen vorhersehen? Weil ich so Stirn-runzelnd dreinschaute, beugte sich Granny Croft zu mir vor und flüsterte geheimnisvoll: »Sie kommen manchmal ganz plötzlich, beim schlafen oder lesen. Es sind zwar nur kurze, aber sie zeigen mir immer Ereignisse aus der Zukunft. Manchmal sind sie ganz nah und manchmal sind sie weit in der Zukunft. Zum Beispiel weiß ich auch, das wir in den nächsten Tagen wieder Besuch von diesem netten Jungen bekommen.«
»Noah?«
»Ja genau der. Ein anständiger junger Mann und dabei noch zu gut aussehend. Wenn ich noch so jung wäre wie du, würde ich ich alles tun, um bei ihm zu landen.«
»Da musst du dich erst mit seinen anderen Verehrerinnen herumschlagen. Und die Liste ist lang.«, warnte ich sie.
»Ach das sind doch nur kleine Puppen, die nichts in der Birne haben. Aber warum versuchst du es nicht bei ihm? Ihr würdet sicher gut zusammenpassen und wir Haddingtons haben ganz schön was auf den Kasten, wenn es um Sachen Charisma geht.«
»Ich will aber nicht mit Noah zusammen sein. Er ist ein aufgeblasener Arsch der sich für etwas besseres hält.« Das stimmte zwar nicht so ganz, aber zu 70 % war er ein Arsch. »Außerdem habe ich keine Zeit für so etwas. Die Schule ist zurzeit wichtiger und ich muss mich ran halten damit ich alles schaffe.«
»Die Liebe hat keinen festen Termin, Schätzchen. Sie kommt und geht wie es ihr passt, dass kannst du nicht beeinflussen. Es passiert meist, wenn man es am wenigstens erwartet.« Sie schlug das Buch auf und blätterte in den Seiten. »So, wo waren wir denn stehen geblieben?«
»Kapitel 9«, sagte ich.
»Richtig. Grace hat ihren Abschuss gemacht und steht vor der Entscheidung, wie nun ihr Leben weiter gehen soll. Na dann wollen wir doch mal sehen …«
Ich lauschte der Geschichte nur mit halbem Ohr. Viel zu beschäftigt war ich damit, was Granny da von sich erzählt hat. Sie könne in die Zukunft blicken. Jeder würde das für unmöglich halten und sie als Spinnerin bezeichnen und ich hätte das vermutlich auch, wenn mir nicht selber merkwürdige Dinge widerfahren wären, die ich nicht erklären konnte. Ich hielt es gar nicht mal für unmöglich, das es noch weitere Sachen auf dieser Welt gab, von denen wir nichts wusste.
Auf einmal hörte Granny mit dem vorlesen auf und verstummte. Sie starrte wie gebannt auf die aufgeschlagene Buchseite und ihre Hände verkrampften sich in den Bucheinband. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen bewegten sich minimal, als ob sie etwas vor sich hinflüsterte.
»Granny?« Ich stellte mein Kompottschälchen auf den Tisch und ging zu ihr hinüber. »Granny alles in Ordnung?« Ich berührte sie leicht an der Schulter. Sie reagierte nicht. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun und wusste nicht was ich machen sollte. Hatte sie einen Schlaganfall? In ihrem Alter war das gar nicht mal so undenkbar. Oder hatte sie eine ihrer Visionen? »Granny sag doch was! Granny!« Plötzlich zuckte sie heftig zusammen und blinzelt mehrere Male und sah sich irritiert um.
»Was … wo …«
»Granny ist alles in Ordnung?«, fragte ich sie.
»Was?«, fragte sie wieder und sah mich an. Ihr Blick veränderte sich mit einem Schlag. So als ob ihr etwas wichtiges eingefallen sei. »Oh Fanny. Fanny ich habe einen Blick in die Zukunft erhalten«, sagte sie.
»Und was hast du gesehen?«, fragte ich sie gespannt.
» Drei schwarze Male, eine schwarze Rose aus der Blut tropft, einen Kreis aus fünf - in schwarz gehüllten - Leuten, einen verwunschenen Wald in dem eine Bestie wohnt, Schneewittchen, Blut (viel Blut) und Noah.«, berichtete sie.
»Noah?« Was wollte der denn in Grannys Vision? Allgemein passten fast alle Sachen gut zusammen, bis auf Noah. Alle hatten etwas schwarzes, düsteres an sich. Noah trug aber kein schwarz, noch war er böse, obwohl er ganz schön gemein sein konnte. Und was Schneewittchen mit der ganzen Sache zu tun hatte, war mir auch schleierhaft. »Und was soll das alles bedeuten?«
»Keine Ahnung«, gestand Granny gelassen und lehnte sich wieder in ihren Sessel zurück. »Hast du jetzt auch so einen Hunger? Ich könnte gut ein paar Kekse vertragen, mit einem schönen Kaffee.« Sie stand auf und legte das Buch zur Seite. »Kommst du mit?«
»Ja, gleich«, sagte ich und nahm mein Kompottschälchen vom Tisch. Was hatte das alles zu bedeuten? Würden diese Dinge wirklich demnächst in der Zukunft passieren?
Die Kekse und der Kaffee die hier auf Haddington Hall hergestellt wurden, waren sehr lecker. Fast schon besser als meine Lieblingskekse aus dem Supermarkt. Granny Croft plapperte mal wieder von alten Zeiten und ich hörte ihr interessiert zu, schweifte aber dennoch ab und zu in Gedanken zu der Vision und den Dingen die sie gesehen hatte. Dessen Bedeutung war mir einfach nicht klar und ich konnte mir auch keinen Reim darauf machen, was denn Noah mit der ganzen Sache zu tun haben soll. Meine ganze Grübelei brachte mich aber auch nicht weiter.
Ich musste mehr herausfinden und das tat man bekanntlich immer an der Quelle des ganzen Mysterium. Nur war hier wieder die Frage, was oder wer die Quelle ist. Ich hatte keine Ahnung und das bescherte mir noch mehr Kopfzerbrechen.

Am nächsten Tag in der Schule traf ich Summer und Holly auf dem Gang und konfrontierte sie mit meinem Problem. Zwar war ich nicht besonders zuversichtlich, dass Summer mir in der Angelegenheit weiter helfen könnte, aber man wusste ja nie. Bei Holly dagegen war ich zuversichtlich.
»Ne du, tut mir leid.« Summer hob entschuldigend die Hände. »Aber ich schaffe es gerade selber noch so auf ein C.«
»Holly?«, fragte ich sie mit einem Dackelblick.
»Nur Naturwissenschaft oder künstlerische Fächer«, sagte sie. Mein Blick ging zu Ethan, der mit bei uns stand, bis die nächste Stunde losging. Noah stand einige Meter abseits, an einem Spind gelehnt.
»Mathematik ist nicht gerade meine beste Stärke«, gestand er. »In Französisch oder Spanisch könnte ich dir helfen, aber in Mathe nicht gerade viel.« Das durfte doch nicht wahr sein! Dann blieb nur noch … Nein, nein nein! Vergiss es Fanny!, sagte ich zu mir selbst. Der würde das niemals machen und wenn doch, wie kann ich noch mit ihm normal reden, nachdem DAS passiert war?
Es war nicht so, als würde ich nicht jede Hilfe annehmen, die ich kriegen könnte. Aber Noah gehörte einfach zu der Sorte Menschen, mit der ich ungern in einem Raum für geraume Zeit sein musste, wenn es absolut nicht anders ging.
»Ich komme Freitag vorbei«, meldete sich Noah. Überrascht starrte ich ihn an. Wir alle starrten ihn an. Was hat er da gerade gesagt? »Was guckt ihr denn so? Ich will ihr nur helfen, weil ich Mitleid habe. Das ist doch erbärmlich mit solchen schlechten Noten auf unsere Schule zu gehen«, verteidigte er sich und sagte dann an mich gewandt: »Also Freitag nach der Schule, in der Bibliothek von Haddington Hall. Wir sehen uns da, FannyBunny.« Es klingelte und er machte sich zum Unterricht auf. Wir anderen schauten ihm noch immer hinterher.
»Was …?«, brachte ich nur heraus.
»Sieht so aus als hättest du einen Nachhilfelehrer«, stellte Ethan fest und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
Der Unterricht verlief so weit gut und ich konnte alles super mitverfolgen. Diesmal war ich nicht mehr so müde, was wahrscheinlich daran lag, das ich erst gestern den halben Schultag verschlafen hatte und ich die Nacht darauf auch super geschlafen hatte – wie ein Baby.
Nach der Schule wartete unser Chauffeur mit dem Wagen schon auf uns. Als ich den Weg neben Ethan entlang ging und ein wenig durch die Gegend schaute, entdeckte ich aus den Augenwinkeln eine mir bekannte Person, nahe den Kirschbäumen neben der Schule.
»Ich geh nur mal eben kurz jemandem »Hallo« sagen, den ich kenne. Ich hab ihn schon seit vorgestern nicht mehr gesehen«, sagte ich schnell zu Ethan. »Ich komm gleich wieder.«
»Okay, ich warte hier.«
Ich lief zu den Kirschbäumen hinüber. Leise schlich ich mich an, um ihn zu überraschen. Hinter einem Baum ging ich in Deckung, doch als ich hinter ihm hervorsprang und laut »Hallo du« rief, war er nicht mehr da. Ein bisschen verdutzt stand ich da und sah mich um. Hatte ich mich etwa getäuscht? Der Wind fuhr mir durch mein Haar und brachte die Kronen der Bäume zum Rauschen. Diese ganzen Naturgeräusche wurden jäh von einem mechanischen Klicken einer Kamera unterbrochen. Ich fuhr zu dem Geräusch herum und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Wenn das mal nicht ein Déjà vu ist«, begrüßte ich ihn. Grinsend nahm Nathan die Kamera runter.
»Das war ein Bild für die Götter, das konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.« Er schaute auf das Display seiner Kamera. »Wunderschön.«
»Zeig mal.« Ich stellte mich neben mich und schaute ebenfalls auf das Bild, dass er kurz zuvor von mir geschossen hatte. »Wow«, entfuhr es mir. »Okay, das ist jetzt wirklich ein Déjà vu.« Das Bild, das die Kamera diesmal von mir eingefangen hat, war wie ich mit etwas verträumten Blick, den Wind entgegen, in die Baumkrone sah, durch die das Sonnenlicht fiel. Mein Haar war dabei nach hinten geweht worden und tanzte dabei fröhlich im Wind.
»Vielleicht bist du auch einfach nur Fotogen.«
»Ja klar.«
»Fanny, kommst du?«, rief Ethan zu mir herüber.
»Ja«, rief ich zurück. »Naja ich muss los. Wir sehen uns sicher morgen, oder?«
»Ich hoffe es doch sehr.«
»Fanny!«
»Ja, einen Moment noch!« Ethan konnte manchmal wirklich pingelig sein. »Kannst du vielleicht...« Ich wusste nicht wie Nathan schon wieder darum bitten sollte mir einen Abzug zu machen. Da kam mir irgendwie voll eingebildet vor.
»Ich bring dir einen Abzug mit.« Er lächelte mich an und ich konnte nicht anders als rot zu werden. Es war quasi unmöglich. »Du solltest jetzt gehen. Dein Leibwächter wartet schon«, sagte er grinsend.
»Danke. Wir sehen uns.« Mit einem breiten Grinsen ging ich zum Auto zurück und bekam fast gar nichts von meiner Umwelt musst. Ich musste immer wieder an Nathans Lächeln denken.

Kapitel 14

 Die nächsten Tage verbrachte ich damit alles nachzuholen und zu lernen. Schließlich wollte ich nicht zurückfallen. Die Nächte versuchte ich zu schlafen, auch wenn es meist kurz war. Seit den Ereignissen die mir immer wieder passierten und so täuschend echt wirkten, hatte ich Angst einzuschlafen. Auch wenn es nur Träume waren und man eigentlich selbst die Macht über sie hatte, überkam mich jedes mal ein Gefühl, das mir sagte, dass das alles nicht harmlos sei. Und die erste Nacht war der beste Beweis dafür gewesen. Die Male auf der Hand schmerzten immer noch. Zwar nicht sehr, aber schon so, das ich nicht vergessen konnte das es sie gab. Die Verbände ließ ich immer dran. Nur beim duschen oder baden nahm ich sie ab.
Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz. Drei schwarze Male. Davon hatte doch Granny gesprochen. Aber mit drei schwarzen Malen könnte alles mögliche gemeint sein. Und Male waren nicht gleich Bissspuren. Trotzdem sollte ich sie vielleicht deswegen fragen.
»Verzeihen sie wenn ich sie störe Miss Fanny,« Humble erschien in meiner Tür. Ich saß gerade am Schreibtisch und arbeitete an einer Hausaufgabe für den Englischunterricht. »Aber ihr Großvater schickt mich, er bittet Sie zu ihm zu kommen.«
»Hab ich was angestellt?«, fragte ich überrascht.
»Da bin ich mir nicht sicher, aber ich glaube nicht das er Sie wegen etwas rügen möchte Miss.«
Gespannt ließ ich mich zu meinem Opa bringen. Seit meiner Ankunft habe ich ihn sonst nur zum Abendessen gesehen. Zwischendurch traf man ihn nie im Schloss, auf den Fluren oder woanders an. Vielleicht hatte ich ja doch etwas angestellt. Kann sein das er mit mir über meine schlechten Noten sprechen wollte, wobei so schlecht waren sie auch wieder nicht. Nur in einigen Fächern schnitt ich nicht so gut ab.
Humble führte mich wieder zu dem Arbeitszimmer von Grandpa, klopfte und öffnete die Tür. Ich hatte irgendwie ein Déjà vu. Jetzt fehlte nur noch Cupcake und alles wäre genauso wie vor einer Woche. Ich trat in das Zimmer. Grandpa saß wie bei meiner ersten Begegnung an seinem Schreibtisch und schaute sich Unterlagen an.
»Setz dich«, sagte er, ohne dabei aufzusehen. Als ich Platz genommen hatte und ein paar Minuten des Schweigens vergangen waren, legte er seine Lesebrille ab und schaute mich an. Ich wartete auf das was jetzt kommen würde. Ärger, Vorwürfe, Fragen, Moralpredigten …
»Du hast dich verändert«, sagte er während er mich musterte.
»Ähhh …« Ich hatte mit einigen Sachen gerechnet, aber nicht mit einem … war das überhaupt ein Lob? »Echt? Ist mir nicht aufgefallen.« Kritisch sah ich an mich herab, doch konnte nichts erkennen, was an mir anders sein würde. Habe ich vielleicht was im Gesicht?
»Was gibt es denn?«, fragte ich und wollte endlich zur Sache kommen.
»Ich wollte mich mit dir unterhalten«, sagte er in einem ernsten Ton. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du in der Schule nicht so mitkommst, wie wir uns das Anfangs erhofft hatten.« Also doch Thema Schule. »Ich muss dir nicht sagen das die Schule einen guten Ruf hat, wenn nicht sogar einen der besten in ganz England. Und ein Mitglied unserer Familie kann es sich nicht leisten mit schlechten Noten dort abzuschneiden. Ich erwarte das du dich in Zukunft dahinterklemmst.«
»Ja, natürlich«, antwortete ich leise. Mein Blick war betreten zu Boden gesenkt und ich spielte nervös mit meinen Finger. Ich konnte das sehr gut verstehen, schließlich zahlte Grandpa sehr viel Geld für die Schule, das ich überhaupt dahin gehen durfte – vermutlich hat er noch etwas drauf gesetzt, damit ich sofort am Unterricht teilnehmen konnte, ohne irgendwelche Prüfungen zu durchlaufen.
»Deshalb habe ich dir einen Nachhilfelehrer besorgt, der deine Noten wieder verbessern wird.«
»Was?!« Für einen Moment vergaß ich meine Manieren und wurde laut. »Du kannst doch nicht einfach ohne meine Zustimmung einen Nachhilfelehrer engagieren! Außerdem bekomme ich schon alles von meinen Klassenkameraden erklärt und lerne selber den ganzen Tag. Ich brauch keine fremde Hilfe, ich bekomme das alleine hin! Also misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein!« Ich war sauer. Sauer darüber, dass er sich die ganze Zeit einen letzten Pfifferling um ich und meine Familie gekümmert hat und nun mischt er sich überall ein wo es geht und ist unfreundlich vom ersten Tag an. Es war mir egal ob Vater meinte, dass er einen schlechten Einfluss auf mich gehabt hätte. Wenigstens melden hätte er sich doch können und wenn es nur eine Karte gewesen wäre. »Du hast kein Recht mir vorzuschreiben was ich zu machen habe, wenn jemand das hätte, dann wäre es Papa und-« Ein lauter Knall ertönte und meine linke Wange begann zu schmerzen. Und ohne das ich es wollte begannen die Tränen zu fließen. Stumm rollten sie über meine Wangen und fielen in meinen Schoß. Ich machte keinen Laut. Schluchzen kam für mich nicht in Frage. Ich blieb einfach still sitzen – geschockt.
»Ich kann nicht glauben was für ein respektloses Kind, mein Sohn da in die Welt gesetzt hast. Frech und undankbar obendrein. Ich gebe dir Essen, Kleidung, gebe dir ein Zimmer, ein neues Zuhause, übernehme sämtliche Kosten, und Sorge mich um deine Zukunft und wie dankst du es mir? Ich kann nicht glauben das du die Tochter meines Sohnes bist.« Jetzt reichte es mir.
»Was weißt du schon von Papa! Du hast dich einen Scheißdreck für ihn und meine Mutter interessiert. Als sie geheiratet haben, ebenso als sie weggezogen sind! Nicht ein einziges Mal hast du angerufen, eine Karte geschickt oder dich sonst nach uns erkundigt! Ich wusste nicht einmal das du existierst! Und zur Beerdigung bist du auch nicht gekommen! Und jetzt wo mein Leben den Bach runtergeht, wo schon fast alles zu spät ist, fängst du an mir Vorschriften zu machen und interessierst dich kein bisschen wie ich mich eigentlich bei der ganzen Sache hier fühle oder was in mir vorgeht! Ich HASSE dich!« Jetzt war alles vorbei. Die Tränen flossen unaufhörlich und der ganze Schmerz der sich in den letzten Wochen angestaut hatte, konnte endlich raus. Grandpa sagte nichts zu meinen Wutausbruch und ich hatte auch nicht mehr zu sagen. Weinend stürmte ich aus dem Zimmer und rannte direkt nach draußen. Ich wollte nur noch weg. Keiner sollte mich weinen sehen oder sich um mich kümmern. Das war mir alles einfach zu viel.
Ich rannte die Allee entlang, auf der wir immer zur Schule und wieder zurückfuhren. Die Blätter färbten sich langsam gelb und rot, aber überwiegend waren die Baumkronen noch grün. Die großen prächtigen Häuser, die sich eins nach dem anderen aneinander reihten, flogen an mir vorüber. Langsam kam ich in den belebteren Teil der Stadt, wo mehr Autos fuhren und viele Leute anzutreffen waren. Doch zwischen all den Menschen fühlte ich mich nicht wohl und suchte nach einem ruhigeren Ort. Der Hyde-Park schien mir perfekt dafür.
Dort setzte ich mich auf eine einsame Bank und ließ den Tränen freien lauf. Die Leute die an mir vorbeiliefen sahen mich zwar an, aber beachteten mich nicht weiter. Wen kümmerte es auch wenn ein Mädchen weinend auf einer Bank saß. Da konnte alles mögliche dahinter stecken. Liebeskummer, zerstrittene Eltern, Probleme in der Schule …
»Du sag mal warum weinst du denn?« Ich hob meinen Kopf und sah durch meinen verschwommenen Blick einen kleinen Jungen. Er trug eine Baseballmütze und schien gerade mal fünf Jahre alt zu sein.
»Robby! Was machst du denn da?« Eine Frau kam und nahm ihn an die Hand. Vermutlich seine Mutter. »Bitte entschuldigen Sie, er ist immer so furchtbar neugierig. Du sollst doch nicht immer andere Leute belästigen«, tadelte sie den Jungen.
»Aber Mama das Mädchen weint doch.« Es schien ihr erst jetzt aufzufallen.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Tut Ihnen etwas weh?«
»Nein, nein, alles in Ordnung«, versicherte ich ihnen und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich sah bestimmt völlig aufgelöst aus. »Ich habe nur … Liebeskummer.«, log ich.
»Das tut mir leid. Ich hoffe Sie kommen darüber hinweg.«
»Ja, das hoffe ich auch. Danke.« Die Mutter und Robby gingen weiter, nachdem sie mir noch ein Taschentuch gegeben hatten. Ich sah ihnen nach. Das Bild erinnerte mich irgendwie an mich und meine Mutter.
»Mama was ist denn Liebeskummer?«, fragte der Kleine. Ich musste lächeln. So alt wie er möchte ich auch nochmal sein. Keine Sorgen haben, noch unschuldig in die Welt blicken und immer das Gute in allem sehen.
»Liebeskummer also«, ertönte plötzlich eine Stimme. Noah stand nur wenige Meter von mir entfernt.
»Ach du bist es.« Irgendwie wunderte es mich gar nicht ihn zu sehen. In letzter Zeit tauchte er häufig in meiner Nähe auf. Er setzte sich neben mich auf die Bank – ein halber Meter Abstand zwischen uns. Für eine Weile herrschte erst mal Stille.
»Wie geht es dir?«, fragte er dann. War das jetzt eine ernst gestellte Frage? Oder wollte er nur Small Talk führen?
»Super«, sagte ich und schnäuzte mir kräftig die Nase. Noah sah mich von der Seite an und zog eine Augenbraue hoch – er konnte das wirklich gut.
»Das sieht man.« Er reichte mir ein neues Taschentuch, meins war nicht mehr zu gebrauchen. »Was ist denn passiert, dass du weinend durch die Gegend läufst?«
»Würdest du mir glauben wenn ich dir sage, dass ich eine Pollenallergie habe?« Ich schnäuzte noch einmal kräftig ins Taschentuch und wischte mir die Tränen weg.
»Es ist Herbst«, sagte er nur.
»Stimmt. Hab ich vergessen.«
»Du bist eine ziemlich schlechte Lügnerin weißt du das?« Ich antwortete ihm mit schweigen und überlegte ob ich ihm erzählen sollte was passiert war oder nicht.
»Ich hatte Streit mit Grandpa«, sagte ich dann leise nach einer Weile.
»Warum?« Ja. Warum? Wo ich jetzt so drüber nachdenke, wollte er mir eigentlich nur helfen. Und ich habe vollkommen die Beherrschung verloren und bin ausgerastet. Ich hatte kein Recht dazu gehabt.
»Ich bin durchgedreht. Er wollte mir nur helfen, aber ich hab mich unter Druck gesetzt gefühlt.«
»Dann nimm die Hilfe doch an.« Doch ich schüttelte den Kopf. »Wo liegt das Problem?«, fragte Noah.
»Ich habe gesagt das ich ihn hasse und seine Hilfe nicht will. Das tut mir leid. Ich wünschte ich könnte es rückgängig machen.«
»Manchmal kann man Dinge nun mal nicht rückgängig machen«, sagte er und schaute in die Ferne. »Aber dann ist es umso wichtiger nach vorne zu schauen und aus seinen Fehlern zu lernen, damit man es beim nächsten Mal besser macht.«
»Ich glaub ich verliere hier noch die Nerven«, sagte ich und schniefte. »Alles hat sich verändert und lauter komische Dinge passieren.« Noah schwieg zu meiner Bemerkung. Anscheinend wollte er nicht aus seiner Deckung. Aber was hatte er noch zu verbergen? Ich wusste doch zu was er fähig war, schließlich musste ich es teilweise am eigenen Leib erfahren. Und er hat mir selber auch von den Monstern erzählt und mir versucht zu erklären. Oder war ich einfach nur durchgeknallt und bilde mir das alles nur ein? Spielt er mir einen Streich?
»Du solltest dich bei ihm entschuldigen.« Noah stand auf und hielt mir seine Hand hin. Ich ergriff sie ohne Widerspruch und wir gingen den ganzen Weg schweigend zurück. In solchen Momenten wie diesen, vergaß ich, dass Noah der blöde Arsch war, wie ich anfangs dachte und ich mochte es ihn in meiner Nähe zu haben. Wenn er doch nur immer so sein könnte.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich ihn als wir schweigend den Weg entlang gingen.
»Ich war auf den Weg zu euch und hab dich zufällig die Straße entlang rennen sehen und bin dir gefolgt. Du saßt so aus, als ob du Sorgen hättest. Und da bin ich dir hinterher. Ich hatte Angst das du etwas dummes anstellst.« Noah drückte sanft meine Hand, was seine Aussage noch bestärkte.
Eigentlich wollte ich einen blöden Spruch loslassen, doch irgendwie war ich nicht in der Stimmung dazu. Er hatte sich wirklich sorgen um mich gemacht. Ich werd aus dem Typen einfach nicht schlau. Wieso konnte er nicht immer so sein?
»Warum musste das alles passieren?«
»Hm?« Noah schien nicht zu verstehen was ich mit meiner Aussage meinte. Es war einfach alles. Die gesamte Situation. Seit meine Eltern gestorben sind, passieren die merkwürdigsten Dinge. Aber trotzdem fühlt es sich an, als ob sie schon immer da gewesen wären und ich hätte nur in einem langen Schlaf gelegen.
»Wieso mussten sie sterben? Ist das etwa alles meine Schuld?« Ehe Noah etwas erwidern, es abstreiten oder mich mit Worten trösten konnte, liefen bei mir schon wieder die Tränen. Es war schon längst fällig gewesen. Die ganzen Gefühle immer nur in sich reinzufressen bekommt auf die Dauer nicht. Irgendwann geht man daran kaputt.
Wir waren stehen geblieben und ich schirmte mit dem einen Arm mein Gesicht ab. Warum musste ich auch gerade in so einem Moment zu weinen anfangen? Auf der Straße, wo mich andere Menschen sahen. Und Noah.
Dieser stand einfach wortlos neben mir und sagte nichts. Würde er lachen, sich über mich lustig machen oder wieder einen seiner Sprüche loslassen?
Doch nichts von dem passierte. Stattdessen zog er mich wortlos in den Arm und drückte mich fest an sich. »Noah …«, brachte ich noch hervor zwischen zwei Schluchzern.
»Ist schon okay. Du kannst ruhig weinen, das tut dir gut.« Ich konnte nichts mehr sagen. Meine Kehle war wie zugeschnürt und es fiel mir schon so schwer mit dem Atmen. Reden war da quasi unmöglich. Nachdem sämtliche Tränen vergossen waren und ich mich einigermaßen wieder beruhigt hatten, löste ich mich aus Noahs Umarmung. Er reichte mir sofort ein Taschentuch, welches ich dankbar annahm und mir die Spuren meiner Trauer wegwischte.
»Alles wieder okay?« Mitfühlend legte Noah seine Hand an meinen Arm und strich sanft mit dem Daumen über die Haut. Das beruhigte mich zusätzlich und bescherte mir eine Gänsehaut. Es war aber auch ein schönes Gefühl was sich bei der Geste in mir bildete, wenn ich ehrlich sein muss.
»Ja, danke. Tut mir leid das ich … dich so voll geheult habe.« Eine letzte Träne entfloh meinen Augen, doch wurde sofort durch eine zärtliche Handbewegung von Noah aufgefangen und weggewischt.
»Ist schon in Ordnung. Ich kann das verstehen.« Ach echt? Ich schaute ihn an und in meinem Kopf rotierten alle mögliche Fragen. Woher denn? Hatte er auch einen Menschen in seinem Leben verloren, der ihm viel bedeutet hat? Aber diese Fragen würden wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Noah ist Schweigsam und Geheimnisvoll. Er passt ganz genau auf, wem er was über sich preisgibt. Vielleicht weiß Ethan ja was. Vermutlich aber auch nicht. Traute er sich überhaupt jemanden an? »Können wir?« Noah hielt mir seine Hand hin, die ich ein wenig zaghaft ergriff, und dann machten wir uns weiter auf den Rückweg.
»Ich hab ein bisschen Angst«, gestand ich ihm, als wir beide vor Großvaters Arbeitszimmer standen. »Was wenn er immer noch sauer auf mich ist?« Ich drückte seine Hand.
»Das glaube ich nicht. Außerdem bin ich doch dabei, da kann dir nichts passieren. Versprochen.« Sanft drückte er ebenfalls meine Hand, um mir sein Versprechen zu versichern. Ich atmete noch einmal tief ein und klopfte dann an die Tür.
Glücklicherweise nahm Grandpa die Entschuldigung an und er entschuldigte sich ebenfalls für seinen „Ausrutscher“ wie er sagte. Die Wange tat auch nur noch ein bisschen weh. Des weiteren würde er mich vorher um Erlaubnis fragen, wenn er mir helfen wollte, was mich ein bisschen glücklich machte. Aber trotzdem konnte ich mir mein Verhalten nicht verzeihen.
Noah blieb die ganze Zeit an meiner Seite, worüber ich ehrlich gesagt froh war. Als ich dann aus dem Zimmer ging und Grandpa sich noch mit Noah unterhielt, traf ich auf dem Weg zu meinem Räumen Ethan an.
»Hey«, begrüßte er mich.
»Hey«, grüßte ich zurück.
»Wie geht’s dir?«
»Besser.«
»Das ist gut.« Wir gingen zusammen ein Stück. »Ist Noah schon da?«
»Ja. Er spricht gerade mit Grandpa.«
»Ah, wundert mich nicht.« Auf Ethans Lippen bildete sich ein Lächeln.
»Wie gut kennen die zwei sich eigentlich?«, fragte ich, da mir die „Freundschaft“ zwischen den beiden komisch vorkam. So gut kam ich nicht mal mit älteren Menschen aus.
»So gut wie Noah und ich. Grandpa kennt uns schon seit wir zwei befreundet sind. Für ihn waren wir immer so etwas wie seine Söhne und er behandelte uns auch so.«
»Schön das ihr euch so gut versteht.« Das war mal eine ehrliche Aussage von mir, ohne jeglichen Sarkasmus dahinter. Vielleicht weil ich mir selber wünschte gut mit Grandpa auszukommen.
»Ihr hattet nur einen schlechten Start. Du wirst schon sehen. In ein paar Wochen sieht alles ganz anders aus.«, munterte mich Ethan auf. »Grandpa kann auch unglaublich witzig sein und hat nur Blödsinn im Kopf.«
»Das würde ich gerne erleben.«

»Also dann fangen wir an.« Noah und ich haben uns in der Bibliothek zusammengefunden, um etwas gegen meine schlechten Noten in Mathe zu tun. Auch wenn ich gewillt war mich zu verbessern, war der Unterricht bei Noah dennoch eine Qual. Nach 10 Minuten hatte ich schon keine Lust mehr. Dabei hatte ich noch eine Stunde und 50 Minuten vor mir, die wir zuvor vereinbarten. Zwischendurch gab es nur eine 10 minütige Pause, ansonsten hieß es, durchpauken bis nichts mehr geht.
Ich ließ meinen Kopf frustriert auf die Tischplatte sinken. Irgendwie konnte ich Summer verstehen. Denn das einzige was ich hier verstand, war nur Bahnhof. Wozu verdammt braucht man Mathe überhaupt!? Ist ja nicht so als ob ich unbedingt Professor werden will!
»Die Pause ist erst in 50 Minuten.«
»Mir wärs lieber wenn wir 50 Minuten Pause machen und 10 Minuten lernen. In meinem Hirn brennen jetzt schon die Denkzellen durch. Wenn das so weiter geht werde ich noch dumm hier raus gehen.« Wenn es um Mathe ging konnte ich meinen Sarkasmus nicht mehr zügeln. Das war ja quasi wie eine Herausforderung.
»Das wirst du auch so oder so, wenn du dich nicht mal ein bisschen anstrengst.«
»Das sagst du. Aber du kannst diesen ganzen Mist ja auch. Wer braucht das bitte später schon im Alltag?« Zugegeben, mit dem Verständnis war das bei mir so eine Sache.
Als die 50 Minuten endlich rum waren, glaubte ich zu sterben. »Mein Hirn ist durchgeweicht wie Pudding«, stöhnte ich und fasste mir an den Kopf.
»Wie kann man denn sinus mit cosinus verwechseln. Und du weißt wirklich nicht wie viel 3/8 sind? Wie hast du die Klassen überhaupt bestanden mit dem chaotischen Wissen?«
»Ja lach ruhig über mich. Ich sagte doch das ich für Mathe kein Verständnis habe.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden.« Noah schob mir eine Tasse Tee hin.
»Danke.« Ich nippte kurz daran. Autsch! Heiß! Und schon wieder Zunge verbrannt, na toll. Noah lehnte ganz lässig an den Tisch und trank seinen Tee wie einer echter Lord. Ich dagegen wirkte wie ein Bauernmädchen. Nachdenklich schaute ich in den Tee, dessen Oberfläche die Decke in einem schönen dunklen Rotton widerspiegeln ließ. Gerade jetzt in diesem Augenblick erschien mir die Welt so normal, dass ich es nicht für möglich halten würde, dass es da noch etwas anderes gab. Seit meinem Umzug veränderte sich alles geradezu rasend schnell und ich habe keine Ahnung wie ich damit umgehen soll. Der Tod meiner Eltern, ein neues Land, merkwürdige Träume, Geister, Leute mit übernatürlichen Fähigkeiten … Die Liste war endlos. Das alles brachte mich vollkommen durcheinander und das Endresultat davon ist, das ich dann immer völlig durch den Wind war. »Kann ich dich mal was fragen?«
»Solange es nicht zu persönlich wird.« Er nahm elegant einen weiteren Schluck aus seiner Tasse.
»Glaubst du an übernatürliche Sachen?« Noah sah mich kurz mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
»Das kommt ganz darauf an, was du unter übernatürlichen Sachen verstehst.«
»Ähhh …« Wie sollte ich das ganze am besten Verpacken? »Naja, also so etwas wie Geister … Stimmen aus dem Nichts, Träume die Real werden? Also ich mein jetzt nicht damit die Traumfresser und das ganze andere Zeug, sondern noch etwas anderes.« Das hörte sich ja alles noch lächerlicher an, wenn ich es nur aussprach. Am liebsten wollte ich im Boden versinken.
»Wieso willst du meine Meinung dazu wissen?«, fragte Noah und stellte seine Teetasse ab.
»Weil ich langsam an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifle. Ich glaube ich verliere langsam den Verstand. Diese ganze Träumerei und der Teil mit der Seelenflamme mag ja noch im Bereich des möglichen fallen – jedenfalls klingt es sehr logisch – aber was ist mit Dingen die man nicht sehen kann?«, teilte ich ihm meine Gedanken mit. »Bin ich verrückt oder nicht mehr ganz normal?« Meine Stimme klang schon fast verzweifelt, als ich ihn das fragte. Noah sah mich genau an und ich hatte Angst vor der Antwort. Das ganze hier machte mir Angst und raubte mir die Nerven.
»Nicht gerade verrückt«, antwortete er. »Eher etwas wunderlich.«
»Und ist das etwas gutes?« Für mich hörte sich wunderlich genauso an wie verrückt. Es erinnerte mich an die Kreaturen aus Alice im Wunderland. Sie wirkten alle verrückt und wunderlich zugleich.
»Manche Leute finden es irritierend, andere verstörend, sie können damit vielleicht nicht etwas anfangen, aber es macht denjenigen zu etwas besonderem. Nur wenige Leute können solche Dinge.«
»Findest du?« Er nickte nur. »Was passiert nur mit mir?«
»Veränderungen können einen abschrecken. Aber sich davor zu verstecken bringt nichts. Stattdessen sollte man sich ihnen stellen und sie erforschen. Ob du dir das nur einbildest oder nicht, ist eine Frage die nur du beantworten kannst.«

»Danke für die Nachhilfestunde.«, bedankte ich mich bei Noah. Die zwei Stunden Horror waren vorüber und ich war ehrlich gesagt sehr erleichtert darüber. Noch länger und ich wäre durchgedreht.
»Immer wieder gern FannyBunny.« Wir betraten beide den Flur. Manchmal kann ich ihn nicht verstehen. Auf der einen Seite tut er so kühl und undurchschaubar und auf der anderen ist er ein ganz lieber Kerl. Es scheint so als ob er zwei Masken tragen würde.
»Na? Endlich fertig mit Nachhilfestunde?«, fragte Ethan, der uns entgegen kam.
»Deine Cousine ist ein hoffnungsloser Fall«, sagte Noah und fügte dann noch hinzu, »Wenn sie mich nicht hätte.« Er grinste mich an und ich verdrehte nur die Augen, konnte mir aber trotzdem ein Lächeln nicht verkneifen. Etwas wahres war ja auch dran.
»Das Abendessen ist fertig. Ich wollte euch gerade holen gehen«, berichtete mein Cousin.
»Wunderbar ich sterbe schon vor Hunger«, sagte ich. »Ich geh mir nur eben schnell etwas anderes anziehen und komme dann runter.«
In meinem Zimmer begrüßte mich Cupcake stürmisch und ich verwöhnte ihn schnell mit ein paar Streicheleinheiten, ehe ich mich meinem Kleiderschrank widmete. Ich suchte etwas angemessenes aus, das aber nicht zu formell wirkte, schließlich war das nur ein normales Abendessen. Aber mit den Schmuddelsachen, mit denen ich nur im Haus herumlief, weil sie bequem waren, konnte ich mich nicht blicken lassen. Wer würde auch schon mit einem T-Shirt aufkreuzen auf dem steht ''Keep Calm and Smile''. Dazu noch eine riesige grinsende Katze, die sich quer über den ganzen Busen erstreckte. Das musste echt nicht sein.
Ich legte mir ein schönes Sweatshirt und eine passende Jeans raus. Normalerweise dauerte das umziehen nicht lange bei mir, aber hätte ich nicht zufällig in den großen Standspiegel, der in meinem Zimmer stand, gesehen, wäre ich nicht zur Salzsäule erstarrt, als ich mir das T-Shirt über den Kopf gezogen hatte.
Unter meinem rechten Schlüsselbein prangte eine schwarze Rose, aus der schwarzes Blut tropfte.

Kapitel 15

 Wie zu Eis erstarrt stand ich vor dem Spiegel und strich immer wieder ungläubig über die schwarze Rose auf meiner Haut. Doch egal wie oft ich mit den Fingern darüber fuhr, es verschwand nicht. Als ob es in meine Haut eintätowiert war. Dabei würde ich mir nie ein Tattoo machen lassen (was zum einen daran lag, das ich eine Wahnsinns Angst vor Nadeln habe, allein schon Impfen ist eine Qual). Ich stürmte in mein Badezimmer, nahm mir einen Waschlappen, machte ihn nass und rieb damit über die schwarze Rose. Zur Sicherheit nahm ich noch Seife dazu und schrubbte so stark über die Stelle, dass sie kurz darauf in eine Schaumwolke eingehüllt war. Schnell spülte ich sie mit Wasser ab, doch das Ergebnis stellte mich nicht zufrieden. Frustriert griff ich zur Nagelbürste und bearbeitete meine Haust so doll, bis sie rot und geschwollen war. Aber egal was ich tat, die schwarze Rose blieb.
In meinem ganzen Prozedere, klopfte es an der Tür. Es war Alice, die mich zum Essen rief. »Miss Fanny, alle warten schon auf Sie.«
»Einen Moment«, rief ich zurück, trocknete mich ab und zog das Sweatshirt an. Das verdeckte wenigstens alles bis zum Hals und niemand konnte das Tattoo mit meiner malträtierten Haut sehen. Hatte Granny Croft etwa recht mit ihren Visionen? Aber was bedeutete dann diese schwarze Rose? Und warum habe gerade ich sie bekommen? Während ich so vor mich hin grübelte, suchte ich mir den kürzesten Weg nach unten. Zu spät kommen war nicht gerade von Vorteil. Vor allem nicht, wenn man die Einzige war und keinen anderen mit in den Dreck ziehen konnte.
Als ich den Speisesaal betrat, waren alle schon anwesend und saßen bereits am Tisch. »Entschuldigt die Verspätung.« Ich setzte mich schnell. »Es gab einen kleinen Zwischenfall.« Keiner kommentierte meine Ausrede, sondern nahm sie schweigend hin. Entweder haben sie Verständnis oder sie strafen mich mit schweigen, schlussfolgerte ich aus dem Verhalten.
Das Essen wurde serviert und Gesprächsthemen unterschiedlichster Art wurden von jedem angeschnitten. Wobei anschneiden sich auf den Aspekt bezieht, dass wir nie lange bei einem Thema blieben. Jemand warf etwas in die Runde, andere sagten kurz ihre Meinung dazu und das war es. Keine Debatte, kein Gerede, keine Diskussion oder Analyse über diverse politische Sachen oder anderen Kram. Nichts. Wie ein Stück Kuchen kurz angeschnitten und das war es. Unter anderen gab auch Granny Croft ihre letzte Vision zum besten.
»Ratet was ich neulich gesehen hab? Da kommt ihr nie drauf«, stachelte sie die anderen an, als wenn das ein Ratespiel wäre. Alle am Tisch anwesenden schenkte ihr nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, gespannt was Granny nun schon wieder zum Besten geben würde. Obwohl ich mir bei Grandpa nicht so sicher war – so grimmig wie der guckt.
»Ich habe letztens einen Blick in die Zukunft erhalten«, flüsterte sie geheimnisvoll über den Tisch, an dem jetzt eine toten Stille herrschte. Nur das Klappern der Messe und Gabeln war noch zu hören und Grandpa ließ bei Grannys Behauptung ein verächtliches Schnauben erklingen. Alle andern jedoch richteten gespannt ihre Augen auf Granny, die einen verschwörerischen Blick aufsetzte.
»Willst du uns wieder diesen lächerlichen Humbug auftischen?«, zerstörte Grandpa die geheimnisvolle Atmosphäre. Seine Stimme nahm einen spöttischen Ton an.
»Wenn du mir nicht glaubst, dann frag Fanny, sie war auch dabei«, entgegnete Granny gerüstet, so als ob ich ihr Trumpf wäre. Alle Augen glitten zu mir und ich hielt in meiner Bewegung inne, als ich gerade dabei war, mir eine Gabel mit Fleisch und Salat in mich hinein zu befördern.
»Stimmt das Fanny? Hast du auch dasselbe gesehen?«, fragte mich Grandpa mit einem kritischen Blick.
»Ähhh … also …«, stammelte ich und wurde auf einmal total nervös. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und Granny Croft starrte mich auch noch so erwartungsvoll an. »Nicht direkt gesehen … also eher …«
»Aha, wusst ich's doch«, unterbrach mich Grandpa. »Du kannst es gar nicht gesehen haben, weil du natürlich nicht dieselben 'Fähigkeiten' hast wie diese alte Schachtel, die urplötzlich in eine Starre verfällt. So war es doch?« Sein Blick durchbohrte mich förmlich.
»Nun ja, … schon … irgendwie …«
»Da hast du's. Viel Wind um nichts«, sagte er und warf Granny einen triumphierenden Blick zu.
»Du kannst sagen was du willst Richard. Ich halte an meinen Visionen fest«, hielt sie dagegen. »Ich lag bis jetzt immer richtig.«
»Ja, bis auf ein Mal«, grummelte Grandpa und seine Miene verfinsterte sich merklich.
»Da lag ich nicht falsch. Du hast es einfach falsch interpretiert. Übrigens wenn du bei deinen Geschäften nicht bald den Kurs änderst, so wie ich es dir vorgeschlagen habe, werden sie bald den Bach runtergehen.« Ich hatte nicht den blassesten Schimmer worum es hier ging. Das war ja fast wie im Kindergarten oder in der Politik. Aber allem Anschein nach ging es bei dem Streit um etwas, dass in der Vergangenheit lag.
»Jetzt reicht es!«, donnerte plötzlich Grandpas Stimme durch den Raum und er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und ich erschreckte mich so sehr, sodass ich fast vom Stuhl aufgesprungen wäre. »Behalte deine scharlatanischen Weissagungen für dich!« Mir war die ganze Situation zu unangenehm geworden und ich bekam auf einmal ein merkwürdiges Gefühl, welches ich schon einmal gehabt habe. Ich versuchte es zu verdrängen und mich weiter auf mein Essen zu konzentrieren, aber es blieb.
»Du wirst noch eines Tages auf mich zurückkommen, mein Lieber«, zuckte Granny nur mit den Schultern und wandte sich dann an Noah, der direkte neben ihr saß. Grandpa fing ein Gespräch mit Ethans Vater an und achtete nicht weiter auf die anderen, allen voran aber Granny Croft. Diese fing nun ein interessantes Gespräch mit Noah an, wo ich nicht weg hören konnte. Da ich direkt gegenüber saß, war es gar nicht so schwer die leise gesprochenen Worte zu verstehen.
»Ich habe dich in meiner Vision auch gesehen«, flüsterte sie ihm zu.
»Ach echt?«, fragte er interessiert zurück und Granny nickte heftig.
»Ja. In meiner Vision kam eine blutende schwarze Rose, einen Kreis aus fünf schwarz gekleideten Leuten, in Mänteln und Kapuzen, drei schwarze Male, ein Schneewittchenmädchen, sowie ein verwunschener Wald mit einer Bestie drinnen vor. Sagt dir das vielleicht etwas?«
»Einen Kreis aus fünf Leuten?«, fragte Noah erneut. Granny nickte nur. »Könnte damit der Kreis der Fünf gemeint sein?«
»Ich glaube da ist ein Besuch in der großen Halle des Wissens mal wieder fällig.«, meinte Granny und zwinkerte ihm zu. Große Halle des Wissens. Was könnte damit gemeint sein? »Und sonst? Nichts weiter das dir etwas sagt?« Noah schüttelte den Kopf.
»Leider nein.«
Ich hörte schon gar nicht mehr zu. Viel zu beschäftigt war ich mit der Frage was die Große Halle des Wissens sein sollte. Das konnte alles mögliche sein. Aber so spontan viel mir nur eine Bibliothek ein. Was sonst könnte mit Wissen gemeint sein. Ich war so in Gedanken versunken, das ich mich fast zu Tode erschrak, als plötzlich etwas meine Gabel, die ich eben noch zum Mund geführt hatte, aus der Hand schlug. Der Salat, der bis vor kurzem noch darauf lag, wurde durch die Luft katapultiert und landete mitten in Grannys Suppe. Die Gabel hüpfte klirrend über den Tisch und anschließend auf den Boden, wo sie schließlich zum erliegen kam. Irritiert schaute ich auf meine Hand. Wie konnte das nur passieren?
Mit ihrem Löffel fischte Granny die einzelnen Salatblätter aus ihrer Suppe. »Dabei hatte ich doch gar kein Grünzeug als Beilage bestellt.«, sagte sie und ich hoffte, das sie nur Spaß machte und nicht auf mich böse war. Ich wollte am liebsten vor Scham im Erdboden versinken.
Ein schelmisches Lachen erklang in der Luft und ich wusste gleich wer hinter dem Schabernack steckte. Ich suchte mit den Augen nach dem Störenfried, doch fand ihn nicht. Wie hätte ich auch, bei einem unsichtbaren Geist.
»Was soll das?«, zischte ich leise. Ich wusste genau das er mich hören konnte.
»Hehe. Ich wollte nur ein bisschen die miese Stimmung auflockern. Sieh dir doch mal alle ihre blöden Gesichter an«, lachte der Geist vergnügt.
»Nicht gerade der passendste Augenblick.«
»Fanny?«
»Hm?«
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Grandpa.
»Was? Äh … ja. Ja, alles bestens. Ich … ähm geh dann mal eben … a-auf die Toilette«, entschuldigte ich mich stotternd und stand schnell auf. Als ich endlich durch die Tür durch war und sie hinter mir geschlossen hatte, kicherte das Wesen erneut. Ich riss die nächste Tür auf, die in einen Salon führte und machte eine Kopfbewegung, die so viel sagen sollte wie : »Da rein!« Kaum waren wir drinnen, lachte es erneut.
»Hör auf zu lachen!«, fuhr ich ihn an.
»Wieso? Das war doch ein heiden Spaß.«
»Nein war es nicht. Du hast mich lächerlich gemacht.« Ich war leicht angesäuert. Aber eben nur leicht. Zugegeben die verdutzten Gesichter waren es wirklich irgendwie wert gewesen, aber dafür hatte ich einen unglaublichen Schreck bekommen.
»Krieg ich jetzt Ärger?«, fragte der Unsichtbare scheinheilig.
»Den hast du schon längst!«, knurrte ich, doch ihn ließ das völlig kalt. Er machte sich sogar eher lustig darüber.
»Nein! Bloß keinen Ärger!«, rief er theatralisch aus und erinnerte bei dem Tonfall an eine der hilflosen Figuren, die in manchen Theaterstücken das verzweifelte Jungfräulein in Nöten oder Verzweiflung darstellte. Ich verdrehte die Augen, konnte aber ein Schmunzeln nicht verhindern.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich, um vom Thema abzulenken.
»Ich habe viele Namen. Ich bin bekannt als der Schreckliche, der Unsichtbare, Nie-gesehene, die Stimme aus dem Nichts, Schutzpatron und Helfer Geist oder Traumfresser.« Der letzte Titel ließ mich aufhorchen.
»Traumfresser?« Das hatte Noah mir doch mal erklärt. Aber was soll das jetzt heißen? Ist dieses 'unsichtbare Ding' am Ende doch noch gefährlich? Er hatte mir doch eigentlich versichert das er nicht wie die anderen wäre.
»Ja. Aber das bin ich heute nicht mehr. Hab es damals mal gemacht, war aber nicht dafür geeignet. Allein schon dunkle Gänge machen mir Angst. Und wer will bitte eine Portion glibbrige Angst essen, dass ist doch ekelhaft«, berichtete der Geist.
»Aha. Kann ich dich deswegen nicht sehen? Weil du ein 'Geist' bist?«
»Nein das nicht. Ich kann mich jederzeit wieder sichtbar machen, aber ich will nicht das du mich siehst?«
»Warum nicht?«
»Ich bin nicht gerade ein schöner Anblick. Manch einer hat einen Schreck bekommen und ist schreiend davongerannt. Einige sind auch schon umgefallen. Ich sehe halt etwas anders aus, als das was man sonst so erwartet von Geistern oder anderen Wesen.«
»Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen«, gab ich zu. Seine Stimme klang alles andere als furchterregend. Eher schon ein bisschen putzig. »Wie soll ich dich denn nun nennen, wenn ich dich schon nicht sehen kann?«
»Jeder nennt mich anders. Du darfst dir gerne auch einen Namen aussuchen.« Ich verfiel ins Grübeln. Es war schwer sich einen Namen auszudenken, wenn man nicht mal eine gewisse Vorstellung von demjenigen hatte. Bei Cupcake war es einfach. Er war süß und niedlich, einfach zum fressen. Aber bei ihm … Das einzige das ich wusste, war das er sich selbst für hässlich und schrecklich hielt. Aber das musste ja nicht unbedingt stimmen. »Wie wärs mit Quasimodo?«, fragte ich. »Ist Französisch und bedeutet 'der Unvollständige'.« Woher die Inspiration für den Namen kam, war gar nicht so schwer zu erraten. Denn als ich klein war, habe ich massenweise Disneyfilme geschaut und ich liebte sie bis heute immer noch.
»Gefällt mir«, sagte Quasimodo.
»Ich hab noch eine Frage«, warf ich schnell ein, bevor er verschwinden konnte, oder durch die nächste Wand ging, sofern er dazu im Stande war. »Wieso kann nur ich dich sehen oder hören? Was bist du eigentlich?«
»Ihr würdet sagen ich wäre so etwas wie ein Geist. In der Geisterwelt können mich alle sehen, an manchen Orten aber auch nur die, die wissen das es mich gibt. In deiner Welt können nur bestimmte Leute, mit besonderen Fähigkeiten mich sehen. So wie du eben.« Okay, das wird langsam alles ziemlich komisch.
»Und ich soll einer dieser besonderen Menschen sein?«, fragte ich ungläubig. »Und gibt es noch mehrere davon?«
»Bis jetzt bist du die einzige«, antwortete Quasimodo. »Auch meine Präsenz können die anderen nicht spüren, das kannst nur du. Für sie bin ich lediglich ein leichter Windhauch.«
»Dann warst du das auf dem Flughafen?«
»Fanny?« Die Tür hinter mir ging auf und Ethan steckte den Kopf hinein. »Alles okay? Mit wem sprichst du da?«
»Ähhhh … mit mir selber?« Richtig überzeugend klang das nicht gerade und ich sah wie Ethan die Stirn runzelte.
»Kommst du wieder rein?«
»Ja, natürlich. Tschuldigung.« Ich schlüpfte an ihm vorbei und betrat wieder den Speisesaal. Viel schlimmer konnte es doch jetzt nicht mehr kommen.
Das Essen verlief weiter ohne Zwischenfälle – Gott sei dank – und auch Quasimodo verhielt sich ruhig. Als sich dann langsam alle vom Tisch nacheinander entfernten, um anderen Dingen nachzugehen, saßen nur noch Grandpa und ich am Tisch. Ein unangenehmes Schweigen erfüllte den Raum und ich fand weder den Mut einfach aufzustehen, noch die Stille zu brechen und ein Gespräch anzufangen, zumal der Streit von Heute immer noch in meinem Kopf schwirrte.
Hoffentlich war Grandpa nicht immer noch sauer deswegen.
Mein Teller zierten noch ein Viertel des Essens, aber ich hatte irgendwie den Appetit verloren. Es gab so viele Sachen über die ich nachdenken musste und das Gespräch zwischen Grandpa und Granny, war nicht gerade erheiternd gewesen. Und auch die erneute Begegnung mit Quasimodo hatte mich wieder mal aus dem Konzept gebracht. Alle merkwürdigen Dinge die mir widerfahren waren, wurden immer wieder erneut aufgewühlt, sodass ich sie nicht vergessen konnte.
Zu meiner Erleichterung musste ich nicht mehr lange sitzen bleiben und mich unwohl fühlen. Ein Bediensteter kam herbei und räumte meinen Teller ab.
»Ich hoffe es hat Euch geschmeckt.«
»Ja, danke, es war sehr lecker. Nur leider habe ich nicht alles geschafft.« Er erwiderte meine Aussage mit einem Lächeln und verschwand in der Küche. Ich wollte mich ebenfalls verdrücken und stand auf.
»Du siehst genauso aus wie sie« , sagte Grandpa, als ich auf dem Weg zur Tür war. Ich drehte mich um und starrte ihn an. Wen meinte er mit sie? »Wie aus dem Gesicht geschnitten bist du ihr. Meiner lieben Emma.« Emma? »In deinem Alter war sie genauso bildschön wie du.« Sein Gerede verwirrte mich, aber so weit hatte ich verstanden, das Emma eine Frau oder Mädchen war, das Grandpa sehr gut kannte und die mir sehr ähnlich sah.
»Was ist aus ihr geworden?«, fragte ich.
Er schaute mir direkt in die Augen und antwortete ernst und ehrlich: »Sie ist nicht mehr hier. Sie ist tot.«
Noch nachdenklicher als zuvor ging ich die Treppen hinauf zu meinem Zimmer. Grandpa hatte so traurig ausgesehen, dass ich nicht weiter fragen wollte, wer denn diese Emma gewesen sei. Sie musste ihm auf jeden Fall sehr am Herzen gelegen haben, wenn er so reagierte.
Auf meinen Weg nach oben kam ich an der Bibliothek vorbei, aus der ich Stimmen vernahm. Ich pirschte mich an die Tür heran, die zufällig einen Spalt breit geöffnet war. Mucksmäuschenstill lehnte ich an dem Holz und lauschte dem angeregten Gespräch, welches da drinnen stattfand.
»Wenn es so ist wie deine Granny sagt,«, hörte ich Noah sagen, »dann wird in nächster Zeit schlimmes auf uns zukommen.«
»Dann sollten wir den anderen so schnell wie möglich bescheid geben«, meinte Ethan und Noah stimmte ihm zu.
»Es steht weitaus mehr auf dem Spiel als wir vermutet haben. Der Kreis der Fünf wird wieder auferstehen und das müssen wir verhindern. Wenn sie sich zusammenfinden und es in die Hände bekommen ist alles verloren.« Der Kreis der Fünf? Wovon reden die da bitte? »Aber viel wichtiger ist deine Cousine.« Nun horchte ich noch mehr auf als sonst. »Wir müssen sie im Auge behalten Ethan. Was wenn sie es ist?«
»Ich weiß. Es fängt langsam an. Wenn wir nicht aufpassen gerät sie noch in große Gefahr.« Was fängt an? Wieso soll ich in Gefahr sein? Es war so schlimm im Dunkeln zu tappen und nur Leute um sich zu haben, die von Geheimnissen nur umhüllt waren. Wann sollte ich endlich die Wahrheit erfahren?
Grübelnd saß ich in meinem Zimmer auf meinem Bett. Ich versuchte alles zusammen zu fassen, was seit dem Umzug geschehen ist. Da ich kurz davor war den Überblick zu verlieren, war dies keine schlechte Idee. In Gedanken machte ich mir also eine Liste:

Mum und Dad sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen
Grandpa hat sich bei mir aufgenommen (Widerwillig?)
Mein Cousin Ethan ist ein sehr netter Typ und ich verstehe mich gut mit ihm, ebenso wie mit seinen Eltern und seiner Granny
Seit ich hier wohne, habe ich seltsame Träume, die sehr real erscheinen
Ethans Freund Noah erschien mir schon einige Male im Traum
Es gibt anscheinend so etwas wie Traumjäger und ich scheine eine von ihnen zu sein
Traumfresser ist vermutlich eine andere Bezeichnung für Alpträume und Monster die an Macht gewinnen, je mehr Angst man vor ihnen hat
Neben der 'Traumwelt' gibt es noch eine Geisterwelt, die parallel zu unserer liegt
Ich kann meinen Geist von meinem Körper lösen und mich frei in dieser Welt bewegen
Quasimodo ist so etwas wie mein 'Ratgeber' oder 'Beschützer', der sich unsichtbar machen kann und ein Geist ist (oder so etwas in der Art)
Noah gehört zu diesem Traumjägerverein, Ethan wahrscheinlich auch
Beide wissen mehr als ich, Noah hat mir nur Bruchstücke von dem erzählt, was ich wissen sollte
Granny Croft kann in die Zukunft sehen oder sie hat ähnliche epileptische Anfälle
Noah war mir unheimlich, jetzt ist er nur noch gemein und ein Arschloch
Ich bin noch verwirrter als am Anfang

Die Liste verschaffte mir zwar einen Überblick, brachte mich aber nicht wirklich weiter. Ich hatte keine Ahnung wie ich an diese ganze Sache ran gehen sollte. Helfen konnte mir auch niemand wirklich. Quasimodo könnte zwar viel wissen – ich ging davon aus, das er schon lange lebte (zumindest hatte es sich so angehört) – aber ob das nützlich für mich wäre oder mich eher noch mehr verwirrte, da konnte ich mir nicht sicher sein.
Seufzend ließ ich mich nach hinten fallen und schrie frustriert in ein Kissen. Wieso gibt es kein Buch oder etwas anderes, das mir Antworten gibt?

Kapitel 16

 

Unruhig wälzte ich mich im Bett hin und her. Seit Stunden konnte ich nicht schlafen und dabei war es gerade mal kurz nach zehn. Zwar war morgen keine Schule, aber ich hatte nicht noch den Elan irgendwas an diesem Abend anzustellen. Ich dachte ein bisschen mehr Schlaf würde vielleicht gut tun und mir eine gute Idee bringen, aber zum schlafen kam ich ja nicht mal.

Die ganze Zeit schwirrten die Sätze in meinem Kopf herum, die ich von den Jungs gehört hatte. ›Es würde bald schreckliches passieren. Der Kreis der Fünf erhebt sich wieder. Ich sei in Gefahr. Man müsse auf mich Acht geben.‹ Ich verstand nichts von alledem. Mit einem Buch versuchte ich das alles ein bisschen beiseite zu dränge, doch das brachte rein gar nichts. Schon nach drei Minuten hatte ich den Wälzer zur Seite gelegt.

Ich musste jetzt endlich wissen was hier vor sich ging, sonst würde ich noch komplett durchdrehen. In meinen flauschigen Pantoffeln schlüpfte ich aus meinem Zimmer und huschte den Gang entlang. Vor Ethans Tür machte ich halt, versicherte mich, dass niemand mich beobachten würde und drückte die Klinke leise hinunter. Doch schon ein kurzer Blick ins Zimmer verriet mir, das sich meine zwei Jäger nicht in ihren Betten befanden – wie angenommen. Ich schlüpfte wieder in den Gang und ging weiter. Mein Ziel war die Bibliothek. Anscheinend waren sie immer noch da und durchwühlten die Bücher nach irgendwelchen Antworten.

Gerade als ich um die nächste Ecke bog, stolperte ich über eine Falte im Teppich und legte einen Bühnenreifen Sturz hin. Mit dem Gesicht auf dem Boden lag ich da und sah für einen Moment die Sterne tanzen. Das hat definitiv wehgetan.

Fluchend rappelte ich mich hoch und rieb mir die Knie. Doch als ich nachschauen wollte, ob meine Knie den Sturz überlebt haben und meine Kniescheibe nicht den Flur schmückte, bekam ich einen Schreck. »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, murmelte ich und starrte entsetzt auf meinen Körper, der immer noch am Boden lag. Es ist schon wieder passiert! Prüfend ließ ich meine Hand durch die Wand gleiten und musste mit ansehen wie sie darin verschwand und wieder auftauchte, sobald ich sie zurückzog.

»Ganz ruhig«, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. »Das geht wieder vorbei.« Schließlich hatte das auch Quasimodo gesagt.

In meiner Geisterform setzte ich meinen Weg fort. Das einzige was mich ein bisschen verwirrte war, dass sich meine Umgebung etwas verändert hatte. Wie in der Schule war alles dunkler und schimmerte in verschiedenen dunklen Farben. Es kam mir so vor, als ob überall Ölflecken an der Wand wären, die trotz der Dunkelheit bunt schimmerten aber die Atmosphäre nicht gerade besser dadurch wirkte, sondern eher noch etwas verstörter.

Ich erreichte die Bibliothek und blieb erst mal davor stehen. Erst wollte ich vorsichtig die Tür aufmachen, doch dann entsann ich mich, dass ich ja durch Wände gehen konnte. Mit einem Schritt war ich durch die Tür hindurch geschlüpft und durfte mich sogleich an warmen Kerzenschein erfreuen. Hier und da brannten Kerzenleuchter, ein paar Petroleumlampen, die aber statt Öl, mit einer Batterie betrieben wurden und das Licht vom Kronleuchter an der Decke war gedämmt. Das alles gab dem ganzen Raum etwas altes und geheimnisvolles, aber auch zugleich eine romantische Stimmung. Nur war außer mir niemand hier.

Bücher lagen überall auf dem Boden herum – einige waren aufgeschlagen, andere gestapelt – und gaben dem ganzen den Eindruck, als wäre hier eine Horde von Wissbegierigen Studenten oder fanatischen Professoren durch den Raum gefegt, die verzweifelt nach einer Antwort suchten. Überall sah ich Bücher, aber vom wissbegierigen Täter fehlte jede Spur. Ich schaute überall nach, fand aber niemanden. Dafür entdeckte ich ein Bücherregal, welches leicht zur Seite geschoben war und hinter dem ein schwaches Licht leuchtete. Neugierig ging ich darauf zu und schaute durch das Regal auf die andere Seite. Dahinter befand sich eine Art Mini-Bibliothek, die mir bisher noch unbekannt war.

Dort standen ebenso Schränke voll mit Büchern, und sogar alte Papierrollen waren auch dabei, aber es waren nicht so viele – ein sechzehntel oder sogar noch weniger. Der Boden war mit einem Teppich ausgelegt und in der Mitte fand man sogar einen kleinen Tisch und drei Sessel. Alles wirkte wie eine Art Miniaturnachbau der großen Bibliothek.

Wie in dem Raum zuvor befanden sich auch hier etliche Bücher aufgeschlagen oder gestapelt auf dem Boden. Und mitten in diesem Chaos saßen mein Cousin und sein Freund, die eifrig in den Büchern blätterten.

»Hast du schon was gefunden?«, fragte Noah Ethan.

»Nein, noch nicht«, erwiderte dieser und schüttelte mit dem Kopf, während er weiter sein Buch überflog. In diesem Raum brannten ebenfalls ein paar, von den Batterie betriebenen, Lampen und neben den beiden Suchern lagen Taschenlampen.

Bei beiden konnte ich ihre Seelenflamme sehen, die in einem reinen Weiß leuchtete. Gegen sie schienen die Traumfresser keine Chance zu haben.

Für ein normales menschliches Auge, würde der Raum teilweise beleuchtet sein, doch die Ecken blieben dennoch dunkel. Man würde nicht sehen, was sich dort befinden würde. Doch aus irgendeinem Grund (ich schob es auf die Tatsache das ich ein Geist war) nahm ich alles ein bisschen anders wahr. So konnte ich außer den beleuchteten Bereich, auch in die Ecken und Winkel schauen, die sich im Schatten versteckten und bekam sogleich einen Schrecken, als ich, auf der rechten oberen Hälfte eines Schranks, ein kleines Wesen erblickte. Es kroch auf allen Vieren und erinnerte mich an eine Art Echse, so wie es sich bewegte. Die Augen waren rot und glubschig, sodass man sie auf keinen Fall übersehen hätte können – nahezu unmöglich bei der Größe. Aus diesen starrte mich das Vieh an. Es legte seinen Kopf schief und machte ein kleines grunzendes Geräusch, dass ich keiner mir bekannten Tierart zuordnen konnte. Die schuppige Haut schimmerte leicht im Licht und ließ ein Muster von dunkelgrün und schwarz erkennen. Die Beine wirkten knochig und scharf, - aufgrund ihrer merkwürdigen Form, die wie Keil aussah - ebenso wie die Krallen.

Ich stand da wie erstarrt und bewegte mich nicht, solange das kleine Wesen auch keine Bewegung machte. Ganz ruhig, versuchte ich mir gut zuzureden. Solange du keine plötzlichen Bewegungen machst ist alles gut. Ich hatte nämlich mal gelesen, dass Tiere bei solchen auf einmal angreifen können, aus dem Grund, dass sie sich bedroht fühlten und glaubten sich schützen zu müssen. Das ich aber mehr Angst hatte und mich nur schützen wollten, indem ich die Flucht ergriff, dass wusste das Vieh natürlich nicht.

Selbst wenn ich in dem Moment gerne zur Fluchtmöglichkeit gegriffen hätte, und bei meinem Geistdasein wäre das wahrlich nicht unmöglich gewesen, konnte ich mich nicht bewegen. Wie versteinert stand ich da und wagte es kaum zu atmen. Das kleine Echsenartige Vieh stierte mich weiter aus den großen roten Augen an. Aus seinem Mund schob sich eine blaue, lange Zunge hervor, mit der es sich fast über das ganze Gesicht leckte.

Dann, wie bei einer Heuschrecke, stieß sich der Kleine ab und sprang auf mich zu. Mit nach vorne gestreckten Krallen und aufgerissenem Maul, steuerte es auf mich zu und ließ dabei einen Angriffsschrei los, der mir durch Mark und Bein ging. Während des Sprungs, der Rekordverdächtig schnell und weit war, riss ich geistesgegenwärtig die Arme hoch und stieß einen gellen Schrei aus (des Schrecks wegen vermutete ich, aber so genau weiß ich auch nicht warum ich geschrien habe - vermutlich ein Reflex). Doch kurz bevor die kleine Echse mich erreichen konnte, prallte sie gegen eine Art unsichtbare Mauer und wurde zurück in eines der Regale geschleudert. Bücher flogen heraus und fielen zu Boden. Der ganze Schrank zitterte unter dem Aufprall.

Noah und Ethan schauten überrascht auf und wandten sich sofort von ihrer derzeitigen Beschäftigung ab, um dem Grund dieses Mysterium nachzugehen. Denn sie konnten ja nicht sehen, was da gegen den Schrank geknallt ist. Ich aber schon.

Mich selbst hatte es auch zu Boden geworfen, da der Rückstoß, von was auch immer das war, zu groß war, als das ich hätte stehen bleiben können. Meine Landung war zwar nicht sanft, aber ich war froh, dass mich das komische Vieh nicht erwischt hatte. Dieses rappelte sich grunzend wieder auf und musste sich erst mal wieder neu orientieren. Da es nun aus den dunklen Schatten herausgetreten war, konnte ich in dem schwachen Licht das ganze Ausmaß seines bizarren Körpers erblicken. Wie ich bereits vermutet hatte, handelte es sich bei meinem kleinen Angreifer um eine Art Echse, die aber mehr wie eine Kreuzung zwischen Schlange, Frosch und noch etwas anderem, was ich nicht definieren konnte, aussah. Das hatte sich wieder nach meinem überraschenden Gegenangriff erholt, und startete einen zweiten Versuch an mich heranzukommen. Aber das wollte ich auf keinen Fall zulassen. Ehe die Nachricht Du musst verschwinden! In meinem Kopf ankam, übernahmen meine Beine das Denken und fingen an von allein zu rennen. Ich rannte den Gang zurück, durch die Geheimtür hindurch und stand wieder mitten in der großen Bibliothek. Ehe ich mich entscheiden konnte, in welche Richtung ich denn flüchten sollte, kam das Echsenvieh ebenfalls durch die Tür gesprungen und war so schnell bei mir, dass ich keine Chance hatte auszuweichen. Tief bohrten sich die kleinen scharfen Zähne in mein linkes Bein und ich schrie auf, stolperte rückwärts und fiel auf den Boden. Meine Hände griffen nach dem Körper des glubschäugigen Wesens und versuchten es zum loslassen zu bewegen. Doch kaum hatte ich das Biest mit beiden Händen angefasst, verwandelten sich die Schuppen in spitze Stacheln, die meine Hände durchbohrten. Der Schmerz an meinem Bein war schon unerträglich, aber zusammen mit den an meinen Händen war es die Hölle. Vor lauter Schmerzen, kam kein Wort über meine Lippen. Als hätte mir jemand die Kehle zugeschnürt. Ich presste die Lippen fest aufeinander und zog meine Hände von dem Vieh. Blut floss über meine Hände und an einigen Stellen waren kleine schwarze Löcher, an denen man die Einstiche sehen konnte.

»Verschwinde du blödes Vieh!«, schrie ich wütend und machte eine Handbewegung in der Luft, so als wollte ich etwas weg schlagen. Erneut wurde das kleine Monster, wie von Zauberhand, weg geschleudert und prallte gegen das nächste Bücherregal. Für einige Momente regte es sich nicht mehr und ich konnte wieder zu Atem kommen. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter und ich erschreckte mich dermaßen, dass ich sie aus lauter Reflex weg schlug.

»Hey. Hey, FannyBunnny ich bin's nur«, sagte eine sanfte Stimme beruhigend und ich schaute meinem Gegenüber ins Gesicht.

»Noah!?«, keuchte ich überrascht. Er war es wirklich. »Aber wie … du warst doch eben noch …« Ich verstand überhaupt nichts mehr, was vermutlich mit dem Schock zusammen hing, den ich erlitten hab, als das blöde Monstervieh mich angegriffen hatte.

»Ganz ruhig, alles gut. Dir passiert nichts mehr.«, sagte er und strich mir beruhigend durchs Haar. Dann nahm er meine beiden Hände vorsichtig in die Hand und strich ganz sanft über die Verletzungen. »Tut es sehr weh?«, erkundigte er sich und schaute mir dabei direkt ins Gesicht (offensichtlich um zu sehen, ob ich ihm etwas vorlügen würde, um die Tapfere zu spielen).

»Leg du mal deine Hand unter eine Nähmaschine und ich sticke ein Muster auf deinen Handrücken, dann kannst du die Frage nochmal stellen«, brachte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Noah schenkte mir ein Schmunzeln und schüttelte den Kopf. »Selbst wenn du dem Tod nahe wärst, würdest du noch Witze reißen oder?«

»Na aber sicher doch. Schließlich will ich, das man mich fröhlich und lustig in Erinnerung behält. Und nicht als jammerndes Irgendwas, das sich wünscht all die Fehler in der Vergangenheit rückgängig machen zu können«, gab ich zurück und konnte mir sogar ein Grinsen abringen, auch wenn der Schmerz größtenteils durch meinen Körper raste.

»Das werd ich auf deinen Grabstein meißeln lassen«, sagte Noah und grinste ebenfalls. Keine so schlechte Idee. Er widmete sich wieder meinen Händen. »Zum Glück ist das keine all zu schwere Verletzung. Die kann sogar ich heilen. Aber bei deinem Bein sieht das anders aus.« Er inspizierte vorsichtig die Verletzung am Bein. Die Zähne hatten sich wirklich tief hinein gebohrt, das konnte sogar ich erkennen in dem schummrigen Licht. Dann nahm er wieder meine beiden Hände, strich sanft einmal über die eine, murmelte etwas unverständliches und tat das gleiche bei der anderen. Als er fertig war mit seiner magischen Vollführung, waren meine Hände wieder vollkommen verheilt. Nicht mal eine Narbe war zurückgeblieben. Verwundert schaute ich ihn an. Wer ist er?

»Noah. Was ist passiert?« Ethan kam hinter der geheimen Tür hervor. Zielsicher kam er auf uns beide zu. »Fanny?«

»Hallo Ethan«, begrüßte ich ihn unsicher. »Wieso kann er mich sehen?«, fragte ich dann leise Noah zu und schaute ihn erwartungsvoll an. Er war mir eine Erklärung schuldig. Doch nicht nur mir wie es schien.

»Noah was hat das zu bedeuten? Warum ist Fanny-«

»Eine lange Geschichte mein Freund«, unterbrach er ihn. »Aber das können wir später klären. Ich bring sie am besten sofort zum alten Mann. Kümmerst du dich um den Rest hier?« Er wies mit dem Kopf in die Richtung des kleinen Monsters, das sich nun langsam wieder zu regen begann.

»Klar, wie du meinst. Aber danach müssen wir uns unterhalten.« Ethan schien nicht gerade begeistert davon zu sein, dass ich ebenfalls die Sachen konnte, wie er und sein Freund.

»Ich werde dir alles erklären«, versprach Noah. »Es tut mir leid, das du es so erfahren musstest.« Ethan bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, der aber nicht sehr lange hielt. Schon nach wenigen Sekunden erweichte sein Blick. »Schon in Ordnung. Aber sei vorsichtig. In der Nähe des Hyde-Parks soll seit kurzem jemand sein Unwesen treiben. Pass mir gut auf Fanny auf.«

»Du weist doch, das ich mein Leben für sie geben würde.« Ich errötete Augenblicklich. Was sollte das denn?Mochte er mich etwa doch?

»Weiß ich. Das würde ich auch.« Was?! Um Himmelswillen, was ging denn hier bitte ab?!

»Also dann los.« Ehe ich mich versah, hatte Noah mich hochgehoben und zum Fenster getragen. Er öffnete es und stieg auf den Fenstersims. Ich starrte in die Tiefe, die sich unter mir erstreckte. Es war schon dunkel und am Himmel strahlten die Sterne. Der Mond hing in einer Sichel an der schwarzen Himmelscheibe. Eine dunkle Vorahnung beschlich mich.

»Warte du hast jetzt nicht im Ernst vor da runter zu springen?! Willst du mich umbringen?!« Die Frage war nur, ob man als Geist überhaupt sterben konnte.

»Was denkst du wie wir sonst am schnellsten ans andere Ende der Stadt kommen?« Er schaute mir ins Gesicht und grinste mich an. »Halt dich gut fest, damit du mir nicht noch verloren gehst.«

»Nein, warte!« Doch zu spät. Schon hatte er sich vom Fensterbrett abgestoßen und ich schloss meine Augen und krallte mich in Noahs Shirt fest. Als ich mich wunderte, warum wir nicht schon auf dem Boden aufgeschlagen sind, öffnete ich vorsichtig meine Augen und staunte nicht schlecht, als wir hoch über den Dächern durch die Nacht segelten.

»Du kannst fliegen?«, fragte ich Noah verblüfft, doch der lachte nur auf meine Frage hin.

»Nicht ganz. Aber eine enorme Sprungkraft habe ich, die mir das ermöglicht. Außerdem ist man als Geist nicht so schwer, sodass die Anziehungskraft nur einen kleinen Teil auf uns ausübt.« Das hörte sich logisch an.

»Und wo willst du hin?«

»Das wirst du schon sehen.«

Ich kam mir wie in einen dieser Animes oder Fantasyfilme vor, in denen die Charaktere eine unglaubliche Sprungkraft besitzen und über Häuser springen können. Ab und zu musste Noah wieder von irgendwo sich abstoßen, da er nicht ewig durch die Luft fliegen konnte. Doch er kam schnell voran und wenig später landete er auf einem Dach eines Mehrfamilienhauses. Er setzte mich ab und ich fragte mich ob wir schon da wären, doch danach sah es irgendwie nicht aus. Und ich hatte auch Recht. Wortlos kramte Noah ein Stück Stoff hervor, das wie ein Taschentuch aussah.

»Moment mal, was soll das werden? Sind wir jetzt beim Geheimdienst oder was? Du willst mir doch nicht ernsthaft die Augen verbinden, damit ich den Weg zu eurem Geheimversteck nicht finde. Das ist doch albern.«

»Anders geht es nicht«, entgegnete Noah und verband mir die Augen, auch wenn ich mich wehrte. Doch ehe ich das Taschentuch abnehmen konnte, packte mich mein Begleiter (oder sollte ich besser Entführer sagen?) grob an den Armen und flüsterte mir ins Ohr: »Sei froh das ich dir nicht noch die Hände zusammenbinde. Dann wärst du vollkommen wehrlos.« Bei diesen Worten lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

»Du bist aber nicht so jemand, der die Situation schamlos ausnutzen würde«, sprach ich meine Bedenken aus. »Oder?« Ich konnte mir Noahs Gesicht nur vorstellen. Würde er belustigt sein? Ernst? Enttäuscht? Sauer? Oder machte er wieder ein Gesicht, das man gar nicht deuten kann?

»Hältst du mich für so eine Person?« Keine Emotion in seiner Frage.

»Ich weiß nicht was ich von dir als Person halten soll«, gab ich ehrlich zurück. »Du bist so gefühllos wie ein Stein.« Noah lachte leise in sich hinein.

»Das Thema verschieben wir auf ein andermal.« Er hob mich wieder hoch und diesmal konnte ich mir ein Quieken nicht verkneifen, weil es so überraschend kam. Was verbarg Noah? Wer war er eigentlich wirklich? Ich werde aus ihm einfach nicht schlau.

 

 

Kapitel 17

 

Der Wind fuhr mir bei den Sprüngen durch mein Haar. Aber die Kälte spürte ich so gut wie fast gar nicht. Es war irgendwie anders als in meinem richtigen Körper. Dieses Gefühl konnte mein einfach nicht beschreiben, es war einfach befremdlich. Ich fragte mich, ob das alle Menschen zu so etwas in der Lage seien. Denn offensichtlich bin ich nicht die Einzige, die so etwas kann.

»Wir sind da«, sagte Noah und ich hatte gar nicht gemerkt wie schnell es gegangen war. Wir konnten wer weiß wo sein, bei dem Tempo mit dem wir unterwegs waren.

»Kann ich die Augenbinde abnehmen?«, fragte ich zögerlich.

»Warte noch.« Ich hörte wie Noah eine alte Tür öffnete, die mal dringend ein paar neue Öltropfen sehr gut vertragen könnte, und wir den Raum dahinter betraten. Dieser war aus Holz wenn ich mich nicht täuschte und gut beheizt.

Noah blieb vor irgendwas stehen. Dann bekam ich auf einmal so ein komisches Gefühl, wie als würde sich etwas verändern in dem Raum. Eine weitere Tür wurde geöffnet und wir gingen hinein. (Also Noah lief ja, ich wurde getragen.) Schritte waren zu hören, die von einer anderen Person kamen und dann sprach dieser jemand Noah an.

»Wer ist das?« Moment mal! Die Stimme kam mir bekannt vor.

»Das tut nichts zur Sache. Sie ist verletzt. Möglicherweise auch vergiftet. Ich brauche deine Hilfe.« Vergiftet?!

»Gut komm mit.«

»Darf ich sie jetzt abnehmen?«, flüsterte ich leise.

»Noch nicht«, sagte Noah. Er ging in einen Raum und setzte mich dort auf eine Art Liege, wie man sie in Arztpraxen meist vorfindet. Dann wurde mir die Augenbinde abgenommen und ich musste einige Male blinzeln, bis ich was erkennen konnte. Ich war in eine Art Behandlungszimmer geraten, was nicht besonders groß war, dafür aber vollgestopft mit unzählige Schränke und Fläschchen mit komisch aussehenden Flüssigkeiten und Instrumenten. Aber besonders fiel mir der junge Mann auf, dessen Stimme so vertraut geklungen hatte. Als sich unsere Blicke kreuzten, schnappten wir beide gleichzeitig nach Luft.

»Du!?«, kam es zeitgleich aus uns heraus. Das ist doch der Student, den ich schon mal getroffen hatte, in meinem Traum.

»Ihr kennt euch?« Noah stand mit verschränkten Armen vor der Brust an einen Schrank gelehnt und schaute uns verwirrt an.

»Sie war diejenige, die ich vor ein paar Tagen in der Bibliothek getroffen habe«, erklärte der junge Mann. »Aber ich hatte gedacht, das sie schon etwas drauf hatte. Schließlich besaß sie die nötigen Begabungen. An dem Tag hieß es das jemand neues heute kommen würde – zur Probe – und ich dachte sie wäre das gewesen.«

»Er hat mich in ein Buch hinein befördert, wo ich fast von einem Schattenwesen zerfleischt worden wäre«, setzte ich hinzu. Also war das doch kein Traum gewesen. »Ich weiß ja nicht was ihr unter Monster der Stufe eins versteht, aber das Ding zählte garantiert nicht zu den Fliegengewichten.«

»Oh man, das gibt mehr Ärger als ich gedacht habe.« Noah fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte.

»Darüber können wir uns später Gedanken machen. Zeig mal dein Bein«, sagte der Student und ich hob das verletzte Bein an, damit er es sich genauer ansehen konnte. »Hat unser kleiner Störenfried auch einen Namen?« Jetzt war ich also schon ein Störenfried?

»Fanny«, übernahm Noah das reden. »Fanny Haddington.«

»Die Fanny Haddington?«, fragte er verwundert, so als ob er es nicht fassen könne, dass ich diese Person sei. »Die Tochter von-«

»Eben die.«

»Das nenne ich mal eine Überraschung.«

»Und mit wem hab ich das Vergnügen?«, fragte ich den jungen Mann, um auch mal zu Wort zu kommen.

»Kaleb«, stellte er sich vor.

»Mein Mentor«, setzte Noah hinzu und ich runzelte die Stirn.

»Mentor wie Lehrer? Was unterrichtet er dich denn?« Nahm Noah etwa Nachhilfestunden? Aber das konnte ich mir schlecht vorstellen. Er war doch so ein guter Schüler – merkte man ja schon bei meinen Nachhilfestunden die er mir gab.

»Das klären wir später. Jetzt lass uns erst mal das hier zu ende bringen.« Er wandte sich an Kaleb. »Wie sieht's aus? Geht es so wie ich es mir gedacht habe?«

»Das dürfte kein Problem sein, nur …«

»Nur was?«, fragte Noah ein bisschen genervt.

»Es würde etwas schmerzhaft werden?«

»Wie … schmerzhaft?«, kam es aus mir herausgeschossen. Der Gedanke nur daran, was sie alles mit meinem Bein anstellen würden machte mir Angst. Ich war kurz davor die Flucht zu ergreifen, auch wenn ich nicht wusste wohin. »Was habt ihr vor?« Ich machte Anstalten von der Liege zu rutschen und zu gehen, doch Kaleb hielt mein Bein fest, das immer noch blutete.

»Halt still! Wenn du dich zu viel bewegst, verteilt sich das Gift in deiner Seele noch mehr. Das kann zu sehr schweren Schäden kommen, wenn man das nicht sofort behandelt.«

»Gift?!« Ich dachte ich hörte nicht richtig. Ich war also tatsächlich vergiftet. Vor meinem inneren Auge sah ich schon mein ganzes Leben an mir vorüberziehen. Aber ich war doch noch so jung. Ich wollte noch nicht sterben!

»Es ist zum Glück noch nicht weit im Körper vorgedrungen. Wenn wir schnell handeln können wir es noch beseitigen.« Ehe ich es verhindern konnte, hatte Kaleb Noah ein Zeichen gegeben und der war zu ihm an seine Seite getreten. Beide legten sie ihre Hand auf die Bissstelle und murmelten etwas unverständliches (wie Noah das schon mal getan hatte). Auf einmal durchzuckte mich eine Welle Schmerz und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Ich wollte schreien, doch über meine Lippen kam nicht mehr als ein erstickender Laut. Meine Hände krallten sich in die Liege, weil mir auf einmal schwindelig wurde. Diese Schmerzen raubten mir den Verstand und ich war mir sicher, dass ich das lange nicht mehr aushalten würde. Ein unerträgliches Ziehen ging von dem Bein aus und verteilte sich fast im ganzen Körper, gefolgt von Nadel ähnlichen Stichen. Es war so unerträglich das ich nur noch sterben wollte und wie ich es befürchtet hatte, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen. Dankbar ließ ich mich in die Arme der Bewusstlosigkeit fallen.

 

»Wie lange wird es dauern bis sie wieder bei Bewusstsein ist?«, hörte ich eine Stimme fragen. Um mich herum war noch alles dunkel. Ich nahm klappernde Geräusche war, wie von Gläsern, die gegeneinander schlugen und Stimmen. Doch die waren sehr dumpf und teilweise unverständlich.

»Das kann noch eine Weile dauern. Anscheinend war das doch ein wenig zu viel für sie.« Das war Kaleb.

»Man ist das alles nervig. Und wo bleibt Ethan nur? Er hätte schon längst hier sein müssen.« Noahs genervten Ton würde ich unter hunderten wieder erkennen.

Langsam konnte ich nicht mehr richtig zuhören. Das alles war ziemlich anstrengend und machte mich wieder unglaublich müde. Doch dann hörte ich etwas, das mich alle Müdigkeit vergessen ließ.

»Glaubst du sie wird das alles verstehen und unserer Sache beitreten?«, fragte Kaleb.

»Es ist gewissermaßen ihre Pflicht, mit der sie geboren wurde.«

»Aber sie ist anders aufgewachsen als wir. Sie weiß nichts von dem Kampf, den wir bestreiten müssen und weiß überhaupt nicht, zu was sie im Stande ist. Wenn sie nicht bald jemand einweiht, wird sie großer Gefahr ausgesetzt sein«, bedachte Kaleb.

»Wir aber dann ebenso. Aus irgendeinem Grund, scheint jeder es auf sie abgesehen zu haben, was uns zusätzliche Schwierigkeiten bereitet. Die Traumfresser erreichen bei ihr immer ein enormes Ausmaß an Stärke, die man alleine nicht bezwingen kann. Es wäre besser wenn sie irgendwohin käme, wo keiner dieser Schattenkämpfer erreichen kann.«

»Man kann sich nicht vor ihnen verstecken. Ist dir das nicht klar? Das einzige was wir tun können, ist sie darauf vorzubereiten und zu beschützen«, beharrte Kaleb weiter auf seinen Vorschlag. »Ich werde den Meister darüber informieren.«

»Wann willst du das tun?«

»So schnell wie möglich.«

»Noah.« Das war Ethan. Er war also endlich hinterher gekommen. Wieso hat er so lange gebraucht? »Wie geht es ihr?«

»Ein Biss mit Vergiftung ersten Grades. Nicht was man nicht beheben könnte«, berichtete Kaleb. »Sie wird wieder. Hast du von ihren Fähigkeiten gewusst Ethan?«

»Was? Ja … Nein, das heißt, … eigentlich nicht so richtig. Irgendwie hatte ich den Verdacht, aber wirklich sicher war ich mir nicht und Noah hatte nur so merkwürdige Andeutungen gemacht. Wieso hast du mir es denn nicht gleich von Anfang an gesagt?«, wandte er sich an seinen Freund.

»Ich war mir selber nicht mal richtig sicher.«

»Wie dem auch sei«, mischte sich wieder Kaleb ein. »Seitdem das nun klar ist, wird es Zeit für sie, in unsere Sache eingeweiht zu werden.«

»Was?! Seid ihr vollkommen verrückt geworden?« Das Ethan dagegen war, konnte man nicht überhören. »Habt ihr schon mal daran gedacht, dass sie das vielleicht gar nicht will? Außerdem ist sie meine Cousine. Ich kann sie nicht zusätzlich in Gefahr bringen, wenn ich eigentlich versuche sie vor alldem zu beschützen. Wer von euch will dafür garantieren das ihr nichts passiert?«

»Niemand«, meinte Noah. »Keiner von uns kann das. Du musst auf ihre Fähigkeiten vertrauen Ethan. Sie hat in ihrem Traum einen Traumfresser der Stufe zwei ganz alleine gereinigt, ohne das ich etwas machen musste. Es kann sein das große Kräfte in ihr schlummern. Früher oder später werden sie von ganz alleine ans Licht kommen, so was lässt sich nicht vermeiden. Sie mag zwar naiv sein, aber wenn sie alles verstanden hat, wird sie damit klar kommen. Du musst ihr nur vertrauen.«

»Und was ist wenn sie das nicht will?«, gab Ethan zu bedenken. »Habt ihr daran schon mal gedacht? Sie hat erst kürzlich ihre Eltern verloren, musste in ein anderes Land ziehen und auf eine andere Schule gehen. Alles ist für sie neu und da soll sie sich auch noch mit so etwas auseinandersetzen?!«

»Wenn sie wirklich so talentiert ist wie Noah sagt,«, meinte Kaleb, »bin ich mir sicher, dass sie das schnell auf die Reihe bekommt.«

»Aber darum geht es nicht verdammt!« Ethan wurde richtig sauer. »Es geht mir um ihren seelischen Zustand. Ich bin mir nicht sicher ob ihre Psyche das alles unbeschadet verkraften wird oder sie so schnell damit fertig wird wie wir. Auf sie prasselt alles ein wie ein Hagelsturm. Uns wurde es damals Stück für Stück erklärt, bis wir es verstanden und uns damit abgefunden hatten.«

Die Auseinandersetzung der beiden Parteien ging lange und machte mir Angst, je länger sie lief und je mehr Fakten aufgetischt wurden. Für meinen Verstand war das einfach zu viel und ich wollte das nicht. Nicht jetzt.

Wenn doch nur nicht alles so plötzlich passiert wäre. Oder ich nicht unbedingt hinter das Geheimnis von Noah hätte kommen müssen. Ich habe einen Stein ins Rollen gebracht, der wiederum eine ganze Lawine losgetreten hat. Und ich hatte mir nicht wirklich was dabei gedacht. Ich war einfach zu neugierig gewesen.

Das Gespräch wurde immer hitziger zwischen den dreien und ich wollte einfach nur noch hier weg. Aber mein Körper befand sich in einer Art Schlafzustand und ich konnte mich nicht bewegen. Nicht mal die Augen konnte ich öffnen. Dabei war das hier nicht mal mein „echter“ Körper. Es war nur mein Geist, der sich von diesem gelöst hatte. Auf einmal fiel mir wieder ein was Noah mir mal gesagt hatte. Wenn ich in meinen Körper zurück wollte, musste ich mich konzentrieren und daran denken wieder dahin zurückzukehren woher mein Geist kam. Ich versuchte alles um mich herum auszublenden (was gar nicht so leicht war). Doch als es mir gelang und ich merkte wie die Stimmen allmählich unverständlicher wurden, bekam ich noch mit wie eine Tür aufgemacht wurde, eine Stimme vernahm die fragte »Was ist denn hier los?« und dann war es plötzlich still.

 

Ich schlug die Augen auf. Zumindest dachte ich, dass ich es tun würde. Aber im ersten Moment bekam ich Zweifel, da alles um mich herum schwarz war. Das blieb jedoch nur die ersten Minuten so. Als sich meine Augen endlich daran gewöhnt hatten, erkannte ich auch wo ich mich befand. Der Flur. Mein Gesicht lag gen Boden und als ich mich aufrichtete, merkte ich das der Sturz mich nicht von Schmerzen verschont hatte. Am ende des Ganges konnte ich ein Fenster sehen, durch das der Mond hell hindurch schien. Ich stand auf und rieb mir über die schmerzenden Körperteile. Außer ein paar leichten Schürfungen an meinen Knien und einigen Stellen im Armbereich, war alles in Ordnung und ich konnte noch laufen. Einige Sekunden lang stand ich einfach nur in dem dunklen Flur da und wusste nicht so richtig was ich machen sollte. Das war alles ganz schön viel auf einmal und irgendwie hatte Ethan auch recht gehabt. Das ganz Unbekannte, diese Schattenmonster und die verschiedenen Welten, die gar nicht so weit weg voneinander entfernt waren, ihre Kräfte, dass alles machte mir Angst.

Langsam machte ich mich auf in mein Zimmer. Auf dem Weg dahin war ich mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich ließ alles nochmal Revue passieren und versuchte alles miteinander zu verknüpfen was ging, um Zusammenhänge zu bekommen. Ich schloss mich ein und ließ mich ins Bett fallen. Doch den Schlaf konnte ich für heute vergessen. Tausend Gedanken rasten mir durch den Kopf, während ich die Decke anstarrte. Es war alles so verwirrend. Fast so, als ob ich einen schlechten Traum hätte, aber nicht daraus aufwachen könnte.

Es klopfte an die Tür. »Fanny?«

»Wer ist da?«

»Ich bin es, Noah. Ist alles in Ordnung?« Seine Stimme klang nicht mehr so kalt und abweisend wie sonst, sondern eher ein bisschen sorgenvoll.

»Geh weg.«

»Lass mich bitte rein.«

»Wieso?«

»Ich möchte dir alles erklären. Mach bitte die Tür auf.«

»Das brauchst du nicht mehr. Ich hab euer Gespräch mitbekommen. Ich weiß jetzt alles.«

»Nein weißt du eben nicht. Lass es mich erklären. Bitte öffne die Tür.« Flehentlich klang schon fast die Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Bitte.«

Seufzend stand ich auf, mit dem Gedanken, dass ich es vielleicht bereuen würde. Aber er würde nicht eher Ruhe geben. Ich schloss die Tür auf und ließ Noah rein. Ethan war nicht bei ihm. Wir setzten uns aufs Bett und schwiegen uns eine Weile an, bis Noah das Wort ergriff.

»Das muss alles ganz schön schwer für dich sein.«

»Nein überhaupt nicht«, antwortete ich gespielt. »Es ist das beste was mir bis jetzt passiert ist und ich finde es wahnsinnig aufregend das mich Monster jagen und fressen wollen, ich dauernd in eine Parallelwelt falle, bizarre Träume habe und meine Hände von einen auf den anderen Moment zu leuchten anfangen, mit denen ich Menschen zu Grillhähnchen verarbeiten kann. Abgesehen davon scheint jeder ein Geheimnis zu haben und ich werde von eurem komischen Klub gestalkt. Aber ansonsten geht es mir super gut und ich komme mit allem klar.«

»Ich würde dir gerne alles erklären, aber leider ist es nicht so leicht.«

»Ja das hab ich gemerkt«, entgegnete ich spöttisch. »Wenn es ums Geheimnisse haben geht, dann ist euer Klub ja wohl der Spitzenreiter.« Noah stieß einen verzweifelten Seufzer aus.

»Na schön. Eigentlich dürfte ich dir ohne Erlaubnis des Meisters gar nichts sagen, aber … unter diesen Umständen geht es wohl nicht anders.«

»Das wäre schon mal Geheimnis Nummer Eins. Wer ist der Meister

»Ihm wirst du schon noch früh genug begegnen.«

»Okay … dann, was hat es mit der Halle des Wissens auf sich? Wo liegt sie und was findet man darin? Gibt es da nur Bücher, so wie in der einen Bibliothek, in der ich in meinem Traum war?«

»Die wirst du bei Zeiten auch noch zu Gesicht bekommen.«

»Hat euer Klub überhaupt etwas mit der ganzen Sache zu tun?«

»Das wirst du demnächst erfahren.«

»Kannst du mir überhaupt eine meiner Frage konkret beantworten? Das trägt nicht gerade dazu bei, dass ich alles besser verstehe.« Ich hatte noch viel mehr Fragen, aber wenn Noah mir nicht mal eine von den eben gefragten verständlich beantworten konnte, fand ich diese Unterhaltung mehr als sinnlos.

»Es ist einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, um dir alles zu erklären. Du würdest vieles nicht verstehen, ebenso würde es zu lange dauern und ich denke das du Schlaf nachholen musst nach diesem Ereignis.« Und schon wieder wollte er mich im Ungewissen zurück lassen. Es ist einfach nur ätzend, wenn das immer wieder passiert und man mit Fragen über Fragen in der Dunkelheit zurückbleibt. Aber das einzige Licht macht sich einen Spaß aus meiner Ungewissheit und hält mich vermutlich so lange hin, bis ich ihm vollkommen ergeben bin und darum bettle. Auch wenn ich mir in manchen Momenten nicht vorstellen konnte, dass Noah zu so etwas fähig wäre, aber zutrauen würde ich es ihm schon.

»Haaaaaa! Ich hasse es, wenn man mich im Ungewissen lässt!« Ich ließ mich nach hinten auf mein Bett fallen. Das alles durfte doch wohl nicht wahr sein. Noah schaute mich aus den Augenwinkeln an und ich blickte zurück. »Morgen«, sagte ich dann mit fester Stimme. »Wenn ich Morgen nicht alles erfahre, dann werde ich weder eurem … Verein oder was auch immer ihr seid, nicht betreten. Ich will wissen woran ich bin und was hier alles überhaupt passiert.« Ein weiteres Mal würde er mir nicht ohne eine konkrete Antwort davon kommen. Dessen war ich mir sicher.

Kapitel 18

 

Ein schlechter Traum blieb mir diesmal zum Glück erspart. Ich schlief fest und lange. Das wiederum hatte zur Folge, dass ich den nächsten Tag fast vollkommen verschlief. Damit war der Samstag schon mal für mich gelaufen. Doch egal wie spät es auch war, wollte ich doch nun endlich wissen, was es mit diesem ganzen Taumfresser-bekämpfen-und-Seelenflammen-retten-Zeugs auf sich hat. Es war schon Nachmittag und ich lief träge durch das Anwesen. Ich war auf der Suche nach Noah, doch aus irgendeinem Grund fand ich hin nicht. Ethan ebenso wenig.

In der Bibliothek traf ich auf Granny Croft, die mal wieder ein Buch las. »Morgen Granny«, begrüßte ich sie.

»Morgen? Herzchen es ist schon nach zwei.« Sie lachte und sah mich genauer an. Anscheinend war ich ein belustigender Anblick mit meinen Haaren die zu Berge standen und dem zerknittertem Schlafanzug.

»Ich suche Noah. Hast du ihn gesehen?«

»Hast du ihm etwas wichtiges zu sagen? Ich dachte du kannst ihn nicht leiden.« Sie zwinkerte mir vielsagend zu. Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf.

»Ich hab keine Ahnung was ich von ihm halten soll, aber ich muss ihn dringend was fragen. Weißt du wo er ist? Ethan kann ich auch nicht finden.«

»Dann wirst hier kein Glück haben«, meinte Granny. »Die beiden sind nämlich weg.«

»Weg? Wohin denn?«

»Das weiß ich auch nicht so genau. Aber sie werden wohl erst spät heute wiederkommen.« Granny widmete sich wieder ihrem Buch.

»Okay. Danke für die Information«, verabschiedete ich mich von Granny.

»Willst du nicht bleiben? Ich könnte dir weiter vorlesen«, schlug sie mir vor.

»Danke, aber ich hab noch einiges für die Schule zu machen. Vielleicht ein andern mal.«

Den ganzen Samstag wartete ich so lange wie möglich, um Ethan und Noah abzufangen, wenn sie heim kamen. Doch als es schon nach zwölf war und immer noch keiner von den beiden zurück gekommen war, konnte ich nicht mehr länger wach bleiben und schlief schließlich ein.

Sonntag Morgen ging ich sofort zu Ethans Zimmer, doch keiner war da. Das Bett war unberührt und als ich das Personal fragte, sagten sie mir das mein Cousin auswärts übernachtet hat und gestern nicht noch einmal zurückgekommen war. So verbrachte ich den Tag damit meine Schulaufgaben zu machen und auf die Rückkehr einer der zwei zu warten. Doch auch da wartete ich vergebens.

Ich musste dauernd daran denken was in den letzten Wochen geschehen ist, aber das brachte mich einer Antwort nicht näher. Es verwirrte mich eher noch mehr. Allmählich hatte ich die Nase voll.

 

Der Mond schien hell am dunklen Sternenhimmel und erhellte die Stadt nur spärlich. Durch die vielen zahlreichen Laternen und anderen Lichter, konnten man die wahre Pracht der Sterne leider nicht betrachten. Ich ging durch die von Gaslaternen beleuchtete Straße entlang und schaute in den Fluss, der zu meiner Linken still und leise vor sich hin plätscherte. Der Mond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche wieder und strahlte in einem leicht goldgelbem Ton. Die Luft war warm und angenehm. Gerade so angenehm, das man gut ein dünnes Top und kurze Hose tragen konnte.

Die Luft roch ganz anders, als in London und als ich um die Ecke bog, wusste ich wo ich gelandet war. Der Eiffelturm erstreckte sich in der Ferne und leuchtete in voller Pracht. Es sah total romantisch aus, egal ob allein oder mit jemandem anderen zusammen. Ich war also in Paris. Genauer gesagt im Paris des 19. Jahrhunderts. Nirgendwo erblickte ich Autos oder andere Dinge, die auf das heutige Jahrhundert hinweisen würden.

Mich beschlich das Verlangen diesen Turm hinauf zu steigen, zumal ich noch nie in Paris war und dies war nun die ideale Gelegenheit. Die Aussicht musste bestimmt grandios sein. Ich ging auf den Eiffelturm zu und hatte die ganze Straße für mich alleine. Die Tatsache das ich ganz allein war, machte mich ein bisschen stutzig. Die ganze Stadt war wie ausgestorben, aber dennoch brannte hier und da Licht in den Häusern. Ich zuckte mit den Schultern und beruhigte mich mit der Ausrede, das es schon spät in der Nacht sei und damals vermutlich nicht so viele Leute zu dieser Uhrzeit auf der Straße herumliefen. Wie spät war es eigentlich? Ich ließ meinen Kopf durch die Umgebung schweifen, aber eine Uhr erblickte ich nicht.

Der große metallene Turm kam immer näher und ich freute mich schon auf die Aussicht. Meine Schritte wurden leichter und beschwingter und ich begann schon fast regelrecht zu hüpfen. Wie ein kleines aufgeregtes Kind, das sich auf ein Eis freute, hüpfte ich im Hoppserlauf zum Eiffelturm. Ich war fast schon da, als sich plötzlich etwas auf meine Schulter setzte.

»Da ist aber jemand sehr gut gelaunt«, ertönte eine Stimme.

»Quasimodo«, sagte ich überrascht. »Was machst du denn hier?«
»Na dich beschützen. Ich habe doch versprochen auf dich aufzupassen«, sagte der Geist.
»Ach wirklich?«

»Sag bloß du hast es wieder vergessen«, sagte er in einem enttäuschten Ton. »Quasimodo steht zu seinem Wort, da kannst du drauf wetten.«

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte ich ihn. »Ich glaube dir ja. Aber wovor willst du mich denn schützen?« Ich konnte mir nur schwer vorstellen, das weder ein Mörder oder sonst ein Verbrecher es auf mich abgesehen hätte, noch das dieser Geist mich beschützen konnte. Seine Stimme klang nicht gerade wie die, von einem Riesen mit Muskeln und ungeheurer Kraft. Außerdem saß er auf meiner Schulter und fühlte sich gar nicht so schwer an. Da konnte er nicht besonders groß sein.

»Kannst du dich mir nicht mal zeigen?«, fragte ich neugierig. »Ich falle bestimmt nicht in Ohnmacht.«

»Da kommt jemand.«

»Du brauchst jetzt nicht vom Thema abzulenken Quasimodo«, sagte ich ein wenig empört. Es war immer das selbe.

»Nein, wirklich. Da kommt jemand, schau.« Ich ließ meinen Blick schweifen. Da sich mein lieber kleiner Freund ja nicht sichtbar machen wollten, wusste ich auch nicht in welche Richtung er vermutlich zeigte. Wir standen direkt unter einem der großen vier Bögen des Eiffelturms und ich schaute kurz nach oben. Die Größe dieses Metallmonsters war wirklich beeindruckend und ich konnte es kaum erwarten, endlich oben angekommen zu sein.

»Wo guckst du denn hin!«, meckerte Quasimodo. »Da. Rechts von dir.«

In meinem rechten Blickfeld sah ich einen großen Mann auf mich zu kommen. Er trug einen langen schwarzen Mantel, einen Zylinder und führte einen Spazierstock an seiner linken Hand. Sein Gesicht wurde teilweise von dem Zylinder verdeckt und durch das wenige Licht konnte ich sowieso nicht viel erkennen. Er sah gar nicht aus wie ein Franzose. Eher wie ein Engländer, fand ich. Und ein bisschen alt war er auch.

»Ich verdrück mich dann mal. Machs gut.«

»Halt, warte! Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen«, beschwerte ich mich, doch da war Quasimodo schon von meiner Schulter gesprungen und verschwunden. Ich schaute wieder zu dem Mann, der gemächlichen Schrittes auf mich zu spaziert kam und zwei Meter vor mir stehen blieb.

»Guten Abend junges Fräulein«, begrüßte er mich im perfekten Englisch.

»Hallo«, grüßte ich zurück.

»Wenn Ihr die Frage erlaubt, was sucht Ihr hier noch zu so später Stunde?«
»Ich wollte mir den Eiffelturm mal ansehen«, antwortete ich ehrlich.

»Dann seid Ihr sicher nicht von hier«, schlussfolgerte er. »Wenn ihr damit einverstanden seid, würde ich euch gerne bis ganz nach oben begleiten.« Ich wusste nicht was dagegen sprach und so willigte ich ein.

Die überschwängliche Vorfreude wurde arg gebremst, als ich die vielen Treppenstufen erblickte, die alle nach oben führten. Ich schaute die Treppe hinauf, wo irgendwo in der Ferne die erste Plattform zu sehen war.

»Wollt Ihr jetzt schon aufgeben?«, fragte der Mann mit dem Zylinder. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, ich will bis ganz nach oben und wenn es die ganze Nacht dauert.« Der Fremde lächelte und stieg vor mir die Treppen hinauf. Das es die ganze Nacht dauern würde hoffte ich zwar nicht und ich befürchtete schon den Mund zu voll genommen zu haben, als ich keuchend und hechelnd wie ein Hund auf der ersten Plattform ankam. Zylindermann schwitzte nicht einen Tropfen.

»Ihr seid ganz schön fit … für einen … etwas älteren Herren«, brachte ich keuchend hervor. Und das war nicht beleidigend gemeint, sondern im Gegenteil.

»Man könnte meinen die Rollen seien vertauscht«, lachte er amüsiert und trat ans Geländer. »Von hier oben kann man zwar nicht viel sehen, aber es ist trotzdem sehr schön.« Ich schaute auf die nächtliche Sicht die sich mir bot. Es war einfach fantastisch. Zwar nicht so schön wie ein Sonnenunter- oder aufgang, aber es hatte auch seine Eigenheit. Friedlich wirkte es, aber auch gleichzeitig mysteriös.

Zylindermann neben mir schaute auf eine alte Taschenuhr, die er aus seiner Jackentasche geholt hatte. »Wenn wir noch weiter hochgehen, können wir in einer halben Stunde den Sonnenaufgang betrachten.« Das hörte sich zu verlockend an, als nein zu sagen. Und so nahm ich noch die restlichen Treppen in Kauf, die mich fast um die Standhaftigkeit meiner Beine brachten. Ich schien ein altes Wrack gegen den Mann zu sein. Dabei war ich doch um mindestens 30 Jahre jünger als er.

Es erschien mir wie eine Ewigkeit, als wir endlich auf der obersten Plattform angekommen waren. Meine Beine fühlte sich an wie Wackelpudding und mir kam es vor, als wäre ich einen Marathon gelaufen mit Hürden. Zylindermann aber, hatte weder einen Schweißtropfen auf der Stirn, noch war er außer Atem.

Das kann doch wohl nicht wahr sein. Wer ist der Typ?, spuckte es mir durch den Kopf. Gut trainiert kann er nicht nur sein. Irgendwas war komisch an ihm. Das konnte ich fühlen.

Ich trat neben ihm ans Geländer und mir entfloh ein kleines »Wow«, als ich die Aussicht sah, die sich mir da bot. Paris von so weit oben zu betrachten war der Wahnsinn und raubte mir fast den Atem. Inzwischen wurde es langsam hell und die Straßen mit den Häusern schimmerten in einem leichten hellen Grau. Die erste Schicht des Himmel wurde langsam heller und färbte sich in einen dunklen Blauton. Dann ging der Farbverlauf über zu einem Violett, dunklem Rosa und schließlich einem rot-orange. Mit jeder Minute in der es heller wurde, bekamen die Farben eine kräftigeren Ton und schließlich domestizierten nur noch Orange-, Rot- und Gelbtöne den Himmel. Hinten am Horizont schob sich langsam die Sonne hervor und erstrahlte selber in einem wunderschönen Rot. Das Licht blendete mich zwar, aber der Anblick war einfach zu schön, als weg zu sehen.

»Wunderschön«, entkam es mir.

»Ein schöner Anblick, wenn auch nur für einen kurzen Moment«, stimmte der Fremde mir zu. Für eine Weile war es still und wir schauten nur dem Sonnenaufgang zu bis...

»Psst! Hey«, flüsterte Quasimodo und setzte sich wieder auf meine Schulter.

»Was ist denn?«, zischte ich leise. »Ich dachte du hättest das Weite gesucht.« Eigentlich wollte ich mich ein wenig lustig über meinen Beschützer machen, der mich einfach alleine ließ, sobald jemand kam, aber dazu sollte ich nicht mehr kommen.

»Ich hab so ein komisches Gefühl«, sagte er und seine Stimme klang ernst. Ich fragte mich was Quasimodo wohl damit meinte, da explodierte plötzlich etwas und der Eiffelturm erzitterte.

»Was ist das?«, schrie ich fast und musste mich am Geländer festhalten, damit ich nicht aus dem Gleichgewicht kam.

»Es scheint also zu stimmen. Sie sind wirklich die Auserwählte, die alle zu suchen scheinen.« Zylindermann sah mich an und ein zufriedenes Grinsen lag auf seinen Lippen.

»Was?« Ehe ich wusste was hier überhaupt geschah, erschienen plötzlich merkwürdige Wesen auf der Plattform. Es waren diese Viecher, die ich schon einmal in der Schule gesehen hatte. Und ein kurzer Blick über das Geländer verriet mir, das noch mehr von ihnen auf den Weg nach oben waren. Wie eklige kleine Monster krochen sie den Eiffelturm hinauf. Kleine schwarze Monster, mit merkwürdigen Zeichnungen auf dem Körper und in den unterschiedlichsten Formen. »Wo kommen die alle her?«, fragte ich panisch und konnte mich nicht vom Fleck rühren, denn der, eigentlich, massive Stahlturm krachte erneut und neigte sich ein weiteres Stück. Noch ein Stück weiter und er würde umfallen, wie ein Dominostein. Panisch hielt ich mich am Geländer fest, das sich immer mehr Richtung Boden neigte.

Dem Zylindermann schien das kippen den gigantischen Metallmonsters jedoch kein bisschen zu stören. Er zog an dem Griff seines Spazierstocks und zum Vorschein kam eine geheime Klinge. Der Stock schien eine Spezialanfertigung zu sein. In einem Fechtstil brachte er die ersten Traumfresser zu Fall und hielt dabei erstaunlich gut die Balance, während der Turm sich immer weiter zur Seite neigte und dabei ächzende Geräusche von sich gab.

Ich war mir sicher, dass ich noch nie jemanden gesehen hatte, der eleganter Monster auf einem langsam kippenden Turm 300m über dem Boden kämpfen konnte. Aber vielleicht lag das auch daran, dass ich normalerweise nicht solche Sachen erlebe.

»Halt dich an mir fest«, sagte Quasimodo zu mir.

»Wie soll ich mich an dir festhalten, wenn ich dich nicht sehen kann und gerade damit beschäftigt bin nicht in die Tiefe zu stürzen, was definitiv passieren wird, wenn der Turm noch weiter kippt.« Gerade in dem Moment sprang eines der Monster auf den Mann zu. Er wich ihm geschickt aus und konnte so einen Zusammenprall vermeiden. Nun aber flog das Untier auf mich zu und würde mich jeden Moment treffen. Wie ich das darauffolgende dann gemeistert hatte, wusste ich selber auch nicht mehr so richtig. Wenn ich es recht bedenke schien es eher eine Reihe aufeinanderfolgender Reflexe zu sein, die sich in mir freigeschalten hatten und mich zu dieser Aktion fähig machten.

Ich hielt meine Arme schützend vor mich, kniff die Augen zusammen und wartete einfach nur auf den Zusammenstoß. Doch als das schwarze Vieh eigentlich auf mich fallen sollte, entlud sich eine starke Energie (wie bei einem Magnetfeld) und es prallte an mir ab, wobei es einen Bogen über mich flog und in die Tiefe stürzte. Ein bisschen verdutzt starrte ich auf meine Hände, die wieder leicht schimmerten – wie bei Noah. Ich konnte es also doch noch. »Hab ich vergessen zu erwähnen, dass ich mich noch vor den Dingern da schützen muss?«, sagte ich zu Quasimodo.

Erneut krachte der Turm und gab unschöne Geräusche von sich. Das gesamte Konstrukt gab auf einmal so extrem nach, dass ich darauf nicht gefasst war und meinen Halt verlor. Als ich einige Zentimeter unter mir wieder auf das Geländer prallte, rollte ich darüber hinweg und bekam noch gerade so eine der Stangen zu greifen. Die Hälfte des Eiffelturms hatte sich nun 45° Grad geneigt und musste ehrlich gesagt einen lustigen Anblick abgegeben haben. Mit so einem lustigen Foto wäre man das Gesprächsthema bei Freunden und Verwandten. Allein schon wegen der Fotos würde die Touristenkasse in diesem Ort noch mehr klingeln als zuvor. »Ein Turm der noch schiefer ist, als der schiefe Turm von Pisa!«. Das würde Schlagzeilen geben und die lustigste Sache des Jahrhunderts werden. Doch auch nur, wenn man nicht selbst sich auf einen der Plattformen befand und gerade dabei war, sein Leben zu retten.

»Nimm meine Hand«, sagte Quasimodo.

»Ich seh dich nicht mal. Wo bist du?«

»Du musst aufhören so herumzuzappeln.«

»Entschuldige das ich nur versuche mein Leben zu retten.« Zugegeben konnte ich mich nicht mehr lange halten, da war mir ein bisschen Hilfe schon recht. Doch Quasimodo konnte ich nicht sehen und der Fremde war immer noch damit beschäftigt die Traumfresser zu besiegen, die immer mehr zu werden schienen. Die Frage, wie er es dabei fertig brachte ebenfalls 45° Grad auf dem Boden zu stehen, kam mir in dem Moment nicht in den Sinn, denn schon wieder fiel mir ein schwarzer Traumfresser entgegen. Doch meine Abwehrmethode klappte diesmal nicht und so riss mich das Vieh, samt Geländerstück mit sich mit. Ich hatte mir schon oft versucht vorzustellen wie es wäre im freien Fall die Welt von oben zu sehen, doch der Gedanke, dass sich der Boden dabei in rasender Geschwindigkeit einem nähert, hatte ich bei meinen Traumvorstellungen immer außer Acht gelassen. Der Wind rauschte an meinen Ohren vorbei und übertönte sogar meinen Schrei. Ich sah den Boden immer schneller auf mich zukommen, als sich plötzlich etwas an meinen Rücken klammerte. In weniger als einer Sekunde sah ich nicht mehr den Boden unter mir, sondern war wieder auf der gleichen Höhe wie ich anfangs gefallen bin. Doch diese blieb nicht lange, schon wechselte sich vor meinen Augen erneut die Kulisse. In weniger als drei Sekunden änderte sich das Bild vor meinen Augen an die zwanzig Mal und dann gab es ein großes Platschen und es wurde plötzlich kalt um mich herum. Es dauerte einen Moment bis ich mitbekam, dass ich nicht in der Lage war zu atmen, da zog mich auch schon eine Hand nach hinten aus dem Wasser. Ich schnappte nach Luft und musste fürchterlich Husten. Darauf war ich beim besten Willen nicht gefasst gewesen. Was war überhaupt passiert?

»Ist alles in Ordnung?«, fragte mich jemand, doch ich war zu beschäftigt erst mal wieder richtig Luft zu bekommen. »Fanny? Hörst du mich? Ist alles okay?«

»Ethan?« Noah stand hinter ihm. »Was macht ihr denn hier?«

»Du träumst nur«, sagte Noah ehe ich mir den Kopf zerbrechen konnte, was hier vor sich ging.
»Oh gut. Ich dachte schon die Apokalypse wäre angebrochen, durch Amoklaufende Schattenmonster anstelle von Zombies. Aber das ist ja nur ein Traum.« Ich wrang mein nassen Haare aus, die auf dem Boden eine kleine Pfütze bildeten.

»Mehr oder weniger«, meinte Ethan.

»Vielleicht wäre es dann gut, wenn du langsam aufwachen würdest.« Noah stellte sich vor mich. »Denn die werden vorher nicht verschwinden.« Eine Horde schwarzer Traumfresser hatte uns umzingelt und jede Fluchtmöglichkeit abgeschnitten.

Ja. Jetzt schien wirklich die beste Zeit, um aufzuwachen. Die Frage war nur … Wie? Ich probierte alles im Schnelltempo. Zwicken, Luft anhalten, Augen schließen und konzentrieren, aber nichts von alledem funktionierte.

»Ich werde nicht wach«, sagte ich panisch.

»Dann lass dir was einfallen«, kam es wieder von Ethan.

»Und was?« Plötzlich wurde mir die Luft knapp. Das Atmen fiel mir schwer und meine Sicht verschwamm allmählich. Ich fiel zu Boden und Ethan konnte mich gerade noch auffangen.

»Was hast du?«

»Ich krieg auf einmal … keine Luft …«, stammelte ich.

Mit wild klopfendem Herzen schreckte ich aus meinem Schlaf hoch. Doch das Atmen fiel mir immer noch schwer. Meine Brust fühlte sich so … schwer an. Aber wieso? Ich blickte an mir herab und konnte nun den Grund für meine minimale Luftaufnahme verstehen. Auf meiner Brust hatte es sich Cupcake bequem gemacht und blinzelte mich nun mit unschuldigen Augen an. Meine Panik verflog und statt ihr machte sich nun Belustigung in mir breit. Ich konnte es nicht verhindern und musste anfangen zu lachen.

Kapitel 19

  »Fanny kommst du? Wir müssen doch noch das Experiment für den Biologieunterricht aufbauen, da sollten wir 10 Minuten eher da sein.«
»Einen Moment noch.« Ich kramte in meinem Spind nach etwas. »Ich war mir doch sicher das ich es hier …«
»Suchst du was?« Maggie, die ebenfalls in meine Klasse ging und mit der ich mich schon gut angefreundet habe, schaute über meine Schulter in mein persönliches Reich, dass das Heim für Schulsachen, Sportklamotten und anderer Sachen war. »Vielleicht solltest du mal aufräumen, dann findest du auch alles schneller. Ordnung ist das halbe Leben.«
»Ich weiß«, meinte ich verzweifelt. »Aber ich hatte bisher nicht viel Gelegenheit gehabt mir mal meinen Spind vorzunehmen. Außerdem gehört fast die Hälfte da drinnen nicht mir, sondern sind Aufzeichnungen, Bücher und andere geliehene Sachen, die ich alle noch nacharbeiten muss. Wann soll ich denn da zum aufräumen kommen?«
»Wie wär's denn nach dem Unterricht? Nur wenn du nicht sofort nach Hause musst. Ich kann dir auch dabei helfen, wenn du willst«, bot Maggie mir an. »Was genau suchst du denn?«
»Einen Zettel den ich heute abgeben muss. Eigentlich hätte ich das schon letzte Woche machen müssen, aber weil sie so verständnisvoll wegen meiner jetzigen Lage waren, haben sie mir noch einmal Aufschub gegeben.«
»Den findest du bestimmt noch. Ich kann ja schon mal vorgehen und das Experiment vorbereiten – muss ja keiner wissen, das nur ich das war und nicht wir zusammen.«
»Danke du bist meine Rettung. Ich schulde dir dafür etwas.«
»Klar, aber find erst mal deinen Zettel. Bis gleich.« Maggie eilte zum Biologiezimmer und ich steckte meinen Kopf noch tiefer in die Unordnung. Irgendwo musste er doch stecken. Nach weiteren fünf Minuten stieß ich einen erleichterten Seufzer aus und fischte zwischen Ordnern und Heftern das gesuchte Objekt heraus. Schnell räumte ich alles wieder in den Schrank, wobei ich keine Zeit mehr hatte mal Ordnung in das Chaos zu bringen und stopfte einfach alles wieder hinein, wie schon die Wochen zuvor.
An der benachbarten Schranktür strich ich den Zettel glatt und versuchte einigermaßen die größten Knicke herauszubekommen. Dennoch ließ es den Wisch nicht besser wirken. Aber das lag vermutlich auch daran, dass das Stück Papier schon seit knapp zwei Wochen in meinem Besitz ist. Es war nämlich der Anmeldezettel für eine Klubaktivität. Zwar musste ich keinen Besuchen wenn ich nicht wollte, aber dann müsste man mich und Ethan zweimal abholen und außerdem war ein bisschen Ablenkung auch mal gut. Und zwar etwas, das nicht mit Geistern, Träumen, Monstern und anderen Sciencefictionkram zu tun hat. Mir reichte es, wenn diese Dinge einfach in ihren Büchern blieben. Und weil ich das gleichzeitig als Recherche für verschiedene Themen nutzen wollte, hatte ich mich für den Literaturklub entschieden und brauchte nun nur noch die Unterschrift des zuständigen Lehrers. Den hatte ich zum Glück als Biologielehrer und hatte somit die Möglichkeit alles in einem Rutsch zu erledigen. Noch vor Unterrichtsschluss würde ich den Wisch abgegeben haben und hätte eine Sorge weniger.
»Wow. Jetzt hab ich eine ungefähre Vorstellung wie es in deinem Kopf vorgehen muss«, sagte plötzlich eine Stimme nah an meinem Ohr und ein Kopf erschien neben meinem. Erschrocken fuhr ich herum und krachte mit dem Rücken gegen die Spinde.
»Noah!«
»Du solltest vielleicht mal ein bisschen Ordnung da reinbringen. Das selbe gilt auch für deine Gedanken.« Er tippte gegen meine Stirn.
»Du bist nicht der einzige der mir das heute sagt. Und meinem Kopf, samt Inhalt, geht es super, danke.« Ich wollte das Gespräch nicht unnötig ausweiten, weil ich nicht mehr vorhatte mit Noah zu reden. Er hatte sich nicht an unsere Abmachung gehalten. Ich wollte Antworten und die hat er mir am nächsten Tag nicht gegeben. Stattdessen waren er und Ethan einfach verschwunden. Keiner der beiden war an ihr Handy ran gegangen (wobei ich nur Ethans Nummer hatte) oder hatte mir sonst irgendwie eine Nachricht hinterlassen. Und das hatte zur Folge, dass er bei mir unten durch war.
»Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss mir eine Unterschrift besorgen.« Ich wedelte mit dem Anmeldezettel vor seiner Nase herum und wollte ihn gerade in meine Tasche stecken, als ihn mir Noah einfach aus der Hand riss. »Hey! Was soll das? Gib ihn mir wieder zurück!«
»Literatur? Ernsthaft?« Er zog eine Augenbraue hoch (und das konnte er verdammt gut). Nicht die meisten Leute waren dazu in der Lage nur eine, der beiden Augenbrauen, ohne jegliche Anstrengung, hochzuziehen und diesen Gesichtsausdruck aufsetzen. Aber bei anderen Leuten hätte ich das auch eher bewundert. Bei Noah kotzte es mich einfach nur an.
»Gib ihn mir zurück.« Meine Bemühungen den Zettel wieder zu bekommen, waren genauso erfolglos, wie wenn ich versuchen würde Cupcake sein Spielzeug zu entreißen. Ich hatte keine Chance. Noah wich mir geschickt aus und las sich weiter den Zettel durch. Dann blieb er plötzlich stehen und schaute mich an.
»Bitte gib mir den Zettel zurück«, versuchte ich es auf die freundliche Tour, aber mein Gegenüber lächelte mich nur an.
»Den brauchst du nicht mehr«, sagte er nur und tat etwas das ich nicht für möglich gehalten hätte. Er riss das Papier in zwei, zerknüllte es und warf es in den nächsten Papierkorb. Ich starrte ihn mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck an.
»Du … was …«, stammelte ich, doch dann platzte mir der Kragen. »Bist du noch zu retten! Ich muss das Anmeldeformular heute abgeben!« Noah hörte mir gar nicht zu, sondern zog stattdessen aus seiner Hosentasche einen anderen Zettel hervor und gab ihn mir.
»Hier.«
»Was soll ich damit?«, fragte ich gereizt und riss ihm den Wisch Papier aus der Hand, so wie er es bei mir getan hat – gleiches mit gleichem vergelten.
»Unterschreib das und gib ihn ab.«
»Den Teufel werde ich tun … was ist das überhaupt für ein Zettel.« Ich brauchte nicht mal den Inhalt zu lesen, um zu wissen, was mir Noah gegeben hatte. Es war ein Anmeldeformular für die Klubaktivitäten. Nur war dieser schon ausgefüllt – und sah auch viel besser aus als meiner und war schöner gefaltet (aber darum ging es ja nicht). Meine persönlichen Angaben, die Unterschrift des Lehrers, alles war da. Nur meine Unterschrift fehlte noch. »Was zum …« Ich war sprachlos.
»Ich dachte du willst Antworten, FannyBunny. Jetzt ist deine Chance welche zu bekommen.« Ich hasste diese selbstgefällige Art von ihm. Alles ging immer nur nach ihm. Ich schien kein Mitspracherecht zu haben.
»Nachdem du mich versetzt hast?! Ich dachte wir hätte Samstag ausgemacht. Und ich hatte auch gesagt das ich eurem Spinner-Verein nicht beitreten werde, solange ich keine Antworten haben.«
»Hätte nicht gedacht das du dich so leicht damit abfinden würdest.«
Nein. Ganz bestimmt nicht.
Aber ich musste Noah zeigen, das ich auch meinen Willen haben wollte und man nicht mit mir tun und lassen kann wie man will. »Also schön«, meinte ich dann Zähne knirschend und kramte einen Stift hervor. Mit schneller krakeliger Handschrift klatschte ich meine Unterschrift auf das Stück Papier und gab es Noah, mit einer nicht gerade netten Geste, zurück. Aber im Moment wollte ich auch nicht nett sein. »Wenn mir aber euer Klub nicht gefällt, ihr euch immer noch ziert antworten zu geben oder ich sonst irgendwas finde, das mir nicht gefällt, dann bin ich raus. Kapiert?«
»Klar und deutlich, FannyBunny.«
»Und hör auf mich so zu nennen.« Ich knallte meine Spindtür zu und machte mich auf den Weg zum Biologieraum. In mir brodelte alles und ich verfluchte Noah Castor einmal mehr seit ich ihn jenen Tag kennen gelernt habe.

Wütend warf ich meine Sporttasche in den Spind. Zum Glück waren nicht mehr so viele Schüler da. Die meisten waren schon nach Hause oder hatten sich zu ihren Klubaktivitäten getroffen. Ich wollte die Zeit nutzen und mich der Ordnung meines Spindes widmen. Meggies und Noahs Kommentare (wobei ich mir nur Meggies Rat zu Herzen genommen hatte) hatten mir den nötigen Ansporn gegeben, heute mal Klarschiff zu machen. Doch bei dem ganzen aufräumen, musste ich wieder an Noah denken und daran, was er mit meinem Zettel gemacht. Dies wiederum hat mich so in Rage versetzt, dass einige Bücher und Hefter nicht ganz sanft in den Metallkasten zurückwanderten. Was war nur sein Problem verdammt? Sicher hatte er so einen Kontrolltick oder dachte er er sei der Boss und alle müssen tun was er sagt.
»Da hat aber jemand schlechte Laune.« Ich drehte mich um und mein genervter Blick traf – Gott sei dank – Nathan. Er war gerade genau das was ich brauchte. Nämlich jemanden, der nichts mit diesen Spinnern zu tun hatte.
»Hallo, Nathan«, begrüßte ich ihn, wobei ich meine Freude im Zaum hielt. Eigentlich war ich immer noch angepisst von Noahs Verhalten und mir fiel es nur schwer das nicht zu zeigen. Aber das war quasi unmöglich und so bekamen einige Leute, ungewollt, meine schlechte Laune zu spüren.
»Ist was passiert? Du bist so verärgert.«
»Nichts wichtiges«, versuchte ich die Sache zu verharmlosen. »Tut mir leid. Ich wollte nicht pampig sein, aber mich ärgert eine gewisse Sache eben noch.« Es war schwer jemanden etwas zu erklären, wenn man ihm nicht sagen wollte, wer für den Ärger verantwortlich war. Das geht nur Noah und mich was an.
»Dann hab ich vielleicht genau das richtige, um dich aufzumuntern.« Nathan hielt mir seine Kamera hin und suchte nach einem Bild, das er bereits geschossen hatte. »Ein Schnappschuss sozusagen, aber verrate es keinem.« Er zeigte mir das Bild und ich hatte Mühe nicht gleich loszubrüllen vor Lachen. Auf dem Schnappschuss war unser grummeliger Geschichtslehrer, der gerade mit schrecken feststellen muss, dass seine Perücke durch den Wind einen Abgang machte. Eine Spiegelglatte Glatze war zu sehen.
Ich konnte mich vor Lachen kaum noch einkriegen. Nathan betrachtete mich mit einem Lächeln im Gesicht. »So gefällst du mir viel besser.« Oho, gar nicht gut. Ich merkte wie ich rot wurde im Gesicht. Verlegen schaute ich zu Boden. Ich bekam nicht oft Komplimente von Jungs – und schon gar nicht von Noah – ich weiß alles besser als du – Castor.
»Wie läuft es sonst mit deinen Fotos? Schon neue gemacht, die einem den Atem rauben?«, versuchte ich vom Thema abzulenken.
»Danke für das Kompliment, das weiß ich sehr zu schätzen. Ich habe schon so einige und es kommen immer mehr dazu. Unsere Schule veranstaltet bald eine Ausstellung, bei der unser, und noch einige andere Klubs, ihre Werke präsentieren dürfen. Es würde mich sehr freuen wenn du auch kommen würdest.«
»Sicher. Ich komme gern«, antwortete ich sofort, ohne zu zögern. Eine Weile standen wir beide schweigend da, bis Nathan dann das Wort wieder ergriff.
»Ich würde dir gerne etwas zeigen, falls du Zeit hast.«
Ich wollte gerade »Ja, natürlich« sagen, als mir jemand dies abnahm. »Tut mir leid, aber das wird leider bis Morgen warten müssen.«
Als ich diese Stimme hörte, löste sie etwas in mir aus und ich hatte das unerklärliche Verlangen demjenigen an die Gurgel zu springen und so lange zu würgen, bis er mich um Entschuldigung für seine Einmische bat und Leine zog. Noah.
»Was ist denn Noah?« Das ich nicht gerade froh war ihn zu sehen, konnte man deutlich raushören.
»Jetzt bekommst du endlich Antworten auf deine Fragen.« Diese eine Aussage schaffte es, dass sich etwas in mir regte und mein Herz höher schlagen ließ – vor Aufregung natürlich.
»Ich komme gleich.« Hielt ich Noah noch etwas hin und wandte mich dann an Nathan. »Tut mir leid. Ich erklär's dir später, versprochen. Treffen wir uns morgen in der Mensa?«
»Komm doch in unserem Klubraum vorbei, dort wäre es mir lieber.«
»Okay, lässt sich einrichten.«
»Dann bis morgen. Pass auf dich auf.« Ehe ich reagieren, ausweichen oder was auch immer konnte – obwohl ich mir da nicht so sicher war, ob ich das auch wollte – hatte sich Nathan zu mir nach unten gebeugt (er ist größer als ich; knappen halben Kopf) und mir einen leichten Kuss auf die Stirn gegeben. Für einen Moment war ich wie zu Eis erstarrt. Erst Noahs Räuspern riss mich aus meiner Starre und mir schoss sofort die Röte ins Gesicht. Mein ganzer Kopf schien sich in einen dampfenden Kessel zu verwandeln und die Stelle an der Nathans Lippen meine Haut berührt hatte schien förmlich zu brennen. Ich wollte mich noch von ihm verabschieden, aber ein Wort herauszubringen, war quasi unmöglich nach so einer Aktion.
Mit hochrotem Kopf folgte ich Noah, der voran ging und mich zu seinem Klub brachte. Ich war froh das er kein Kommentar über die Aktion gerade eben verlor, weil ich noch nicht wusste, wo ich diese einzuordnen hatte. Hieß so ein Kuss, dass Nathan mich sehr mochte? Oder war das nur eine nette Geste, die nichts so wirklich bedeutet oder zumindest nicht in die Richtung, welche ich im Kopf hatte.
»Dein Freund?« Noah war stehen geblieben und hatte sich zu mir umgedreht. Anscheinend hatte ihn Nathans Geste ebenfalls beschäftigt.
»Wir kennen uns«, sagte ich nur und wollte an ihm vorbeigehen, als er mich plötzlich am Arm packte.
»Du solltest aufpassen, mit wem du dich abgibst. Nicht jeder ist vertrauenswürdig.« Noah schaute mich eindringlich an, so als ob er kontrollieren wollte, dass ich seine Aussage verstanden hatte.
»Das muss ja gerade von dir kommen. Du bist nicht gerade-«
»Ich mein es ernst Fanny.« Er drückte meinen Arm noch mehr, sodass er fast meine Blutzufuhr abquetschte. »Vertraue nicht jedem leichtfertig. Das ist der größte Fehler den du je begehen kannst.«
»Ich bin nicht wie du.« Ärgerlich riss ich mich von ihm los. »Ich will nur wissen was hier ab geht, was ihr macht interessiert mich nicht im geringsten. Also schreib mir nicht vor was ich zu machen habe.« Ich dachte anfangs das würde ich mir nur einbilden, aber in letzter Zeit wirkte Noah extrem angespannt, so als ob er irgendetwas befürchtet, etwas das in nächster Zeit passieren würde. Und was hatte das denn mit mir zu tun?
Nachdem wir schweigend weiter gegangen waren, hielten wir vor einer Tür. Laut dem Schild neben der Tür war hier der Sitz des P.U.S.P. Noah klopfte an die Tür und trat eine Sekunde später ein. Ich folgte ihm.
Der Raum erinnerte mich ein bisschen an eine Art Detektivbüro oder auf einem Polizeipräsidium wie man es im Fernsehen sieht. Ein Sofa stand an der Wand, ein paar Schreibtische mit Computern waren auch vorhanden, sowie Aktenschränke und Pinnwände. Einige der Leute die hier im Raum waren mir bereits bekannt. Ethan, Summer, Holly und Jayden, und noch die beiden anderen Jungs (Zwillinge, war mir vorher nie aufgefallen), mit denen immer Jayden abhing. Der Rest war für mich fremd. Da wäre noch ein Mädchen, mit langen, hellen braunen Haaren und ein Junge, blonde verstrubbelte Haare, etwas kürzer als Ethan und mit modischer schwarzer Brille ( beide garantiert aus den höheren Klassen).
»Herzlich Willkommen in unserem Büro.« Noah schob mich über die Schwelle. Sofort fielen alle Augen auf mich und ich blieb an Ort und Stelle stehen, unfähig vor Nervosität mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
»Wer ist das?«, fragte das Mädchen mit den braunen Haaren.
»Fanny!«, rief Summer überrascht. »Brauchst du etwa unsere Hilfe oder willst uns nur mal besuchen?« Wenn du wüsstest Summer.
Ethan sagte nichts, sondern stand einfach nur da, gegen die Wand gelehnt und beobachtete mich nur. Noah hatte ihm bestimmt schon alles erzählt und er wusste alles. Deswegen konnte er sich die Frage, was ich hier zu suchen hätte, nämlich sparen.
»Das ist Fanny Haddington«, stellte mich Noah vor. »Cousine von Ethan, Tochter von Charles und Margret Haddington. vor einigen Wochen hierher aus Deutschland gezogen und ab heute unser neues Mitglied.« Die Stille war einerseits amüsant, aber auch ein wenig unangenehm. Alles starrten mich an, wobei ihre Gesichter alle unterschiedlich aussahen. Summer machte von allen das schockierteste Gesicht. Während Ethan wie am Anfang dreinschaute.
»Ich bin nur auf Bewährung Mitglied«, warf ich schnell in den Raum. »Ich bin nur mal gekommen um zu sehen, wie es hier so ist bei euch.« Wieder sagte niemand etwas.
»Das ist ja der Wahnsinn!«, rief Summer schließlich aus. »Du hast also auch so komische Fähigkeiten vererbt bekommen.« Man bekommt sie also vererbt? Das ist ja hoch interessant.
»Wie weit ist sie schon?«, fragte die Brünette.
»Noch in der Anfangsphase, aber sie scheint großes Potenzial zu haben.« Noah redete von mir, als wäre ich ein Produkt oder Experiment.
»Schon Vorkenntnisse?«
»Nicht die geringsten.«
»Erfahrungen? Beherrscht sie die Basics?«
»Alles nur auf gut Glück.« Die beiden unterhielten sich wie zwei Geschäftsleute.
»Hallo? Ich bin auch noch da. Ihr könnt die Fragen auch ruhig mir stellen. Ich denke ich bin schon in der Lage sie selber zu beantworten.«
»Sie weiß gar nichts?« Ich wurde knallhart ignoriert.
»Nur das was sie von mir erzählt bekommen hat.«
»Wie stellst du dir das bitte vor?« Brünetti schien nicht sehr begeistert von meiner Einweihung in die ganze Sache zu sein.
»War nicht meine Idee. Befehl von oben.« Von Oben?
Ich wollte gerade fragen was damit gemeint war, als es an der Tür klopfte und ein Mädchen eintrat, das schüchtern sich halb hinter der Tür versteckte. Als alle Blicke zu ihr wanderten, schien sie noch einen Tick nervöser zu werden. »Tut mir leid ich … komme später noch mal wieder.« Ihre pipsige Stimme passte zu ihrem Äußeren. Ihre dunklen braunen, fast schon schwarzen, Haare hingen ihr fast teilweise im Gesicht. Ihr Blick war gesenkt und sie blinzelte unter ihrem langen Pony hervor. Ich fragte mich, ob sie überhaupt etwas sah.
Bevor das schüchterne Mädchen aber schon wieder verschwinden konnte, hatte Jayden sie schon halb im Arm. »Du brauchst nicht so schüchtern zu sein kleine Maus. Wie können wir dir denn helfen?«
Während das Mädchen versuchte einen ordentlichen Satz zustande zu bringen und nicht die Stimmte zu verlieren, hatte ich noch ein paar Fragen an Noah. »Läuft das hier fast immer so ab?«, fragte ich mit einem Nicken zu dem schüchternen Häufchen, das versuchte ihre Geschichte ordentlich zu erzählen.
»Klienten können persönlich kommen und ihr Anliegen sagen oder anonym eine Nachricht hinterlassen.«
»Und ihr nehmt jeden Fall an? Was kommen denn da für welche vor?«
»Wir versuchen uns zuallererst ein gutes Bild von der Situation zu machen und entscheiden dann ob wir den Fall annehmen. Die sehen meist unterschiedlich aus. Aber häufig kommt es vor das es sich dabei um Geister handelt, Traumfresser die schon ein großes Ausmaß an Stärke haben, um in unserer Welt aktiv zu werden. Gegenstände werden bewegt, Sachen verschwinden oder andere mysteriöse Dinge passieren. Wir müssen verhindern das sie noch stärker werden und womöglich noch in unsere Welt eindringen können.«
»Aber könnten diese Dinge nicht ebenso von einer Person inszeniert worden sein? Heutzutage kann man mit Technik und kleinen Tricks ganz leicht Stühle oder Tische bewegen (und dafür braucht man nur Angelschnur und Magnete).«
»Man spürt es«, klingte sich die Brünette in unser Gespräch mit ein. »Wenn du an so einem Ort bist, wirst du es verstehen.« Dann wandte sie sich an Noah. »Die weiß ja überhaupt nichts. Bist du dir sicher das sie eine von uns ist?« Zwar flüsterte sie, aber ich hörte trotzdem alles. Weil ich aber nicht auf Streit aus war, tat ich so, als habe ich es nicht gehört.
Die schüchterne Klientin, welche den Namen Maya hatte, erzählte von einem Geist den sie gehört und sogar gesehen haben will. Da ich die Neue war, schlug Brünetti vor, ich solle doch diesen Fall übernehmen mit Noah. So kam es, das wir beiden und Maya, uns auf den Weg zum besagten Ort des Geschehens machten.
Und zwar zum Musikzimmer.
»Es geschah letzte Woche am Dienstag, kurz nach dem zweiten Block. Ich wollte die Pause nutzen um noch etwas auf dem Klavier zu üben. Ich bin nämlich in der Chor und begleite die Sänger auf dem Klavier. Als ich die Tür einen Spalt geöffnet hatte hörte ich, dass bereits jemand spielte. Aber als ich durch den Spalt schaute sah ich niemanden. Keiner saß an dem Flügel und trotzdem bewegten sich die Tasten, es war wirklich Angsteinflößend. Dann hörte plötzlich das Spiel auf und es war nur noch leises schluchzen zu hören, so als ob jemand weinen würde. Ich bekam es daraufhin mit der Angst zu tun und mied den Raum die ganze Woche.«
»Welches Stück war es, dass du gehört hast?«, fragte Noah und ging zu dem Flügel, um ihn sich genauer anzusehen.
»Das war Dream a little dream of me. Ich habe es sofort wieder erkannt, weil einer meiner Lieblingspianisten dieses Lied mal gespielt hat.« Bei dieser Aussage traf es mich wie der Schlag und ich wusste genau was für einen angeblichen Geist das Mädchen gehört haben will. Aber ich sagte erst mal nichts, sondern beobachtete interessiert, wie Noah den Spuren nach ging.
»Waren Fehler in dem Stück?«
»Mal überlegen … Nein es war alles fehlerfrei gespielt und flüssig. Nicht das geringste Stocken oder ein falscher Ton. Der Takt war auch korrekt – durch weg.«
»Ist dir sonst irgendwas aufgefallen Maya? Hast du etwas seltsames gespürt?«
»Seltsam? Nein nicht wirklich.« Die Klingel ertönte und Maya erschrak plötzlich, als sei ihr etwas eingefallen. »Ich habe gleich Klavierunterricht …«, stammelte sie.
»Schon in Ordnung du kannst gehen, wir haben das hier im Griff. Danke das du uns davon erzählt hast, Maya.« Noah verabschiedete seine Klientin und schloss die Tür. »Also? Was denkst du, FannyBunny?«
»Das euer Klub nur Hirngespinsten nachjagt.« Ein bisschen Ärgern wollte ich ihn schon. Schließlich brachte er mich ab und zu auch mal auf die Palme.
Doch Noah ließ sich leider nicht so leicht aus der Ruhe bringen. »Interessant. Und wie kommst du zu dieser Annahme?«
»Ich bitte dich. Ein Geist der Klavier spielt und dann auch noch weinende Geräusche? Ich kenne keine Geister die weinen und Klavier spielen. Du etwa?« Ich zuckte plötzlich zusammen. Ich glaubte ein Geräusch gehört zu haben. Es klang wie ein kratzen oder knirschen, fast so, als ob jemand an etwas knabbern würde. Für einen Moment war ich abgelenkt gewesen.
»Es kann Ausnahmen geben.«
»Ja nur abgesehen davon, dass wir hier nicht nach einem verstorbenen Pianisten-Geist suchen, der keine Ruhe mehr findet, sondern Traumfresser die stärker werden. Oder nicht?«
»Doch du hast Recht. Aber hast du schon mal daran gedacht, dass Traumfresser nicht die einzigen Geister sind, die es parallel zu unserer Welt gibt?«
»Ja klar. Als ob ich diesen Quatsch mit den Verstorbenen, die keine Ruhe mehr finden und als Geister umherirren, auch noch glaube. Zu welcher Annahme bist du eigentlich gekommen?«
»Es ist schwer zu sagen was Maya hier gehört haben will. Ich kann keine geisterhafte Präsenz mehr spüren.«
»Also ist er verschwunden.« Da war das Geräusch schon wieder. Es kam von den Regalen, da war ich mir ganz sicher. Aber da war nichts auffälliges.
»Oder er versteckt sich nur geschickt. Am besten ich seh mir das ganze Mal aus einer anderen Perspektive an.«
»Wie meinst du das, andere Perspektive?«
»Ich werde in die Geisterwelt gehen und mich hier mal umschauen. Du musst derweil gut auf meinen Körper aufpassen, falls was passiert.«
»Ich glaube das kannst du dir sparen«, hielt ich ihn zurück. »Du wirst keinen Geist oder derartiges in diesem Raum finden.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich der Geist war.« Für einen kurzen Moment sah ich erstaunen in Noahs Blick, doch dann lächelte er nur und gab ein Schnauben von sich.
»Natürlich«, sagte er. »Das hätte ich mir denken können. Es war genau zu der selben Zeit.« Ich nickte nur. »Tja, da kann man wohl nichts machen.« Er zuckte mit den Schultern. »Schade. Dabei wollte ich so gerne dein Gesicht sehen, wenn du feststellen musst, das alles stimmt, was wir dir erzählt haben.« Er wandte sich zum Gehen. »Vielleicht das nächste Mal. Komm gehen wir.« Ich folgte ihm und wollte gerade ebenfalls durch die Tür treten, als ich plötzlich …
»Hast du gesehen, es waren schon wieder welche von ihnen«, hörte ich eine Stimme sagen. Sie klang so ähnlich wie Quasimodo, nur nicht ganz so hoch.
»Aber das Mädchen ist neu.« Diese klang ein wenig kratzig und erinnerte mich an eine Cartoonfigur, die ich als Kind mal im Fernsehprogramm für Kinder gesehen hatte. Diese Stimme würde zu einer frechen Figur passen.
»Ja, und sie scheint talentierter zu sein als die anderen. Sie kann uns hören.«
»Blödsinn kann sie nicht. Das kann keiner.«
»Doch kann sie. Ich bin mir ganz sicher.«
»Willst du etwa damit sagen das sie …«
»Es könnte schon möglich sein das sie …«
»Aber wenn sie es wirklich ist, dann …«
Ich erstarrte auf der Stelle und blickte wie paralysiert auf den Flügel. Auf diesem saßen nämlich zwei kleine Kreaturen und starrten mich an, als ich sie bemerkte.  

Kapitel 20

  »Fanny kommst du?« Noah stand im Flur und schaute mich fragend an. »Alles okay?«
»Da … da …«, stotterte ich und zeigte auf den Flügel.
»Was soll denn da sein?« Noah trat neben mich und schaute auf die Stelle die im Visier meines Fingers stand.
»Siehst du das nicht?!«, rief ich fast schon panisch, als keine Reaktion von ihm kam. »Da auf dem Klavier … da … da, sitzen zwei kleine Kreaturen.« Eine Weile schaute Noah zwischen dem Flügel und mir hin und her. Er schüttelte den Kopf.
»Sehr witzig Fanny.« Seine Stimme klang ein bisschen genervt. »Wenn du dir jetzt einen Scherz erlaubst, weil dieser Auftrag zufällig nichts mit einem Traumfresser zu tun hatte-«
»Aber das tu ich doch gar nicht!«, unterbrach ich ihn aufgebracht.
»Ich sagte dir doch das sie uns sehen kann«, sagte der eine von den beiden. »Sie ist etwas besonderes. Was wenn sie es ist?«
»Das hast du bei der letzten auch schon gesagt und was war dann? Sie ist gestorben. Es hat uns rein gar nichts gebracht.«
»Trotzdem war sie nett.«
Drehte ich jetzt vollkommen durch? Brachte mich dieses ganze Gerede von Traumfresser, Geister, Seelen und so weiter schon so weit aus dem Konzept, dass ich mir Dinge einbildete? Was passiert hier nur?
»Fanny? Was ist los mit dir?«
»Ich glaub ich dreh noch vollkommen durch«, murmelte ich kaum hörbar. Dann drehte ich mich auf den Absatz um und rannte den Gang hinunter. Ich stürmte in die nächste Mädchentoilette und drehte schnell den Wasserhahn auf. Zum Glück war außer mir keiner auf dem Klo. Ich spritzte mir das kalte Wasser ins Gesicht und schaute in den Spiegel.
Was hab ich da gerade eben gesehen?
Die zwei Wesen die auf dem Klavier saßen, ähnelten kleinen Drachenartigen-Wesen. Beide hatten Flügel und sahen auch sonst identisch aus. Nur in der Farbe hatten sie sich unterschieden. Der eine mit der kratzigen Stimme war rot und der andere blau. Die Köpfe waren ein bisschen groß und klobig und auf ihrer Nase war ein kleines Horn. Wo ich jetzt so genau darüber nachdachte, sahen diese kleinen beiden dem Drachen Tabaluga sehr ähnlich, nur nicht so harmlos und niedlich wie er.
»Sie sieht ein bisschen geschockt aus. Findest du nicht?«, ertönte eine Stimme.
»Ist ja auch verständlich. Vermutlich sind wir die ersten Geister die sie sieht.« Das war die Stimme von dem roten Drachen.
Langsam drehte ich meinen Kopf in die Richtung aus der die Stimmen kamen. Direkt neben mir, am Nachbarwaschbecken, saßen die kleinen Gestalten auf dem Rand und ließen die Beine baumeln.
»Was seid ihr?« Ich brachte gerade mal ein Flüstern heraus. Beide schauten mich an, bis der blaue Drachen das Wort ergriff.
»Wir sind Geister.«
»Blödmann. So weit hat sie bestimmt schon selbst gedacht«, unterbrach ihn der Rote.
»Vielleicht wäre sie aber auch nicht von alleine drauf gekommen!«
»Jeder Idiot kommt da drauf, wenn man uns zu Gesicht bekommt!«
»Was wollt ihr von mir«, unterbrach ich die hitzige Diskussion der beiden, ehe sie im Streit ausarten konnte.
»Wir wollen wissen wer du bist«, antwortete der Rote genervt. »Warum kannst du uns sehen? Hast du besondere Fähigkeiten? Bist du womöglich-«
»Moment mal. Ich möchte gerne wissen, warum ich euch sehen kann. Woher soll ich das wissen. Ihr seid doch die Geister. Und wer seid ihr überhaupt?«
»Du gehst es mal wieder viel zu schroff an.« Der Blaue boxte den Roten auf die Schulter. »Wir sind so etwas wie Beschützergeister«, sagte er dann an mich gerichtet.
»Beschützergeister?« Das hörte sich fast so an, wie das, was Quasimodo mir mal erzählt hat. Er sei mein Beschützer und ein Geist.
»Mein Name ist Tip und das ist Top.«
»Ich hab dir gesagt das diese Namen bescheuert sind!«, fauchte der Rote. »Wer will so schon heißen.«
»Aber so hat sie uns nun mal genannt. Und mir gefällt es eigentlich.«
»Wer ist sie?«, fragte ich irritiert.
»Unsere frühere Besitzerin, die wir beschützten.«
»Und wo ist sie jetzt? Müsst ihr sie nicht mehr beschützten?«
»Sie ist tot«, kam es ein bisschen gleichgültig von dem Top. Tot?!
»Na ihr seid mir ja schöne Beschützergeister.«
»Es ließ sich leider nicht vermeiden und ehrlich gesagt sind wir auch nur für den Schutz in der Geisterwelt zuständig. In eurer Welt können wir so gut wie nichts machen.«
»Klingt ja ganz toll.« Meine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. »Aber da muss ich euch enttäuschen Jungs. Der Job des Beschützers ist leider schon vergeben.«
»An wen?«, fragte Tip verdutzt.
»'Nen andren Geist. Der war schon eine Woche schneller als ihr.«
»Das macht keinen Unterschied. Dich können auch mehrere beschützen. Da gibt es keine genaue Vereinbarung, dass nur einer den Job bekommt. Und außerdem ist das Tradition – sozusagen unsere Pflicht.«
»Wieso sind plötzlich so viele scharf drauf mich zu beschützen? Und was für eine Tradition?«
»Ich wusste das sie es nicht sofort begreift«, meckerte Top. »Sicher hat sie noch gar keine Ahnung.«
Gar keine Ahnung wovon die bitte? Kann mich mal jemand aufklären?
»Du bist was besonderes«, sagte Tip. »Du hast nämlich-« Ehe der kleine blaue Geist seinen Satz zu Ende sprechen und mich damit hätte aufklären können, klopfte es an der Tür zum Mädchenklo.
»Fanny?« Die Tür ging auf und Noah steckte seinen Kopf herein. »Was machst du denn?« Ich sah ihn kurz an und schaute dann auf das Waschbecken neben mich. Doch da waren keine Drachengeister mehr. Dann sah ich wieder zu Noah. »Alles klar bei dir?« Er runzelte die Stirn und versuchte aus meinem Gesichtsausdruck irgendwas heraus zu lesen.
»Ich glaub ich brauch noch mal kaltes Wasser«, sagte ich und drehte den Wasserhahn wieder auf.

Nachdem ich einen Einblick in die Tätigkeit des P.U.S.P. Klub erhalten hatte, wollte ich mich ein bisschen mehr mit dem Thema Geister und andere Welten beschäftigen. Ich suchte mir in der Innenstadt den nächstbesten Buchladen und fing an ein bisschen in den verschiedenen Abteilungen herum zu stöbern. Doch was wirklich hilfreiches fand ich nicht. Es gab zwar interessante Berichte über Leute die Engel und Dämonen gesehen haben und ebenso welche, die mit der »Geisterwelt« in Kontakt treten können, um mit denen dann zu kommunizieren, aber nichts von alledem wies auf eine Verbindung zu der Gruppe der Traumjäger hin. Es wirkte fast so, als wolle man nicht, dass man etwas über sie erfuhr. Dabei konnte ich mir kaum vorstellen, dass sie Jahrzehnte lang noch nicht entdeckt wurden und im Schatten blieben – unsichtbar für die Öffentlichkeit.
»Na junges Fräulein wonach suchen Sie denn? Vielleicht kann ich ja behilflich sein.« Ich habe ganz vertieft vor einem Bücherregal gestanden und gegrübelt, bis jemand neben mir aufgetaucht war. Die Stimme die mich angesprochen hatte, gehörte einem älteren Herren, in feinem Anzug. Ich schätze ihn so an die 50 bis 60 Jahre. Genau konnte man das nicht sagen, denn viele Leute hielten sich im hohen Alter trotzdem noch sehr gut und wirkten daher jünger, als sie eigentlich sind (beste Beispiel ist hier Granny Croft). Er sah zwar nicht so aus, als ob er hier arbeiten würde, aber ich vermutete einfach mal, dass er nur höflich sein wollte. Kann ja sein, dass er nichts besseres zu tun hat und nun Leuten seine Hilfe anbot.
»Ich suche etwas über Geister und sonderbare Träume«, versuchte ich es ihm am besten zu erklären ohne das er mich für verrückt hielt. Ich war mir sicher, dass er nichts mit den Begriffen Traumjäger, Seelenflamme und Traumfresser hätte anfangen können.
»Ah, das klingt sehr mysteriös und sehr eigen. Ich denke da wirst du in diesem Geschäft nicht fündig.«
Ich seufzte. »Das denke ich auch«, stimmte ich ein bisschen enttäuscht zu. Schade eigentlich. Dabei wollte ich den restlichen Nachmittag extra nutzen, um ein paar Antworten zu bekommen.
»Aber«, sagte der Mann dann, »ich wüsste einen anderen Laden, der möglicherweise genau das hat, nach dem du suchst.« Er blinzelte mir verschwörerisch zu. »Ich führe dich gerne hin. Er ist nur 10 Minuten von hier entfernt.«
Im ersten Moment war ich mir unsicher ob ich dem Mann überhaupt vertrauen konnte. Lockten so nicht Kindermörder ihre Beute weg? Zwar wirkte er nicht auf mich wie ein Kindermörder oder etwas anderes gefährliches, aber trotzdem hatte ich das Gefühl bei diesem Mann vorsichtig zu sein. Er hatte etwas geheimnisvolles an sich. Etwas das man nicht mit dieser Welt vergleichen konnte – fast schon übernatürlich.
Wenn man im Zentrum der Stadt unterwegs war und vor allem in den Straßen, wo es nur so vor bekannten Geschäften wimmelte, war es eigentlich schon fast schade, dass man den zauberhaften, kleinen Läden in den Nebenstraßen kaum Beachtung schenkte. Auch wenn der Platz nicht der größte war, die Auswahl und Lagerbestände klein, so hatten die meisten von ihnen einen gewissen Zauber der sie einhüllte und so zu etwas besonderem, etwas einzigartigem machte. Die Einrichtungen waren liebevoll und mit Herz gestaltet, ganz im Gegenteil zu den kalten und monotonen Geschäften in den Einkaufsmeilen, die es in jeder Stadt fast zwei- bis dreimal verstreut gab und jede fast sah genauso aus wie die andere.
Der Buchladen vor dem wir halt machten, war klein und belegte das erste Geschoss eines dreistöckigen Hauses in einer Nebenstraße. Die Außenfassade sah sehr alt aus und war Holzverkleidet. Alles war in einem schönen dunklen Rotton gestrichen. Die Rahmen und Erhöhungen, sowie Vertiefungen an der Außenverkleidung waren in Ocker gehalten. Beide Farben passten sehr gut zueinander und gestalteten die Straße auf ihre altmodische Art und Weise zu einer eigenen kleinen, nostalgischen, anderen Welt. Ein in Ocker und mit schön geschwungenen roten Buchstaben, gab den Namen des Geschäfts über der Tür preis.

Mattimeos Books – Books from another World

Na das klang doch schon mal vielversprechend. Ehe wir jedoch eintraten nahm der Fremde meine Hand. »Dieser Laden hat etwas magisches an sich. Nicht das du mir noch verloren gehst.« Er zwinkerte mir wieder verschwörerisch zu und betrat dann mit mir den Laden. Das klingeln einer Glocke ertönte und die Tür quietschte etwas beim öffnen und schließen. Kaum waren wir über die Schwelle getreten ließ der Mann meine Hand wieder los.
»Ich hab dich noch gar nicht nach deinem Namen gefragt.«
»Fanny. Und Sie?« Doch eine Antwort konnte er sich sparen, denn schon hörte ich Schritte und dann erschien zwischen den Regalen und Büchern ein anderer Mann.
»Lorenzo! Das ist ja eine Überraschung. Mein alter Freund.« Die beiden Männer umarmten sich und tauschten sich kurz aus. Ich wartete geduldig bis sie fertig mit ihrer Begrüßung waren und bestaunte währenddessen die Einrichtung des Ladens. Die Regale gingen fast bis an die Decke und waren voll mit Büchern. Aber nicht nur in den Regalen, auch auf dem Boden stapelten sich Bücher. Der Raum machte einen Knick nach links. Ich vermutete das es hinten noch einige andere Bücherregale gab, doch so weit konnte ich gar nicht schauen, denn die Sicht wurde mir von einem Regal versperrt.
»Wen hast du denn da mitgebracht?«, fragte der Ladenbesitzer.
»Das ist Fanny. Sie sucht Antworten.«
»So? Was möchtest du denn wissen kleines Fräulein.«
»Ähhh … also, wissen Sie … Das ist ein bisschen schwer zu erklären ohne dabei lächerlich zu klingen«, versuchte ich die Sache zu erläutern.
»Wenn du dir Sorgen darum machst, dass wir dich für verrückt halten kann ich dich beruhigen. Du hattest bestimmt ein rätselhaftes Erlebnis und möchtest nun mehr darüber wissen, weil es sich nicht als Einbildung oder Hirngespinst abstempeln lässt. Nicht wahr?«
Ich nickte. »Nicht nur eins.«
»Na dann … Was möchtest du denn gerne wissen? Ich habe viele Bücher da, die dir bestimmt einige deiner Fragen beantworten können.« Bei der Anzahl von Büchern hoffte ich das auch.
»Naja etwas über Träume, Geister, andere Welten und vielleicht etwas über Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Also wirklich außergewöhnlich, so als ob sie nicht von dieser Welt wären.« Der Ladenbesitzer strich sich mehrere Male über den Kinnbart und dachte nach.
»Ja, da habe ich einige Sachen für dich. Komm doch mal mit.«
»Ich glaube ich geh dann mal, mein alter Freund«, meldete sich Lorenzo zu Wort.
»Ach warum denn? Jetzt haben wir uns schon so lange nicht gesehen, da kannst auch ruhig noch zu einer Tasse Tee bleiben.«
»Ich hab aber noch-«
»Ach was«, unterbrach ihn sein Freund. »Paperlapap. Jetzt bist du schon mal hier, dann bleib wenigstens noch für einen Tee mit Gebäck und einem Gespräch unter alten Freunden.« Damit war die Sache zwischen den beiden anscheinend geregelt und er wandte sich wieder an mich. »Und nun zu dir. In dem hinteren Bereich des Ladens habe ich einige Bücher die dir bestimmt weiterhelfen können.« Er führte mich weiter nach hinten, durch ein Labyrinth aus Bücherregalen und ich fragte mich schon ob dieser Laden wirklich so normal ist, wie er von außen schien. Irgendwie kamen mir die Gänge ganz schön lang vor, für so einen kleinen Laden.
»Sind Sie der Besitzer des Ladens?«, fragte ich.
»Ja der bin ich.«
»Dann sind Sie bestimmt Mattimeo«, schlussfolgerte ich.
»Kluges Kind. Der bin ich.«
»Ein außergewöhnlicher Name. Hab ich noch nie gehört.«
»Ja er ist nicht sehr gebräuchlich in diesem Teil der Welt. Und wie ist dein Name?«
»Fanny Haddington.«
»Ah. Dann bist du das Mädchen das seid kurzen hier her gezogen ist und dessen Eltern verunglückt sind. Mein Beileid.« Ich glaubte mich verhört zu haben. Wieso wissen so viele Leute wer ich bin?
»Woher-«
»So da wären wir.« Er machte halt vor einer kleinen Ecke aus drei Regalen. »Hier findest du einiges an Aufzeichnungen zu Träumen, hier zu Geistern und andere Welten und die Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten in dieser Ecke. Das ist aber nur ein kleiner Teil. Wenn du noch mehr wissen willst, dann ruf einfach. Ich helfe dir gerne weiter.«
»Danke, das ist schon mehr als ich mir eigentlich erhofft habe.« Mattimeo entschuldigte sich und ging zurück zu seinem Freund. Ein wenig perplex stand ich zunächst da. Woher wusste er bitte von dem Unfall und meinem Umzug? Kannte er etwa jemanden aus der Familie? Das kann doch kein Zufall sein.
Ich fand das alles mehr als seltsam und beschloss dem später auf dem Grund zu gehen. Nun waren erst mal die anderen Sachen dran. Ich nahm mir die Leiter mit Rollen zur Hand und suchte mir die verschiedensten Bücher heraus, die mir vielversprechend schienen. Mit Stapeln von Bücher um mich herum saß ich auf eine der Sprossen und blätterte in den verschiedenen Wälzern herum.
Es standen viele interessante Dinge drin. Unter anderem konnte ich die Wahrheit von Noahs Aussagen bestätigen. Es stand genau dasselbe zu den Themen Traumfresser, Seelenflamme und der Gruppe der Traumjäger da, wie er es mir erzählt hatte.
Es hieß, dass sie schon seit langer Zeit existieren und die Aufgabe besäßen Leute vor den bösen Geistern zu schützen. Andere Menschen bezeichneten sie sogar als Engel des Herren.
Ein Abschnitt war besonders interessant, denn er hatte mit der Weitervererbung dieser verkorksten Fähigkeit und anderen Sachen zu tun. Jede Familie sei auf etwas anderes spezialisiert und wäre im Stande unterschiedliche Kräfte zu nutzen, die schon seit Jahrzehnten weiter gegeben werden. Aber immer nur an einen aus der nächsten Generation. Allerdings kann es auch zu Ausnahmefällen vorkommen, welche Ursache auf die Eltern der vorherigen Generation zurückzuführen sei. Genaueres ist noch nicht darüber bekannt, man erforsche dieses besondere Phänomen noch.
Ich hörte das klingeln der Glocke. Jemand war in das Geschäft gekommen. Jemand wurde begrüßt und ich kam nicht umhin angestrengt zu lauschen. Diese Stimme kam mir aber irgendwie bekannt vor. Ein paar Minuten war es still und ich wollte mich schon wieder den Büchern widmen, als plötzlich eine Person um die Ecke bog und ich mich fast zu Tode erschreckte.
»Kaleb?«
»Fanny. Was machst du denn hier?« Er wirkte gänzlich überrascht, so als hätte er nie im Leben damit gerechnet, das er mich je hier treffen würde.
»Ich suche Informationen und du?«
»Das mein ich nicht. Ich meine was machst du hier? Woher kennst du den Ort?«
»Dieser Lorenzo hat mich her gebracht. Er meinte ich würde hier Antworten auf meine Fragen finden. Ist es so ein geheimer Ort? Das ist doch nur ein Bücherladen, da kann jeder herkommen.«
»Es ist viel mehr als das, aber das hast du sicher schon gespürt.« Damit meinte er wohl diese magische Präsenz, die ich seit dem übertreten der Türschwelle zu spüren bekam. Ja, ich wusste dass das kein normaler Buchladen war.
»Und was machst du hier?«, fragte ich Kaleb.
»Ich arbeite hier gewissermaßen. Aber nur Teilzeit.«
»Also machst du noch was anderes?«
»Ja. Ich studiere.« Ich musste schmunzeln.
»Das hab ich mir schon gedacht.«
»Ach wirklich? Was suchst du überhaupt?« Er trat neben mich und erst da fiel mir auf wie groß er doch war. Auf der jetzigen Sprosse, auf der ich saß, war er mit mir direkt auf Augenhöhe.
»Antworten auf die Sachen die mir erst letztens passiert sind. Mir scheint ja keiner meine Fragen zu beantworten, also muss ich selber nach welchen suchen.«
»Vielleicht kann ich dir ja helfen. Ich habe gerade sowieso nichts wichtiges zu tun und je früher du mehr weißt, desto besser.« Er stellte sich neben mich und schaute mit in das Buch hinein. »Ah, die Aufzeichnungen unserer Vorfahren. Du wolltest wohl etwas über deine Familie herausfinden.«
»Schon. Ich weiß ja so gut wie nichts. Aber über die anderen würde ich auch gerne mehr wissen. Ich kenne sie erst seit heute und ein paar Informationen wären schon ganz gut, wenn ich mich an dieser ganzen Sache mit beteiligen soll.«
»Es gibt noch eine Familie die in diesem Buch mit verzeichnet ist. Ihre Wurzeln reichen fast genauso weit zurück, wie die deiner Familie.« Kaleb blätterte in dem Buch, bis er die Seite fand. »Die Castor-Familie gibt es schon sehr lange und sie waren immer gut mit den Haddingtons befreundet. Das alles passierte vor langer Zeit, als ein Graf deiner Familie einen Mann von der Straße bei sich aufnahm. Der Mann schwor ihm ewige Treue und beschütze von da an die Familie. Seit Generationen wurde dies weiterbehalten und ist sogar heute noch so.« Langsam verstand ich Noahs Verhalten mir gegenüber. Er erfüllt nur seine Pflicht. Deswegen war er auch so gut mit Ethan befreundet, aber ließ ihn bei gefährlichen Sachen immer noch außen vor. Und das alles nur, um mich und meinen Cousin zu beschützen. Ich blätterte eine Seite weiter und erstarrte fast.
»Was ist das?«, fragte ich fast tonlos. Kaleb sah über meine Schulter.
»Das ist das Familienwappen der Castors. Es sind zwei Drachen. Der Legende nach waren das mal die Beschützergeister der Familie, die mithalfen ihre Freunde zu beschützen, aber das ist nur eine Legende. Keiner weiß ob es wahr ist. Es soll auch noch mehrere dieser Geister gegeben haben. Jede Familie hatte einen, doch im Laufe der Zeit schienen sie alle verschwunden zu sein. Das ist aber schon lange her.«

Etwas nachdenklich stand ich am nächsten Tag, wie vereinbart in der Pause vor dem Klubraum von Nathans Gruppe. Ich war anscheinend ein bisschen zu früh dran, denn von meiner Verabredung war weit und breit noch nicht zu sehen. Aus einem unerfindlichen Grund fühlte ich mich ein bisschen Nervös. Das was gestern zwischen uns passiert ist-
Aber vielleicht interpretiere ich da auch nur zu viel rein.
Doch nicht nur darüber machte ich mir Gedanken, sondern auch über die anderen Sachen die im Anschluss passiert sind. Mein erster Auftrag mit Noah, meine neuen Beschützergeister Tip und Top und der Besuch in der Bücherei von Mattimeo. Alles erschien mir wie in einem verrückten Traum und ich war mir sicher, dass das gerade mal der Anfang dieser bizarren und abgedrehten Geschichte sein wird, in der ich eine Rolle spielen werde.
Es gibt so viele Fragen die noch ungeklärt sind und welche ich gestern nicht beantworten konnte. Doch auch neue Erkenntnisse habe ich bekommen, die mir ebenfalls zu denken geben. Irgendwie besteht mein Leben nun nur noch aus denken und Kopf zerbrechen, weil sich so viele ungeklärte Dinge vor mir auftürmen und neue – unbekannte – Sachen auftauchen, die ich erst noch entdecken muss.
»Du bist ja schon da«, ertönte eine Stimme hinter mir. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und drehte mich hastig um.
»Hi Nathan.« Was war das? War das wirklich meine Stimme gewesen? Die klang ja total quietschig!
Nathan lachte nur darüber, was mich rot werden ließ und schloss den Raum auf. Unter dem Arm hatte er eine Tüte. Was wohl da drinnen sein mochte?
»Ich wollte dir unbedingt was zeigen.« Wir setzten uns beide an einen Tisch nebeneinander und Nathan packte die geheimnisvolle Überraschung aus der Tüte aus.
»Das ist ja … ein Fotoalbum.«
»Ja. Ich hab es gestern noch fertig gemacht. Hier.« Er schob es direkt vor mich. »Schau es dir bitte an.« Gespannt strich ich mit den Fingern über den Einband. Es war ein einfaches Fotoalbum, wie man es in jedem Laden bekam. Nur war der Einband hier aus dunkelrotem Kunstleder und hatte rechts unten eine Steckblume mit Schleife.
Ich blätterte die erste Seite auf und sah das, was ich am wenigstens erwartet hätte. Ich dachte Nathan würde mir einige seiner früheren Bilder zeigen, die er gemacht hat, aber gleich das erste Bild war von mir. Es war das erste Bild was er von mir geschossen hat, als ich hier an die Schule kam. Das kannte ich noch gar nicht. Ich stand an meinem Spind mit einem Zettel in der Hand. Es war an meinem ersten Tag, wo Holly mir alles gezeigt hatte und sie mir zuletzt meinen Spind zeigte. Auf dem Bild hatte ich einen etwas nachdenklichen Gesichtsausdruck.
Ich sagte nichts. Brachte kein Wort heraus und blätterte einfach weiter.
Es folgten viele verschiedene Bilder. Bei einigen wusste ich nicht mal, dass er sie gemacht hat. Sogar eins war dabei, wo ich schlief. Aber alle waren wunderschön und ich war mit allen zufrieden. Ich wirkte ganz anders als auf anderen Fotos. Viel natürlicher. Nicht gezwungen zu lächeln oder in die Kamera zu schauen.
Ich hatte fast das ganze Album durch und es mir schweigend angesehen. Jede einzelne Seite schenkte ich viel Zeit zum betrachten. So vergingen einige Minuten bis fast durch war. Auf der vorletzten Seite stand etwas geschrieben.

So eine Schönheit habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Danke für die schönen Momente die du mir
durch die Linse meiner Kamera und außerhalb beschert hast.

Meine Mundwinkel zuckten nach oben und von ganz alleine legte sich ein breites Lächeln auf meine Lippen. Das war wirklich eine der schönsten Überraschungen, die ich je bekommen hatte. Ich schaute Nathan an und mir kamen ein bisschen die Tränen.
»Gefällt es dir?« Unsicherheit lag in seiner Stimme und er sah mich an mit etwas Angst in seinen Augen.
»Es ist toll. So viel Mühe hat sich noch nie jemand für mich gegeben. Dankeschön.« Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. So glücklich war ich noch nie seit dem Tod meiner Eltern gewesen. Ich wischte die Tränen beiseite und griff nach Nathans Kamera. »Aber etwas fehlt noch in diesem Album. Etwas wichtiges.« Ich schaltete die Kamera ein, hielt sie hoch (mit der Linse zu uns) und rückte ein Stück näher an Nathan. Ein kurze Piepen, dann das schließen und öffnen der Linsen und das kurze aufleuchten des Blitzlichtes. »Das hat gefehlt.« Er blickte mich etwas erstaunt an, so als ob er mit meinem Handeln nicht gerechnet hätte. Ich schaute mir das Foto an. »Das muss noch in das Album. Auf die letzte Seite, dann ist es komplett.« Ich hielt es Nathan hin. »Es ist wunderschön.« Er nahm die Kamera aus meiner Hand und schaute sich das Bild an.
»Nein«, sagte er und legte sie auf den Tisch. »Du bist wunderschön.« Ehe ich reagieren konnte, hatte er schon mit beiden Händen mein Gesicht umschlossen und legte sanft meine Lippen auf die seinen.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl das sich da in mir ausbreitete. Wie Flügelschläge von tausend Schmetterlingen fühlte es sich an und es kribbelte überall. Ich wusste nicht was ich in diesem Moment denken sollte und es kam mir auch gar nichts in den Sinn. Ich war einfach glücklich. Richtig glücklich. So hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt seitdem alles Kopf stand.
Nathan war der erste Mensch, der mir nach dieser schweren Zeit wieder das Gefühl gab nicht alleine zu sein.
Der mir das Gefühl gab geliebt zu werden.  

Kapitel 21

  »Einen Partner?« Es war Mittagspause. Und eigentlich wollte ich mein Sandwich essen, doch das musste nun warten. »Was für einen Partner? Und wofür?«
»Da du jetzt bei uns mitmachst, brauchst du einen Partner«, wiederholte Summer, die mal wieder nicht meine Frage verstanden hatte.
»Vom Wiederholen versteh ich auch nicht besser was du damit meinst.«
»Summer will damit sagen, dass immer zwei Leute bei uns in Teams arbeiten«, erklärte Holly. Jetzt wo sie das sagte … Wenn ich wirklich alle Mitglieder des Klubs gesehen habe, dann würde das sogar fast perfekt aufgehen mit den Zweierteams. »Es fördert unsere Fähigkeiten und ist sicherer.«
»Genau«, stimmte Summer zu. »Und wir wissen ja wen du bekommen wirst. Das ist doch so offensichtlich. Alle anderen sind nämlich schon vergeben, da bleibt nur noch einer übrig.«
»Und wer soll das sein?«, fragte ich etwas gelangweilt und nahm einen Schluck aus meinem kleinen Milchtrinkpäckchen.
»Na Noah. Wer sonst?« Sofort fand die Milch wieder ihren Weg nach draußen.
»Noah?!« Ich hatte fast den halben Tisch voll gespuckt. »Soll das ein Witz sein?!«
»Über so etwas machen wir keine Witze.« Holly holte ein Taschentuch hervor und wischte den Tisch sauber. Bestimmt zogen wir (besser gesagt Ich) gerade die ganze Aufmerksamkeit der Cafeteria auf uns (beziehungsweise mich). Aber das war mir im Moment total egal, denn mich hatte gerade die schrecklichste Nachricht des Jahrhunderts überrollt.
»Ich soll mit dem arroganten Typ von Besserwisser ein Team bilden?!«
»Na klar«, versicherte mir Summer. »Aber deswegen hättest du doch nicht gleich den Tisch unter Milch setzen müssen und mein Essen dazu.« Sie suchte in ihrem Berg von Mittag nach etwas, dass nicht meiner Milchfontäne zum Opfer gefallen war. Zufrieden buddelte sie zwei eingepackte Sandwichs hervor.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich bei ihr.
»Wir können da nichts machen, dass ist schon sozusagen vorbestimmt wer unser Partner wird«, erklärte Holly. »Oder denkst du ich hätte freiwillig mit dem Holzkopf Jayden ein Team gebildet?«
»Also Holly«, ertönte eine Stimme hinter der kleinen Japanerin. »Ich wusste ja nicht das du hinter meinem Rücken so schlecht über mich redest. Und das obwohl ich immer so nett zu dir bin.« Jayden. War ja auch irgendwie klar. Immer wenn man über eine Person redet, was nicht gerade das netteste ist … ZACK! Steht diese hinter einem und hat alles gehört. Größtes Fettnäpfchen überhaupt in das man da treten kann.
»Nervtötend trifft es wohl eher«, murmelte Holly und spießte mit ihrer Gabel ein Oktupuswürstchen aus ihrem Obento auf. Die fand ich extrem süß und lecker obendrein. Es waren einfache kleine Würstchen, in die man unten ein Kreuz reinschneidet (etwa einen halben Zentimeter) und dann brät. Beim braten biegen sich die angeschnittenen Teile auseinander und sehen dann aus wie kleine Oktopusse. Richtig niedlich.
»Also ich bin mit Ethan ganz zufrieden«, verkündete Summer.
»Das hört man immer gern.« Ich drehte mich um und Ethan stand neben mir. Ich stöhnte genervt auf. Wenn er hier war dann …
»Hallo alle zusammen … FannyBunny.« Ich warf Noah einen genervten Blick zu, der rechts neben mir in meinem Blickfeld auftauchte.
»Was willst du?«, fragte ich und stand auf. Ich wartete gar nicht seine Antwort ab, sondern versuchte sofort ihn abzuwimmeln. Ich hatte so gar keine Lust auf ihn. Seit ich wusste was hier vor sich ging, war Noah irgendwie nicht mehr so mysteriös (vielleicht nur noch ein bisschen). Dafür war seine Unausstehlichkeit ungemein angestiegen. »Ich hab jetzt eine Freistunde und will die zum lernen nutzen, also tut es mir sehr leid, aber ich habe anscheinend keine Zeit für dich.«
»Trifft sich super, weil ich auch eine haben.« Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Innerlich sah ich mich schon in Höchstgeschwindigkeit aus der Cafeteria rennen und in den hintersten Winkel der Schule flüchten, wo er mich nicht finden würde. Doch Noah ging hier schon länger zur Schule, also würde diese Art von Ausweichmethode nicht funktionieren. (Manchmal verlief ich mich immer noch, wann es hieß »Zimmerwechsel«)
»Schön. Dann willst du also mit mir lernen oder wie sehe ich das?«
»Wenn du nichts dagegen hast. Dann kann ich mir den Weg am Freitag zu euch sparen.«

Still saßen wir beide uns in der Bibliothek gegenüber. Beide in die gleiche Matheaufgaben vertieft. Naja fast. Ich war jedenfalls mit meinen Gedanken ganz woanders. Andauernd kreisten sie um das, was ich in dem Bücherladen herausgefunden hatte. Noah erfüllt die Pflicht seiner Vorfahren und beschützt die Haddingtonfamilie. Aber hat er da nicht selber langsam die Nase voll? Dauernd auf andere aufzupassen muss doch tierisch anstrengend sein. Und vermutlich ist das auch nicht gut für den seelischen Zustand. Man macht sich doch dann immer Sorgen und kann nicht mal richtig zur Ruhe kommen. Wieso tut er das? Von ganz alleine ja wohl kaum, außer …
»Was ist los?« Noah sah mich an. »Du starrst mich schon die ganze Zeit an. Verstehst du die Aufgabe nicht?«
Ich schaute ihn fest in die Augen. »Warum machst du das?« Die Frage kam viel ernster rüber, als ich es eigentlich wollte. Irritiert sah mich mein Gegenüber an.
»Warum ich mit dir lerne?«, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.
»Nein. Warum du mich beschützt? Warum du mir hinterher rennst wie ein treuer Hund und aufpasst, dass mir nichts passiert. Niemand würde so etwas von allein machen und ich weiß das du das alles nur machst um deine Pflicht gegenüber deiner Vorfahren zu erfüllen. Aber mich interessiert dieser ganze altmodische Kram nicht. Mach das meinetwegen bei Ethan oder irgendjemand anderes. Ich mach dir auch keine Vorwürfe wenn mir etwas passiert… Also was ich damit sagen will: Lass einfach den ganzen Ich-muss-meine-Pflich-erfüllen-Quatsch sein und behandle mich einfach ganz normal.« Meine Worte verhallten in der Luft und es entstand eine kurze Pause, bis Noah wortlos den Kopf schüttelte.
»Das ist es nicht«, sagte er. Fest sah er mich an und ich wusste, dass er nun ehrlich mit mir sprach. Nicht so wie sonst, dieses angeberische Getue oder Geheimnisgerede, sondern ganz normal und ehrlich. Das waren sehr seltene Momente, wenn er sich so zeigte. »Das ich dich beschütze hat nicht im geringste etwas mit der Tradition meiner Familie zu tun. Bei Ethan vielleicht, aber da auch nur größtenteils, weil wir Freunde sind. Bei dir mache ich das allein von mir aus. Du wirst schon noch bald verstehen warum und welche Gründe ich dafür habe.«
»Das sagst du ständig. Aber egal wie lange ich warte, meine Fragen bleiben immer noch unbeantwortet.« Noahs Handy vibrierte und er schaute auf die Nachricht, die er bekommen hatte. »Hey hörst du mir überhaupt zu?«, beschwerte ich mich.
»Und genau das wird sich jetzt ändern.« Noah stand auf und reichte mir seine Hand. Ich sah ihn irritiert an.
»Was–?«
»Frag nicht so viel. Du willst doch Antworten auf deine Fragen. Von jetzt an wirst du alles verstehen.« Das ganze kam mir zwar komisch vor, aber ich nahm trotzdem seine Hand und ließ mich von ihm führen.
»Wo gehen wir hin?« Diese Frage brannte mir schon die ganze Zeit auf der Zunge, doch als wir draußen Richtung Schultor liefen, wurde ich doch langsam etwas skeptisch. Wo wollte er denn mit mir hin?
»Das wirst du schon sehen.« Ein Auto hatte vor dem Tor geparkt. Noah machte mir die Tür auf und ich stieg, wenn auch etwas zögerlich, ein. Beide nahmen wir auf der Sitzbank platz und wies den Fahrer an loszufahren. Er wüsste schon wohin.
»Wo fahren wir hin?«, fragte ich erneut, nur diesmal mit fester Stimme und ernstem Blick.
»Ich sagte doch, das wirst du schon sehen. Mehr oder weniger.« Er holte etwas aus der Hosentasche seiner Uniform. »Tu mir ein gefallen und verbind dir damit die Augen.« Nicht schon wieder.
»Was? Garantiert nicht.«
»Vertraust du mir etwa nicht?« Wieder die Vertrauensleier. Ich verdrehte die Augen.
»Ich habe dir meine Sicht dazu schon bereits gesagt. Ist das wirklich notwendig?«
»Das letzte Mal«, versicherte mir Noah. Ich seufzte und drehte ihm dann den Rücken zu.
»Na schön.« Vorsichtig wurden mir die Augen verbunden und hinten, zwar fest aber nicht zu fest, ein Knoten gemacht wurde. »Wozu das ganze überhaupt? Auch reine Vorsichtsmaßnahme? Ich dachte so gefährlich wäre ich nicht.«
»Meinen Spaß musst du mir auch mal lassen.«
»Das ist ja wie im Kindergarten«, entgegnete ich ein wenig spöttisch.
»Aber trotzdem aufregend, oder?« Noah hatte das ganz leise in mein Ohr geflüstert und ich hatte seinen Atem auf meiner Haut gespürt. Sofort lief mir ein Schauer über den Rücken.
»Dafür hab ich aber was gut bei dir.« Ein belustigtes Schnauben kam von Noah.
»Klar FannyBunny.«
Wir fuhren ungefähr eine Viertelstunde, aber genau konnte ich das nicht sagen. Als wir hielten wollte ich schon die Augenbinde abnehmen, aber ich wurde davon abgehalten.
»Gleich«, sagte Noah und half mir beim aussteigen. Ich hörte wie das Auto wieder wegfuhr.
»Jetzt?«, fragte ich.
»Jetzt«, sagte Noah und nahm mir die Augenbinde ab, »Sind wir da.« Ich blinzelte einige Male um mich wieder an das helle Licht zu gewöhnen. Als ich sah wo wir uns befanden entfloh mir ein »Oh«. Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Ich weiß es ist nicht gerade das was du denkst, aber eigentlich geht auch mehr um den Besitzer dieses Ladens. Die Bücher sind natürlich auch nützlich und voller Informationen–«
»Du kennst den Laden auch?«, unterbrach ich ihn.
»Wie du auch … Nein, … sag bloß du warst schon mal hier.« Das erste Mal sah ich Überraschung in seinem Gesicht. Wir standen nämlich beide vor Mattimeos Buchladen.
»Doch gestern. Ich hab einen Mann in der Stadt getroffen, in einem der Buchläden. Er sprach mich an und führte mich anschließend hier her. Wusstest du das dieser Laden viele Informationen über Traumfresser, eure Gruppe von Jägern und vielen anderen Dingen gibt.« Noah war sprachlos. Kein Wort kam mehr über seine Lippen. »Ich fasse es nicht du bist sprachlos. Okay diesen Tag muss ich mir unbedingt im Kalender rot anstreiche. »Der Tag an dem ich Noah Castor sprachlos machte« klingt doch ziemlich gut.«
»Du bist unverbesserlich.« Er schüttelte den Kopf und wir betraten den Laden.
»Da bist du ja endlich«, empfing uns sofort Brünetti aus dem Klub. »Wir dachten schon ihr würdet gar nicht mehr kommen.«
»Wir sind sofort los, als ich deine SMS bekommen habe.« Ich stand ein wenig unschlüssig neben den beiden und wusste nicht so recht, ob ich was sagen sollte.
»Jetzt hört aber mal auf ihr zwei Streithähne. Ständig habt ihr euch in der Wolle, sobald ihr euch nur seht.« Der Junge mit der Brille kam hinzu und brachte beide auseinander. Waren etwa alle aus dem Klub hier? Und wenn ja wieso? »Schließlich haben wir doch heute einen Ehrengast.« Ehrengast? Meinte er mich damit?
»Ich hab eure Namen letztens nicht mitbekommen«, meldete ich mich vorsichtig zu Wort.
»Oh, tut uns leid. Wo haben wir nur unsere Manieren … « Der Junge rückte seine Brille zurecht. »Ich bin Randy und das ist Juliette. Noah kennst du ja bereits und den Rest wirst du heute noch kennenlernen. Das hat aber noch Zeit für später. Aber zuerst müssen wir dich wem anders vorstellen.« Wir folgten ihm weiter nach hinten. Wir passierten eine Menge Schränke mit Büchern – und ich fragte mich, wie groß wohl dieses kleine Haus noch sein würde – und hielten vor einer Tür. Quietschend wurde diese auf gemacht und wir betraten einen kleinen Gang. Dieser hatte fünf Türen – rechts und links je zwei und geradezu eine. Wir nahmen die zweite Tür von rechts.
»Und? Bereit?«, fragte mich Randy und zwinkerte mir zu.
»Bereit wofür?«, fragte ich, doch da wurde schon die Tür geöffnet.
Ich kniff die Augen zusammen. Helles Licht traf meine Augen und auf einmal befand ich mich nicht mehr in einem staubigen, kleinen und dunklen Bücherladen, sondern in einer Art riesigen Bibliothek, wie man sie nur in den schönsten Einrichtungen sehen würde. Große Fenster, die das Licht hinein ließen, allerlei Verzierungen an der Decke, den Wänden. Riesige Bücherregale aus Holz. Gekachelter Fußboden in einem Schachbrettmuster mit rotem Teppich ausgelegt. Eine zweite Etage mit noch mehr Regalen. Das Geländer, von den breiten Treppen, verschnörkelt und geschwungen. Es sah alles genauso aus, wie ich es schon einmal in meinem Traum gesehen hatte. Aber …
»Wie passt diese Bibliothek denn bitte in das kleine Haus!?«
»Sie verkraftet es besser als ich dachte«, sagte Juliette zu den Jungs und musterte mich interessiert. »Sie ist wirklich ein interessantes Mädchen. Trotz ihrer Ahnungslosigkeit und diversen anderen Mängeln.«
»Hey!«, sagte ich beleidigt und wollte Brünetti ebenfalls etwas gemeines an den Kopf schmeißen, als eine ältere Herrenstimme uns unterbrach.
»Bitte streitet euch nicht. Juliette sei nett zu unserem Gast. Schließlich wird sie nun zu uns gehören, also freunde dich mit ihr an.« Auf einmal war Juliette wie ausgewechselt.
»Ich werde es versuchen, Meister«, sagte sie unterwürfig. Okayyyy … das ist strange. Ich befürchtete an eine Art Sekte oder geheime Organisation geraten zu sein, in der den Mitgliedern eine Gehirnwäsche unterzogen wird. Aber als ich den »Meister« sah, kamen mir bedenken.
»Das ist das mindeste was ich von dir erwarten kann.« Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, wen ich da vor mir hatte. »Herzlich Willkommen Fanny. Ich freue mich das du hier bist, in unserem Versteck der Traumjäger.«
»Aber sie sind doch … der Ladenbesitzer oder nicht?« Vor mir stand Mattimeo.
»So ist es. Aber nicht nur. Doch zuerst lass mich dich herumführen. Ich erkläre dir nebenbei, warum du hier bist.« Ich war wirklich gespannt und folgte dem Mann, den ich erst vor 24 Stunden als Besitzer eines Buchladens kennengelernt habe.
Während ich durch die große Halle voller Bücher geführt wurde, erklärte mir der ältere Mann, dass die Gilde der Traumjäger schon seit Generationen bestehe. Traumjäger sind Menschen mit besonderen Fähigkeiten, denen es ihnen ermöglicht in eine andere Welt zu gehen (z.b. Träume von anderen Menschen). Hierfür muss man zuallererst seinen Geist vom Körper lösen. Für gewöhnlich ist das schon die erste Hürde für Neulinge, doch nachdem was er erfahren hatte, sei ich ein besonderer Fall. Aufgrund von großer Konzentration kann es einem ermöglicht werden, sich in der Zwischenwelt und Traumwelt Sachen zu bedienen, die man durch bloße Vorstellungskraft hervorruft. Das hatte ich zwar nur in der Traumwelt herausgefunden, aber in der Geisterwelt war ich daran wohl gescheitert. Naja man kann nicht alles auf einmal haben.
Wenn man in den Traum eines anderen Menschen möchte, musste man damals noch denjenigen im Schlaf aufsuchen. Doch dafür hatte man inzwischen eine Lösung gefunden, nämlich durch die Bücher. Sie sind eine Art direkte Verbindung zum Traum der jeweiligen Person.
Ich fand alles, was ich hier erfuhr, hoch interessant und so langsam konnte ich einige zusammenhänge herstellen. Zum Beispiel warum Noah in der Nacht in meinem Traum war. Ein Traumfresser hatte sich in meine Traum geschlichen und mir immer mehr Angst gemacht, in dem er mir unliebsame Szenarien zeigte. Angst und alles Negative ist, soweit ich von Noah weiß, dass wovon sie sich ernähren. Doch Seelenflammen sind ihre Leibspeise.
Von Mattimeo erfuhr ich weiterhin, dass das Traumjäger-Gen schon seit Jahrzehnten innerhalb der Familie weitervererbt wurde.Was erklärt, warum ich dieses Gen nun habe. Das soll ich seitens meinem Vater bekommen haben, der übrigens Schüler bei Mattimeo gewesen ist.
»Er war wirklich ein sehr talentierter Mann.«
»Wissen Sie warum er damals mit meiner Mutter nach Deutschland gezogen ist?«, fragte ich ihn. Das war eine der Fragen, die mir schon lange unter den Fingern brannte. Sie hätten auch in England bleiben können, nur etwas weiter nach Norden oder Osten. Aber gleich auszuwandern? Das ergab für mich keinen Sinn.
»Leider nicht.« Mattimeo schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich weiß nur das etwas vorgefallen ist, weshalb sie das Land verließen. Aber darüber weiß nur Sir Haddington bescheid.«
»Mein Großvater?«
»Eben dieser. Übrigens ist dieser großartige Mann einer unserer Finanzierer. Er unterstützt uns mit finanziellen Mitteln, wovon wir glücklicherweise nicht viel benötigen.«
»Grandpa weiß hiervon?«
»Er war selber mal einer von uns gewesen.« Mir blieb die Spucke weg. Grandpa soll ein Traumjäger gewesen sein? Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. »Er mit einer der Besten gewesen und wäre es sicher heute noch, wenn da nicht die eine Sache passiert wäre.« Ich wollte gerade fragen, was er mit der einen Sache meinte, als wir in einen hell erleuchteten kreisrunden Raum kamen, in dessen Mitte ein ebenso kreisrunder Tisch stand, an den alles Mitglieder des P.U.S.P. Klubs saßen.
»Das sind alles meine Schüler. Die meisten von ihnen müsstest du schon kennen.« Die ganze Truppe hatte ihre Augen auf mich gerichtet und ich fühlte mich leicht unwohl. Ich mochte es nicht wenn mich Leute beobachteten. Da fühlte ich mich immer so … schutzlos. Jeder schien meine Gedanken lesen zu wollen, studierte meine Mimik, meine Gestik und durchbohrte mich mit blicken, die alle etwas anderes vermittelten.
»Bitte stellt euch doch unserem Neuling vor. Ich weiß ihr kennt euch größtenteils aus der Schule, aber des Anstands wegen, bitte ich euch darum.« Es folgte eine Vorstellungsrunde, in der jeder seinen Namen sagte, Alter und Klasse und welchen Partner ihm zur Seite stand. Bis auf Summer, Ethan, Noah, Holly, Jayden, Juliette und Randy, stellten sich mir die Zwilling zum ersten Mal vor – Jamie und Jerry. Und alle außer Noah hatten einen Partner.
»So.« Mattimeo klatschte einmal in die Hände. »Wo wir das erledigt hätten, würden wir dann zu deiner Aufnahme in den Kreis der Traumjäger kommen Fanny.« Er nahm ein großes, altes Buch vom Tisch, welches schon die ganze Zeit darauf gelegen hatte. Ich erstarrte Augenblicklich. Was war denn jetzt los?
»Also was das angeht … kann ich Sie mal kurz unter vier Augen sprechen?« Und schon wieder ging mir die ganze Sache zu schnell. Doch Mattimeo schien für mein Zögern Verständnis zu haben und brachte mich in ein Zimmer, wo wir ungestört miteinander reden konnten.
In einem kleinen Nebenraum, ebenfalls mit Bücherregalen ausgestattet und einem Schreibtisch, ebenso wie anderen Schnick-Schnack, versuchte ich Mattimeo meine Abwehrhaltung zu erklären.
»Es ist ja nicht so das ich an eurer Sache keinen Gefallen finden würde,«, fing ich an zu erklären und spielte ein bisschen nervös mit meinen Fingern, »aber das alles kommt ziemlich plötzlich. Ich weiß gerade mal seit ein paar Wochen das Traumjäger, böse Geister und andere obskure Sachen existieren, von denen ich dachte, dass sie allenfalls einem Märchen entsprungen sein könnten.«
»Sag ihm doch gleich das du keine Lust hast da mitzumachen«, ertönte eine kratzige freche Stimme von der Seite. »Du hast doch sowieso nur Bedenken wegen der ganzen Sache. Das alles ist dir doch nicht geheuer, hab ich recht?« Wie eine mechanische Puppe drehte ich langsam meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Das durfte doch nicht wahr sein. Was machten denn die beiden Quälgeister hier? Der rote Drache – Top – saß auf einem Globus und drehte diesen leicht mit den Fuß.
»Red nicht so einen Blödsinn.« Tip kam angeflogen und ließ sich auf die Kommode nieder. »Sie braucht die Leute hier. Schließlich muss sie jemand in der Menschenwelt beschützen und sie muss lernen ihre Fähigkeiten einzusetzen. Das ist äußerst wichtig.«
»Ist aber immer noch ihre Entscheidung. Außerdem wird alles doch noch viel abgedrehter. Vielleicht macht sie das vollkommen verrückt und sie wandert in die Klapse.« Top hatte ein diabolisches Grinsen aufgelegt, als ob ihm das Spaß machen würde mir Angst zu machen – vermutlich gar nicht so abwegig.
»Halt einfach den Mund, da kommt nur Squitch raus!« Mit einem kräftigen Schwung drehte Tip den Globus, sodass dieser Top mitriss und ihn von der Kommode katapultierte. Dann wandte er sich wieder an mich. »Vertrau mir Fanny. Es ist wirklich nur zu deinem besten. Diese Leute können dich beschützen und dir helfen. Top und ich werden weiterhin über dich wachen, aber lauf nicht davon. Du hast etwas besonderes an dir, wie keine Zweite.« Dann sprang auch Tip von der Kommode und flog davon. Ich hatte die Konversation der beiden stumm und mit fast offenem Mund verfolgt, weil ich sie einfach hier nicht erwartet hatte.
»Fanny? Fanny.« Ich schreckte hoch. Mattimeo stand neben mir und blickte mich fragend an. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Er hatte offensichtlich mit mir geredet und ich hatte nicht zugehört. Abgelenkt genug war ich ja.
»Haben Sie das eben nicht gesehen?«, fragte ich irritiert und zeigte auf den Globus, der sich immer noch etwas drehte. Er schaute auf den gezeigte Gegenstand.
»Nein. Was meinst du?«
»Aber … da waren doch … « Ich seufzte und rieb mir die Augen. Das darf doch nicht wahr sein. Wurde ich langsam wirklich noch verrückt? Aber mittlerweile war ich mir doch sicher, dass die beiden keine Einbildung sind.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte mich Mattimeo sofort. Jeder hier machte sich bei den kleinsten Sachen oder Andeutungen meinerseits, von jetzt auf gleich Sorgen.
»Ich könnte ein Glas Wasser ganz gut gebrauchen«, sagte ich.
»Natürlich. Setz dich doch so lange.« Der Buchladenbesitzer bot mir den Stuhl am Tisch an, auf den ich mich fallen ließ und die Holzplatte vor mir anstarrte. Mattimeo verschwand und mir geisterten wieder unentwegt Gedanken durch den Kopf. Ich dachte endlich, dass ich wüsste woran ich bin. Das ich eine ungefähre Ahnung davon hatte, was hier abgehen würde und warum jeder so erpicht darauf ist mich zu beschützen. Aber vor was und wen? Und viel wichtiger, warum?
Ein bisschen Zeit verstrich und Mattimeo war bisher noch nicht wieder aufgetaucht. Als ich aufstand um nach ihm zu sehen, blieb ich an der leicht angelehnten Tür stehen. Stimmen waren aus dem Raum von nebenan zu hören und sie sprachen über mich.
»Ich hab doch gewusst das sie dafür nicht bereit ist. Und vor allem ist sie total ungeeignet. Sie weiß doch absolut nichts. Dem ersten Traumfresser wird sie sowieso zum Opfer fallen, ich sag es euch. Was hast du dir nur dabei gedacht Noah?« Juliette schimpfte ohne Punkt und Komma in die Runde hinein. Es war nicht schwer rauszuhören, dass sie über mich herzog. Mir war aber schon seit unserer ersten Begegnung klar, dass sie mich nicht besonders gut leiden konnte. Beruhte aber auch auf Gegenseitigkeit.
»Ich tat das, was ich für richtig hielt«, verteidigte sich Noah. »Es war meine Entscheidung und wenn es sich als falsch herausstellt, dann werde ich dafür gerade stehen. Du hast doch fast gar nichts mit der Sache zu tun Juliette, also reg dich nicht so auf.«
»Denkst du die Kleine wird alles in der kurzen Zeit aufholen können, was wir schon seit Jahren lernen mussten? Das wird sie nie und nimmer schaffen.«
»Ich muss zugeben, dass das Wissen der Neuen nicht gerade vorzeigbar ist, Noah«, schaltete sich auch Randy mit in die Unterhaltung ein. »Von ihren Fähigkeiten wissen wir bisher noch nichts, aber du sagtest sie seien „außergewöhnlich“. Was können wir uns darunter vorstellen?«
»Es wird einem viel klarer, wenn man es sieht«, sagte Noah ruhig. »Auf jeden Fall weiß ich schon so viel, das sie eine enorme Kraft hat, was das Reinigen von Traumfressern angeht.«
»Und?«, entgegnete Juliette erneut. »Holly und ich sind auch mit die stärksten, wenn es um solche Sachen geht.« Sie wollte einfach nicht aufgeben.
»Aber ihr könnt es erst anwenden, wenn der Traumfresser geschwächt ist. Sie hat es einfach so geschafft, während er seine volle Kraft entfaltet hat, und sie schwer verletzt war. Mit einer einfachen Handberührung und kindlichen Worten hat sie seine negative Energie fast vollkommen wieder auf Null zurück gesetzt.« Am Tisch war es plötzlich still geworden.
»Das ist doch Blödsinn«, schnaubte Brünetti. »Noch nie hat jemand ein solches Ausmaß an Kraft besessen. Das hast du dir garantiert eingebildet Noah, oder etwas anderes war die Ursache dafür gewesen.«
»Außerdem zieht sie Traumfresser geradezu magisch an«, fuhr Noah unbeirrt fort. »Nicht wahr Ethan?« Mein Cousin hatte sich in diesem Gespräch bis jetzt rausgehalten, ebenso wie Summer, Holly, Jayden und die Zwillinge – bei Juliettes Temperament nicht verwunderlich.
»Ja«, sagte Ethan nach einigen stillen Sekunden. »Das tut sie. Ich habe es selber schon miterlebt. Wenn sie nicht rechtzeitig aufgewacht wäre, … ich weiß nicht, ob wir mit allen fertig geworden wären.«
»Das heißt sie ist eine Art Bedrohung, aber auch sehr nützlich für uns.« Randy rückte seine Brille zurecht und schaute ernst in die Runde. »Wenn sie wirklich bei uns bleibt, werden wir alle in Gefahr sein, ob wir es wollen oder nicht. Vielleicht wäre es dann besser den Kontakt mit ihr zu meiden-«
Ich schloss die Tür. Kein weiteres Wort wollte ich nun hören. Was war das hier überhaupt? Was tat ich hier? Das ist doch alles lächerlich. Ich war einfach nur Neugierig gewesen und wollte unbedingt herausfinden, was es mit der ganzen Traumsache auf sich hatte. Und das war mir doch auch gelungen. Von mitmachen war nie die Rede. Ich würde nur jeden unnötig in Gefahr bringen. Und das wollte ich unter keinen Umständen. Nicht meine Freunde, nicht meinen Cousin oder andere Menschen.
Ich rutschte mit dem Rücken an der Tür hinunter und vergrub mein Gesicht in meine angewinkelten Knien. Immer mehr versank ich einen Strudel aus Selbstverzweiflung, der mich immer wieder für meine bodenlose Dreistigkeit schollt, selbstsüchtig zu handeln und dabei keine Rücksicht auf andere zu nehmen. Ich versank so sehr darin, dass ich gar nicht bemerkte wie ich einschlief. Nur leider erwartete mich kein besonders angenehmer Traum.    

Kapitel 22

 

Man weiß nie wie Träume anfangen oder merkt wann man einschläft und in die Traumwelt eintaucht. Ich habe schon unzählige mal versucht diesen Moment zu realisieren, aber das ist quasi unmöglich. Ebenso wie es für mich bislang unmöglich war mir des Träumens bewusst zu werden. Einige Leute sind darin geübt und wissen das sie nur Träumen, auch wenn es nur ein kleiner Prozentanteil ist. Wenn das passiert hat man die Möglichkeit alles zu tun, was man schon immer wollte. Es gibt keine Grenze und alles obliegt deiner Fantasie. Manchmal träumt man auch gar nichts und alles ist nur schwarz oder man kann sich nicht mehr daran erinnern. Diese Nacht kommt einen dann unglaublich kurz vor. Wenn man aufwacht und es ist schon Morgen, dann wundert man sich für eine Sekunde. Neben den guten Träumen gibt es noch Alpträume, die wahrhaften Killer des Schlafs. Verfolgungsjagden bei denen man selber nicht schnell genug vorankommt, ertrinken im Wasser, während man versucht verzweifelt die Oberfläche zu erreichen, man fällt in die Tiefe, Wände kommen immer näher auf einen zu oder man wird von einem Psychokiller durch die Gegend gejagt, den man nie zu sehen bekommt, sondern nur gruselige Geräusche hört.

Ich schlief sehr plötzlich ein. Woher die Müdigkeit kam, wusste ich nicht. Zunächst driftete ich in einen schwarzen Traumlosen Schlaf weg. Doch bei der Dunkelheit blieb es nicht. Immer wieder hörte ich die Worte von Juliette, Randy, Ethan und Noah. Immer wieder diese Aussagen über meine Gefährdung der Gruppe, meinen besonderen Fähigkeiten und ungenügendem Wissen. Unter all den Stimmen ertönte eine andere, die nicht zu den meiner »Freunde« passte. Sie gehörte einem kleinen Mädchen, das ich, und da war ich mir sicher, schon einmal getroffen hatte.

»Fanny«, rief sie. »Fanny.« Immer wieder rief sie nach mir. »Fanny hilf mir.« Diese zwei Sachen wiederholte sie stetig. »Komm und hilf mir Fanny.«

Wie von selbst tappten meine Füße los. Ich lief auf einem kalten Boden und konnte nichts sehen. Alles um mich herum war schwarz und dunkel. Begleitet von dem widerhallen meiner Schritte und den immer fortlaufenden Rufen des Mädchens, ging ich weiter und weiter, bis ich in der Ferne etwas sah. Es war ein Wald.

Eingetaucht in einem fahlen Mondlicht, wirkte er noch düsterer als sonst schon. Die Kinderstimme kam genau aus dem Wald und rief nach mir. Unschlüssig stand ich vor dem Waldrand, nur noch einen Schritt davon entfernt mich in die Düsternis zu begeben, von der ich nicht wusste, was mich darin erwarten würde.

Ehe ich mich jedoch entscheiden konnte verlor ich das Gleichgewicht und … fiel. Dunkelheit umgab mich und ich schien teilweise zu schweben. Dann landete ich in etwas weichem und Wärme umfing mich. Ich spürte das jemand bei mir war und ich genoss diese Präsenz. Es erinnerte mich an früher, als meine Mum mich ins Bett gebracht hat, wenn ich auf dem Sofa eingeschlafen war. Dann deckte sie mich zu, strich mir durchs Haar und küsste mich auf die Stirn und flüsterte mir ein »Gute Nacht mein Schatz« ins Ohr, ehe sie ging.

Aber ich wollte nicht das sie ging. »Bleib hier«, flüsterte ich trunken im Halbschlaf und griff mit der Hand in die Luft. Kurz darauf bekam ich etwas zu fassen. Zwei Hände umschlossen die meinen und jemand setzte sich zu mir ans Bett.

Sie ist hier. Endlich ist sie wieder da.

 

Die Sonnenstrahlen kitzelten mein Gesicht und ich wachte auf, ehe ich den Wecker klingeln hörte, der mir sagte, dass es Zeit zum aufstehen und fertig machen für die Schule war. Wie in Trance schaute ich an die Decke meines Himmelbetts und versuchte mir in meinem Gedächtnis zusammenzukramen, was gestern nach dem belauschten Gespräch passiert war. Doch nachdem ich eingeschlafen war … kamen nur noch Bruchstücke in meinen Erinnerungen vor. Dieser bizarre Traum, der wie ein Ruf aus einer anderen Welt schien und die verschwommene Erinnerung an eine Person.

Das Klopfen an der Tür sagte mir, dass Alice nun da war und es langsam Zeit war aufzustehen. »Komm rein«, sagte ich nur, starrte aber weiterhin die Decke an. Kaum hatte Alice mein Zimmer betreten ging der Wecker los. Dadurch ging Alices fröhlich trällerndes »Guten Morgen, Miss Fanny!« in dem Gescheppere des Blechdings unter. Ein gezielter Schlag mit der flachen Hand und schon war es wieder ruhig.

»Morgen Alice«, murmelte ich schlaftrunken. Ich setzte mich auf und schaute durch den Spalt der Vorhänge nach draußen. Eigentlich sollten diese zugezogen sein, aber etwas Licht kam immer durch. Schwungvoll, sodass der wenige Staub aus dem Stoff der Vorhänge flog, riss mein Zimmermädchen die Vorhänge beiseite und öffnete die großen Fenster, damit auch ja die frische Morgenluft in mein muffiges Zimmer kommen konnte. Dabei fand ich es gar nicht so stickig. Das Licht, welches mir mit geballter Ladung ins Gesicht schlug, blendete mich und ich ließ ein unzufriedenes Stöhnen von mir hören.

»Ist das nicht ein herrlicher Tag«, sagte Alice – wahrscheinlich mehr zu sich selbst als zu mir.

»Ganz toll«, gähnte ich und kroch aus meinem warmen himmlischen Reich der Zuflucht vor Schule, nervigen Lehrern und schwierigen Hausaufgaben.

»Jetzt aber schnell waschen und anziehen. Dein Großvater möchte dich noch sprechen bevor du zur Schule gehst.« Alice schob mich ins Badezimmer und ich realisierte erst Alices Worte, als ich mir das kalte Wasser ins Gesicht gespritzt hatte.

Ein wenig verkrampft stand ich wenig später unten vor dem Arbeitszimmer von Grandpa und versuchte all meinen Mut zusammenzukratzen, um überhaupt anzuklopfen. Was wenn ihn wieder etwas störte? Hatte ich mich in der Schule mal falsch verhalten? Oder ist mir im Anwesen etwas kaputt gegangen? Hat Cupcake Blödsinn gemacht? Was wenn er ihn wegbringen will?

Ehe ich mir noch schlimmere Vorahnungen ausmalen konnte, ging die Tür vor meiner Nase auf und mein Großvater steckte seinen Kopf heraus. Überrascht trafen sich unsere Blicke. Fast so, als ob er nicht erwartet hätte das ich wirklich bei ihm auftauche und ich hingegen, dass er scheinbar persönlich nach mir sehen wollte. Dann musste es wirklich was schlimmes sein.

»Da bist du ja. Komm rein, ich habe schon auf dich gewartet.« Ich trat hinter ihm ein und schloss die Tür. Erneut kroch dieses mulmige Gefühl in mir hoch. Ich wusste es ganz genau. Tief in mir drin. Die Angst hatte sich in meinem Herz eingenistet. Ich würde aufpassen müssen was ich zu ihm sage. Bei einer falschen Antwort wusste ich was im Zweifelsfall passieren konnte – Erfahrungen lehren einen.

Aus diesem Grund war ich mir unschlüssig, ob ich mich unaufgefordert setzen sollte oder lieber stehen blieb. Wie ich da so unentschlossen dastand und nachgrübelte, welches ich von den beiden Sachen tun sollte, hatte sich Grandpa derweil schon längst in seinem Arbeitssessel nieder gelassen und schaute mich nun mit einem verwunderten Blick an.

»Setz dich ruhig«, sagte er freundlich, was mich wieder etwas mehr verwirrte.

»Äh … ja. « Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber vom Schreibtisch, bedacht darauf möglichst gerade zu sitzen.

»Ich weiß das du gleich zur Schule musst, deswegen beeile ich mich und mache es kurz.« Er zog eine Schublade auf und holte etwas heraus. »Hier. Sieh es als Entschuldigung für mein Missgeschick an.« Ein kleines Paket schob sich über den Tisch zu mir rüber. Nun war ich gänzlich verwirrt. Was sollte das denn werden? »Mach es ruhig auf«, forderte Grandpa mich auf und ein kleines Leuchten war in seinem Augen zu sehen, als ob er gespannt darauf wäre, wie ich wohl reagieren würde.

Vorsichtig wickelte ich das Papier ab und legte den Inhalt darunter frei. Es war die Verpackung von einem brandneuem iPhone. Ich hatte so eins schon oft an Plakatwänden, Flyern, Katalogen, Internetwerbung oder im Fernsehn gesehen. Die Produkte von Apple werden immer sehr hoch gehypte und sind sehr beliebt bei Geschäftsleuten, Designern oder Menschen mit viel Geld. Als ich noch in Deutschland gelebt habe konnte ich mir so ein teures Handy nicht in hundert Jahren leisten und wenn ich ehrlich war, wollte ich das auch nicht. Mit so komplizierten Handys konnte ich meist nichts anfangen. Und so oft wie andere an der Schule, benutzte ich meins nie. Ich besaß noch eine ältere Ausgabe von dem Handy eines Freundes aus Deutschlands. Dessen Eltern hatten ihm zu Weihnachten ein neues geschenkt und dachten ich könnte sein altes benutzen. Und so kam eins zum andern. Es war schon eine Umstellung für mich gewesen von einem Tasten- zu einem Touchhandy überzugehen, doch da die Handhabung dieses Gerätes nicht so kompliziert wie die heutigen war, konnte ich mich schnell mit dem kleinen Ding arrangieren. Aber das …

»Grandpa das …«

»Nein«, unterbrach er mich. »Du musst nichts sagen. Nimm es einfach an und betrachtete es außerdem als Anregung deine Noten zu verbessern und für eine bessere Kommunikation zwischen uns. Ich habe selbstverständlich eine Sim-Karte besorgt, mit dem nötigen Vertrag und die wichtigsten Nummern schon in das Handy eingespeichert. Ich mag zwar alt sein, aber selbst ich bin auf diese kleinen Geräte angewiesen bei meiner Arbeit. Da halte ich es nur für angebracht, wenn meine Enkelin auch eines hat, damit ich dich immer erreichen kann im Notfall.« Ich blickte eine Weile auf die Verpackung des neuen elektronischen Geräts, das vor mir lag. Zugegeben das Angebot war zu verlockend, aber trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen es einfach so anzunehmen. Es fühlte sich irgendwie nicht richtig an …

»Ich brauche so etwas nicht«, platzte es aus mir heraus. »Ich brauche keine Geschenke als Wiedergutmachung. Deine Entschuldigung hat mir vollkommen ausgereicht und irgendwie war ich ja auch mit selbst Schuld an dem Vorfall. Ich danke dir vielmals für deine Großzügigkeit Grandpa, aber ich fürchte ich kann das Geschenk nicht annehmen. Es tut mir leid.« Ich wollte schon aufstehen und gehen als mich ein Lachen zurück hielt. Großvater saß in seinem Sessel und lachte vergnügt. Ich hielt mitten in meiner Bewegung inne. Bis jetzt war mir nie aufgefallen, dass ich Grandpa bis jetzt noch nicht ein einziges Mal hatte Lachen sehen. Es hörte sich warm an und fröhlich, so wie ich es mir als Kind immer vorgestellt hatte, wenn ich einen Großvater gehabt hätte.

»Du bist ihr wirklich sehr ähnlich«, sagte er und lachte dabei. »Sie wollte auch immer keine Geschenke als Wiedergutmachung von mir haben, wenn wir uns gestritten hatten.« Wer war sie? Diese Person war schon einmal aufgetaucht – beim Abendessen hatte er von ihr gesprochen. »Aber nimm es ruhig an. Es soll ja nützlich sein. Für uns beide.« Noch immer war ich mir unschlüssig ob ich das Handy nehmen sollte oder nicht. Da setzte Grandpa noch eins drauf, so das es mir unmöglich war es nicht zu tun. »Nimm es an und ich akzeptiere deine Entschuldigung auch.«

Nun musste ich auch Lächeln. »Okay.« Ich nahm das Handy mit Verpackung vom Tisch. »Danke nochmal. Ich geh dann jetzt zur Schule.« Ich stand auf und ging. An der Tür sprach mich Grandpa nochmal an.

»Fanny.« Ich drehte mich zu ihm um. »Als ich dir sagte das du dich verändert hast, habe ich nicht dein Äußeres gemeint. Sondern dein Herz, deine Seele, dein Geist … Gerade jetzt hast du noch eine Entscheidung zu fällen und bist dir unsicher, dass sehe ich in deinen Augen. Ich weiß das dir unnatürliche Dinge passiert sind, seit du hier bist. Wenn du also Probleme damit haben solltest, kannst du auch ruhig zu mir kommen. Ich bin für dich da.« Das überraschte mich jetzt doch ein wenig. Er wusste also bescheid. Aber gleichzeitig beruhigte es mich auch. Nun wusste ich auf wen ich mich verlassen konnte.

»Danke.«

»Gut, jetzt aber hopp zur Schule.« Ich nickte und schlüpfte durch die Tür. Doch kurz bevor ich sie schloss, steckte ich noch einmal meinen Kopf in das Zimmer hinein. Etwas war noch ungesagt geblieben.

»Ach und Grandpa …«

»Ja?«

»Ich hasse dich nicht.«

 

Mit gutem Gewissen und bester Laune konnte ich zur Schule gehen. Es war gut, dass ich die Schranken zwischen Grandpa und mir beseitigt habe und wir uns von nun an vermutlich besser verstehen würden.

Meine Freude über das Gespräch und das Geschenk von meinem Großvater währte nur so lange, wie ich noch nicht das Schulgelände betreten hatte. Kaum war ich durch das Schultor gegangen und Ethan mal wieder von Mädchen umschwärmt wurde, schoss mir der gestrige Tag durch den Kopf.

Neben dem Fakt das ich die letzte Stunde geschwänzt und mich noch nicht mal bei der Schule gemeldet hatte, war meine Entscheidung noch nicht gefallen. Würde ich der ganzen Sache beitreten? Hatte ich überhaupt eine Wahl – selbst wenn es mir so dahingestellt wurde? Grandpa hatte Recht. Ich kämpfe wirklich gerade mit einer wichtigen Entscheidung. Aber die Wahl ist nicht so leicht.

Als ich bei meinem Spind angekommen und die nötigen Bücher für den Tag in meine Tasche packte, hörte ich etwas, was meine Alarmglocken im schrillen ließen. Laute Mädchenstimmen kündigten mir einen der umschwärmten Jungs an, der gleich um die Ecke kommen würde. Und tatsächlich. Kaum zwanzig Meter von mir und meinem Spind entfernt bog Jayden mit seinen Verehrerinnen in den Flur. Kaum hatte er mich gesehen hob er die Hand zum Gruß.

»Ah, Fanny!«, rief er mir zu und winkte. »Guten Morgen, du hast gestern-«

»Ich bin spät dran!«, unterbrach ich ihn, knallte die Tür meines Spinds zu und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Ich hatte nicht wirklich Lust nach dem gestrigen Tag den Mitgliedern des P.U.S.P. Klubs über den Weg zu laufen. Deswegen hieß das Ziel des heutigen Tages: Geh den Anderen so gut es geht aus dem Weg.

Ein Blick über die Schulter bei meinem Fluchtversuch vor Jayden sagte mir, dass er mir zwar folgen wollte, aber aufgrund der Mädchen dazu nicht in der Lage war. Die bombardierten ihn schon mit Fragen, ob ich ein spezielles Mädchen sei oder – das schlimmste von allem für sie – seine feste Freundin. Endlich sind diese Mädchen auch mal zu was gut, dachte ich noch froh als ich um die Ecke bog und prompt mit jemanden zusammenstieß. Blätter segelten durch die Luft und verstreuten sich überall auf dem Boden.

»Oh man das tut mir so leid.« Ich bemühte mich schnell die ganzen Papierbögen aufzusammeln. Dabei handelte es sich um Notenblätter.

»Ist schon okay«, piepste eine leise Mädchenstimme, die mir bekannt vorkam.

»Oh, hallo Maya«, begrüßte ich meine ehemalige erste Klientin. Sie hob ihren Kopf und sah mich hinter ihrem dunklen Mähnenvorhang an.

»Ach, hallo Fanny«, erwiderte sie mit leiser Stimme. Mayas ganze Präsenz strahlte etwas ruhiges aus. Im Ganzen betrachtet, wirkte sie schon fast unscheinbar. Sie war sehr dünn, dunkle Haare, die das Gesicht verdeckten und ihre Haut war sehr hell. Doch keine Haut, wie die von einem Porzellanpüppchen. Nein, diese wirkte eher etwas ungesund und verlieh Maya eine etwas gespenstische Aura und kränklichen Eindruck.

»Bist du auf dem Weg ins Musikzimmer?«, fragte ich sie und reichte ihr die eingesammelten Notenblätter. Maya druckste ein wenig herum und mir fiel ein warum. »Wegen dem Geist brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen. Das Problem haben wir erfolgreich gelöst.«

»Wirklich?«

»Jepp. Dich wird dort nichts mehr stören oder dein Klavier besetzen.«

»Dann bin ich beruhigt. Vielen Dank nochmal.«

»Nicht der Redewert Maya«, sagte eine Stimme direkt hinter mir und ich zuckte heftig zusammen.

»Noah!«, rief ich erschrocken aus und fuhr herum. »Schleich dich doch nicht so an! Ich hätte fast ein Herzinfarkt gekriegt!«

»Kratzbürstig wie eh und je. Guten Morgen FannyBunny. Dir scheint es ja gut zu gehen.« Ich wusste das er damit den gestrigen Tag meinte.

»Bis vor wenigen Augenblicken war das noch der Fall. Wenn ihr mich entschuldigt ich muss zum Unterricht. Frag Noah wegen den Einzelheiten Maya. Bis später ihr zwei.« Und schon war ich wieder weg. Nachdem ich durch einige Gänge geflohen und mich letztendlich ins Mädchenklo gerettet hatte, war ich mir sicher, das Herr Nervensäge-von-Castor mich nicht weiter verfolgen würde. Ich wägte mich schon in Sicherheit, als …

»Ah, sieh mal einer an wer hier ist.« Aus eine der vielen Kabinen trat Juliette. Innerlich stöhnte ich auf. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Kaum lief ich vor dem einen davon, stolperte ich einem anderen des Klubs in die Arme.

»Hallo Juliette«, grüßte ich sie höflich.

»Dir scheint es doch gut zu gehen, nach deiner … gestrigen Erschöpfung.« War ja klar, dass sie auch darauf herumhacke würde.

»Ach du meinst … na ja die vielen Stunden des Lernens und einige aufregende Ereignisse fordern nun mal ihren Tribut.«

»Du solltest es lassen«, riet sie mir.

»Das lernen? Aber-«

»Ich meine dich für unsere Angelegenheiten zu interessieren«, unterbrach mich Juliette und sah mich ernst an.

»Das lässt sich schwer einrichten, schließlich kommen eure Probleme immer zu mir.« Und das stimmte sogar.

»Ich meine das du versuchen sollst dich größtenteils verdeckt zu halten. Geh den meisten Sachen so gut es geht aus den Weg. Meide unsere Aufgaben. Hier an der Schule und außerhalb.« Juliette klang nicht so, als ob sie mir das alles sagen würde, um mich loszuwerden, sondern schon ein bisschen besorgt. »Es ist nur zu deinem besten.«

»Aber warum denn?« Ich verstand auf einmal nicht was mit ihr los war. Sonst wollte sie mich immer auf die ekligste Art fern haben, zweifelte an meinen Fähigkeiten und bemängelte meinen Erfahrungs- und Wissensstand.

»Jeder von uns besitzt eine spezielle Gabe. Einige entdecken sie eher, andere später. Wenn man sich selber schult und trainiert, kann man diese ausreifen und sie wird einen sehr nützlich sein«, fing Juliette zu erklären an. »Ich habe gehört das du schon mit Granny Crofts Fähigkeit Bekanntschaft gemacht hast. Sie war zwar keine aktive Traumjägerin, aber gehörte auch dazu und war anderweitig nützlich. Meine Fähigkeit ist ihrer sehr ähnlich – wenn auch nicht ganz genau. Ich kann anhand der Aura, die einen Menschen umgibt, sehen, was in absehbarer Zeit auf ihn zukommen wird. Genauere Aussagen kann ich dabei nie treffen, aber das gröbste davon trifft meist immer zu. Auf dich werden große Wellen der Enttäuschung, Schmerz und Trauer treffen. Du steckst mit einem Fuß schon in einer Sache drinnen, die dich gänzlich verschlingen wird, wenn du nicht Abstand nehmen wirst. Und andere wirst du in Gefahr bringen, wenn du so weiter machst wie bisher.«

Julietttes Vorhersage hat mich, um ehrlich zu sein, mehr getroffen als ich zugeben wollte. Nachdenklich begab ich mich in zum Unterricht. Doch fast nichts gelangte in meinen Kopf. Die Worte der Brünetten kreisten in meinem Kopf wie Aasgeier am Himmel und malte mir das schlimmste unter ihnen aus.

Die ersten paar Stunden flogen an mir vorüber und es war Zeit für die Mittagspause. Doch so richtig nach Essen zumute war mir nicht und auf die Mitglieder des P.U.S.P. Klubs hatte ich noch weniger Lust, weshalb ich mir ein ruhiges Eckchen in der Schulbibliothek suchte und mich dort mit der Bedienungsanleitung meines neuen Handys auseinander setzte. Es dauert mich einige Minuten bis ich verstand wie ich die Lautstärke regeln, auf Stumm umschalten,und diverse andere Haupteinstellungen betätigen konnte.

»Jetzt hat sie auch schon so ein Ding wie die anderen«, hörte ich eine Stimme stöhnen und ich wusste sofort wem sie gehörte.

»Top«, rief ich in den Raum hinein. »Komm raus.« Direkt vor mir erschien ein kleiner roter Drachengeist. Frech setzte er sich auf meinen Fuß. »Wo hast du Tip gelassen?«

»Der kommt gleich.« Top beugte sich über mein neues Handy. »Lass mich raten. Von deinem Großvater, stimmts?«

»Jep. Soll eine Wiedergutmachung sein und außerdem will er das ich besser zu erreichen bin.«

»Das hört sich doch toll an.« Tip erschien auf meinen anderen Fuß. »Dann versteht ihr euch jetzt wohl besser. Der Streit vor ein paar Tagen war aber auch fürchterlich.«

»Woher-«

»Wir sind Geister. Was erwartest du?«Top grinste mich an.

»Hab ich denn gar kein Privatleben?«

»Wir wollen dich doch nur beschützen«, gab mir Tip zu denken.

»Na klar, indem ihr mich beobachtet, ohne das ich es mitbekomme und euch eure Existenz in meiner Welt das »beschützen« verbietet?«

»Deswegen sind wir hier. Wir wollten dir etwas vorschlagen …«

 

»Und das soll funktionieren?« Ich sah die beiden kritisch an.

»Beschaff uns einfach das was wir gesagt haben und du wirst es dann schon sehen.« Top hatte anscheinend keine große Lust alles bis in die kleinste Kleinigkeit zu erklären.

»Okay, okay. Ich werd schon was passendes finden, verlasst euch drauf.«

Auf einmal waren Schritte zu hören und Schwupp! waren Tip und Top schon verschwunden. »Ah. Hier hast du dich also versteckt.« Noah schaute durch das Bücherregal das uns trennte hindurch. »Ich hab dich schon beim Mittagessen vermisst.« Um noch weniger Abstand zwischen uns zu bringen, schob er die Bücher beiseite und stützte sich mit den Armen auf dem Regal ab. »Was machst du hier?«

»Versuchen ein bisschen für mich zu sein und Ruhe zu haben. Was wohl nicht so wirklich klappt, bei solchen Kletten wie euch.«

»Warst du nicht am Anfang die Klette gewesen, die sich nichts sagen ließ und unbedingt hinter unser Geheimnis kommen musste?« Noah grinste mich an und ich konnte nicht anders als zu schmunzeln. Irgendwie hatte er ja auch Recht.

»Ihr habt es aber auch nicht gerade versucht vor mir zu verheimlichen. Das kauf ich dir nicht ab. Du wolltest doch gerade das ich dahinter komme. Deswegen hast du mich auch so angestachelt und mir kleine Hinweise gegeben.«

»Kann schon sein«, gab er etwas zu. »Was machst du da?« Er beugte sich noch weiter durch das Bücherregal und kam meinem Gesicht gefährlich nahe. Ich hielt ihm das Handy hin, um ein bisschen Distanz zwischen uns zu bringen.

»Von Grandpa. Aber ich habe nicht wirklich eine Ahnung wie man damit … na ja umgeht. Man könnte sagen ich hinke mit meinem technisch Knowhow ein bisschen hinterher.« Erstens konnten meine Eltern es sich nie leisten und zweitens war ich mit meinem alten Mobiltelefon ganz zufrieden. Aber irgendwann muss man sich auch mal den neuen Dingen widmen, wenn sie kommen.

»Was verstehst du denn nicht?«

»Ähm …« Ich starrte auf das Display und suchte nach den Einstellungen die ich nicht auf die Reihe bekam. Noahs Blick spürte ich dabei deutlich auf mir und ich wurde ein bisschen unruhig. Er machte mich unruhig – brachte mich jedes mal aus der Fassung oder regte mich auf.

Bevor ich das Problem gefunden hatte, wischte Noah auf einmal mit dem Ärmel mir über die Stirn. Ich zuckte zusammen und sah ihn verwirrt an.

»Da war was an deiner Stirn«, sagte Noah und lächelte.

»Oh. Ist es weg?« Ich tastete meine Stirn ab. Peinlich. Hoffentlich war das keinem außer Noah heute aufgefallen.

»Ah, nein warte.« Noch einmal wischte über meine Stirn. »So. Jetzt aber.«

»Uhm … Danke.« Ich versuchte mich wieder dem Handy zu widmen, als jemand anderes meinen Namen rief.

»Fanny? Bist du hier?« Das war Nathan.

»Ich bin hier Nathan.« Wenige Minuten später kam mein Freund um die Ecke und schaute ein bisschen verwirrt auf das Bild, was sich ihm bot. »Was macht ihr da?«

»Noah wollte mir erklären wie das Handy funktioniert.«

»Schön. Ich wollte dich fragen ob du schon gegessen hast, also wenn du möchtest, versteht sich.«

»Nein. Nein hab ich nicht. Ich würde auch gerne noch was essen. Wie viel Zeit bleibt mir denn noch von der Pause?« Ich hatte schon ganz verdrängt wie sehr mein Magen knurrte.

»Noch ungefähr zehn Minuten.«

»Okay, dann geh ich schnell was essen. Wir sehen uns dann später Noah.«

»Ihr versteht euch ja sehr gut«, wies Nathan mich auf den Weg zur Cafeteria, auf mein gutes Auskommen mit Noah Castor hin.

»Er ist der beste Freund meines Cousins. Da komm ich nun mal nicht drum herum. Aber er ist ganz okay.«

»Gut. Das freut mich für dich.«

»Ach wirklich?« Ich schaute ihn skeptisch von der Seite an. »Keine Angst wegen Konkurrenz?«

»Nein. Wieso auch? Ich weiß das du nur mir verfallen bist.« Er legte einen Arm um mich und ich musste Lachen. »Außerdem würde ich alles tun um dich nicht zu verlieren.«

»Ich glaube da brauchst du nicht viel zu tun«, beruhigte ich ihn. »Ich habe nicht vor dich zu verlassen. Und außerdem glaube ich nicht das jemand wie ich, Noah Castor attraktiv erscheint. Der spielt doch nur mit mir. Aber ich falle darauf nicht rein. Was hätte ich auch einen Grund bei so einem tollen Freund.«

»Danke. Das Kompliment nehme ich gerne an. Dafür hast du dir was verdient.« Sanft legte sich Nathans Lippen auf meine und in mir explodierten wieder die Schmetterlinge und spielten verrückt. Ich konnte nicht leugnen, dass es einfach nur schön war einen Freund zu haben, der einem seine Aufmerksamkeit schenkt und den Alltag versüßt mit schönen Momenten.

Kapitel 23

 

»Okay seid ihr bereit?« Ich saß auf meinem Bett und konnte den Moment gar nicht mehr abwarten. Tip und Top, meine beiden Beschützergeister, saßen einen Meter von mir entfernt. Wobei Tip mich interessiert anschaute und Top am Bettpfosten herumturnte, weil er nicht still sitzen konnte.

»Jetzt hör auf mit diesem dramatischen Aufbau, der sowieso vollkommen überflüssig ist«, meckerte der rote Geist und sprang auf das Bett. Da er aber ein Geist war und nun mal aus keiner Materie bestand, die man anfassen könnte, sank er nieder wie eine Feder und schwebte leicht über der Bettdecke.

»Sei nicht so unhöflich Top«, mahnte ihn sein blauer Zwilling, der ganz klar der Vernünftigere von beiden war. »Sie tut uns einen großen Gefallen damit. Schließlich sind wir schon seit Jahrhunderten nicht mehr in diesem Bereich gewandelt.«

»Ja ja. Bla bla bla. Können wir jetzt endlich mal zum Ende kommen?«

»Du bist unmöglich!«, tadelte sein Bruder ihn.

»Okay ihr Streithähne. Jetzt geht es los. Ich hoffe mein suchen hat sich gelohnt.« Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen, so aufgeregt war ich.

»Man komm endlich zur Sache!«, maulte Top.

»Na gut, also … Tadaaaa!« Ich zog hinter meinem Rücken zwei Stofftiere hervor. Zwei Drachenstofftiere. Beide ungefähr so groß wie eine Hand und absolut identisch, bis auf die Farben. Einer war rot und der andere blau. »Ich dachte mir, dass es besser wäre, wenn ihr noch das Gefühl habt ihr selbst zu sein.«

Ein wenig erstaunt betrachteten die beiden Geister ihre neuen Körper aus „Fleisch und Blut“ (Stoff und Wolle hätte besser gepasst). Dann spalteten sich ihre Gesichtsausdrücke. Wobei Tip sehr zufrieden mit meiner Auswahl schien. Top hingegen sah das etwas anders.

»Das ist wirklich …«, setzte Tip an …

»... der beschissenste Körper aller Zeiten« … beendete Top den Satz.

»Top! Das ist unhöflich«, rügte Tip ihn. »Entschuldige Fanny.«

»Ist doch wahr. Wer will schon in einem Stofftierkörper sein? Bin ich der Beschützer der Kinder oder was? Darin kann man doch keinen K.O. schlagen.«

»Na ja ich dachte mir das Tiere aus Glas oder Plastik etwas unvorteilhaft wären. Mit diesem Körper hier könnt ihr schwerer kaputt gehen und ich kann euch besser tarnen.« Ich zeigte auf eine Kuscheltierreihe auf meinem Bett.

»Da hat sie recht.« Wir schauten beide Top an, der versuchte mit einem bockigen Gesichtsausdruck stand zu halten. Doch nach wenigen Sekunden gab er auf.

»Na gut«, stöhnte er und rollte genervt mit den Augen.

Tip und Top sind ja, wie schon mehrfach erwähnt, meine Beschützergeister. Vor ein paar Tagen erst unterbreiteten sie mir die Möglichkeit, dass sie auch in der Lage wären mich in meiner Welt zu beschützen. Ich fand das gar keine so schlechte Idee. Doch damit die beiden in der Menschenwelt bleiben konnten, brauchten sie einen Körper oder ein Gefäß, in das sie ihren Geist „sperren“ konnten. Also habe ich ein bisschen überlegt und per Zufall bei meinem nächsten Stadtbummel die perfekten Körper für die beiden gefunden. Nur leider war jeder einer anderen Ansicht.

Doch über die unterschiedlichen Begeisterungen kam ich schnell hinweg, da mir sich eine einzigartige Gelegenheit bot zuzusehen, wie zwei Geister aus der Zwischenwelt in unsere sich materialisierten oder so (keine Ahnung wie man das erklären soll).

»Also kann's losgehen?« Top schien schon voll bereit und startklar.

»Na klar.«

Es war spannend. Das konnte ich nicht leugnen. Es war wie eine ultimative geheime Szene in einem Film oder so etwas ähnliches, was nur ich zu sehen bekam. Oder einer dieser besonderen Momente, die man nur selten zu Gesicht bekommt und die man niemals vergisst (wie meine erste Liebeserklärung).

Die beiden kleinen Drachen lösten sich langsam in der Luft auf, zersprangen in kleine Splitter und verschwanden in den Körper der beiden Stofftiere. Eine Weile regte sich nichts, doch dann zuckte eine Kralle bei dem roten Drachen und der Kopf bewegte sich leicht.

»Das fühlt sich irgendwie … komisch an«, sagte das rote Kuscheltier mit Tops Stimme.

»Wow es hat funktioniert«, flüsterte ich fasziniert.

»Natürlich was denkst du denn? Wir sind doch keine Amateure.«

»Das ist echt der Wahnsinn.« Ich nahm den roten Drachen in die Hände und drückte auf den Bauch.

»Würdest du das vielleicht lassen? Ich bin kein Kuscheltier, auch wenn ich so aussehe«, beschwerte sich Top.

»Wenn ich nicht gesehen hätte das ihr in den Stofftieren jetzt drinnen seid, dann würde ich …«

»Genau dasselbe machen wie jetzt? Offensichtlich. Könntest du es mal lassen in meinem Gesicht herumzufummeln.«

»Oh.« Erst jetzt fiel mir auf das ich Tops Gesicht ununterbrochen geknetet hatte. Er sah aber auch einfach zu süß in diesem Kuscheltierkörper aus. »Entschuldige.«

»Ich finde sie sind perfekt«, schwang Tip mal wieder einer seiner Lobeshymnen, drehte sich einmal im Kreis und sah dabei an sich herab. »Außerdem sind sie eine super Tarnung wenn wir dich begleiten.« Auf einmal klingelten bei mir die Alarmglocken.

»Begleiten? Wohin denn begleiten?«, fragte ich so scheinheilig wie möglich, doch in meinem Hinterkopf braute sich eine böse Vorahnung zusammen. Die hatten doch nicht etwa vor …

»Na in die Schule wohin denn sonst«, platzte es aus Tip heraus.

»Was?! Ich dachte ihr wolltet diese Körper nur für hier Zuhause. Nein, das geht nicht. Auf gar keinen Fall.« Ich war super dagegen. Aber so was von dagegen, wie man nur gegen etwas sein konnte. Ich würde nicht nachgeben und sie würden mich auch zu nichts zwingen. »Nie im Leben werde ich zwei Geister in Kuscheltierkörpern mit in die Schule nehmen!«

 

»Morgen Fanny.« Maggie trat neben mich. Zufällig hatte sie den Spind neben mir bekommen. So haben wir uns auch kennengelernt. Dann stellten wir fest das wir einige Stunden zusammen hatten und seitdem haben wir uns super gut angefreundet.

»Morgen Maggie.« Ich gähnte herzhaft.

»Kurze Nacht?« Ich schüttelte den Kopf.

»Eher schlecht geträumt. Wurdest du schon mal von jemanden im Traum gerufen?« Maggie überlegte kurz und runzelte die Stirn.

»Nicht wirklich. Nur einmal wurde ich von meinem kleinen Bruder im Schlaf heimgesucht, weil ich seinen Schokoladenpudding heimlich gegessen habe, als ich eher aus der Schule zurück kam und dann alles auf meine kleine Schwester geschoben habe, die noch in den Kindergarten geht. Das war gruselig.« Ich musste kichern. Da hat wohl ihr schlechtes Gewissen sie im Schlaf heimgesucht. Die Stimme die ich immer hörte war immer noch die, welche mich ununterbrochen um Hilfe bat. »Wie hast du dich eigentlich bezüglich des Klubs entschieden? Bist du nun im Literaturklub?«, fragte Maggie neugierig.

»Eigentlich wollte ich dort eintreten, doch vorläufig bin ich beim … P.U.S.P.«, gab ich zu.

»Beim P.U.S.P.?!«, rief Maggie erstaunt und zog somit gleich die Aufmerksamkeit des halben Flurs auf sich.

»Pssst! Doch nicht so laut Maggie! Das muss doch nicht jeder wissen.«

»Beneidenswert. Wusstest du das man kaum Chancen hat dort Mitglied zu werde? Man wird von dem Klub persönlich eingeladen.« Interessant und abstoßend zugleich. Das ist so was von hochtrabend. »Ist quasi ein Eliteklub und zudem sehr beliebt.«

»Aber auch nur wegen den Mitgliedern«, meinte ich etwas abfällig.

»Na ja man kann es den Mädchen auch nicht verdenken. Bei solchen gutaussehenden Jungs«, schwärmte Maggie etwas und stieß einen kleinen Seufzer aus.

»Also bitte. Das ist ja wohl Ansichtssache. Es gibt genug andere gutaussehende Jungs an unserer Schule und außerdem dachte ich du hast einen Freund«, erinnerte ich sie.

»Natürlich und er ist wunderbar, aber schwärmen ist ja wohl erlaubt. Ich geh ja nicht gleich fremd. Außerdem gibt es einen Unterschied zwischen gut aussehend und gut aussehend geheimnisvoll. Ich sage dir das sind die Kerle auf die Mädchen stehen«, versicherte mir Maggie.

»Was ist denn dein Freund beruflich? Oder geht er noch zur Schule?« Ich war neugierig. Seit ich selber in einer Beziehung war, interessierten mich die von anderen auch.

»Er ist Student und arbeitet noch nebenbei. Wir treffen uns so oft wir können, aber meist nimmt uns das Lernen viel Zeit außerhalb der Schule. Trotzdem lassen wir uns es nicht nehmen, jeden Abend zu telefonieren. In einer Beziehung ist es wichtig miteinander zu reden. Selbst wenn es nur belanglose Dinge sind. Aber Hauptsache man verbringt Zeit miteinander und hat Spaß zusammen. Wenn du willst stelle ich ihn dir einmal vor bi Gelegenheit«, bot sie mir an.

»Ja, das wär schön.« Maggies Freund war älter als sie. Ungefähr fünf Jahre oder mehr schätzte ich, wenn er Student ist. Allein das fand ich schon interessant. Da war schon ein Altersunterschied von mehr als vier Jahren vielleicht.

»Aber was heißt denn, du seist nur vorläufig bei denen?«, kam sie wieder auf meine vorherige Aussage zurück. Anscheinend verstand Maggie nicht was ich damit meinte und sie hatte ein gutes Gedächtnis – Mist.

»Ich bin bestimmt nur von kurzer Dauer bei denen. Sozusagen als Probezeit. Wenn es mir nicht gefällt dann trete ich aus.«

»Wirklich? Du ziehst es in Betracht auszutreten? Hast du dir das auch gut überlegt? Schließlich bist du in einer Gruppe von heißen Jungs. Was besseres kann es doch gar nicht geben.«

»Danke für das Kompliment. Ich wusste ja gar nicht das so über uns gesprochen wird.« Ich drehte mich um und wie sollte es auch anders sein, mein Lieblingspartner gab uns beiden die Ehre (übersetzt: die Person die ich am wenigsten sehen/leiden konnte).

»Hi Noah«, begrüßte Maggie ihn. »Stimmt es das Fanny nur zur Probe bei euch ist? Wäre aber Schade. Die meisten Mädels kommen euch heißen Kerle nicht so nah. Da hätte sie perfekte Chancen sich einen von euch zu angeln.« Noah lachte bei Maggies Aussage.

»Ich will doch hoffen das sie festes Mitglied wird. FannyBunny ist sehr hilfreich – unter Umständen.« Er zwinkerte mir zu und ich rollte nur mit den Augen. Maggie beobachtete unseren Augenwechsel interessiert und grinste in sich hinein. Sie dachte doch nicht etwa … Oh nein. Nein, nein, dem musste ich ein Ende bereiten.

»Ich hab einen Freund«, sagte ich ernst und blickte die zwei an. »Schon seit ein paar Tagen, also gehen mir die heißen Kerle am Arsch vorbei. Und ob ich dem Klub richtig beitrete liegt noch aus. Das entscheide immer noch ich allein.«

»Du hast einen Freund?!«, riefen beide gleichzeitig.
»Davon hast du ja gar nichts erzählt«, sagte Maggie erstaunt.

»Da hat sie recht«, stimmte Noah mit ein, aber so wirklich überrascht wirkte er nicht. Schließlich hatte er mich und Nathan ja gesehen und wenn er sich sonst wie immer an mich dran heftete wie eine Klette, konnte ich mir kaum vorstellen das ihm das entgangen ist was da zwischen uns beiden abging.

»Ich wollte keinen großen Aufriss darum machen. Und so besonders ist es ja nicht. Also wir müssen jetzt los. Mathematik. Bis irgendwann mal Noah.« Ich packte Maggie am Arm und zog sie mit mir.

»Was hast du denn? Er ist doch ganz schnuckelig. Außerdem nennt er dich FannyBunny. Hat er sich den Namen für dich ausgedacht?« Maggie grinste immer noch.

»Ich hab ihm hundert mal gesagt das er es lassen soll mich so zu nennen.«

»Fanny weißt du was das bedeutet?«

»Das er sich über mich lustig machen will? Ja, weiß ich.« Wir betraten den Unterrichtsraum und setzten uns auf unsere Plätze.

»Blödsinn. Das heißt das er dich mag.« Maggie konnte auch nicht aufgeben.

»Seine Art des Mögens geht aber mit der meinen weit auseinander. Wobei ich ihn nicht mal mag. Im Gegenteil ich kann ihn nicht leiden. Er ist nervig, arrogant, besserwisserisch und spielt immer den Coolen.«

»Vielleicht ist das ja genau dein Typ.«

»Auf keinen Fall.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab einen Freund«, betonte ich. »Da brauch ich keinen wie Noah. Was denkst du warum ich ihn loswerden will. Er verfolgt mich regelrecht. Ist fast schon gruselig. Kann man schon fast mit Stalking vergleichen, nur halt … mit mehr Noah. Oh, hallo Maya.« Mit gesenktem Kopf, das Gesicht von den Haaren verdeckt und die Körperhaltung leicht geduckt, betrat Maya das Zimmer und wollte sich gleich still und heimlich auf ihren Platz verdrücken. Nun war sie neben mir stehen geblieben und linste unter ihrem braunen Vorhang hervor. »Wie war denn deine Probe? Klappt alles?«

»Ja läuft gut«, erwiderte sie mit piepsender Stimme.

»Wann habt ihr denn mal einen eurer Auftritte? Ich würde dich gerne spielen sehen.« Ich konnte mir gut vorstellen, dass Maya nicht gerade schlecht Klavier spielen konnte. Bestimmt besser als ich.

»Nächsten Dienstag ist wieder Probe mit allen …«

»Cool. Dann komm ich gerne und höre zu. Ich werde auch ganz leise sein. Ihr probt auf der Theaterbühne oder?« Maya nickte. »Gut. Dann am Dienstag.«

Der Mathe Unterricht war wie immer eine Plage. Es fiel mir schwer mich zu konzentrieren, beziehungsweise hinterher zu kommen. Denn immer wenn ich glaubte eine Aufgabe verstanden zu haben, war Mrs Goffrey schon wieder zwei Punkte weiter.

Als die Hälfte der Stunde um war, dachte ich mein Schädel würde platzen. Ich kramte in meiner Tasche nach meiner Wasserflasche, hielt jedoch gleich inne in meiner Suche, als ich merkte was sich noch außer Flasche, Pausenbrot, Hefte, Stifte, Bücher und andere Schulsachen in meiner Tasche befanden.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein.« In mir brodelte es leicht und ich stellte meine Tasche auf meinen Schoß. »Sag mal habt ihr sie noch alle? Ich hab doch gesagt ich nehme euch nicht mit in die Schule.« Zwei unschuldig aussehende Kuscheltiere schauten mir aus dem Inhalt meiner Tasche entgegen.

»Reg dich nicht so auf. Es ist Unterricht«, zischte Top mir entgegen.

»Ich hätte jetzt große Lust euch beide rauszuschmeißen«, knurrte ich wütend.

»Fanny Haddington! Ist etwas nicht in Ordnung mit Ihrem Rucksack?« Mrs Goffrey blickte über ihre Brillenrand hinweg zu mir rüber und wirkte dadurch noch strenger als sonst schon.

»Alles in Ordnung. Ich suche nur etwas«, antwortete ich leicht nervös und Maggie neben mir schaute mich verwirrt an.

»Würden sie dann bitte schnell fertig werden, damit wir mit dem Unterricht fortfahren können.« Ich hörte es aus Mrs Goffreys Stimme, dass sie leicht sauer darüber wahr, das ich nicht jede einzelne Sekunde ihrem Unterricht widmete.
»Natürlich«, versicherte ich ihr. »Wir reden später wieder, verstanden?«, zischte ich in die Tasche.

»Lass wenigstes den Reißverschluss offen. Es ist so stickig hier drinnen«, beschwerte sich Top.

»Damit euch jeder sehen kann? Wohl kaum-«

»Miss Haddington!« Ehe ich reagieren konnte, stand Mrs Goffreay schon vor mir und hatte meine Tasche in Beschlag genommen. » Wären Sie nun endlich so freundlich und würden sich auf das Thema konzentrieren? Was ist denn bitteschön so wichtiges in Ihrer Tasche?« Ein Blick von Mrs Goffrey in meine Tasche und ich glaubte im Erdboden versinken zu wollen. »Was ist das?!«, fragte sie in einem abfälligen Ton. Ich dachte noch peinlicher könnte es nicht mehr werden, doch da hatte ich mich getäuscht. Meine Mathelehrerin griff in in meinen Rucksack hinein und holte die zwei Kuscheltiere hinaus, sodass auch jeder aus der Klasse sie gut sehen konnte. »Ich wusste gar nicht das Sie noch Ihre Kuscheltiere brauchen um in die Schule zu gehen?«

Das wars. Ich wollte nur noch weg. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte der blöden Goffrey meine Tasche und die zwei Beschützergeister entrissen und wäre Hals über Kopf verschwunden. Doch mehr als mit gesenktem Kopf auf meinem Platz zu sitzen und das Gelächter der Klasse über mich ergehen zu lassen, konnte ich nicht tun.

»Wenn Ihre kleinen Freunde Sie so sehr vom Unterricht ablenken, können Sie sie ja nachher bei mir abholen.

»Aber-«

»Keine Widerrede. Bei Ihren schlechten Noten können Sie sich solche Ablenkung nicht leisten.«

»Aber das sind nicht-«

»Möchten Sie etwa auch eine Auszeit wie Ihre kleinen Freunde?«, drohte mir Mrs Goffrey.

»Nein«, gab ich kleinlaut wieder.

»Dann widmen Sie sich endlich ihren Aufgaben. Wir sprechen uns später.«

Das war mit Abstand der schlimmste Schultag aller Zeiten.

Geknickt erhob ich mich langsam vom Platz, als es klingelte. Im vorbeigehen hörte ich die anderen Schüler über mich tuscheln und kichern. Wenn ich die Fähigkeit mich in Luft aufzulösen gehabt hätte, würde ich sofort ins Reich der Unsichtbaren verschwinden.

Alleine, unter vier Augen, hielt mir Mrs Goffrey einen Vortrag über das Aufmerksame zuhören und mitarbeiten im Unterricht und den damit verbesserten Leistungen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und sagte immer monoton »Ja Mrs Goffrey«. Die Predigt dauerte eine halbe Ewigkeit und ich war nur noch dankbar als mich die olle Goffrey endlich entließ.

Ich verkroch mich in einer Ecke der Bibliothek, wo ich dem Spott entgehen konnte. Schon auf dem Flur hatten mich mehrere Leute angestarrt und leise Gelacht. Ab und zu waren die Worte »Kuscheltiere« und »Kindergarten« gefallen. Einige hatten mir sogar hinterhergerufen: »Schaut mal da ist das Kuscheltierbaby.«

Ich war noch nie sonderlich beliebt gewesen in der Schule, doch es hat mich auch nie wirklich gestört. Ganz alleine war ich zwar nie gewesen und zu den Außenseitern hatte ich auch nicht wirklich gehört – eher so was dazwischen. Mehr als ein Schulkind wollte ich auch nicht sein. Aber wenn man die Zielscheibe des Spotts der Mitschüler war und sich jeder in der Schule über einen lustig machte, dann war das schon nicht mehr okay.

Alleine verbrachte ich die Pause in der Ecke und schämte mich in Grund und Boden. Was anderes als den Spott hinzunehmen blieb mir auch nicht übrig. Was hätte ich denn bitte sagen sollen? »So ist das alles nicht Mrs Goffrey meine Kuscheltiere können sprechen. Sie sind in Wirklichkeit Geister die mich beschützen, vor was auch immer und ich habe ganz komische Fähigkeiten seit ich hier bin. Wussten Sie übrigens das es an unserer Schule einen geheimen Klub gibt der sich in die Träume anderer Leute schleicht und Monster bekämpft die versuchen unsere Seelen zu fressen?« Das hörte sich wirklich extrem überzeugend an.

Während ich noch damit kämpfte die Tränen der Scham zurück zu halten, kam ein bekanntes Gesicht um die Ecke und erschrak sich fast zu Tode, als es mich erblickte.

»Oh Fanny.« Es war Maya. »Ich habe dich gar nicht gesehen.«

»Bitte sag keinem das ich hier bin«, schniefte ich leicht.

»Ja … ähm ist alles okay?«, fragte sie vorsichtig und wich ein paar Schritte zurück, als ob ich ihr jeden Moment an die Kehle springen würde.

»Du weißt es noch nicht? Die komplette Schule müsste es doch inzwischen wissen. So schnell hat es sich herumgesprochen und Facebook hat vermutlich auch noch sein übriges getan.«

»Du meinst … den Vorfall mit Mrs Goffrey und deinen ….«, sie rang nach einem passenden Wort.

»Peinlichen Mitbringsel, die eigentlich Zuhause in das Zimmer einer Dreijährigen gehören, anstatt in meine Schultasche? Ja genau den.« Passender hätte man es nicht formulieren können.

»Mrs Goffrey kann sehr gemein sein. Das ist sie auch oft zu mir, weil ich immer so leise rede, sagt sie.« Mayas Organ war wirklich nicht gerade das lauteste der Welt. Wenn man sich mit ihr auf offener Straße oder unter Menschen unterhalten würde, hätte man keine Chance sie auch nur ansatzweise zu verstehen.

»Es war einfach nur demütigend. Ich würde am liebsten unsichtbar werden und verschwinden«, offenbarte ich deprimiert meinen Wunsch.

»Und was dann?« Ich hob meinen Kopf, den ich zwischen meine beiden Knie gebettet hatte.

»Wie, was dann?«

»Dann würden sie doch trotzdem weiter über dich reden oder?«, meinte Maya. »Jeder muss sich seinen Problemen stellen. Wir können nicht immer davor davonlaufen. Man muss versuchen sie zu besiegen, vernichten und ein für alle Mal aus unserem Leben treiben. Auch wenn es nicht leicht ist, aber es wird sich lohnen. Man kann alles schaffen wenn man will und wenn man sich einiger Tricks und unschöner Methoden bedienen muss.« Für einen Moment war ich sprachlos. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas aus dem Mund von Maya hören würde. Der schüchternen Maya, die sonst nie den Mund aufkriegt oder ihre Meinung sagt.

Mayas Handy summte und sie zuckte zusammen. Für einen Moment – einen kleinen Moment – hatte sie Selbstbewusstsein ausgestrahlt und hatte auf mich nicht wie das kleine zerbrechliche Mädchen gewirkt. Doch mit der kleinen Unterbrechung war wieder ihr altes Ich zurückgekehrt.

»Muss los«, murmelte sie. » Vorbereitung für den Musikunterricht.« Damit verschwand sie aus der Bibliothek und ich blieb wieder allein zurück.

»Die war ja komisch drauf.« Tops Kopf tauchte aus dem Rucksack auf.

»Da muss ich dir recht geben.« Tips gleich neben ihm.

Ich seufzte schwer. Die zwei hatte ich für einen Moment mal vergessen. Die Unruhestifter vom Dienst. »Was wollt ihr zwei noch? Reicht es nicht mich vor der kompletten Schule lächerlich zu machen? Los, verkriecht euch wieder im dunkelsten Winkel meines Rucksacks! Ich habe keine Lust euch heute noch zu sehen!« Ich war sauer. Das war auch gar nicht zu überhören. Aber meine beiden Beschützer ließ das offensichtlich total kalt.

»Vergiss es!« Top verschränkte beide Arme vor der Brust. »Hast du eine Ahnung wie es in diesem Ding müffelt? Was hast du da bitteschön alles drin transportiert? Es riecht größtenteils sehr verdächtig nach Hundemaulgeruch.« Ich lächelte schadenfroh. Wenigstens etwas sinnvolles für das ich Cupcake heute extra belohnen konnte mit Leckerlis.

»Fanny das war wirklich nicht unsere Absicht«, versicherte mir Tip. »Es tut uns wirklich sehr leid. Wir wollten dich nicht blamieren. Alles was wir wollten war unserer Aufgabe nachkommen als Beschützer.« Der blaue Drache wusste wenigstens wie man sich entschuldigt. Im Gegensatz zu seinem roten Zwilling. Aber so hohe Ansprüche würde ich Top nicht stellen. Es war ja schon selten ein »Bitte« oder »Danke« von ihm zu hören.

»Es ist mir egal was für Pflichten ihr erfüllen müsst. Ich habe es euch verboten mit in die Schule zu kommen, um zu vermeiden damit offensichtlich so etwas passiert. Aber ihr konntet ja wieder nicht auf mich hören, so wie schon von Anfang an. Habt ihr eigentlich auch nur eine entfernteste Ahnung davon wie demütigend und peinlich das war? Ich bin das Gespött der ganzen Schule und jeder fängt an zu Lachen, sobald ich nur den Raum betrete. Eine einfache Entschuldigung und lahme Ausreden reichen hier nicht-«

»Du redest ja tatsächlich mit deinen Stofftieren.« Ich und meine »Stofftiere« erstarrten augenblicklich zu Stein. Noah streckte mit einem belustigenden Lächeln seinen Kopf um die Ecke. »Ich dachte mir schon das ich dich hier finde.« Du hast mir gerade noch gefehlt.

»Okay.« Ich sah meinen Partner gespannt an, doch er blickte nur irritiert zurück. »Los. Ich warte. Werd' ruhig deinen Spott und Belustigungen los. Schlimmer kann es eh nicht mehr werden.«

»Denkst du wirklich ich bin deswegen hier?«

Wozu denn sonst? Doch diese Frage verkniff ich mir. Ich wollte meinen schlechte Laune nicht an ihn auslassen. Das wäre nicht fair, da er nichts für den Vorfall konnte.

Stattdessen sagte ich: »Dir würde ich alles zutrauen.«

»Wie fies. So wenig vertrauen in mich FannyBunny? Ich bin sehr loyal musst du wissen.« Er setzte sich mir gegenüber und lehnte sich mit dem Rücken ans Bücherregal. »Übrigens putzige Tierchen.« Noah nahm den roten Stoffdrachen in die Hand und schaute ihn sich interessiert an. Er drückte den Bauch, um anscheinend die Füllung zu testen. Mit angehaltenem Atem schaute ich dabei zu wie Top sich krampfhaft beherrschte. Ansonsten hätte er vermutlich meinem Partner schön längst eine gescheuert oder hätte ihm in die Nase gebissen, dass würde ich ihm allemal zutrauen. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein Schlag von einem Kuscheltier sehr schmerzhaft sein könnte – allenfalls eine Streicheleinheit.

»Ich hab keine Ahnung wie sie in meine Tasche gekommen sind.« Noch einigermaßen blieb ich bei der Wahrheit. »Vermutlich hat Cupcake mit ihnen gespielt und sie dann da drinnen versteckt.« Jetzt weniger die Wahrheit.

Eigentlich wollte ich Noah so gerne von Tip und Top, den Geistern, erzählen und sie ihm zeigen. Nur um sein erstauntes Gesicht zu sehen. Aber Tip hat mir davon abgeraten. Er meinte, je weniger Leute von ihnen wüssten, desto besser wäre es. Sie seien meine Beschützer und fungieren mehr im Stillen wenn es nichts für sie zu tun gibt. Aufmerksamkeit können sie nicht gebrauchen.

»Du hältst mich doch auch für verrückt. Genau wie alle anderen. Ihr denkt bestimmt das ich den Verstand verloren habe.« Noah sah mich an.

»Wieso sollte ich das?« Darauf wusste ich auch keine Antwort. Er sollte es mir sagen.

»Was sagen die anderen? Juliette muss sich ja wahnsinnig über meine peinliche Aktion freuen.« Ich konnte mir das nur zu gut vorstellen, wie mit dieser Aktion ihr anfänglicher Verdacht meiner Unzurechnungsfähigkeit sich nun bestätigen musste.

»Sie machen sich eher Sorgen um dich. Sie denken-«

»Also denkt ihr auch ich werde schon Geisteskrank.« Etwas weiches traf mich am Kopf. »Aua! Was soll das?« Noah hatte mir Top an den Kopf geschmissen. Trotz der Tatsache das er einen Kuscheltierkörper hatte, war seine Füllung nicht ohne. Für seine Körperbeherrschung musste ich ihm im Nachhinein noch loben.

»Du hörst einem aber auch nie zu wenn man mit dir redet.«

»Und du gibst nur undeutliches Zeug von dir. Werd mal präziser«, entgegnete ich und warf Top nach Noah. Der fing ihn jedoch ab bevor er ihn treffen konnte und legte ihn beiseite.

»Du bist einfach immer zu neugierig. Deswegen gerätst du auch so leicht in Schwierigkeiten. Hast du gerade welche?«

»Na ja …« Ich dachte nach. Konnte man wiederholende bizarre Träume als Schwierigkeit einstufen? Und wie sah es dann mit Geistern aus, die einem ständig auf dem Keks gingen und einem nur Probleme bereiteten? »Keine Ahnung. Vielleicht sind das nur bedeutungslose Dinge.«

»Okay.« Noah merkte schon von alleine, dass ich nicht den Mut hatte ihn von den Sachen, die mich beschäftigen zu erzählen. Und ich respektierte ihn dafür, dass er mich in Ruhe ließ und nicht weiter versuchte etwas aus mir herauszubekommen. »Aber wenn etwas ist, dann kannst du immer zu mir kommen.«

»Danke.«

»Du machst gerade schwierige Dinge durch. Da ist es nur natürlich das dir einige Dinge suspekt vorkommen. Was unsere Arbeit als Traumjäger angeht, kann es schon mal vorkommen das uns die Leute für verrückt halten. Das müssen wir dann aber hinnehmen. Nicht jeder sollte die Wahrheit erfahren«, sagte Noah bevor er aufstehen wollte.

»Das versteh ich schon. Es ist nur nicht gerade leicht alles für sich zu behalten und so etwas über sich ergehen zu lassen, wenn man mit keinem wirklich darüber reden kann. Ich fühle mich einfach nicht verstanden.« Ich war selber sehr erstaunt, wie ich Noah einfach so mein Herz ausschütten konnte.

»Ich weiß. Und vielleicht wird dich keiner so gut verstehen können wie du selbst. Trotzdem werde ich dir immer zuhören. Kommst du trotzdem mit was essen?« Er hielt mir seine Hand hin.

»Okay.« Ich ließ mich nach oben ziehen und folgte ihm

Auf den Weg in die Schulcafeteria wurde ich auch nicht vom Gekicher und flüsternden Worte (die eigentlich so laut waren, das ich sie ganz deutlich verstehen konnte) über mich verschont. Aber alleine die Tatsache das ich mit Noah unterwegs war, der sich nicht über mich lustig machte, waren es nur noch wenige Schüler die sich über mich das Maul laut zerrissen. Nur in der Cafeteria war dies nicht der Fall. Fast alle Köpfe drehten sich auf einmal zu mir als wir eintraten.

»Da ist ja unsere Kuscheltierflüsterin«, wurde Juliette gleich ihren Kommentar los als ich mich an den Tisch setzte.

»Juliette.« Randy schaute seine Partnerin streng an. »Tut mir leid Fanny.«

»Nein schon okay.« Ich setzte mich an den Tisch, an der alle Mitglieder des P.U.S.P. saßen. »Wenn schon die ganze Schule über mich spottet, dann tut euch keinen Zwang an.«

»So ein Blödsinn. Wir sind deine Freunde. Das wäre ja grotesk, wenn wir über dich lachen würden«, stellte Summer klar.

»Weißt du überhaupt was das Wort grotesk heißt?«, fragte Holly Summer.

»Ich bin vielleicht nicht die hellste in Sachen Fremdwörter, aber ein paar davon kenne ich zumindest und kann sie anwenden.«

»Herzlichen Glückwunsch Summer, dass du dich auch mal von alleine weiterbildest.« Juliette konnte es einfach nicht lassen ihr gehässiges Gift zu versprühen und zu stacheln. Aber dann wäre sie auch nicht Juliette. Alle schenkten ihr einen genervten Blick und sie rollte nur mit den Augen.

»Egal. Lassen wir diese Themen endlich«, beschloss Randy. »Fanny. Wir treffen uns heute wieder bei Mattimeo. Wir würden uns sehr freuen wenn du kommen würdest. Bei der Gelegenheit könnten wir dir einige Dinge zum Ablauf zeigen, wie alles funktioniert und wenn du dich schon sicher fühlst könntest du auch mitkommen.« Alle schauten mich auf einmal erwartungsvoll an und ich hatte keine Ahnung was ich sagen sollte. Randy hatte auch nur oberflächlich erklärt was sie nach der Schule vor hatten und ich konnte nur erahnen was er meinte. Vermutlich redete er so, damit keine ungebetenen Leute mithören konnten und vielleicht Wind von der geheimen Gilde zu bekommen. Vermutlich würden sie dann neugierig werden und herumschnüffeln (wie ich, als ich Noahs und Ethans Gespräche belauscht hatte).

»Wohin wollt ihr sie denn mitnehmen?« Und da war es schon passiert. »Hallo Fanny.« Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in Nathans Gesicht.

»Oh. Hi Nathan.« Ich wurde rot.

»Ein Freund von dir?«, fragte Ethan.

»Ja … ähm er ist-« Ich versuchte es den anderen schonend beizubringen, da noch niemand außer Noah wusste, das ich einen festen Freund hatte. Ein wenig peinlich berührt schaute ich in die Runde und suchte nach den passenden Worten.

»Ich bin ihr fester Freund«, übernahm Nathan mein Geständnis. Augenblicklich war es still am Tisch. Alle starrten uns an. Summer vergaß zu kauen, Holly fiel ihr Sushi durch die Stäbchen und Juliette hatte mal ausnahmsweise keinen bissigen Kommentar zur Stelle. Nur die Jungs reagierten einigermaßen locker darauf. Randy fand als erster die Sprache wieder. Er schien generell derjenige zu sein, der in jeder Situation einen kühlen Kopf bewahren würde, egal was auch geschehen mag.

»Na das freut uns für euch«, beglückwünschte er uns. »Wir wollen uns heute mit Fanny nach der Schule treffen - als Klub versteht sich - und wollen ihr den Ort zeigen, wo wir immer Recherchieren und unser Wissen auffrischen. Es sei denn, ihr habt heute was vor, dann …«

»Nein, haben wir nicht. Das geht in Ordnung, wenn Fanny das möchte, dann stehe ich ihr nicht im Weg.« Nathan schaute auf die Uhr die in der Cafeteria hing. »Ich muss dann jetzt auch los. Klubaktivität. Hat mich gefreut euch alle kennen zu lernen.« Dann nahm er mein Gesicht in beide Hände und gab mir einen Kuss auf die Stirn (die sich im Nachhinein anfühlte, als hätte sie Feuer gefangen). »Bis später mein Spatz«, flüsterte er mir auf Deutsch zu. »Ich ruf dich heute Abend an.«

Ich bekam nur ein geflüstertes »Okay« aus mir heraus, dann war Nathan schon weg. Und ich blieb zurück. Rot wie ein Feuermelder.

»Netter Freund«, kommentierte Randy das Geschehen.

»Allerdings«, sagte Noah in einem Ton, der wenig zufrieden und freundlich klang.

Kapitel 24

 »Das war dein Freund?!« Juliette konnte sich kaum zügeln in ihrer Lautstärke. »Seit wann seid ihr denn zusammen?«
»Davon hast du ja gar nichts erzählt Fanny«, mischte sich Summer einund wirkte ein wenig gekränkt. Ich bin ja auch nie wirklich dazu gekommen es ihnen zu erzählen. Wie denn auch? Außerdem war es eine Art Geheimnis für mich gewesen und das durfte ich ruhig auch mal für mich behalten. Es schien so, als wollte mein »vorläufiger« Klub alles über mich wissen. Auch nur jedes kleinste Detail. Aber ging mir zu weit.
»Wir sind erst seit ein paar Tagen zusammen. Und ich hielt es nicht für nötig es an die große Glocke zu hängen. Außerdem … was soll daran so besonders sein? Er ist nur mein fester Freund, sonst nichts – jedenfalls nichts wichtiges was euch angehen sollte.«
»Es ist auch nur erstaunlichdassdu überhaupt einen Freund hast«, meinte Juliette und ich warf ihr einen wütenden Blick zu.Wenigstens habe ich einen,dachte ich einbisschen gehässig.
Kurz vor Ende der Pause ging ich noch schnell an meinen Spind und suchte mir die Bücher für die letzten Stunden raus. Als ich abschloss stand Noah daneben (war ja mal wieder klar). »Lass mich raten«, begann ich die Konversation, ehe Mr-Ich-weiß-alles-besser mir wieder etwas an den Kopf schmiss, was mich total aus dem Konzept brachte und zweifeln ließ – egal was es sei. »Dir wäre es lieber wenn ich keinen Freund hätte. Richtig?«Dasses ihm missfiel war nicht schwer abzulesen. Es stand förmlich in sein Gesicht geschrieben.
»Ich will dir nur sagen dass du niemanden so leichtfertig vertrauen solltest. Was du kannst und was du neben deinem Dasein als Schülerin bist … behalte es für dich. Ansonsten kannst du dich schnell selbst ins offene Messer ausliefern. Nur weil du zu unvorsichtig bist. Übrigens sehen wir uns heute Nachmittag wieder zur Nachhilfe.«
Und schon war Noah weg.Shit! Ich hatte ganz vergessen das heute Freitag ist, schoss es mir durch den Kopf.Das wird garantiert ein toller Nachmittag.
»Ich wusste gar nicht das du einen Freund hast.« Kaum saßen wir im Auto, fiel schon dieser erste Satz aus Ethans Mund. Na super. War ich denn so ein Mauerblümchen, dass man von mir gar nicht erwarten würde einen Freund zu haben? Für mich selbst wares ja auch neu. Das war meine erste HighSchool-Romanze überhaupt.
»Ja. Für mich ist es auch erst neu«, meinte ich bescheiden. »Ich kann es irgendwie noch gar nicht richtig fassen. Dabei kennen wir uns erst seit ein paar Wochen, aber für mich fühlt es sichan, als ob er schon ewig da gewesen wäre.«
»Das freut mich für dich.« Ethans Lächeln war aufrichtig und ich war einmal mehr froh, dass er mein Cousin ist.
»Danke. Noah scheint ganz anders als du darauf zu reagieren.«
»Apropos Noah. Habt ihr nicht heutewieder Nachhilfe in der Bibliothek?«, erinnerte mich mein lieber Cousin.
»Ich weiß«, seufzte ich. »Daran wurde ich schon erinnert.«
Ich versuchte mir zwar noch etwas einfallen zu lassen, um auf Noahs Nachhilfe mal verzichten zu können, doch mir viel nichts Gescheites ein. Einen passenden Skandal konnte ich auf die Schnelle nicht herzaubern. Wo wir schon bei den Skandalen sind … Tip und Top haben sich, sehr zu meinem Glück, den Rest des Tages still verhalten und kein weiteres Aufsehen erregt. Und ich wurdesomit nicht mehr in weitere peinliche Situationen katapultiert. Des weiteren hatte der Tag die beiden anscheinend so sehr angestrengt, dass sie nun ruhig und seelisch in meinem Rucksack schlummerten. Wenn sie wenigstens nur annähernd so brav wären, wie sie beim Schlafen aussehen … Aber das wäre vermutlich auch zu viel verlangt.
»Wir sehen uns dann nach der Nachhilfe«, verabschiedete sich Ethan, als wir beide in unsere Zimmer gingen. »Du kommst doch heute mit, oder?«
»Na klar. Das lass ich mir doch nicht entgehen.«
»Hätte mich auch gewundert …« Ethan grinste breit und verschwand in seinem Reich. Auch ich verschwand in meinen eigenen vier Wänden, schmiss den Rucksack aufs Bett und ließ mich ebenfalls drauf fallen. Ein nicht gerade entspannter Nachmittag steuerte da auf mich zu. Ich seufzte schwer.
»Das nächste Mal bitte etwas vorsichtigerermit unserer Mitfahrgelegenheit umgehen«, maulte eine Stimme. »Wir sind zwar aus Stoff, aber haben dennoch Nerven.« Ich konnte ein kichern nicht unterdrücken und zog den Reißverschluss auf. Schon kamen meine zwei kleinen Kuscheltiere hinaus gekrabbelt.
»Bitte tu mir den Gefallen und wasch das Teil.« Top schnappte nach Luft.
»Ich werd‘s mir überlegen.« Cupcake sprang aufs Bett und bettelte um seine tägliche Portion Streicheleinheit. »Na? Warst du heute auch brav gewesen?« Der kleine Husky bellte nur freudig und schmiegte sich an mich. Beiläufig schaute ich auf mein Handy. Nachrichtenhatteich zwar keine bekommen, aber dafür wusste ich wie spät es war. »Genug Zeit um noch eine Runde mit dir zu drehen«, sagte ich zu Cupcake und als hätte er meine Worte verstanden, sprang er vom Bett und zog die Leine von der Stuhllehne.
Ich versuchte den Auslauf des kleinen Wirbelwindes immer so groß und ausgiebig wie nur möglich zu gestalten. Das erwies sich aber leider als nicht so leicht. Zumal ich nach einem anstrengenden Tag Schule und den damit verbundenen Hausaufgaben, die ich noch zu Hause am Schreibtisch machen musste, nicht wirklich Lust hatte im Nachhinein noch großartig draußen herumzuspringen. Doch nachdem ich es geschafft hatte wenigstens jeden Tag ein bisschen mit dem Kleinen rauszugehen, wurde es für mich zu einer Art Gewohnheit, die ich nicht mehr ablegen konnte. Denn bei meinen täglichen Ausgängen mit Cupcake hatte ich endlich mal Gelegenheit für mich zu sein und nachzudenken.
Ich ließ mich nur von Cupcake ziehen, welcher den Weg bestimmte und trotte - eher der Hund, als das Frauchen - hinterher. Im Kopf kreisten meine Gedanken um verschiedene Dinge. Von den Traumjägern zu Nathan, von Nathan zu meinem peinlichen Vorfall in der Schule und von da zu dem merkwürdigen Traum, der sich jede Nacht wiederholt und mich nicht mehr in Ruhe lässt.
Ich war mit Cupcake so lange draußen unterwegs gewesen, dass es schon langsam dämmerte und ich beschloss zurückzukehren. Wir waren schon etwas weit gelaufen und kamen am Hyde-Park vorbei. Die Oase aus Grün lag still in der Dämmerung. Ein paar Leute saßen auf dem grünen Gras und hielten noch ein spätes Picknick ab, bevor es zu kaltin den nächsten Wochendafür werden würde. Jogger und Hunde mit ihren Besitzern waren unterwegs … Alles war noch sehr lebhaft.
Plötzlich, aus heiterem Himmel, begann Cupcake an der Leine zu ziehen und wie wild zu bellen. Ich war so in Gedanken,dassich darauf nicht gefasst war und er sich mir entriss.»Cupcake!« Ich rannte ihm hinterher, durch den Park. »Cupcake bleib stehen! Sitz! Cup-« Ich stolperte und fiel hin. Als ich mich aufrappeln wollte, schmerzte mein Knie und ich blieb sitzen. Beim hinfallen hatte ich es mir aufgeschlagen. »Verdammt«, presste ich hervor und hielt mir das Bein.
»Alles okay?«, fragte eine mir bekannte Stimme und setzte sich auf meine Schulter. Quasimodo. Ich hatte schon lange nicht mehr das Vergnügen mit ihm gehabt. Seit Tip und Top aufgetaucht sind, schien er wie vom Erdboden verschluckt.
»Quasimodo. Sehe ich so aus? Ihr Beschützergeister solltet euch mal einen anderen Titel geben.«
»Wir sind nur dazu da, dass dir nichts in der Geisterwelt passiert beziehungsweise dazwischen. Für alles was in deiner Welt passiert, können wir nichts«, belehrte mich mein Geist.
»Ja ja. Hab's kapiert. Oh man tut das weh.« Ich biss so fest die Zähne zusammen, dass mein Kiefer schon zu schmerzen begann. Mein Knie brannte höllisch und blutete etwas (aber das war nicht so schlimm wie der Schmerz).
»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?« Vor mir erschien ein großgewachsener Mann. Er streckt mir eine Hand zum Aufstehen entgegen. Unter dem anderen Arm hatte er Cupcake geklemmt. Ich nahm diehelfende Hand dankbar an und ließ mich langsam zur nächsten Bank führen.
»Danke«, sagte ich und ließ mich auf die Sitzgelegenheit fallen.
»Nicht derRede wert.« Der Fremde setzte Cupcake ab, der, erstaunlicherweise, ruhig und brav sitzen blieb.
»Komisch jetzt ist er ruhig. Vorhin hatte er noch wie einVerrücktergebellt.«
»Vielleicht hat irgendetwas seineAufmerksamkeit auf sich gezogen«, vermutete der Mann. »EtwasWichtiges.«
»Oder es war einfach nur ein Eichhörnchen«, spekulierte ich und stempelte das Ganze als nicht sehr wichtig ab.
»Hunde haben einen sechsten Sinn wenn es um Gefahren oder sagen wir mal …Übernatürliche Sachengeht. Manchmal nehmen sie mehr wahr als wir.« Ich schaute meinem Helfer ins Gesicht. Er sah aus wie ein Mann um die 30 oder 40. Er trug gute Kleidung(Mantel aus Kaschmir, Hosenanzug, Handschuhe aus Leder und einen Hut),welcheein bisschen vornehmwirkteund an seiner Haltung konnte man ablesen, dass er schon der höheren Schicht angehörte. Nichtsdestotrotz kam mir sein Gesicht aus irgendeinem Grund bekannt vor.
»Verzeihung, aber sind wir uns schon mal irgendwo begegnet?«, fragte ich höflich. Der Mann hob seinen Kopf und schaute mich an.
»Gut möglich«,antwortete er. »Wer weiß. Leider erleuchtet sich in meinem Kopf im Moment nichts. Ich bedaure.« Er wandte sich meinem Knie zu.
»Das macht nichts«, sagte ich schnell. »Es war ja auch nur … so eine Vermutung. Vielleicht verwechsle ich Sie auch nur mit jemanden der Ihnen ähnlich sieht.«
»Dann hoffe ich es ist eine Person an die Ihr euch gerne erinnert.« Kurzerhand zog der Gentleman ein sauberes Stofftaschentuch aus seiner Brusttasche im Mantel und verband damit mein Knie. »So. Ich hoffe damit wird es gehen. Haben Sie es weit bis-« Ein Klingeln unterbrach den Herren. Das Klingeln meines Handys.
»Oh. Das tut mir leid«, entschuldigte ich mich.
»Schon gut. Gehen Sie ruhig ran. Vielleicht ist es ja wichtig.«
Ich nahm ab.
»Hallo?«
»Fanny? Wo zum Henker bist du? Ich habe dichdoch extra daran erinnert, dass heute Nachhilfe ist.« Es war Noah. War ja klar. Mr Überführsorge meldete sich zum Dienst.
»Ich bin schon auf den Weg zurück. Wird aber wahrscheinlich ein bisschen länger dauern. Ich hatte einen kleinen Unfall-«
»Einen Unfall?! Wo?!«
»Ähm … beim Hyde-Park. Wieso?« Er klang auf einmal so ernst, als ob es hier um mein Leben ginge. Meine Güte,dabei war ich nur hingefallen. Aber das konnte ich ihm nicht sagen. Jedenfalls nicht rechtzeitig, bevor er mich unterbrochen hatte.
»Bleib da. Ich komme hin.« Und schon hatte er aufgelegt.
»Scheint so als ob ich abgeholt werde.«
»Das ist gut.« Der Fremde wirkte ein bisschen erleichtert. »Darf ich Euch noch zum Ausgang begleiten?«
»Ja danke, das wäre sehr nett.«
Zusammen saßen wir aufeiner Bank vorm Park – an einer Stelle, wo ich mir sicher war, dass Noah vorbeikommen würde – und warteten. Cupcake hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht und gab nun keinen Mucks von sich.
»Ist ganz schön komisch wenn er keinen Ton macht. Cupcake ist sonst nicht so still.« Ich kraulte den Husky hinter den Ohren.
»Ein interessanter Name.« Ich musste lachen.
»Ja. Keine Ahnung wie ich darauf kam. Vielleicht weil er zum Anbeißen niedlich ist. Eigentlich gehört er mir ja nicht. Ich habe ihn gefunden. Aufdem Flughafen. Theoretisch warte ich darauf das sich sein Besitzer bei mir meldet, aber jetzt habe ich mich so an den kleinen Kerl gewöhnt, das ich ihn schon fast gar nicht mehr weggeben will.«
»Ein Tier kann einen sehr an einen binden. Ohne das man vielmachen muss. Aber vielleicht solltet ihr auch zueinander finden. Möglicherweise braucht ihr einander.« Was der Mann da sagte, klang sehr gut möglich. Unserer Begegnung am Flughafen kam mir nicht wie ein Zufall vor. Nachdem das mit meinen Eltern passiert war, wollte ich nur alleine sein, aber seitdem Cupcake bei mir war hatte sich meine Laune immer wieder gehoben wenn ich traurig sein wollte. Er brauchte nie viel um mich zumLachenzu bringen.
»Wenn Sie nochetwas vorhaben, dann will ich Sie nicht aufhalten.Ich werde gleich von jemanden abgeholt.«
»Jemand der sich sehr um Sie sorgt.«
»Kann sein«, sagte ich und blickte in die Ferne. Die Sonne war schon dabei unterzugehen. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht was ich von ihm halten soll. Manchmal ist er nett und dann wieder gemein.«
»Vielleicht will er nur dasBestefür Sie.«
»Möglich. Auch wenn ich nicht weiß warum.«
»Dann fragen Sie am besten«, schlug der Fremde mir vor. »Nur so bekommen Sie eine ehrliche Antwort.« Da war was Wahres dran.Nur war da ein Hacken an der Sache. Noah konnte sehr gut Lügen oder zumindest die Wahrheit vertuschen.»Also ich muss los. Es war nett Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben Miss …«
»Fanny Haddington.«
»Oh. Das ist ein Name den ich gerne in Erinnerung halten werde. Wir werden uns bestimmt wiedersehen.« Ich wollte gerade fragen wie er darauf kam und wie denn sein Name sei, als ein Auto direkt vor mir auf der Straße hielt und Noah ausstieg. Ich hatte nur fünf Sekunden die Augen nicht mehr auf meinen Nachbarmann gerichtet, aber als ich wieder neben mich schaute, war er verschwunden. Dabei wollte ich ihn noch nach seinen Namen fragen.
»Fanny ist alles okay?« Auch wenn er es gut verbarg mit seiner Stimme, seine Augen konnten nicht lügen. Ich sah dass er besorgt war. »Du Idiot. Wieso kannst du nicht aufpassen.« Und da war wieder die Arschlochseite an ihm.
»Ich bin nur hingefallen und hab mir das Knie aufgeschlagen. NichtsSchlimmes. Ich wollte es dir schon am Telefon sage, aber du hast mir ja mal wieder nicht zugehört.«
»Weil ich wieder dachte dir wär sonst was passiert – hätte mich jedenfalls nicht gewundert.« Er ging vor mir in die Hocke und nahm das Taschentuch ab. »Tut es sehr weh?«, fragte er wie ein großer Bruder.
»Geht schon«, murmelte ich. »Wird bis heute Abend schon wieder verheilt sein. Also mach dir keinen Kopf ich komm schon mit zu eurem komischen Treff. Schließlich bin ich ja jetzt auch ein Teil davon oder so.«
»Kannst du laufen?«
»Humpeln trifft es wohl eher. Aber wenndie Schrammeausgewaschen ist und ich noch was drauf mache, dann geht es schon.« Ich stand auf. Doch kaum tat ich den ersten Schritt knickte ich fast weg. Noah packte mich am Arm und hielt mich fest. »Vielleicht geht es vorerst doch nicht ohne Stütze.«
»Wie ist das passiert?«, fragte Noah als wir im Wagen saßen.
»Cupcake hat so stark an der Leine gezogen und ich hab nicht aufgepasst.Rums!Schon lag ich auf dem Boden.« Noah hatte schon eine Wasserflasche parat und machte das Taschentuch nass. Vorsichtig machte er damit die Wunde sauber, aber trotzdem brannte es etwas.
»Man müsste dich auf Schritt und Tritt beobachten, damit dir nichts passiert.« Da hatte mein Partner ein ernstes Thema angesprochen, über das ich schon lange nachgedacht hatte. Wenn in meiner Umgebung immer gefährliche Dinge passieren, war es dann nicht verantwortungslos von mir, anderemithineinzuziehen?
»Wieso haben es so viele auf mich abgesehen?«, fragte ich ernst.
»Ich nehme mal an du scheinst für sie ein leichtes Ziel zu sein. Du bist nicht damit aufgewachsen wie wir. Für dich ist das alles neu und du musst noch vieles lernen. Das wäre einer der Gründe, der mir dazu einfallen würde.«
»Nur einer?« Ich sah Noah skeptisch an. »Also gibt es noch andere Gründe?«
»Das ist nicht so wichtig«, versucht er das Thema runter zu spielen.
»Sag's mir.«
»Sie haben es auch auf deine Seelenflamme abgesehen. Das ist nichts Besonderes ,das haben sie bei allenvon uns.«Er hatte mir keinen neuen Grund genannt, sondern nur den ersten erweitert. Aber das Thema interessierte mich trotzdem.Ich runzelte nachdenklich die Stirn.
»Warum das denn? Ich dachte die schmecken für die alle gleich. Egal von wem sie sind.«
»Es gibt doch garantiert eine Schokolade, die du total gerne isst.« Ich nickte. »Weil sie einzigartig ist. Wenn jetzt aber einanderer Hersteller genau die gleiche herstellt, jedenfalls vom Prinzip her, wird sie dennoch anders für dich schmecken. Sie hat einfach nicht das gewisse etwas. Und genau so ist es mit unseren Seelenflammen«, versuchte Noah zu erklären.
»Also sind unsereSeelen so etwas wie eine Crémé de la Crémé«, stellte ich fest.
»Genau.«
Ich war frohdassich nun langsam Stück für Stück erfuhr, was es alles mit dem Job als Traumjäger und den Traumfressern auf sich hatte. Trotzdem spürte ich innerlich, dass da noch mehrwar als nur wir und diese Traummonster. Etwas, das weitaus gefährlicher und düsterer war als alles, was ich bisher gesehen hatte.  

Kapitel 25

»Fanny was ist denn mit deinem Knie passiert?« Ich stieß eine genervten Seufzer aus. Diese Frage hörte ich heute nun schon zum hundertsten Mal – gefühlt.

Kaum waren Noah und ich auf Haddington Hall angekommen, wurden wir teilweise belagert von Bediensteten und meinem Cousin, als sie sahen wie mich Noah ins Haus stützte. Jeder fragte nach meinem Wohlbefinden, ob ich Schmerzen hätte oder lieber einen Arzt wolle. Sie alle erschienen mir leicht paranoid.

»Es ist nur eine Schramme. Mehr nicht.« Das sagte ich zwar immer wieder, aber irgendwie schien das jeder zu ignorieren und mich stattdessen für meine Tapferkeit loben. Ich kam mir schon fast vor wie ein Soldat mit einer Schussverletzung, inmitten von Bombenangriffen umgeben und ich trotzdem noch mutig und tapfer weiter kämpfen wollte.

Es kostete mich eine geschlagene Viertelstunde um alle davon zu überzeugen, dass ich doch in Ordnung genug sei und mitfahren könne, um der »Konferenz der Traumjäger« beizuwohnen. Das würde ich mir doch nicht entgehen lassen. Neue Informationen und eine Chance vielleicht die anderen aktiv zu erleben oder selber mitzumischen. Zwar war ich immer noch etwas skeptisch und ein bisschen Angst hatte ich auch, aber wenn ich die volle Wahrheit erfahren wollte, dann kam ich nicht drum herum bei dem ganzen Quatsch mitzumachen.

Normalerweise hielt ich mich im Hintergrund in diesem Traumjägerverein. Aber mit einem Knie, das einen dicken Verband trägt, ist es mehr als unmöglich nicht aufzufallen. Sofort hatte ich die Aufmerksamkeit aller Mitglieder, kaum als ich die geheime Bibliothek betreten hatte.

»Wie kann man denn hinfallen und sich so das Knie aufschlagen?« Juliettes Spot in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Cupcake hat zu stark an der Leine gezogen. Mir geht’s gut und es tut nicht mehr so weh wir am Anfang«, erklärte ich trotz der unfreundlichen Tonlage ruhig und gelassen. »Können wir das Thema jetzt bitte lassen? Warum genau sind wir hier?«

»Heute wirst du gewissermaßen in die Dinge eingewiesen, um zu verstehen wie alles funktioniert«, erklärte Randy. »Und dann wirst du dich entscheiden, ob du unserer Sache nun beitrittst oder nicht.«

»Wenn ihr von einweisen sprecht, dann meint ihr aber nicht dieses Zeug mit den Teleportations-Bücher-Dingsbums und Träume retten.« Meine erste Erfahrung war nicht gerade die tollste von allen gewesen.

Juliette rollte genervt mit den Augen. »Was glaubst du was wir sonst hier machen? Wenn du kneifen willst kannst du gleich gehen. Aber vorher würden wir noch deine Erinnerungen an all das hier löschen.«

»Hier werden keine Erinnerungen gelöscht«, ertönte die Stimme von Mattimeo. »Jedenfalls nicht bevor ich es nicht erlaubt habe.«

»Natürlich Meister«, antwortete die brave Juliette und stand ganz stramm.

»Fanny, dieser Auftrag wird eine kleine Übung für deine Fähigkeiten sein, aber auch gleichzeitig eine Prüfung für dich selbst. Hinterher kannst du mir deine Entscheidung mitteilen. Noah wird dich begleiten und im Notfall einschreiten-«

»Notfall?! Das heißt ich bin da, wo auch immer, ganz auf mich allein gestellt mit einem Monster, das mich zerfleischen könnte innerhalb von einer Sekunde?!« Langsam hatte ich keine Lust mehr. Randy hatte es ganz harmlos in der Schule dargestellt. Sozusagen als Training und keinen Test. Das wäre meine erste »richtige« Erfahrung und ich musste das ganz alleine hinkriegen. Ich wollte sofort wieder nach Hause und das so schnell und unauffällig wie möglich. Leider war ich der Mittelpunkt der »Party« und konnte ohne gute Entschuldigung nicht gehen. »Und was ist mit meinem Knie?«, versuchte ich es damit und hoffte das es funktionieren würde. »Damit kann ich doch gar nicht richtig kämpfen.«

»In deiner Seelenform nimmst du den Schmerz deiner körperlichen Hülle nicht mehr wahr. Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen«, beruhigte mich Mattimeo. Doch ich war alles andere als beruhigt. Ich war panisch. Ich war mir sicher, dass das alles in einer Katastrophe enden würde und selbst Noah konnte diese nicht abwenden wenn er wöllte.

»Bist du bereit?«, fragte mein Partner mich.

»Also ehrlich gesagt …« Eine gute Ausrede fiel mir nicht mehr ein – Mist.

»Gut, dann komm mit. Wir müssen noch Vorbereitungen treffen.« Er nahm mich bei der Hand und zog mich hinter sich her. Zusammen gingen wir in einen Raum mit einfachen Regalen und Sitzgelegenheiten. Einen Tisch und ein Sofa gab es auch. Sogar ein Getränkespender stand in der Ecke. Noah zog mich mit aufs Sofa und wir setzten uns.

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Jetzt müssen wir unsere Seele von unserem Körper trennen«, sagte er. »Dies ist dir schon mehrmals gelungen. Aber es passierte unkontrolliert, was eine gefährliche Sache sein kann. Stell dir vor es würde beim überqueren einer Straße passieren, wenn du eine Treppe hinunterläufst oder Fahrrad fährst. Es ist besser wenn du es kontrollieren kannst. Und ich zeige dir nun wie.«

»Na dann mal los Maestro. Das dürfte bestimmt noch eine der leichtesten Übungen sein«, vermutete ich.

»Manche haben Monate dafür gebraucht. Denk also nicht, dass es so einfach wäre.«

»Schon klar. Also los, bringen wir es hinter uns.« Abhauen konnte ich ja nicht mehr, also hieß es kurz und schmerzlos. Wobei ich mir beim letzteren nicht so sicher war.

»Mach die Augen zu«, wies mich Noah an.

»Warum das denn?«

»Hör auf dauernd Fragen zu stellen und tu es einfach.« Seine Stimme klang ein bisschen genervt.

»Okay, okay. Kein Grund gleich grantig zu werden.« Ich schloss die Augen.

»Und halte für die nächsten Minuten einfach die Klappe«, fügte er hinzu. »Für diese Sache braucht man ein gewisses Maß an Konzentration.«

»Ich geb mir Mühe«, seufzte ich.

»Entspann dich. Atme ganz ruhig. Lass einfach alle Gedanken los die dich plagen und denke an nichts.« War gar nicht so leicht an nichts zu denken, aber ich gab mein bestes den Anweisungen zu folgen. Es war nur unglaublich schwer dabei nichts zu sagen. »Wenn du deinen eigenen Herzschlag hören kannst machst du es richtig.« Ein paar Sekunden, die mir vorkamen wie Stunden, blieb es still und ich hörte nur unser leichtes Atmen. »Wenn ich bis drei gezählt habe, stehst du auf«, flüsterte mir Noah ins Ohr und ich bekam eine Gänsehaut, weil ich so konzentriert war und jede kleinste Einwirkung von außen nun viel intensiver spürte.

»Okay.« Noah nahm meine Hand.

»1 … 2 … 3.« Ich stand auf. »Gut jetzt mach die Augen auf.«

Vorsichtig blinzelte ich. Ich sah mir den Raum an, aber alles sah aus wie vorher. »Hm. Sonst sah es immer anders aus wenn ich- Woah!« Ich hatte mich umgedreht und sah meinen Körper auf dem Sofa sitzen. Wenn man nicht wusste, dass ich meine Seele vom Körper gelöst hatte, würde man glatt denken ich schliefe. Testweise fuhr ich mit meiner Hand durch meinen Körper. Ich konnte ihn nicht anfassen. »Es hat geklappt.« Ich war begeistert. Gleich beim ersten Versuch.

»Nicht schlecht für eine Anfängerin«, sagte Noah. Er hielt noch immer meine Hand.

»Ich dachte ich sei jemand mit einer besonderen Begabung«, meinte ich mit einem selbstsicherem Lächeln. »Das hast du jedenfalls behauptet.«

»Hochmut kommt oft vor dem Fall.«

»Was du nicht sagst.« Ich ließ seine Hand los. »Damit musst du dich ja am besten auskennen.«

»Ich muss dich doch beschützen. Sonst würdest du Nonstop in Schwierigkeiten stecken.« Und hier waren wir wieder bei einem Thema, welches ich nur ungern anschnitt. Es war mir unangenehm und es erinnerte mich an das Gespräch, das Noah und ich bei der Nachhilfe führten.

 

»Können wir jetzt aufhören?«, jammerte ich. »Ich glaube mein Schädel platz gleich.«

»Na gut. Fünf Minuten.« Noah legte seinen Stift beiseite und mein Kopf sank auf die Tischplatte. Ich konnte ihn nicht mehr halten, so schwer fühlte er sich an.

»Mach ne halbe Stunde draus …«, murmelte ich.

»So schlimm?« Noah lachte leise. »Das meiste klappt aber schon gut.«

»Wow, war das ein Kompliment? Oder hab ich da was missverstanden? Sag's zur Sicherheit später nochmal, damit ich es in vollen Zügen genießen kann.« Jetzt musste er erst recht schmunzeln.

»Das musst du dir erst verdienen. Vielleicht sag ich es nach einer halben Stunde nochmal. Hier.« Noah schob mir eine Tasse Tee zu. »Trink was, dann kannst du dich vielleicht besser konzentrieren.«

»Danke.« Genüsslich sog ich den dampfenden Duft ein. Pfefferminztee mit Kandiszucker. Mein Lieblingstee, gleich nach Kirsch-Banane.

»Denkst du es geht mit dem Knie? Wegen unserem Treffen heute.« Er machte sich immer noch Sorgen. Das fand ich ein bisschen niedlich, wenn ich ehrlich war. Er benahm sich fast schon wie ein Bruder oder Ethan. Bei Noah ist so etwas aber auch selten.

»Wird schon klappen. Solange ich keine akrobatischen Sachen machen muss. Außerdem erfahre ich heute wieder etwas mehr über eure Verschwörung. Auch wenn es mir lieber wäre, ihr würdet nichts über mich und meine abstrusen Fähigkeiten wissen.« Ich nippte am Tee und dachte an alles was schon passiert war. Sowohl in der Traum- als auch in der Geisterwelt.

»Wenn wir das nicht wüssten, wären wir schlecht in unserem Job und du ununterbrochen in Schwierigkeiten. Bestimmt wäre deine Seelenflamme schon längst draufgegangen.« War ja klar das er sich mal wieder über mich lustig machte. Vielleicht nahm er mein Gerede aber auch nur nicht ernst.

»Das wäre mir zumindest lieber, als andere mit hineinzuziehen.« Und die Tatsache das ich alleine nichts dagegen tun konnte und immer auf Hilfe angewiesen war, machte mich noch deprimierter.

»Ich lass dich nicht alleine«, sagte Noah ernst und ich sah ihm ins Gesicht. Seine Augen schauten mich entschlossen an. Er meinte es tatsächlich wirklich ernst, was er gerade sagte. Auf einmal grinste er. »Außerdem hab ich mich schon in so viele schwierige Situationen für dich begeben, da bist du mir auf alle Fälle was schuldig.«

»Wow. Schmeichelhaft wie eh und je.« Ich lachte leise. »Aber wenn ich meine Fähigkeiten im Griff habe, kannst du von deinem Posten als Bodyguard zurücktreten«, meinte ich und grinste hämisch vor mich hin. Noah aber schmunzelte – halb spöttisch, halb amüsiert.

»Ich glaube das wird noch eine Weile dauern …«

 

Noah würde bei mir bleiben, egal was auch passieren mag. Diese Tatsache beruhigte mich in einer Hinsicht zumindest: Ich brauchte mir keine Gedanken um die Traumfresser machen. Aber andererseits kam ich nicht drumherum ihn ständig in meiner Gesellschaft zu haben, was sehr nervenaufreibend sein konnte.

»Seid ihr bereit?« Wir beide standen nebeneinander in der großen Bibliothek. Mattimeo stand vor uns, die anderen etwas abseits. »Dann werden wir nun beginnen. Fanny, bewältige die Aufgabe so gut wie du kannst. Setze dich nicht unter Druck.« Das sagte er zwar so leicht, aber das half gerade nicht um mich zu beruhigen. Ich war sowieso schon bis aufs äußerste angespannt.

Mattimeo hatte schon ein Buch ausgesucht und hielt es in seinen Hände. Es schimmerte in einen leichten orangen Ton, was demnach heißen sollte, dass der Traumfresser noch auf einer niedrigen Stufe war. Aber egal ob niedrig oder nicht, ob ich das Vieh alleine erledigen konnte, ... da war ich mir nicht so sicher. Trotzdem war ich ein bisschen froh das mich Noah begleiten sollte, auch wenn er nur im Notfall eingreifen würde.

Das Buch wurde aufgeschlagen und auf den Boden gelegt. Sofort entfaltete sich ein leuchtender Rahmen, der die Brücke zu der Traumwelt bot. Augenblicklich breitete sich in mir ein mulmiges Gefühl aus, als ich die Tür vor mir sah. Es erinnerte mich an mein erstes Erlebnis und wie unerfreulich es geendet ist. Ich tastete vorsichtig nach Noahs Hand und hielt mich mit zwei Fingern an seinem kleinen Finger fest. Dann machte er auch schon einen Schritt nach vorne und ich folgte ihm. Wir passierten die leuchtende Tür und wurden von hellem Licht umhüllt.

Kaum waren wir zwei Schritte durch die Tür gegangen, nahm das Licht rapide ab und die Tür verschwand hinter uns. Wir standen in einem düsteren Nichts. Zwar kam von irgendwoher schwaches Licht, aber die Quelle konnte man nicht wirklich ausmachen.

»Das ist aber ein düsterer Traum.« Ich schaute mich um, konnte aber nichts auffälliges ausmachen. »Sicher dass das nur ein Traumfresser auf niedrigem Level ist?« Angst kroch langsam in mir hoch. Doch ehe sie sich vollständig in mir ausbreiten konnte, umschloss Noah ganz fest meine Hand.

»Lass es nicht an dich heran. Konzentriere dich. Rufe dir immer ins Gedächtnis, dass du stärker bist als das größte Übel mit der Kraft des Lichtes in deinem Herzen. Wir sind dafür da Licht ins Dunkel zu bringen, die Finsternis auszutreiben und zu verbannen. Deswegen brauchst du dich nicht zu fürchten.« Seine Ansprache löste in mir eine große Zuversicht aus das alles Gut wird und ich beruhigte mich. Noah schien nie Angst zu haben, egal was er auch tat oder welcher Aufgabe er gegenüber stand – so kam es mir vor.

»Danke.«

»Also dann. Konzentration ist alles, das wirst du in Zukunft öfters hören. Fangen wir mit der ersten Lektion an. Traumfresser hinterlassen immer Spuren. Um sie zu finden musst du dich ihrer Anwesenheit bewusst werden und ihre Aura verfolgen. Wenn sie stärker wird bist du auf dem richtigen Weg.« Was Noah mir da erklärte klang zwar plausibel, aber …

»Wie genau soll ich das anstellen?«

»Du spürst es. Aber dafür musst du deinen Kopf frei machen und nicht so viele Fragen stellen. Konzentriere dich«, ermahnte mich mein Partner.

Ich seufzte und schloss die Augen – da konnte ich mich immer am besten konzentrieren. Das frei kriegen der Gedanken erwies sich mal wieder als nicht gerade leicht.

»Du kannst das. Es ist ganz leicht«, flüsterte eine Stimme. Zuerst dachte ich es sei Noah, aber dafür haute die Stimmlage nicht hin. »Bei mir hast du es auch gekonnt.« Quasimodo. Wie kam der denn hier her? Ich sagte nichts, ließ die Augen geschlossen, auch wenn ich neugierig war ob ich ihn nun sehen konnte (Noah vielleicht auch), und hörte weiter zu was er mir zu sagen hatte. »Du weißt wonach du suchst. Konzentriere dich und spüre dein Umfeld. Nimm es wahr mit jeder Einzelheit und du wirst schnell herausfinden, was nicht hier her gehört.«

Von hier an ist es schwer zu beschreiben was geschah. Wenn man es nicht selbst erlebt, kann man es kaum beschreiben, aber lasst es mich so erklären. Jeder Raum hat eine gewisse Atmosphäre. Ebenso wie der Fingerabdruck eines Menschen. Bei einem Traum ist es dasselbe. Sie haben eine ganz spezielle Note, die von dem Unterbewusstsein ihres Schöpfers ausgeht.

Wenn nun jemand Fremdes, mit einer ebenfalls speziellen Note in diesem Raum anwesend ist, kann man anhand seiner Spuren die er an verschiedenen Stellen hinterlassen hat, ihn zurückverfolgen und finden. Man könnte es folgendermaßen vergleichen: In einem Raum tragen ein dutzend Frauen ein und dasselbe Parfüm und haben es darin auch versprüht. Wenn nun ein Mann den Raum betreten würde, mit einem exzentrischen Aftershave, so würde man seinen Geruch unter den anderen klar erkennen und zu ihm zurückverfolgen können. Er wäre zwar nicht so stark wie der Geruch des Frauenparfüm, aber dennoch da – nur gut versteckt.

Genauso ähnlich spürte ich die Anwesenheit eines ungebetenen Gastes in diesem Traum, welcher garantiert nicht hier her gehöre. Ich ließ die Augen geschlossen, ließ Noahs Hand los und folgte einfach meinem Gespür. Stück für Stück tastete ich mich vor, merkte wie die Anwesenheit des Traumfressers stärker wurde und ich ihm schon fast ganz nah war, als ich meinen Namen rufen hörte. Ich öffnete die Augen und konnte keinen Meter weit sehen. Plötzlich war rings um mich herum dichter Nebel. Der Traum hatte sich anscheinend schlagartig geändert. Mit so etwas musste man rechnen. Nur hatte ich es zu spät mitbekommen und war nun von meinem Partner getrennt.

»Fanny!« Das war Noah der mich rief. Aber er schien so weit weg zu sein.

»Ich bin hier!«, rief ich zurück – war mir aber trotzdem sicher, dass das nur wenig bringen würde. Plötzlich vernahm ich ein Knurren und ein Schauer lief mir über den Rücken. Die Angst kehrte wieder zurück und ich konnte es nicht verhindern das sie größer wurde. »Quasimodo?«, flüsterte ich. »Wenn es je einen Augenblick gab in dem ich dich dringender bräuchte denn je, dann wäre das jetzt.«

Etwas erschien auf meiner Schulter. Das heißt ich spürte das Gewicht eines Wesens darauf sitzen, sonst sah ich nichts – wie immer. »Sei unbesorgt«, sagte mein unsichtbarer Freund zu mir. »Wenn wir achtsam sind, dann kann dir nichts passieren.« Er schien zumindest ein großes Maß an Zuversicht zu haben. Ganz im Gegenteil zu mir.

»Du hast vergessen das ich im Gegensatz zu Noah, kein Schwert oder Waffe habe, mit der ich mich verteidigen könnte. Ich bin total schutzlos.« Ich geriet langsam in Panik.

»Du musst immer ruhig bleiben. Das ist das wichtigste. Wenn du in Panik gerätst kannst du dich nicht mehr konzentrieren und dann bist du leichte Beute.«

Ich wollte gerade erwidern, dass ich bei solchen Aussichten erst recht in Panik verfallen würde, als mich jemand rief. Doch es war nicht Noahs Stimme, sondern die eines Mädchens.

Das Mädchen, das mich in meinen Träumen immer gerufen hatte.

Kapitel 26

 

»Fanny! Fanny, hilf mir! Komm und hilf mir!« Immer wieder dieselben Worte.

»Nein … nein das kann nicht sein«, stammelte ich.

»Was ist?«

»Ich höre diese Stimme immer in meinen Träumen. Sie ruft fasst jede Nacht nach mir«, erklärte ich Quasimodo. »Aber wir sind hier in einem anderen Traum, also kann das gar nicht sein.«

»Vielleicht ist es die Besitzerin des Traumes die dich ruft.«

»Woher sollte sie denn meinen Namen kennen …« Oder ob es der Traum der Stimme war? Nein, das konnte nicht sein.

Erneut ertönte ein Knurren. Ich konnte nicht länger an ein und derselben Stelle stehen. Ich musste weg. Denn dieses unheilvolle Geräusch erinnerte mich immer an meinen ersten Traum den ich nach meinem Umzug hatte. Durch den Nebel konnte ich nicht viel sehen und wusste nicht wo ich lang lief, geschweige denn was das für ein Traum war. Doch dann stolperte ich und fiel.

Als ich mich wieder aufrappelte sah ich über was ich gestolpert war. Eine Wurzel. Ich befand mich in einem Wald, der nur so vom Nebel umhüllt wurde und gespenstischer wirkte, als er es ohnehin schon war.

»Hilf mir! Fanny!« Ununterbrochen rief die Stimme meinen Namen und ich war ihr bei meiner Flucht immer näher gekommen. Immer tiefer schritt ich in den Wald hinein und konnte selber nicht mehr sagen aus welcher Richtung ich gekommen war. Fast aller drei Sekunden stolperte ich über eine Wurzel oder blieb an einem Zwei hängen.

Licht. Ich brauchte Licht. Aber wie?

»Quasimodo?«

»Ja?«

»Kannst du Licht machen?« Damit konnten wir zwar auch nicht weiter sehen als bisher – aufgrund des Nebels – aber es war besser als nichts.

»Kann ich.« Kurz darauf leuchtete eine blaue Flamme neben mir auf. Ihr entsprangen weitere kleine und bildeten eine Reihe, die mir den Weg erleuchteten.

»Danke.« Ich ging weiter. Ab und zu vernahm ich das tiefe Knurren. Es begleitete mich und meinen Geist auf unserem Weg, aber war immer noch weit weg, weshalb ich davon ausging, dass es uns noch nicht entdeckt hat – hoffte ich zumindest.

»Wo ist dein Partner hin?«, fragte Quasimodo. »Ich kann ihn schon seit einer Weile nicht mehr spüren.«

»Wir haben uns verloren. Bestimmt finden wir uns wieder.« Ich versuchte so gut es ging optimistisch zu bleiben, aber es fehlte nicht mehr viel, bis ich meinen Optimismus verlieren würde.

»Das mein ich nicht. Es scheint so, als würde er sich nicht mehr in diesem Traum befinden.« Nun nahm mir mein Freund fast all meine Hoffnung und Zuversicht.

»Was meinst du damit?« Ich versuchte noch ruhig zu bleiben, aber mein hörte wie meine Stimme leicht zitterte.

»Ich kann ihn nicht mehr spüren. Es sieht so aus, als hätte er den Traum verlassen.« Nun verabschiedete sich auch der letzte Funken Hoffnung von mir.

»Was?!«

»Ganz ruhig bleiben wir schaffen das schon«, versuchte mich Quasimodo positiv zu stimmen. Aber das alles war vergebens, als direkt hinter mit ein tiefes Knurren ertönte und ich warmen Atem in meinem Nacken spürte. Augenblicklich versteifte ich mich und bekam eine Gänsehaut. Ich hielt die Luft an und versuchte nicht in Panik zu verfallen. Doch diese Bemühung war sinnlos, als ein ohrenbetäubendes Gebrüll mein Trommelfell fast zerfetzte.

Bevor mein Hirn überhaupt schalten konnte, nahm ich die Beine in die Hand und rannte los. Hinter mir hörte ich wie Holz zersplitterte. Bäume knackten und gingen ächzend zu Boden.

»Fanny du musst Ruhe bewahren!« Quasimodo hatte anscheinend Mühe sich bei meiner Flucht noch auf meiner Schulter zu halten.

»Kannst du mir mal verraten wie ich das anstellen soll?«, fragte ich ihn atemlos, blieb aber keine Sekunde stehen und rannte weiter. »Ich hab meine Kräfte nicht unter Kontrolle. Schon vergessen?«

»Vertrau mir einfach.« Quasimodo hatte mich bis jetzt nie wirklich im Stich gelassen. In den gefährlichsten und aussichtslosesten Situationen war er immer da und hatte mich noch gerettet.

»Okay und was soll ich tun?« Ich schlug einen Haken. Doch um das Monster hinter mir abzuschütteln reichte es natürlich nicht. Es war schon ein Wunder das ich überhaupt noch nirgendwo hängengeblieben bin oder mich auf dem Boden wiedergefunden habe.

»Stell es dir vor. Das ist ein Traum. Nur deine Fantasie setzt die Grenzen.« Das klang einleuchtend und ich wollte es gern versuchen. Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, drehte mich um und sah meiner Gefahr ins Auge. Ich streckte meine Arme aus, als wolle ich dem Biest klar machen, dass es hier nicht weiter ginge, und murmelte immer wieder zu mir selbst: »Ich bin stärker als das größte Übel, mit der Kraft in meinem Herzen.« Es klang zwar sehr kitschig, aber in diesem Moment, war es das einzige an das ich mich klammern konnte und mir Hoffnung, die Kraft und Zuversicht gab, dass hier heil zu überstehen.
Ich hörte die polternden Schritte jede Millisekunde näher kommen, spürte wie der Boden unter meinen Füßen zitterte und sah den dunklen Schatten der sich immer schneller auf mich zu bewegte.

Es war nur ein kurzer Moment die ich in die Augen des Ungeheuers blicken konnte, bevor ein greller Blitz aufleuchtete und ich mit voller Wucht davongeschleudert wurde. Und noch während ich durch Äste flog, wusste ich genau, was für ein Monster ich gerade eben gesehen hatte.
Ein harter Aufprall folgte und ich fiel eine Art Abhang hinab, mit nicht enden wollenden Schmerzen begleitet. Ich stieß mir den Kopf und mir wurde kurzzeitig schwarz vor Augen.

»Fanny! Fanny hilf mir!«

Immer wieder diese Stimme. Die Stimme eines Mädchens, das verzweifelt um Hilfe ruft. Ein Mädchen das ich nicht mal kenne. Und das trotzdem meinen Namen ruft. Dabei könnte ich ihr vielleicht nicht mal helfen.

»Au! Man tut das weh …« Ich rieb dir den Kopf, den ich mir an irgendwas gestoßen hatte. Ich rappelte mich auf, wobei mir fast jedes Körperteil weh tat. Auch eine interessante Entdeckung. Wenn man in der Traumwelt unterwegs war, konnte man offenbar ebenfalls Schmerz empfinden. (Nur ist es zum Glück nicht von langer Dauer und so stark.) Nach wenigen Minuten war alles wieder okay und ich konnte mich ohne Probleme bewegen. Trotzdem saß der Schreck mir noch einigermaßen in den Gliedern. Alles war so schnell gegangen, dass mein Hirn das nicht richtig verarbeiten konnte.

»Fanny! Ist alles okay?« Quasimodo sprang von irgendwoher wieder auf meine Schulter.

»Mir geht es gut«, sagte ich zu meinem unsichtbaren Begleiter. »Was ist mit dem Ungeheuer?« Ich schaute mich vorsichtig um. Aber der Nebel war immer noch so dicht wie immer, also war es mir nach wie vor unmöglich etwas in der dicken weißen Wand auszumachen.

»Das hast du wohl ausgenockt. Ich wusste das du es kannst«, meinte Quasimodo stolz. Aber ich war da anderer Meinung. Ein Gefühl in mir sagte mir, dass da etwas Faul an der ganzen Sache ist.

»Denkst du ich könnte diesen Traum ein bisschen ändern?«, fragte ich Quasimodo.

»Nichts ist unmöglich. Probieren kannst du es. Außerdem müssen wir den Traumfresser noch finden um ihn zu reinigen.«

»Ich werde dem Vieh doch nicht noch in die Arme laufen, wo ich erst von ihm weg wollte. Wenn es doch noch genug Kraft hat oder sogar noch wütend geworden ist, wird es mich zerfleischen.« Allein die Vorstellung bereitete mir weiche Knie. Nein. Ohne Noah würde ich das garantiert nicht schaffen. Aber er hatte mich allein gelassen. Jedenfalls ist er nicht mehr auffindbar.

»Wenn wir das nicht durchziehen, wir es weiterhin in diesem Traum bleiben und den Besitzer mit negativen Dingen füllen.« Ich hasste solche Momente, in denen man einem ein schlechtes Gewissen einreden konnte, obwohl dieser schon vor Angst kaum noch alle Nerven beieinander halten konnte.

»Ich hasse es das du recht hast«, murrte ich.

»Da kann man nun mal nichts machen. Auf! Auf! Finden wir das Biest und bringen es endgültig zur Strecke«, sprach Quasimodo übermütig und erneut ließ erneut blaue Flammen erscheinen, die mir den Weg wiesen. Er hatte aber auch gut reden. Denn schließlich war ich es am Ende, die dem Ungeheuer gegenüber stand und es zur Strecke bringen musste. Nur würde ich es nicht tun können – dessen war ich mir sicher.

»Sag mal«, begann ich meine Frage, welche mir im Moment ununterbrochen im Kopf herumschwirrte. »Wie schaffe ich es den Traumfresser überhaupt zu schwächen? Ich habe keine Waffe wie Noah. Wie soll ich das anstellen?«

»Jeder deiner Freunde-«

»Sie sind nicht alle meine Freunde«, unterbrach ich Quasimodo. Juliette bestimmt nicht. Die muss mich doch auf den Tod nicht leiden können.

»Das ist doch egal«, erwiderte mein Geist mürrisch. »Jedenfalls haben sie alle ihre ganz eigenen speziellen Techniken, wie sie Traumfresser besiegen können. Hierfür kann dir niemand einen Anleitung geben, dass musst du von ganz alleine herausfinden.«

»Na toll. Also frei nach dem Motto 'Leben oder Tod'.« Meine Zukunftsaussichten sahen ja sehr rosig aus.

Wir folgten den Weg zurück, aus dem ich geflogen kam. Geknickte oder auf dem Weg liegende Äste waren unsere Markierung – ähnlich wie bei Hänsel und Gretel die Kieselsteine. Ich musste an Nathan denken. Was er wohl gerade machte? Im Moment wünschte ich mir mehr bei ihm zu sein, als hier an diesem schrecklichen Ort.

Der Nebel war immer noch so dicht wie am Anfang. Ich hatte zwar versucht ihn zu lichten, aber nach etlichen Versuchen hatte ich aufgegeben. Ich hatte es nur geschafft den Nebel im Umkreis von einem Meter verschwinden zu lassen, aber das war es auch schon. Anscheinend war ich noch nicht gut genug um in anderen Träumen die Dinge mit einem Fingerschnippen zu ändern – im eigenen scheint es immer leichter zu sein.

»Denkst du Noah ist wirklich aus dem Traum geflüchtet?« Der Gedanke dabei das mich Mr Obercool einfach so im Stich gelassen haben könnte, wollte ich mir einfach nicht eingestehen.

»Wer weiß … Vielleicht ist ihm auch nur etwas passiert.« Quasimodo sagte das so als wäre es nicht das Schlimmste.
»Du meinst er könnte in Gefahr sein?«, rief ich mit einer Mischung aus Sorge und erstaunen. Ich konnte es mir nicht vorstellen das er einfach so, von wem auch immer, überwältigt worden war. Dafür war er viel zu erfahren und ein guter Kämpfer – ich hatte es ja schließlich selber mehrmals gesehen. Dennoch machte ich mir Sorgen.

Aber egal welches Szenario ich mir auch vorstellte, konnte ich mich mit keinem beruhigen. Wäre der blöde Nebel nicht gewesen, hätten wir uns sicher nicht aus den Augen verloren, dachte ich bei mir.

»Bis hier hin hast du ihn geschleudert.« Wir waren an der Stelle angekommen, wo das Biest nach meinem Gegenangriff gelandet war. Eine – mindestens - 10 Meter lange Spur zog sich durch den Boden. Die Bäume und Sträucher, die im Weg standen, waren zur Seite gebogen oder vollkommen herausgerissen worden. »Mist er ist schon wieder weg«, fluchte Quasimodo als er die leere Absturzstelle sah.

»Gott sei dank«, seufzte ich erleichtert. Vielleicht würde ich nochmal davonkommen und konnte den Traum verlassen ohne möglicherweise von einem Traummonster zerstückelt zu werden. Aber mein Begleiter machte mir da einen Strich durch die Rechnung.

»Komm Fanny den kriegen wir noch. Du weißt ja wie man ihn aufspürt.«

»Was? Das Vieh ist noch am Leben und möglicherweise in unserer Nähe. Ich bin weder eine gute Kämpferin, noch habe ich jemanden bei mir der mir im Notfall helfen könnte. Und wie ich den Traum verlassen kann weiß ich auch nicht.« Ich hatte keine Lust mehr auf das Ganze hier. Alles schien immer mehr aus dem Ruder zu laufen und ich sah mich schon zerfleischt zwischen Eiche und Borke liegen. Nein, ich wollte raus. So schnell wie möglich. »Ich will lieber wieder gehen. Nachher können wir doch dann immer nochmal hierher kommen und den Traumfresser erledigen.«

»Traumfresser muss man so schnell wie möglich beseitigen. Haben sie sich einmal in Träumen fest genistet, wird man sie nicht so schnell wieder los. Durch die Alpträume werden immer mehr negative Gefühle freigesetzt, die die Traumfresser ernähren und weiter wachsen lassen. Dafür schwächen sie den Besitzer.«
»Aber ich-« Ich stoppte in meiner Verteidigung. Hinter mir hatte ich ein tiefes Knurren vernommen. Und ich brauchte mich erst gar nicht umzudrehen um zu wissen, welche Kreatur da wohl hinter mir stand. Trotzdem wagte ich einen Blick über die Schulter um mich nur noch mehr zu erschrecken, als ich es ohnehin schon war.

Aber ehe ich in der Lage war meinem Schrecken entgegen zu wirken, wurde ich von einer ungeheuren Kraft getroffen, die sich ähnlich wie meine anfühlte, und weggeschleudert. Hart prallte ich mit dem Rücken gegen etwas Massives, was so meine Flugbahn unsanft stoppte.

Unkontrolliert schnappte ich nach Luft.

Ich konnte meinen Körper kaum bewegen. Der Schock und natürlich der Rückschlag hatten mich zum Teil gelähmt. Mit zittriger Hand tastete ich hinter mich und fühlte eine Art Wand. Aber nicht aus Glas oder Stein, es war mehr so etwas wie elektromagnetische Spannung, die mich davon abgehalten hatte weiter zu fliegen. Auch wenn sie unsichtbar war, schien sie sehr massiv zu sein und erinnerte mich an meine Schutzschilde, die ich erschaffen konnte (unkontrolliert), um Traumfresser zurückzuhalten. Das war wohl etwas ähnliches.

Quasimodo war nicht mehr bei mir. Seine Anwesenheit und sein Gewicht auf meiner Schulter fehlten. Ich war nun ganz alleine und wusste nicht was ich tun sollte.

Das Ungetüm von Traumfresser kam mir hinterher. Jetzt wo ich nicht mehr in der Lage war mich zu bewegen konnte ich seine Anwesenheit umso mehr spüren. Seine näher kommenden Schritte wurden zunehmend lauter, begleitet von dem knacken der Zweige unter seinen Tatzen und seinem tiefen Knurren, das mir einen zusätzlichen Schauer durch den Körper fahren ließ.

Wie ein dunkler Schatten aus der Hölle persönlich, baute sich das Biest vor mir auf und war, trotz der Tatsache das es noch 5 Meter von mir entfernt war, ein Koloss von einem Traumfresser. Hier ging einiges nicht mit rechten Dingen zu. Sollte es nicht auf Level 1 und leicht zu besiegen sein?

Was mich vorher schon so verdutzt hatte, nämlich das Monster wie Monster-Cupcake aussah, in einem Traum, von dem ich nicht erwartete hätte ihn hier anzutreffen, setzte es nun noch eins drauf.

Denn der Traumfresser, war nicht alleine. Auf seinem Rücken saß jemand. Eine in schwarz gehüllte Person. Ihr Gesicht, ebenso wie der Fakt ob es ein Mann oder eine Frau war, war nicht auszumachen. War es überhaupt ein Mensch?

Doch was ich genau spürte war, dass etwas von dieser Person ausging, was mein Herz noch schneller vor Angst schlagen ließ. Sie wirkte bedrohlich und garantiert in der Lage mich zu töten. Ich wollte nur noch raus aus diesem Höllentraum, in dem alles schief zu laufen schien. Aber es war niemand da der mir helfen konnte.

Das Biest samt seinen Reiter kam näher, wobei jeder Schritt mir fast die Luft zum atmen nahm, weil ich mich meinem Ende näher fühlte und mein Herz fast bei jedem zweiten Schlag einen Hüpfer machte – als ob es aufhören wollte zu schlagen.

Die mysteriöse Person auf dem Traumfresser hob einen Arm und machte eine Bewegung, als wolle sie ausholen um etwas auf mich zu werfen. In der Hand flackerte etwas, dass den Anschein von Energie oder etwas ähnlichem hatte. Jedenfalls schien es nicht harmlos zu sein und auch nicht sanft, falls es mich treffen würde. Doch bevor es dazu kommen konnte und mich das Geschoss treffen konnte, ging ein Ruck durch meinen Körper und etwas in mir löste einen derartigen Schmerz aus. Zuerst dachte ich es habe mich doch diese Energie von dem schwarzen Reiter getroffen, aber dann flimmerte es vor meinen Augen und meine Sicht verschwamm. In einem Gemisch aus zerlaufenen Farben und Formen, verschwand alles vor mir und auf einmal hatte ich das Gefühl zu fallen. Ich fiel in ein Nichts.
Es war schrecklich und befreiend zugleich.

Doch kaum war ich der Gefahr entkommen, stolperte ich in die nächste. Alles um mich herum war nun dunkel. Tiefschwarz wie die Nacht. Mein Körper kam zum liegen und ich fragte mich, wo ich nun war. Ist dies eine noch andere Welt? Wie viel weiß ich eigentlich noch nicht von den Geheimnissen, die doch so offensichtlich vor uns liegen?

Mir war kalt, doch etwas berührte mich. Es übte unglaublichen Druck auf meinen Körper aus. Rief die Schmerzen hervor und stahl mir die Luft die ich zum Atmen brauchte. Ich versuchte mit aller Kraft, so gut es mir möglich war, den Lebensnotwendigen Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen, aber etwas blockierte seinen Weg. Meine Versuche zu Atmen zu kommen, wurden unkontrolliert und abgehackter. Die Griffe wurden stärker und mein Herz schlug immer schneller. Aufgeregte Stimmen um mich herum. Es war so laut. So stickig. Luft! Ich brauchte Luft!

Panisch riss ich die Augen auf, sprang auf und flüchtete aus der Dunkelheit. Ich stolperte, aber wollte nicht wieder hinfallen und liegen bleiben. Ich wollte weg. Raus ins Licht. Da wo ich atmen konnte. Doch jemand hielt mich fest. Es war kein fester Griff. Trotzdem konnte ich ihm nicht stand halten. Jemand schloss mich in den Arm. Beruhigend wurde auf mich eingeredet und mir das Haar gestreichelt.

Mein schnell schlagendes Herz wurde langsamer mit jedem Wort, jeder Bewegung durch mein Haar. Auch wenn ich kaum etwas verstand, konnte ich doch die Stimme erkennen, welche auf mich einredete. Und ich war froh das er es war. Ich brauchte ihn jetzt.

Als eine Art Bruder.

Kapitel 27

 Der Schock saß tief in meinen Knochen. Ich zitterte am ganzen Leib. Und als ich endlich meine Atmung unter Kontrolle hatte, fing ich hemmungslos an zu weinen und vergrub mein Gesicht in den Pullover meines Cousins.
Es war mir egal wie peinlich das ausgesehen haben muss. Ich wollte einfach nur das er mich festhielt und für mich da war – ich wollte nicht allein sein. Im Traum hatte ich solche Angst gehabt, weil Noah plötzlich verschwunden war und ich ganz auf mich allein gestellt. Das war noch nie so gewesen. Immer war jemand an meiner Seite, der mich beschützte und mir half. Aber das zeigte mir wiederum, wie hilflos ich doch erschreckender weise all die Zeit gewesen bin.
»Ich will nach Hause Ethan«, schluchzte ich leise. Es war so still im Raum, dass mich vermutlich sowieso Jeder verstehen konnte. Aber mich störte das im Moment nicht. Ich vergrub mein Gesicht noch tiefer in den Pullover meines Cousins. Er strich mir beruhigend übers Haar und drückte mich fest an sich. Ich spürte wie er mir etwas aufmunterndes zuflüstern wollte, aber stockte. Was hätte er auch sagen sollen? Das alles gut wird? Ich hatte da so meine Zweifel.
»Ethan«, hörte ich Noah leise sagen. »Es wäre besser wenn sie jetzt schlafen würde.«
Was? Hatte er sie noch alle? Nach allem was passiert ist, war schlafen das Letzte woran ich denken würde. Die Angst saß mir im Nacken und mein Atem kam wieder ins stocken, als Noah seine Hand auf meine Schulter legte. Und bei dem Gedanken, was mein Unterbewusstsein nach diesem Erlebnis mir für einen Traum bescheren würde, krampfte sich in mir alles zusammen. Nie im Leben würde ich ruhig schlafen können.
»Nein«, flüsterte ich tonlos. »Nein, ich will nicht schlafen.« Meine Stimme wurde zunehmend fester.
»Fanny du bist sehr erschöpft und aufgebracht, du solltest wirklich-«
»Nein ich will nicht!« Noahs sanftmütigen Argumente gingen in meinem Geschrei unter. Von die eine auf die andere Sekunde spürte ich eine Art Druckwelle und dann saß ich plötzlich alleine auf dem Boden. Ethan hielt mich nicht mehr im Arm, sondern lehnte einige Meter weiter weg an der Wand und krümmte sich. Aber ihn alleine hatte es nicht erwischt. Keiner der anderen war noch in einem Umkreis von fünf Metern um mich herum.
Ich schaute auf meine Hände. Sie schimmerten schwach und ich wusste sofort was ich getan hatte. Es zu verhindern wäre unmöglich gewesen, also ließ ich meinen aufkommenden Tränen einfach freien Lauf. Totenstille herrschte im Raum. Keiner sagte ein Wort – nach wie vor.
Mir reichte es. Ich stand mit wackeligen Beinen auf und ging zur Tür. Niemand machte Anstalten mich aufzuhalten. Nur Noah, den es bis zur Tür geschleudert hatte durch meine Druckwelle, schaute mich aus traurigen Augen an. So einen Gesichtsausdruck hatte ich bei ihm noch nie gesehen. Ich sah gleich, dass es ihm wirklich sehr leidtat, was da heute passiert ist. Er war bestimmt genauso erschrocken darüber gewesen wie ich. Keiner hatte das vermutlich erwartet.
»Fanny …«, sagte er leise und streckte seine Hand nach mir aus, zog sie aber leicht zurück als ich die meine hob, um ihm klar zu machen, dass er sich, was auch immer er sagen wollte, sparen könne. Er wusste was letztes Mal passiert ist, als ich ihn mit den schimmernden Händen berührt hatte. Und wenn ich aufgebracht bin, so wie jetzt, konnte ich unberechenbar sein.
»Ich muss mal an die frische Luft«, sagte ich nur und schniefte leise. In meinem Kopf flogen die Gedanken durcheinander und mir war bewusst, dass sie alle nichts dafür konnten, was mir eben passiert war. Schuld daran war diese schwarze Person, die versucht hatte mich mit Fake-Monster-Cupcake umzubringen. Aber innerlich – im Herzen – tat es mir dennoch weh. Noah hatte versprochen mich zu beschützen. Aber selbst dabei hatte er versagt. In einem Traum, den ich von ihrem Versteck aus betreten hatte und mir Sicherheit garantiert wurde.
Ich trat über die Schwelle des Ladens und augenblicklich verschwand das Schimmern meiner Hände. Es war schon dunkel geworden und ein wenig kühl. Ich ging ein paar Schritte, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und schaute in den Himmel hinauf. Schwarz und finster. Kein Licht durchdrang heute Nacht die Wolkendecke. Der Himmel untermalte mein Erlebtes perfekt.
Einige Meter weiter stand eine Bank, auf die ich mich sinken ließ. Mit der Fußspitze malte ich auf dem Steinweg herum und dachte nichts. Ich wollte an irgendetwas, etwas spezifisches oder logisches denken, aber nichts kam mir in den Sinn. Starr schaute ich auf den Boden und sah dabei zu, wie meine Fußspitze unsichtbare Formen auf den Boden malte.
Langsame Schritte kamen näher und dann setzte sich jemand zu mir auf die Bank. Ich schaute erst gar nicht auf. Aber vermutete das es irgendjemand von dem Klub sein musste.
»Schade das die Sterne heute nicht hervorkommen«, sagte mein Banknachbar und ich hob überrascht den Kopf. Ich hatte nicht erwartet das Mattimeo mir hinterher gegangen wäre. Er sah mich nicht an und schaute weiter in den Himmel hinauf. Sein Gesichtsausdruck wirkte entspannt und er schien kein bisschen sauer, erschrocken oder verärgert zu sein. »Aber nur weil sie sich hinter Wolken verstecken, heißt es ja nicht, dass sie heute weniger schön sind als sonst«, meinte er mit einem zufriedenen Lächeln.
»Sie sind nicht böse?«, fragte ich und er sah mich an. Sein zufriedenes Lächeln wich nicht.
»Warum sollte ich?«, fragte er zurück.
»Weil ich Mist gebaut habe«, sagte ich leise und entschuldigend. »Und ich habe versagt.«
»Du hast dein Bestes gegeben und bist gescheitert. Du hast dich dem Unerwartetem gestellt und bist nicht weggerannt. Du bist reicher an Erfahrungen und hast an Stärke gewonnen. Warum also sollte ich böse auf dich sein? Im Gegenteil. Du hast mich heute sehr stolz gemacht. Trotz deiner Unerfahrenheit hast du dich tapfer geschlagen und bist sehr weit gekommen, auch wenn der Feind versucht hat dich zu bezwingen.« Was der Ladenbesitzer da sagte überraschte mich. So eine Antwort hätte ich nie erwartet.
»Aber wer war der Fremde in Schwarz? Und wie kam er in den Traum?« Allein wenn ich an das Bild dachte, wie die in schwarz gehüllte Person auf dem Traumfresser saß und mich jeden Moment angreifen wollte, bekam ich eine Gänsehaut.
»Es gibt verschiedene Wege in den Traum einer anderen Person. Die Bücher, die wir benutzen sind nur ein Hilfsmittel, aber sehr nützlich. Und die Person in Schwarz war ein Schattenkämpfer.«
»Ein Schattenkämpfer?«, fragte ich verwirrt.
»Sie gehören zu der Sorte Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten (wie wir), die aber die Dunkelheit ausbreiten wollen. Sie unterstützen die Traumfresser und sorgen dafür das sie weiter wachsen. Hinter ihrem Handeln steckt immer ein Grund. Immer wieder versuchen sie Menschen zu schwächen, damit man ihnen ihre Seelenflamme stehlen kann. Und leider konnten wir nicht immer alle retten. Aber was sie mit einigen Taten bezwecken wollen, ist uns bisher noch unklar. Allerdings steht fest, dass es nichts gutes sein wird.« Mattimeos Gesicht verfinsterte sich, als er das erzählte und er ballte seine Hände zu Fäusten. Offenbar musste ihn das ziemlich frustrieren, dass er den Menschen nicht zu Hilfe kommen konnte.
»Und was wollen die von mir? Noah sagt sie wollen meine Seelenflamme haben, weil ich noch sehr schwach bin.«
»Das wäre ein Grund. Aber du hast es doch heute selber erlebt. In dir schlummert großes Potenzial. Wenn du weißt wie du deine Kraft einsetzen und sie kontrollieren kannst, wirst du für sie ein gefährlicher Gegner sein. Alle meine Schüler besitzen eine großartige Kraft und jeder weiß sie gut einzusetzen. Ich weiß das es nicht immer schön ist, sich für immer auf andere zu verlassen, wenn man doch selber auch die Möglichkeit hat sich zu wehren. Aber aller Anfang ist schwer. Möchtest du es trotzdem versuchen?« Ich hatte Mattimeos reden gebannt zugehört und als er über seine Schüler sprach, konnte man ein Leuchten in seinen Augen erblicken. Er schien sehr stolz auf sie zu sein.
»Aber ich bin doch durchgefallen«, erinnerte ich ihn. »Ich habe es nicht geschafft den Traumfresser zu reinigen.«
»Kein Meister ist je vom Himmel gefallen«, argumentierte mein Mentor und schaute an mir vorbei. Ich folgte seinen Blick und sah einige Meter entfernt Noah dastehen.
»Fanny? Kann ich mit dir reden?«, fragte er und wirkte gar nicht mehr so cool wie sonst. Eher ein bisschen wie ein Hund der eine Tracht Prügel erwartete. Er wirkte richtig fertig.
»Überleg es dir ruhig. Ich akzeptiere jede deiner Entscheidungen.« Mit diesen abschließenden Worten erhob sich Mattimeo und spazierte zurück in seinen Laden.
Noah setzte sich stumm neben mich. Einige Sekunden schwiegen wir beide.
»Ich hatte eine Scheiß Angst um dich«, sagte Noah dann ehrlich. »Nie im Leben hätte ich erwartet das so etwas passieren könnte. Ich hatte richtig Panik.«
»Du hattest Panik?« Ich schaute ihn erstaunt an. Noah hatte sonst immer die Ruhe weg und blieb immer cool, egal in welcher Situation.
»Natürlich hatte ich das. Hast du eine Ahnung wie hilflos ich mich gefühlt habe, als ich dir nicht helfen konnte. Du warst plötzlich weg und dann hat mir eine magisch Barriere den Weg zu dir abgeschnitten. Mir ist nichts besseres eingefallen als den Traum zu verlassen, um zu versuchen dich in deinen Körper wieder zurückzubekommen. Niemand war sich sicher, ob es funktioniert hätte – was es Gott sei dank doch hat.« Er drehte sich zu mir und schaute mir in die Augen. »Es tut mir leid, das ich dich alleine lassen musste und du bestimmt wahnsinnig vor Angst geworden bist. Ehrlich. Das wird nie wieder passieren. Ich verspreche es.« In seinen Augen sah ich, wie ernst er es meinte und mein Mundwinkel zuckte leicht nach oben.
»Du solltest nichts versprechen, was du nicht sicher halten kannst«, sagte ich leise. Aber Noah schüttelte den Kopf und blickte mich mit noch festerem Blick an, der es mir quasi unmöglich machte, an dem was er gleich zu mir sagte, zu zweifeln.
»Versprochen«, versicherte er mir mit fester Stimme.
Nach diesen – ehrlich gesagt gut tuenden – Gesprächen und ich mich von den anderen verabschiedete und entschuldigte habe, wurde ich von Ethan und Noah nach Hause gefahren. Dort fiel ich dankbar in mein Bett und schlief auch fast sofort ein. Mich umzuziehen brachte ich nicht mehr zustande. Ethan deckte mich zu und setzte sich neben mein Bett und wartete bis ich eingeschlafen war. Und auch danach blieb er bei mir sitzen, um zu überprüfen ob ich keine Alpträume von diesem erschreckenden Erlebnis bekommen würde, wie ich am nächsten Morgen erfuhr. Sogar Noah war über Nacht geblieben und hatte sich mit Ethan Stündlich abgewechselt. Doch, auch zu meiner eigenen Überraschung, suchten mich keinerlei Alpträume heim und ich hatte einen erholsamen Schlaf.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und fand meinen Cousin und seinen Freund beide neben meinem Bett auf zwei Stühlen sitzen. Keiner von beiden hatte die Augen geöffnet, was ich wirklich nachvollziehen konnte. Ich ließ die beiden schlafen und zog mich leise um – die Sachen von gestern mussten eh in die Wäsche. Außer mir war noch Cupcake auf den Beinen, der, wie ich, Hunger zu haben schien. Zusammen tapsten wir ausgeschlafen und zufrieden nach unten in die Küche, wo ich unerwarteter Weise meinen Großvater mit der Morgenzeitung antraf.
»Morgen Grandpa«, begrüßte ich meinen Großvater und setzte mich mit an den Küchentisch. Cupcake nahm brav neben meinem Stuhl platz.
»Oh Fanny.« Cupcake bellte beleidigt, als ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. »Und der kleine Hund.« Granpa lächelt, ließ seine Zeitung sinken und legte sie auf den Tisch. »Gut das du schon wach bist. Vielleicht hast du sie schon vermisst.« Ich runzelte die Stirn. Was meinte er? Grandpa schaute sich um, ob noch jemand in der Küche war, aber außer uns war niemand da.
Grandpa holte etwas unter dem Tisch hervor. Ich schnappte nach Luft als ich sah, was er da hervorbrachte. Das durfte doch nicht wahr sein.
»Tip und Top«, flüsterte ich. Die beiden blinzelten mich aus großen Augen an. Tip wirkte etwas verlegen und peinlich berührt das sie erwischt wurden und Top eher etwas säuerlich. Cupcake freute sich seine Spielkumpanen zu sehen, sprang auf und wedelte freudig mit dem Schwanz. »Also … ich kann das erklären …«, stammelte ich.
»Das brauchst du nicht«, sagte Grandpa. »Deine kleinen Freunde haben mich bereits aufgeklärt. Sie waren in meinem Büro und ich habe sie dabei erwischt, wie sie in meinen Privatsachen herumgeschnüffelt haben.« Er hielt Top an den Flügeln hoch. Dem gefiel das natürlich überhaupt nicht und er fing an zu zappeln wie ein Fisch an Land.
»Lass mich sofort runter du alter Knacker!« Grandpa fing an zu lachen. Er lachte genauso, wie ich mir immer das Lachen eines Großvaters vorgestellt hatte, falls ich denn einen gehabt hätte. (Hatte ich ja auch – eigentlich – nur wusste ich nichts von ihm)
»Du findest es nicht komisch oder hältst mich für verrückt?«, fragte ich erstaunt.
»Warum sollte ich?«
»Ja … ähm … keine Ahnung …« Ich überlegte. Grandpa hatte auf mich ohnehin schon seltsam gewirkt, mit dem was er manchmal sagte.
»Ich weiß mehr als du denkst. Und ich bin erstaunt das du so viel von allein herausgefunden hast. Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass ich dir mehr erzähle und dich in einigen Dingen aufkläre.« Er ließ Tip und Top auf den Tisch fallen und stand auf. Wie Top sich lauthals beschwerte, überhörte er. »Komm mit. Ich will dir was zeigen.«
Ich folgte Grandpa hinauf in die Bibliothek, Tip und Top im Schlepptau. Die beiden hatten Cupcake schon gut im Griff und damit meinte ich, dass sie es schafften ihn davon abzuhalten sie in sein Maul zu nehmen und damit zu spielen wie … ein Spielzeug halt – Ironie ich weiß. Zufrieden saßen die beiden stattdessen auf dem Rücken des Huskys und ließ sich von ihm tragen, wie ein Pferd.
»Als ich in deinem Alter war, wurde mir die Aufgabe weiter gegeben ein Traumjäger zu werden und die Träume der Menschen in London zu beschützen«, erzählte Grandpa als wir die Treppe hinauf gingen. »Es war schon eine Art Tradition geworden. Seit Generationen gaben unsere Väter oder Mütter – je nachdem wer das Gen geerbt hat – die Aufgabe ein Traumjäger zu sein weiter an ihre Kinder. Für mich waren diese Dinge nicht weniger verwirrend als bei dir. Ich habe vieles nicht verstanden, bin mehr als einmal knapp der Gefahr entkommen und konnte einige Seelenflammen nicht retten.«
»Das muss sehr frustrierend für dich gewesen sein«, entnahm ich seiner Vorgeschichte.
»Allerdings«, stimmte mir Grandpa zu. »Und ich wollte schon alles hinschmeißen und aufgeben, als sie in mein Leben traf.« Er blieb mitten auf dem Gang stehen, den wir entlang gelaufen sind stehen und drehte sich zur Wand. An dieser hingen viele Gemälde und zeigten die Vorfahren der Familie. Ich hatte mir die Bilder schon einmal angesehen. Nur nicht so genau. Das Gemälde was Grandpa anschaute zeigten ihn und eine Frau. Beide in jüngeren Jahren und sehr hübsch.
»Ist das deine Freundin?«, fragte ich direkt.
»Ja das war sie«, gab er zu. »Anfangs konnte ich sie gar nicht leiden. Sie war immer so laut und unruhig. Ein richtiges Energiebündel. Sie hatte nie Angst vor irgendwas. Und weil ich das totale Gegenteil von ihr war, hat sie mich unter ihre Fittiche genommen und zu einem Kämpfer gemacht. Es war nicht immer leicht, aber wir hatten viel Spaß zusammen. Wir konnten uns richtig gut leiden. Zu gut. Wir verliebten uns und heirateten.« Er machte eine Pause, als wolle er diese Aussage für einen Moment sacken lassen. Dabei wusste ich nicht, was daran so besonders sein sollte. »Normalerweise ist es selten wenn zwei Traumjäger eine Familie gründen. Deshalb war es auch so besonders für alle anderen. Einer Legende nach heißt es, dass zwei Traumjäger ein Kind zur Welt bringen werden, welches unglaubliche Kräfte hervorbringen wird und das Dasein der Schattenkämpfer ein für alle Mal bezwingen wird. Demnach waren wir selber sehr gespannt, ob eines unserer Kinder diese Legende sein würde. Doch es kam alles ganz anders als wir erwarteten. Jedes unserer vier Kinder, hatte die Fähigkeiten eines Traumjägers. So etwas war noch nie seit dem bestehen der Gilde vorgekommen.«
»Und mein Vater war einer davon?« Jetzt erklärte sich zumindest die Sache mit der Herkunft meiner Fähigkeiten. »Und war eines deiner Kinder die Legende?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Vielleicht bringt es auch nur Unglück wenn zwei Traumjäger heiraten und Kinder bekommen. Meine Frau starb früh und zwei meiner Kinder sind schon dahingeschieden – und das nicht auf natürliche Weise.«
Ich bekam immer mehr Informationen. Vor meinem Vater ist also noch einer von Grandpas Kindern gestorben. Das musste sehr schlimm für ihn gewesen sein. Erst ein Kind zu verlieren und dann noch eins. Ich wollte etwas sagen. Irgendwas, dass ihn vielleicht wieder ein bisschen fröhlich gemacht hätte. Aber mir fiel nichts ein.
»Aber das war es doch wert«, sagte ich stattdessen leise. »Sonst hättest du jetzt Ethan nicht und die tollen Erinnerungen mit deinen Kindern und deiner Frau. Du hast immer noch eine Familie. Ich passe vielleicht nicht so gut hinein, aber ich werde mein bestes geben. Als Haddington und Traumjägerin. Ich werde dich nicht enttäuschen – nicht noch einmal.« Ich hatte das so ernst gesagt, dass Grandpa anfing zu lachen.
»Das weiß ich doch.« Er tätschelte mir den Kopf. »Ich wusste es von Anfang an. Du bist deinem Vater sehr ähnlich – und ihr. Deswegen war es zu Beginn für mich so schwer gewesen es zu akzeptieren, dass du von nun an immer hier sein wirst. Du erinnerst mich sehr an die beiden.«
»An Mama und Papa?«, fragte ich, weil ich mir nicht sicher war, wer mit »ihr« gemeint war.
»Auch«, erwiderte Grandpa. »Aber nicht nur.« So wie er sich benahm, war ich mir sicher, dass er mir nicht sagen wollte, wer es noch sei, dem ich ähnlich sähe oder bin. Aber ich bohrte nicht weiter herum, sondern beließ es dabei, um nicht unnötig schmerzhafte Erinnerungen heraufzubeschwören. Also sagte ich nichts und schwieg zu dem Thema.
»Danke das du ehrlich zu mir bist und mir die Wahrheit erzählst«, bedankte ich mich. »Ich seh zwar nicht danach aus, aber ich verkrafte schon sehr viel.«
»Es ist nicht leicht Teenager und Traumjäger zu sein. Ich werde dich unterstützen wo ich kann. Wenn du also fragen hast, kannst du ruhig zu mir kommen.«
»Danke.«
»Toll, dann hätten wir das ja geklärt. Friede, Freude, Eierkuchen.« Top war sichtlich genervt von den ganzen Hintergrundgeschichten und Gefühlsduseleien. Ein Wunder das er die ganze Zeit über die Klappe gehalten hatte. »Können wir dann gehen?«
»Nicht so schnell.« Grandpa hielt den kleinen roten Drachen zurück. »Ihr zwei müsst mir noch etwas versprechen, bevor ich euch entlasse.«
»Und das wäre alter Mann?«, fauchte Top.

Das Wochenende war schneller um, als mir lieb war. Der Dienstag kam und ich ging nicht, wie gewohnt, nach dem Unterricht direkt nach Hause, sondern sperrte meine Tasche in den Spind. Tip und Top waren glücklicherweise Zuhause geblieben, sonst hätten sie mich bestimmt wieder blamiert und nur gestört bei meinem Vorhaben. Ich hatte Maya doch versprochen bei ihrer Probe zuzuhören, wenn sie Klavier spielte.
Auf dem Weg zur Theaterbühne der Schule bestieg ich die Treppe in den ersten Stock und konnte schon die Klänge eines Pianos vernehmen. »Mist ich bin spät dran!«, fluchte ich leise und legte einen Zahn zu. Leise schlich ich mich in den großen Saal rein und setzte mich still und heimlich in die hinterste Reihe. Gerade als ich mich setzte, setzte der Chor zur Begleitung ein. Ich habe nicht viel Ahnung von Chorliedern, deswegen konnte ich dieses nicht bestimmen, aber für mich klangen sie alle großartig und eindrucksvoll. Die vielen Jungen und Mädchen verkörperten mit ihren Stimmen ein großes Ganzes mit einer gewaltigen Stimmbreite.
Fasziniert hörte ich zu, bis mich ein Klicken ablenkte. Ich wusste bereits wer es war.
»Hey.« Nathan setzte sich neben mich, mit Kamera in der Hand.
»Hey«, flüsterte ich zurück. »Was machst du hier?« Es war irgendwie komisch das wir uns öfters gesehen hatten, als wir noch nicht zusammen haben. Seit letzter Woche hatten wir nichts mehr zusammen unternommen oder getroffen. Auch am Wochenenden nicht und gestern ebenso wenig. Wir schafften es nicht, uns irgendwo zu treffen – auch nicht in den Pausen – weshalb Nathan mit einem verwirrten Gesichtsausdruck, den dicken Verband meines Knies begutachtete.
»Bin hingefallen«, sagte ich und wurde leicht rot. »Machst du Fotos von den Proben?« Mein Freund nickte.
»Bilder fürs Jahrbuch. Und du?«
»Ich hör einer Freundin zu.« Ich zeigte auf Maya.
»Ah, Maya«, sagte Nathan.
»Woher kennst du sie? Seid ihr Freunde?« Ich dachte immer Maya wäre ein schüchternes Mädchen, das Schwierigkeiten damit hätte sich Freunde zu machen – mit Jungs noch mehr als mit Mädchen.
»Sie hat schon einige Wettbewerbe gewonnen in Musik. Sie spielt richtig gut.«
»Wow. Wusste ich gar nicht.« Still saßen wir nebeneinander und hörten der Probe weiter zu. Wir sagten kein Wort zueinander, verständigten uns nur mit Blicken, warfen ein Lächeln zu dem anderen und hielten Händchen – so wie in den Kitschromanen.
Als die Proben vorbei waren und die Chormitglieder ihre Sachen zusammenpackten, vergaß Nathan plötzlich seine Hemmungen und küsste mich. Er konnte das einfach gut. Und jedesmal schmolz ich förmlich dahin wie süßes Eis in der Julisonne. Oh Gott, hört sich das kitschig an!
»Was hast du jetzt noch vor?«, fragte er zwischen zwei Küssen.
»Eigentlich nach Hause gehen«, erwiderte ich.
»Dann hoffe ich sehr das ich dich begleiten darf«, sagte Nathan im gespielt gebrochenem Englisch. Dann nahm er meine Hand und hauchte einen federleichten Kuss darauf (wie die typische Geste von Gentlemans des alten Englands) und passend dazu sagte er, » My fair Lady.« Ich konnte ein kleines Prusten nicht unterdrücken. Das war einfach Kitsch hoch zehn.
Doch ich spielte einfach mit und erwidert mit hochgestochenem Deutsch: »Ich bin geschmeichelt von eurem Vorschlag und nehme diesen Dankend an. Darf ich mir dann die Freiheit nehmen, euch im Nachhinein noch auf ein Trunk Tee einzuladen?«
»Mit dem größte Vergnügen. Wohl dann.« Wir standen auf und gingen leise lachend aus dem Saal.
Auf dem Flur sahen wir Maya von weitem wie sie ihre Noten in den Spind legte. »Maya!« Ich lief ihr entgegen. »Du hast toll gespielt, wirklich. Und der Chor war auch toll. Ich verstehe zwar nicht viel von Musik, aber für mich hat sich das 1A spitzen mäßig angehört.«
»Danke.« Sie wurde leicht rot.
»Fährst du jetzt nach Hause? Wir nehmen den Bus, vielleicht können wir ja zusammen fahren«, bot ich ihr gleich an. Schließlich wollte ich sie ein bisschen besser kennen lernen und da musste man jede Minuten nutzen die ging. Maya nickte nur.
Die Gespräche auf dem Weg zum Bus waren eher einseitig. Ich plapperte mal wieder über belanglose Dinge, Nathan sagte meist etwas dazu und Maya nickte nur oder gab ein leises »Hm« von sich. Ich hatte schon Angst sie zu langweilen, doch als ich ein paar Meter vor ging, um etwas in den Mülleimer zu werfe, sah ich wie Maya mit Nathan redete. Später als wir an unserer Haltestelle ausstiegen hatte ich ihn dazu gefragt und er sagte: »Maya findet du redest ganz schön viel, aber das findet sie ganz lustig.« Da war ich mir sicher, dass ich auf den richtigen Weg war, mich mit ihr anzufreunden, auch wenn es nur kleine Schritte sind.
»Also, bleibt es noch bei dem Tee?«, frage ich als wir vor dem Anwesen meiner Familie standen.
»Ich habe doch zugesagt oder nicht?«, erwiderte Nathan schmunzelnd.
Ich ließ den Tee auf mein Zimmer bringen, damit wir ungestört sein konnten und ein bisschen Zeit für uns alleine hatten. Normalerweise trafen wir uns immer in der Schule, wo jederzeit Leute uns stören konnten oder Noah auftauchte, der unsere Beziehung anscheinend nicht sehr gern sah – warum auch immer. Er war Nathan gegenüber immer noch misstrauisch, was er auch nicht scheute zu zeigen. Doch da gab es anscheinend noch jemanden der Nathan nicht wirklich mochte. Kaum hatte ich ihn in mein Zimmer gelassen, war Cupcake freudig auf mich zu gestürmt und freute sich mich zu sehen. Aber als er sah das wir mal nicht alleine sein und er im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit stehen würde – wie fast jeden Abend – nahm er eine abwehrende Haltung ein und begann zu knurren.
»Ich glaube er mag mich nicht«, meinte Nathan mit einem Lächeln.
»Er ist nur Eifersüchtig. Hör auf Cupcake!« Aber mein kleiner Liebling hörte nicht auf mich. Deswegen musste ich ihn leider aus dem Zimmer sperren, da ich Angst hatte er würde Nathan sonst noch anfallen, wie er es bei Noah getan hatte. Alice nahm sich seiner an und versprach mit ihm zu spielen, bis mein Besuch gegangen war.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte mein Freund als Alice den Tee zu uns reingebracht hatte.
»Ja. Warum nicht?« Ich war ein bisschen irritiert. Wie kam er plötzlich darauf?
»In letzter Zeit wirkst du so angespannt und gestresst. Wir verbringen zwar nicht so viel Zeit zusammen wie ich es gern hätte, aber ich sehe dich oft am Tag und selbst von weitem fällt mir das auf. Wenn du Probleme hast kannst du ruhig mit mir sprechen.«
»…ich …bin nur noch nicht gewöhnt an diese ganze Umstellung. So viel Zeit ist ja noch nicht seit meinem Umzug vergangen. Das mit dem verarbeiten dauert wohl doch länger als ich dachte. Mir geht’s wirklich gut«, versicherte ich Nathan und lächelte, um die Lüge etwas besser zu überspielen. Natürlich ging es mir nicht gut. Auch wenn einige Sachen sich endlich aufklärten, so ging der Stress der auf mich niederprasselte, nicht gerade spurlos an mir vorüber.
»Ich mag es nicht wenn du mich anlügst.« Nathan strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht und schaute mir in die Augen.
»Das tu ich nicht«, versicherte ich ihm. »Wenn du bei mir bist, dann geht es mir gut.«
Wir unterhielten uns noch lange, bis Nathan sich verabschiedete und ging. Es war schön gewesen mal so Zeit zu zweit zu haben und ungestört zu reden. Obwohl wir ja nicht ganz allein gewesen sind. Doch das wurde mir erst klar, als ich die Stimmen vernahm.
»Boah, das war ja mal wieder kitschig! Bähhh! War fast gar nicht auszuhalten, ohne dabei fast kotzen zu müssen.« Top sprang auf mein Bett. »Was findest du bloß an dem Kerl?« Die Nervensägen hatte ich ganz vergessen. Wobei Tip noch einigermaßen nett war. Top dagegen … na ja. Ich rollte genervt mit den Augen.
»Ach halt die Klappe!« Ich warf ein Kissen nach ihm, doch er sprang zu Seite und das Wurfgeschoss flog ins Leere.
»Daneben, daneben!«, stachelte er mich weiter an.
»Du bist so kindisch Top!«, sagte ich genervt und räumte die Teetassen zusammen.
»Und du hast keine Augen im Kopf.« Normalerweise wäre die andere Hälfte von dem nervigen Geist nun aufgetaucht und hätte ihn ermahnt wie immer, aber Tip schlief seelenruhig in einer Ecke des Bettes, zwischen zwei Kissen. »Der Typ passt doch so gar nicht zu dir.«
»Wie kommst du denn bitte auf die blödsinnige Idee? Nathan und ich lieben uns. Mehr braucht es nicht. Da ist es egal ob wir zueinander passen oder nicht.«
»Ist nur meine Meinung«, sagte Top flatterte ein bisschen mit den Flügeln. »Ich sag's dir, der wird dir irgendwann noch das Herzbrechen. Für so etwas habe ich ein Gespür.«
»Na klar«, erwiderte ich spöttisch und verzog mich ins Badezimmer.

Kapitel 28

Die Presse unserer Schule, besser gesagt die Kategorie Klatschpresse, konnte es mal wieder nicht lassen alle Welt (gemeint die Schule) über Skandale, neue Ereignisse, Prominente Schüler und natürlich Pärchen zu informieren. Nathan und ich schienen da keine Ausnahme zu sein.
Das alles was da drinnen stand, natürlich nicht 100% der Wahrheit entsprach, war ja eigentlich klar. Jedenfalls für mich und wenige andere. Trotzdem schenkte der Rest der Schülerschaft jedem Wort was da gedruckt, schwarz auf weiß, stand glauben.
»Fanny Haddington, Neuzugang an der Schule/ Cousine des allseits bekannten und beliebten Ethan Haddington/ bekannt als Chaos Queen der Schule, ist jetzt schon seit wenigen Wochen mit Nathan Grimm leiert und scheinen noch immer den gleichen verliebten Blick drauf zu haben, wie zu Beginn ihrer Beziehung. Es ist allein schon erstaunlich, dass eine Beziehung seitens Nathan Grimm so lange gehalten hat, da er doch als Herzensbrecher bestens bekannt ist. Da gingen die Beziehungen schon nach wenigen Stunden zu Bruch und noch immer ist nicht bekannt, woran dies gelegen haben könnte. Was also hat dieses sonderbare Mädchen, was ihre Vorgängerinnen nicht hatten? Hat sie die Beziehungszügel in der Hand, überwacht sie ihn heimlich oder erpresst sie unseren Lieblingsherzensbrecher und talentierten Fotografen? Und welche Absichten hegt sie mit dieser Beziehung? Es ist doch schon merkwürdig, dass kaum einen Monat nach dem unser Neuzugang hierher kam, sie unserem Grimm den Kopf verdrehte. Oder haben die beiden einfach nur zueinander gefunden, weil ihre Herkunftswurzeln aus dem Land der Lederhosen und Bierkrüge stammen? Wir finden es für euch heraus!« Juliette ließ die Zeitung sinken und schaute mich über den Rand des Papiers hinweg an – ihre Augenbrauen leicht hochgezogen. »Und?«
»Was und?«, fragte ich zurück. Wir saßen an einem Tisch in der Cafeteria und genehmigten uns ein schmackhaftes Mittagessen. Das hieß, ich genehmigte mir ein schmackhaftes Mittagessen. Summer stopfte sich – wie immer – mit den eingeschweißten Sachen voll, die sie meistens immer aß, Holly vertilgte graziös und gesittet ihre selbstgemachte Lunchbox und Juliette… Ja, was Juliette an unseren Tisch wollte wusste ich auch nicht so genau. Sie hatte sich ohne zu Fragen zu uns gesetzt, mit der Zeitung in der Hand und einer Portion Salat. Wieso musste auch unbedingt sie dieses Klischee von dünnen, gutaussehenden und beliebten Mädchen erfüllen, die dann auch noch Salat aßen, wobeisie doch alles in sich hineinstopfen könnte? Es ödete mich fast schon an, wenn ich diese Rolle in fast jedem Film sah, aber dann auch noch im RealLife…
Ich war mir sicher, dass Juliette sich nur eine Maske aufgesetzt hatte, die sie in der Schule versuchtzu bewahren. Ihr passierten nie Fehltritte oder peinliche Situationen und mich befielen sie schon zu Beginn der ersten Schulwochen. Das war nicht fair.
»So schwer von Begriff«, seufzte sie, als ich nicht wusste, worauf sie hinaus wollte. Das war mal wiedertypisch. Sie war nur darauf aus mich zu ärgern, damit ich aus der Fassung geriet und wieder etwas dummes oder anderes peinliches sagte. »Regt es dich nicht auf, was die Klatschpresse über dich und deinen »perfekten Freund« schreibt?« Provozierend lehnte sich Juliette etwas vor und stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Tischplatte ab. Wie um Himmelswillen konnte man dabei noch so graziös und adelig wirken? Es war mir ein Rätsel was für eine Körpersprachbeherrschung das Mädchen hatte.
Auf ihre Frage hin zuckte ich nur gleichgültig mit den Schultern und drehte mir eine Ladung Spagetti auf die Gabel. »Interessiert mich nicht wirklich. Eigentlich auch ganz lustig was da steht. Könnt ihr euch vorstellen, dass ich jemanden erpressen könnte? Das wäre ja wie in einem Gangsterfilm.«
»If denke fon«, sagte Summer mal wieder mit vollem Mund. »Du müffteft nur noch etwaf domifitanf oder fo fein.«
»Das heißt dominant und nicht domisitanz, Summer.« Korrektur für Rechtschreibung und Grammatik, Juliette die Erbarmungslose war wieder am Start. »Aber ich glaube nicht dass das Fannys Stil wäre. Oder Holly?« Holly, die bis jetzt stumm ihr Bento gegessen hatte, schien mit die Einzige zu sein, die sich halbwegs gut mit Juliette verstand. Vielleicht weil sie nicht auf ihre Sticheleien einging. Oder aber auch,weil ihre Antworten nicht tadelnswert waren.
Holly zuckte resigniert mit den Schultern. »Wo die Liebe hinfällt.« Dann aß sie weiter.
»Dominant hört sich gar nicht mal so schlecht an«, ertönte eine Stimme hinter mir und ich wurde Augenblicklich rot. Knallrot.
»Nathan«, sagte ich und versuchte nicht allzu überrascht zu klingen, was mir so gar nicht gelang. Auch nicht mit dem Lachen, welches einen unbekümmerten Eindruck rüberbringen sollte. Fehlanzeige. »Hast du das etwa gehört?«, fragte ich mit gesenkter Stimme und wurde noch einen Tick röter. »Das war nur ein Witz.«
»Mir würde es nichts ausmachen wenn nicht«, flüsterte er mir zu und ich glaubte zu dehydrieren. Mir war auf einmal unglaublich heiß. Mein innerer Feueralarm würde nochanspringen bei so viel Hitze. Flirtet er etwa mit mir? Das ist aber ganz schön gewagt und heftig. So eine Seite kannte ich noch gar nicht von ihm. »Könnte ich dich mal kurz sprechen?«
»Klar«, kam es heiser von mir und ich stand auf. »Bin gleich wieder da«, sagte ich zu den anderen.
»Laff dir ruhig Feit.«
Nathan zog mich hinter einen der Doppeltüren der Cafeteria, die offen standen und uns so (teilweise) vor ungebetenen Blicken schützten konnte. Kaum waren wir aus der Sichtweite der anderen verschwunden, zog mich Nathan zu sich und küsste mich. Nun war mein innerer Feueralarm doch am Heulen wie eine Sirene. Ich brauchte schnell etwas zum Löschen, sonst würde ich noch sterben von zu viel Liebe, Scham, heißen Küssen und den tollsten Freund der einen nur in den Armen halten konnte. »Ich sehe dich viel zu selten«, sagte er zwischen zwei Küssen. »Lange können wir nicht so weiter machen.« Wasser! Wo war das Wasser?! Als er sich von mir löste, glaubte ich in einem Vulkan zu stehen oder ein Schneemann in Afrika zu sein. Konnte man von zu viel Liebe überhaupt Ohnmächtig werden? Wenn ja, dann war ich ganz schön nah dran.
»Also, wegen der Fotoausstellung«, begann er und brachte mich langsam wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Die findet diesen Freitag nach der Schule statt. So gegen18:00 Uhr. Ich würde dich bei dir natürlich abholen, dann können wir zusammen hingehen. Zieh einfach was schickes an. Wobei, … du siehst in allem einfach toll aus.« Ich zog schmunzelnd die Augenbrauen nach oben.
»Dann hast du mich noch nicht nach dem Aufstehen gesehen«, sagte ich und dachte an den allmorgendlichen Kampf mit meiner Mähne vorm Badezimmerspiegel, den noch müden, halboffenen Augen und dem zerknittertem Schlafanzug.
»Ich glaube dann könnte ich mich noch weniger beherrschen.«
»Was soll das dennjetzt heißen?«, fragte ich und schaute verlegen zur Seite.
»Das heißt, dass egal wie du aussiehst und was du anhast, ich dich immer noch für das schönste Mädchen der Welt halten würde.«
»Okay dann bis Freitag Abend«, sagte ich schnell. Noch mehr von diesem ganzen Flirten und ich würde noch durchdrehen und explodieren. »Dann werde ich dir mal zeigen, dass ich noch besser aussehen kann als jetzt schon.«
»Das bezweifle ich.« Nathan gab mir einen Abschiedskuss auf die Stirn. »Weil ich dich, – wie bereits gesagt – egal was du anhast, atemberaubend schön finde.«
Mit hochrotem Kopf kehrte ich zum Tisch zurück. »Alles okay?«, frage Summer, die schon alle ihre Snacks aufgegessen hatte. »Du bist so rot im Gesicht, als ob du krank wärst.«
»Ja, krank vor Liebe«, seufzte ich und ließ mich auf meinen Platzt sinken. Die Worte die mir Nathan gesagt hatte, schwirrten mir immer noch im Kopf herum und brachten mich zum Kichern. Juliette musterte mich mit einem kritischen Blick.
»Fanny geht es dir in letzter Zeit nicht gut?«, fragte sie überraschend ernst und gar nicht in einem ihrer üblichen Spotttonfälle.
»Mir geht’s gut«, antwortete ich ehrlich zurück. »Warum?«
»Du weißt was ich sehe«, sagte sie und stand auf. »Vielleicht ist es nicht zu spät. Wenn du etwas ändern willst, dann komm zu mir.«
Juliettes Äußerung stimmte mich den ganzen Tag über nachdenklich. Sie hatte mich schon einmal davor gewarnt, was mir möglicherweise in naher Zukunft bevorstehen würde. Aber irgendwie konnte ich ihr nicht richtig glauben. Das lag nichtan ihren Fähigkeiten. Denn das glaubte ich ihr, wo jeder andereeinen Vogel gezeigt hätte. Ich hatte eher Bedenken, dass ihre ›Vorhersagen‹nur dazu da waren, um mich zu verunsichern und zu ärgern – sonst tat sie nichts anderes in meiner Gegenwart. Ihr einziges Ziel war doch auch, mich von ihrem ›Traumverein‹ fernzuhalten, da ich ja offensichtlich eine potenzielle Gefahr für die anderen darstellte. Dabei war es in letzter Zeit verdächtig still geworden. Gut abgesehen von dem kleinen Test in dem Traum, wo ich beinah drauf gegangen wäre, aber ansonsten passierte kaum noch was im Vergleich zum Anfang. Ich wusste nicht ob ich mir Sorgen machen sollte deswegen. In den meisten Geschichten, die ich gelesen hatte, war eine Pause zwischen den Ereignissen meist nur die Stille vor dem Sturm. Dem großen Finale.
Aber momentan wollte ich mich nicht damit befassen, sondern auf Freitag freuen. Ich öffnete meinen Spind und wurde von meinen zwei kleinen Mitbewohnern begrüßt. »Willkommen im Reich des Chaos.« Tip sprang von meiner Sporttasche die ich in die Ecke gequetscht hatte auf einen Ordner.
»Hier finden sie alte Sachen, die sie einst verloren geglaubten, nur wieder, wenn sie endlich mal wieder aufräumen.« Top hing kopfüber von der Kleiderstange.
Ich hatte den beiden zwar erlaubt mit in die Schule zu kommen, aber weiter als in meinem Spind zu verweilen, kamen sie nicht. Nicht noch einmal würde ich so eine peinliche Situation heraufbeschwören.
»Ja ja, sehr witzig Jung«, sagte ich etwas säuerlich. Es stimmte ja schon was sie sagten, aber ich hatte erst letztens Aufgeräumt, nur komischerweise war innerhalb von wenigen Tagen wieder die alte Unordnung wieder da. Eigentlich konnte ich dafür gar nichts. Denn wegen den ganzen abgedrehten Sachen die mir ständig passierten, hatte ich kaum noch Nerven dafür immer darauf zu achten, das alles ordentlich und sauber blieb. Ich finde dafür konnte man schon Verständnis aufbringen. »Habt ihr mein Chemiebuch gesehen?« Wenn jemand wusste wo sich meine Hefter und Bücher befanden, dann Tip und Top – waren ja quasi fast schon in diesem Blechkasten zu Hause.
»Hinter der Sporttasche«, sagte Tip.
»Danke.« Ich fischte den Wälzer hervor.
»Manche Sachen sollte man nicht vor sich herschieben«, sagte Top altklug und hing nur noch mit einem Fuß an der Stange. Wenn erweiter so herumturnte, würde er hundertpro abstürzen. Aber da er ja aus Stoff ist, wäre das auch eigentlich egal. Weh tun kann er sich nicht großartig.
»Sei du mal in meiner Situation«, meckerte ich und packte das Chemiebuch in meine Tasche. »Ihr solltet ja wohl die Letzten sein, die sich über meinen Lebensstil beschweren.« Es kam keine Gegenantwort. Das war komisch. Ich hob meinen Kopf und die beiden Drachen waren, wie zu Stein erstarrt – oder Stoff. »Was ist denn jetzt mit euch los?«, fragte ich und bekam fast einen Herzinfarkt, als sich hinter mir jemand zu Wort meldete.
»Ich fasse es nicht, dass du die Dinger immer noch mitnimmst und sogar mit ihnen sprichst«, sagte Noah mit belustigter Stimme.
Natürlich. Wie konnte es auch anders sein. Mr Castor musste mich natürlich wieder in einem Augenblick erwischen, der quasi danach schrie »Hallo, ich bin verrückt! Sperrt mich in die Klapse!« Sofort knallte ich die Spindtür zu und funkelte ihn böse an.
»Kannst du mal aufhören dich an Leute heranzuschleichen und ihnen fast einen Herzinfarkt zu verpassen?! Und außerdem geht es dich gar nichts an, was in meinem Spind ist!«, fauchte ich wütend. Noah hob abwehrend die Hände, als befürchtete er, dass ich ihn jede Sekunde anspringen und zerfleischen würde – ich war auch kurz davor.
»Ganz ruhig, FannyBunny. Du musst mal locker bleiben. Immer bist du so kratzbürstig wenn ich dich sehe.«
»Ja, aber nur bei dir«, knurrte ich und schulterte meine Tasche.
»Wie unfair«, meinte Noah. »Bin ich denn so uncharmant?« Er wollte die Wahrheit? Gut,die konnte er gerne haben.
»Nein, du bist arrogant, eingebildet, besserwisserisch und ein Kotzbrocken der allen zeigen muss wie toll er ist und hast einen Kontrollzwang«, sagte ich zu ihm, allerdings auf deutsch, -Feigheit lässt grüßen- was er natürlich nicht verstand. Und eigentlich stimmte auch nur die Hälfte von den Sachen die ich gesagt hatte. Zu Beginn dachte ich wirklich,dass er arrogant und eingebildet sei, aber dann lernte ich ihn besser kennen. Trotzdem ein Besserwisser und Kotzbrocken ist er immer noch.
»Was?«, fragte Noah und sah mich Stirnrunzelnd an. »Alles okay mit dir? Du wirkst so angespannt und gereizt.«
»Ich muss los. Hab Chemie.« Und schon zog ich von dannen, um nach wenigen Schritten wieder zurück zu stapfen und Noah drohte: » Wenn du auch nur einem erzählst, was du in meinem Spind gesehen hast, dann werde ich ungemütlich.«
»Denkst du ich gehöre zu der Sorte Mensch, die sich an der Demütigung anderer Leute erfreut?«, fragte er mich ernst und schaute dabei ein bisschen enttäuscht, als hätte er dies nicht von mir erwartet.
»Ich weiß nicht für welche Sorte Mensch ich dich halten soll. Du scheinst hundert Gesichter zu haben. Mann, ich will dich doch mögen und gut mit dir auskommen, aber dann machst du immer alles kaputt mit dummen Bemerkungen oder vertraust mir keine Geheimnisse an, von denen ich eigentlich bescheid wissen müsste – du weißt schon was ich meine. Mal bist du total nett, dann wieder ein Arschloch und das verwirrt mich alles so sehr, dass ich nicht weiß, was ich eigentlich von dir halten soll. Hast du dir auch mal Gedanken darüber gemacht wie ich mich fühlen könnte?«
Noah antwortete darauf nicht, sondern packte mich am Arm und zog mich hinter sich her. Er bog einen Gang ab und machte die nächste Tür an der Wand auf und schob mich mit ihm hinein.
Eine Abstellkammer.
Sollte ich mir Sorgen machen? In Filmen war das immer der Klischeeort einer romantischen Szene oder für ein ernstes (meist ungemütliches) Gespräch, wo man dann doch immer erwischt wird von jemanden, der das Ganze natürlich total falsch auffasst.
»Du hast recht«, sagte Noah. »Ich weiß nicht wie du dich dabei fühlst. Aber du weißt auch nicht wie ich mich fühle.« Ohne jede Vorwarnung beugtesich Noah zu mir herunter undküsste mich.
Es war ein sanfter Kuss. Ganz leicht wie eine Feder und er verursachte auch ein angenehmes Kribbeln im Bauch. Aber mich traf dieser Kuss trotzdem wie ein Schlag ins Gesicht. Nach einer Sekunde des Zögerns – ich gebe zu das der Kuss mir gefallen hat – stieß ich Noah von mir weg.
»Was … du … «, stammelte ichmit hochrotem Kopfherum.Ich war zu aufgebracht und zu verwirrt um etwas zu sagen oder eine klare Emotion zu empfinden. Alles in mir war fühlte sie wie ein Chaos an. Am liebsten wäre ich wütend und sauer gewesen, hätte geschrien und Noah eine verpasst, aber dann war ich noch traurig und enttäuscht, geschockt und verwirrt.
Es klingelte. Doch ich blieb immer noch wie zu Stein erstarrt stehen und dachte gar nicht mehr an den Unterricht. Noah tat dasselbe. Seine Augen fokussierten mich und ich konnte überhaupt nicht erahnen, was in seinem Kopf gerade vor sich ging. Was hatte er sich dabei gedacht? Er wusste doch,dass ich einen Freund habe.
Man hörte, wie auf den Fluren langsam Ruhe einkehrte und jeder inseinen Unterrichtsraum verschwand. Normalerweise hasste ich es zu spät zu kommen und peinlich berührt in den Raum zu schlüpfen. Der Lehrer sah einen dann immer so vorwurfsvoll an und man hatte ein schlechtes Gewissen. Wenn es ganz schlimm kam, wurde man vom Lehrer bloßgestellt und mit Fragen für die Belustigung der anderen befragt. Aber mich interessierte das im Moment nicht.
Ich überlegte was ich tun sollte. Ihn anschreien? Zurechtweisen? Weinen oder Fragen ›Warum‹?
Ich entschied mich für nichts von allem, sondern atmete einmal tief ein und murmelte dann: »Ich hab jetzt Chemie.« Quietschend ging die Tür auf und ich lief den Gang hinunter. Meine Schritte wurden immer schneller und nach wenigen Metern fing ich an zu rennen. Stumm rollten mir die Tränen über dieWangen und die Nase fing an zu laufen.
Chemie ließ ich sausen. Und auch die restlichen Stunden dieses Tages interessierten mich nicht mehr. Ich wollte nur noch weg. Als ich endlich durch das Schultor lief, fühlte ich mich ein bisschen besser. Und als ich noch weiter weg und in einer kleinen menschenleere Gasse angelangt war,– vom schnellen Laufen nach Atem ringend – kam ich zum Stehen. Und da brach es aus mir heraus. Unaufhörlich flossen die Tränen und meine Brust bebte von dem unregelmäßigen Schluchzen. Ich rutschte die Hauswand hinunter und kauerte mich auf den Boden zusammen. Mit angewinkelten Knien, den Kopf darin vergraben, saß ich da und wollte nur noch verschwinden.
Ich weinte nicht wegen der Tatsache das Noah mich geküsst hatte, sondern das mir der Kuss auch noch gefallen hatte und ich ihn teilweise erwidert hatte – zumindest in Gedanken. Und das war für mich so etwas wie fremdgehen. Wie sollte ich den Nathan jetzt unter die Augen treten oder küssen, ohne das sich dabei an meinen Fehltritt erinnert wurde? War es überhaupt gut,dassich so schnell bei seiner Liebeserklärung ja gesagt hatte? Hätte ich vielleicht doch noch etwas warten sollen?
Nach dem Umzug war so viel auf einmal passiert. So viel abnormales, dass ich mich einfach auch mal normal fühlenwollte, wie ein richtiger Teenager. Nathan war einer der wenigen, der mich normal behandelte und mir ein Gefühl des Verständnisses gab. Er vertraute mir und das machte mich wahnsinnig glücklich. Aber würde er mir auch nach dieser Sache noch vertrauen?

Kapitel 29

Meine Tränen waren schon längst versiegt. Und die Schule war schon zu ende. Trotzdem blieb ich still in der Gasse sitzen und wartete darauf, dass irgendetwas passierte.
Aber natürlich passierte nichts. Nur eine Katze streifte ab und zu vorbei oder eine Krähe setzte sich auf eine der schmutzigen Tonnen, die vor Müll nur so überquollen. Mäuse sah ich nicht. Aber das wäre auch zu viel Klischee an einem Stück gewesen.
Langsam fühlte ich mich lächerlich mit meiner Aktion. Ich hatte einfach überreagiert, aber es war auch nicht meine Schuld. Der einzige der hier Verantwortung übernehmen musste war Noah. Ich musste ihn zur Rede stellen und mit seiner Tat konfrontieren.
Genau das würde ich tun …morgen vielleicht.
Jetzt wollte ich erst mal nach Hause, ein warmes Bad nehmen und nur schlafen. Ich machte mich auf den Weg und musste erschreckenderweise feststellen, dass es ein weiter Weg bis nach Haddington Hall war. So weit war ich noch nie weg gewesen. Zu Fuß würde ich gut und gerne über eine Stunde brauchen. Normalerweise würde ich Humble anrufen, damit er mich abholt. Aber dummerweise habe ich mein Handy nicht aufgeladen, weshalb der Akku mir schon vor zwei Stunden versagt hat. Also blieb mir nur das Laufen.
Nicht gerade begeistert von der weiten Strecke machte ich mich auf die Socken und legte mir im Kopf schon mal die Entschuldigung zurecht, warum ich denn so spät heim komme und mein Handy nicht eingeschaltet hatte. Die Straße an der ich entlang lief war gut befahren und so konnte ich mich einigermaßen an den Schildern orientieren, in welche Richtung es denn zur Innenstadt ging. Von der Schule aus war ich einfach ins Stadtzentrum gerannt und dann einfach weiter, bis die Straßen nicht mehr so extrem stark befahren und die Häuser schäbig aussahen.
Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Und so kamen mir noch weit mehr Gedanken als nur der Kuss von gerade eben. Dinge über die ich mir noch nicht im Klaren war. Da gab es zum Beispiel den Biss, den ich in der ersten Woche hier im Traum bekommen hatte. Eine leichte Schattierung war immer noch auf dem Arm zu sehen. Es tat zwar nicht mehr weh – nur manchmal noch – aber der Punkt war doch eher, wie es aus dem Traum in die Realität gekommen ist. Ich wusste das Traumfresser es schaffen konnten diese Barrieren der Welten zu überwinden, wenn sie stark genug waren. Aber der Traumfresser war mir damals nicht besonders stark im Traum erschienen.
Dann gab es da noch diese schwarze Gestalt. Sie tauchte in den Träumen anderer Leute auf und verschlimmerte ihre Angst noch effektiver und gezielter, als es die Traumfresser konnten. Außerdem schien sie diese kontrollieren zu können.
Damit kämen wir schon zum dritten merkwürdigen Punkt auf meiner Liste. Von diesen schwarzen Gestalten scheint es noch mehr zu geben. Granny Croft hatte von einem Kreis der Fünf geredet, die auch alle in Schwarz gekleidet sein sollen. Was ich so herausgehört habe, aus den Gesprächen der anderen, ist diese Gruppe von Leuten alles andere als friedliebend und sehr gefährlich obendrein.
Und zu guter Letzt gab es da noch meine lieben »Beschützergeister«, die mir alles andere als eine Hilfe bis jetzt waren. Was hatte das auch bitte für einen Zweck, wenn nur ich sie sehen konnte? Ich konnte den Ärger den sie verzapften, ja auch schlecht auf sie schieben. Man würde mich für verrückt halten – aber vermutlich war ich das schon längst für einige Schüler und Lehrer.
Das schwarze Tattoo durfte ich nicht vergessen – in Form einer Rose. Ich wusste,dass sie etwas mit der Vision von Granny Croft zu tun hatte, aber in welchen Zusammenhang stand sie mit dem Rest und vor allem mit mir? Hatte sie etwas zu bedeuten?
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich schon gar nicht merkte, wie ich schon in der Innenstadt angelangt war. Jetzt war es nicht mehr weit, oder zumindest wusste ich, in welche Richtung ich musste. Ich könnte eine Abkürzung durch den Hydepark nehmen, dann würde ich noch schneller da sein, dachte ich mir.
Als ich nur noch wenige Meter vom Park entfernt war, hörte ich ein vertrautes Bellen und einen Augenblick später kam Cupcake – von weiß woher – angeschossen und riss mich fast um.
»Hey, na mein Kleiner. Bist wohl gekommen, um mich abzuholen.« Er hatte sich bestimmt Sorgen gemacht, weil ich nicht wie üblich nach Hause gekommen war. Ich gab ihm eine große Portion Streicheleinheit, was er sehr genoss. Natürlich fragte ich mich,wie er es geschafft hatte von Zuhause abzuhauen und mich zu finden, aber im Moment war ich nur froh das er da war und ich nicht allein.
Zusammen machten wir uns auf den Heimweg und ich fühlte mich nun ein bisschen besser, jetzt da ich einen echten kleinen Beschützer neben mir hatte, der auch wirklich was ausrichten konnte. Nicht das ich Angst gehabt hätte oder so, aber es wurde schon dunkel und da sollte man nichtmehrganz alleine draußen herumlaufen.
Im Hydepark war nicht mehr so viel los. Vielleicht lag es an der immer schneller kommenden Dunkelheit oder der Kälte, die sich langsam bemerkbar machte. Die wenigen Menschen denen man noch über den Weg lief, waren überwiegend Jogger oder Hunde mit ihren Besitzern– Leute die rausgehen mussten.
Cupcake und ich hatten schon die Hälfte des Parks hinter uns gelassen, als mein kleiner Husky plötzlich stehen blieb und seine Nase in die Luft reckte. Ich dachte erst er witterte ein Eichhörnchen,doch als Cupcake eine drohende Haltung einnahm, sein Fell im Nacken sich sträubte und zu knurren anfing.
»Cupcake?« Sein Knurren wurde lauter und hörte sich furchtbar an. So hatte ich ihn noch nie erlebt. »Cupcake was ist denn?« Ehe ich reagieren konnte, hatte Cupcake sich losgerissen und war kläffend im Gestrüpp verschwunden. »Cupcake!« Sofort sprintete ich hinterher. Ahnungslos – wie ich ihn denn einfangen sollte – sprang ich durch die Büsche, wobei ich mehr als einmal einen Zweig ins Gesicht bekam. Es war absehbar, dass ich Cupcake schon nach wenigen Sekunden aus den Augen verloren hatte. Trotzdem rannte ich durch den Park (querfeldein) und rief nach ihm.
»Fanny was machst du denn hier?« Quasimodo setzte sich auf meine Schulter. »Wieso bist du noch nicht zu Hause?«
»Cupcake ist mir weggerannt«, klärte ich ihn auf und lief unbeirrt weiter.
»Fanny!« Direkt vor mir materialisierten sich Tip und Top – nicht in ihren Kuscheltierkörpern. »Du musst schnell hier weg«, sagte Tip. Jetzt war ich noch mehr verwirrt.
»Was macht ihr denn hier?«
»Nachdem du uns in den Spind eingeschlossen hattest – schönen Dank auch dafür – blieb uns nichts anderes übrig als so zu dir zu kommen«, meckerte Top los.
»Wir sind hier um dich zu warnen. Wir haben etwas herausgefunden,dass du nicht für möglich gehaltenhättest.« Tip schien wirklich besorgt zu sein und das war eigentlich selten.
»Ich muss erst Cupcake finden. Er ist weggerannt.«
»Vergiss doch mal den blöden Köter!«, schrie Top. »Uns geht es hier um dich, schließlich haben wir es deinem Alten versprochen.Also-«
»Ohne Cupcake geh ich nicht!«, schrie ich und in dem Moment verfing sich mein Fuß in einer Wurzel. Ich stolperte und fiel der Länge nach hin. Kurz war mir Schwarz vor Augen. Ich war wohl mit meinem Kopf gegen etwas gestoßen. Als ich mich wieder aufrappeln wollte, hörte ich in der Ferne ein Jaulen, als ob jemand einem Hund auf dem Schwanz getreten wäre … nur doller.
Cupcake!, schoss es mir durch den Kopf und ich rannte auf gut Glück in die Richtung, aus der ich glaubte das Hundejaulen gehört zu haben.
Inzwischen war es noch dunkler geworden und ich konnte nur noch die Umrisse einiger Bäume erkennen. Permanent schlugen mir Zweige ins Gesicht und ich stolperte über fast jedes Hindernis zu meinen Füßen. Durch einen Haselnussstrauch kam ich auf eine Lichtung.
Ich blieb stehen und sah mich um. Alles ruhig. Nur ein sanfter Wind wehte und brachte die Bäume zum rascheln. Der Himmel war schon tief grau-blau und würde in wenigen Minuten komplett schwarz sein. Der Mond hing hinter Wolken und konnte nur zwischen den Lücken einigermaßen hindurchscheinen. Alles schien normal zu sein und trotzdem …
»Irgendwie fühle ich mich komisch«, flüsterte ich.
»Du meinst weil du deinen Geist vom Körper gelöst und nicht mehr in der Menschenwelt bist, sondern in der Zwischenwelt, dann würde ich dir zustimmen«, gab Top altklug von sich.
»Was?!« Ich sah an mir herab. Aber einen Unterschied konnte ich nur schwer feststellen.
»Super, das wollten wir nämlich vermeiden. Wir wollten dir schon die ganze Zeit sagen das-«
Ein markerschütterndes Geheul erfüllte die Luft und ließ mich zusammenfahren. Es vibrierte förmlich in der Luft und brachte augenblicklich mein Herz schneller zum Schlagen.
»Was war das?«, fragte ich und versuchte so cool wie möglich zu bleiben – unmöglich im Moment.
»Das war bestimmt nur …« Top wagte es anscheinend nicht auszusprechen, da er genauso viel Angst vor was-auch-immer-es-war Angst hatte wie ich.
»Ein Traumfresser«, sprach Quasimodo unser beider Befürchtung aus. »Und nicht gerade schwach.« Ich hatte ein ungutes Gefühl und es wurde noch schlimmer, als ich vor im Gras etwas liegen sah.
»Cupcake!« Ich wollte ihn berühren, aber meine Hände glitten einfach hindurch. Also war ich tatsächlich in der Geisterform. »Was ist mit ihm?«
»Tot ist er jedenfalls nicht. Er atmet noch.« Quasimodo war von meiner Schulter gesprungen und schaute sich Cupcake anscheinend gerade an, was ich aber nicht sehen konnte. Er wollte sich immer noch nicht vor mir zeigen, egal was ich auch sagte.
»Wer ist das?«, fragte Top. Erst jetzt fiel mirauf, dass Tip nicht mehr bei ihm war.
»Das ist Quasimodo, der andere Geist von dem ich erzählt habe. Er will sich nicht sichtbar machen, deswegen weiß ich nie wann er da ist und wann nicht. Wo ist eigentlich Tip?«, fragte ich den roten Drachen. Doch der zuckte nur mit den Schultern.
»Keine Ahnung.«
»Seid ihr nicht so etwas wie Zwillinge? Könnte ihr dann nicht die Gedanken des anderen hören oder so?« Ich hatte schon viele Kuriose Dinge über Zwillinge gelesen. Manche entwickelten ihre eigene Sprache oder wussten genau was der andere sagen würde, bevor er es sagen würde.
»Du mit deinen abgedrehten Theorien.« Top schüttelte den Kopf. »Wir sind stinknormale Geisterdrachenzwillinge. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Quasi? Hast du was rausgefunden? Was ist mit Cupcake?« Ich war immer noch voller Angst und Sorge um meinen kleinen Vierbeinigen Freund.
»Er ist im selben Stadium wie du Fanny«, hörte ich ihn sagen.
»Soll das heißen, dasser auch seinen Geist …« Aufgrund Tops Tonfall konnte ich hören, dasso etwas für gewöhnlich nicht Gang und Gebe war.
»Also ist er auch hier?«, fragte ich. »In dieser Zwischenwelt, wo wir uns gerade befinden.«
»Scheint so«, sagte Quasimodo und kletterte wieder auf meine Schulter. »Wir müssen ihn schnell finden. Ich habe so ein ungutes Gefühl das etwas unschönes im Gang ist.«
Diese Aussage stimmte mich nicht gerade zuversichtlich, aber für mich stand fest, dass ich ohne Cupcake nicht gehen würde. Gerade wenn er sich in dieser Zwischenwelt befand, würde nichts Gutes mit ihm passieren. Schließlich wusste er nicht, wie er zurück in seinen Körper kommen konnte von alleine. Und was wenn er sich auflöst, so wie es mir beinahe widerfahren wäre?
»Seid mal still«, sagte ich zuden beiden Geistern. »Hört ihr das?« Ein leises Rascheln war zu hören. Es schien aus einem der Gebüsche gute 30 Meter weiter von uns zu kommen. Kaum hatten wir die Hälfte der Strecke hinter uns, sprang Cupcake aus dem dicht bewachsenem Busch.
»Cupcake!« Ich wollte schon auf ihn zustürmen, doch da tat mein kleiner Hund etwas, dass ich niemals von ihm erwartet hätte. Er hob die Lefzen, legte die Ohren an und ließ ein tiefes Knurren von sich hören. »Cupcake was hast du denn?« Ich versuchte mich ihm vorsichtig zu nähern, aber der sonst so kleine brave Cupcake schnappte nach meiner Hand.
»Fanny geh weg von ihm!«, rief Top und stellte sich vor mich. »Er ist nicht mehr er selbst.«
»Aber was hat er? Das ist doch seine Seele oder nicht?« Ich war verwirrt.
»Natürlich ist sie das«, sagte Quasimodo. »Abererscheint unter dem Einfluss von jemand anderem zu stehen.«
Das Cupcake von irgendetwas Fremden kontrolliert wurde, daran hatte ich keinen Zweifel. Man sah es in seinen Augen. Sie schauten viel bedrohlicher drein.Und das es etwas ungeheures mächtiges ihn kontrollierte, dass bemerkte ich, als derkleine Husky plötzlich anfing zu wachsen. Ich fühlte mich auf einmal in meinen Traum zurückversetzt, in dem Cupcake ebenfalls in Sekunden zu einem Monster heranwuchs und mich bedrohte.
Nun hatte ich dasselbe Cupcake-Monster wie damals vor mir stehen, fast zweimal größer als ich und ich war mir sicher,dasser noch weiter wachsen würde. War meine Angst daran schuld oder etwas anderes? Egal was es auch war, es sorgte dafür,das sich mich vor Schreck nicht mehr rühren konnte.
»Fanny, renn weg!« Top zerrte an meinen Haare. »Hörst du? Los!« Monster-Cupcake knurrte wütend und sperrte sein riesiges Maul auf, mit dem er mich sicher im Ganzen verschlingen könnte. Das Vibrieren in der Luft und der heiße Atem der mir entgegen stieß, rüttelte mich wach und befreite mich aus meiner Starre. Ich drehte mich um und rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben.
Bitte lass das nur ein Traum sein. Doch wie so oft war dies nicht der Fall. Ich rannte mal wieder um mein Leben – oder meine Seele. Hinter mir her der größte Alptraum, den ich nie wahr werden lassen wollte, wenn ich die Wahl gehabt hätte.
Und wieder hieß es durch den Park zu rennen, aber diesmal nicht weil ich der Verfolger war, sondern die Verfolgte. Wie in einem schlechten Traum kam ich nur sehr schwer voran und wusste, dass es böse ausgehen würde, wenn mir diesmal nicht jemand zur Hilfe eilt. Top und Quasimodo taten ihr Möglichstes, damit ich nicht von dem riesigen unheimlichen Cupcake über den Haufen getrampelt oder mit einem Haps verschlungen wurde. Aber ihre magischen Wändeund andere Ablenkungssachen die sie abzogen, brachten mir nur einen minimalen Vorsprung ein und hielten meinen Verfolger auf vier Beinenund triefendem Maul nicht gerade lange auf. Im Gegenteil. Es schien als würde er nur noch stärker werden.
Ich stolperte über eine Wurzel und warf einen kurzen Blick nach hinten. Auch wenn ich mich bemühte aus eigener Kraft schneller zu sein als das Monster, was mich verfolgte, so holte es leicht auf. Und schließlich war es kurz davor mich einzuholen. Es war ein Kopf an Kopf Rennen. Seine funkelnden Augen, die vor wenigen Minuten noch Cupcakes niedlichen Knöpfe im Gesicht waren, hatten mich als Beute ins Visier gefasst, als es ausholte und nach mir schnappte. Ich sprang zur Seite, aber nichtweit genug. Das Monster hatte sich an meinem Blazerfestgebissen und schleuderte mich mit voller Wucht nach vorne.
Ich glaube ich muss gar nicht erst erwähnen, dass der Aufprall nicht gerade federleicht war. Benommen rührte ich mich, um nur feststellen, dass es bereits zu spät für mich war. Über mir, mit tropfendem Geifer aus dem Maul, stand Monster-Cupcake und sah mich schon als Leckerbissen für sein alltägliches Abendmahl an. Ich glaubte auch schon mein letztes Stündlein habe geschlagen und ich bat still und heimlich alles und jeden um Vergebung dem ich Unrecht getan hätte, bevor ich einen Abgang der abstrusesten Art von dieser Welt gemacht hätte. Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich die scharfen Zähne und das gähnende Maul über mir immer näher kommen sah, und kniff die Augen zusammen.
Doch dann folgte ein Aufjaulen und der warme Atem des Todes, den ich gerade noch über mir gespürt hatte, verschwand. Ich machte die Augen auf und sah das Biest einige Meter entfernt seinen Kopf in den Pfoten vergraben. Die Ursache dafür war ein leicht hellblaues Schimmern, welches sich wie ein Schleier um mich gelegt hatte. Es schien eine Art Schild zu sein, der mich beschützte. Nur war die Frage woher dieser kam, denn ich war mir sicher, dass ich ihn nicht erzeugt hatte.
Ehe Cupcake sich wieder erholen konnte von dem Rückschlag, schoss etwas an mir vorbei und in einem kurzen Moment wurde der Riesenhund von etwas anderem verletzt. Das Aufjaulen war nicht zu überhören und der Grund dafür war ein Schnitt, quer über die rechte Schulter.
Überrascht setzte ich mich auf und neben mir tauchten plötzlich einige Personen auf. Es waren Ethan, Randy und (was mich am meisten überraschte) Juliette.
»Da sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen.« Und Noah. Er stand direkt vor mir, mit einem Schwert in der Hand –sein Katana. Als ich ihn so sah, musste ich für einen Bruchteil der Sekunde an den Kuss denken.
»Alles in Ordnung Fanny?« Tip materialisierte sich vor mir auf dem Boden. Er hatte also Hilfe geholt. Guter Tip. Er wusste immer was zu tun ist.
»Ja, danke.« Ich stand ein bisschen benommen auf. »Wie habt ihr mich gefunden?«
»Vielleicht sollten wir das später klären«, meinte mein Cousin und wies auf Monster-Cupcake, der sich schon von der Attacke erholt hatte. Seine Augen funkelten wütend und er war noch angepisster als ohnehin schon, dassah man ihm an. Mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll stürzte er auf uns zu. Noah griff meine Hand und zog mich mit sich. Nun nahmen wir alle zusammen reiß aus vor dem Monster, das ich sonst immer gerne in dem Arm genommen hatte, um es zu knuddeln.
»Jetzt wirklich«, nahm ich im Rennen das Gespräch wieder auf. »Wie habt ihr mich gefunden?«
»Tip hat uns her gebracht«, sagte Noah. »Ich wusste das die Beschützergeister zu etwas gut sein würden.« Ich glaubte mich verhört zu haben.
»Du weißt was sie sind?« Ich sprang über eine Wurzel hinweg.
»Er hat uns beauftragt«, sagte Top, der neben mir schwebte. »Aber wir durften dir nicht sagen, dass wir von ihm geschickt wurden.« Ich glaubte immer noch etwas falsch verstanden zu habe.
»Du hast was?!« Ich holte zu Noah auf undversuchte ihm ins Gesicht zu schauen, um ihn zu zeige, wie sauer ich im Moment war. Aber nicht zu sauer, weil das Adrenalin immer noch durch meine Venen jagte und ich in meinem Kopf überwiegend nur daran denken konnte, nicht von Cupcake gefressen zu werden. »Du hast mir deine Familiengeister auf den Hals gehetzt und so getan, als wüsstest du es nicht? Das ist doch krank!«
»Du bist ja ziemlich gut FannyBunny. Wie hast du das herausgefunden?« Ihn schien das auch noch zu amüsieren.
»Wenn man etwas wissen will, findet man einen Weg zur Wahrheit«, sagte ich.
»Hallo. Können wir das vielleicht auf später verschieben?«, mischte sich Juliette ein, die einen ziemlich athletischen Eindruck machte, wie ich sie so rennen sah. Hätte ich nicht von ihr gedacht. »Wir haben weitaus wichtigere Probleme.« Das stimmt. Denn Monster-Cupcake war dicht hinter uns und fiel nicht gerade zurück.
»Dann bringen wir das Hündchen mal zur Strecke«, meinte Noah und legte eine Hand auf den Griff seines Katana.
»Nein! Du darfst ihn nicht umbringen! Das ist Cupcake, der wirkliche Cupcake. Irgendwie ist er in die Geisterwelt gekommen.« Es durfte nicht das gleiche wie in meinem Traum damals passieren. Da war ich mir sicher das Noah den Cupcake-Doppelgänger getötet hat.
»Dein Hund ist von einer negativen Macht befallen. Wenn das so weiter geht, wird es ihn endgütlig in einen Traumfresser verwandeln oder töten«, erklärte mir Randy. »So wie es aussieht scheint er schon die Hälfte des Stadiums hinter sich zu haben.«
»Was?« Nein. Ich durfte Cupcake nicht verlieren. Auch wenn er als Monster vor mir stand und sich nicht mehr an mich erinnern konnte. Ich musste ihn unversehrt zurückbekommen. »Ihr dürft ihm nicht weh tun«, versuchte ich auf die anderen einzureden.
»Dafür ist es leider zu spät«, sagte Noah, bremste stark ab und sprang Cupcake entgegen, als er sich erneut auf mich stürzen wollte.
»NOAH NICHT!«

Kapitel 30

Mein Gehirn hatte ausgesetzt und ich bewegte mich einen Moment lang nur reflexartig. In einem solchen Stadium kann der Mensch unglaublich schnell reagieren, denn er wird nur von Reizenbeeinflusst und reagiert dementsprechend darauf.Da diese direkt ins Gehirn gelangen und nicht von Gedanken blockiert werden, können die Reflexe schneller als sonst ausgeführt werden.
Ich sah nur Noah, mit einer Waffe in der Hand, der auf Cupcake zu lief und mein Denken verabschiedete sich. Meine Beine setzten sich in Bewegung, mit dem einzigen Impuls schneller als Noah zu seinumihnaufzuhalten.
Wäre nicht plötzlich ein Schatten – wie aus dem Nichts – aufgetaucht, ich wüsste nicht genau was dann passiert wäre. Ein metallenes Geräusch ertönte und ich stoppte in meinem Lauf, denn sonst wäre ich in Noah reingerannt, der verzweifelt dabei war einen Schwertschlag zu parieren. Das Schwert mit der schwarzen Klinge,welchesdem Traumjäger den Weg zu Monster-Cupcake versperrte, gehörte einer in schwarz gehüllten Person. Das Gesicht warverhüllt und– klassisch – nicht zu erkennen.
»Du!«, zischte Noah. Er schien die Person zu kennen.
»Das ist Shadow«, hörte ich Juliette hinter mir flüstern. Shadow. Den Namen hatte ich schon mal gehört. Noah hatte ihn gegenüber Mattimeo erwähnt, als er aus meinem Traum durch eine leuchtende Tür zu dem Raum hinter Mattimeos Buchladen gelangte. Soweit ich wusste, gehörte er auch mit zu den Schattenkämpfer.
»Ja genau. Ich bin es mal wieder«, antwortete Shadow mit einer verzerrten Stimme. Daraus konnte man trotzdem heraushören,dasses sich um eine weibliche Person handelte. Es sei denn, dass das Absicht war, um uns irre zu führen. »Ich lasse nicht zu das du meinem kleinen Hündchen in den Weg kommst. Es dauert nicht mehr lange und seine Verwandlung ist vollendet. Dann habe ich das beste Traumfressermonster erschaffen, das es je gab! Es hat mich viel Zeit und Mühen gekostet, aber nun ist es endlich bald soweit!« Sie trat einige Schritte zurück neben Cupcake. Ich glaubte ich hörte nicht richtig. Ihr Hündchen?!
»Nein!«, rief ich wütend. »Cupcake gehört dir nicht und du kannst auch nicht mit ihm machen was du willst – schon gar nicht manipulieren. Wenn dann nimm dir doch jemanden in deiner Größe vor und sei nicht so ein Feigling, der sich an wehrlose Hunde vergreift. Also lass ihn in Frieden, sonst wird es dir leidtun!« Ich hatte zwar einen befehlsmäßigen Ton angegeben, aber der schien nicht zu wirken. Im Gegenteil. Shadow lachte nur über meine Drohung.
»Ach Fanny.« Woher weiß sie meinen Namen? »Du machst mir Spaß. Mal kurz nebenbei erwähnt,der Name»Cupcake«hört sich einfach nur lächerlich an – passt aber auch irgendwie zu dir, auf so was kannst auch nur du kommen. Außerdem ist es doch deine Schuld das ich mir gerade deinen Hund ausgesucht habe.«
»Wieso sollte es ihre Schuld sein?«, mischte sich Ethan in das Gespräch mit ein. Anscheinend schien keiner zu wissen worauf der Schattenkämpfer hinaus wollte.
»Seid ihr wirklich so kurzsichtig? Weil es eine perfekte Gelegenheit war. Wie könnte man leichter an eine Seelenflamme der Traumjäger kommen und gleichzeitig eines der stärksten Monster erschaffen. So eine Chance darf man sich nicht entgehen lassen und schon gar nicht, wo beide doch so eine überaus besondere Gabe aufweisen. Mein Glück das ihr sie nicht schon eher eingeweiht habt, denn so hatte ich viel Zeit um mir zu überlegen wie ich die ganze Sache angehe. Es war ja schon fast zu einfach – ein Kinderspiel. Du hast auch rein gar nichts geahnt und dein Köter war leichter zu manipulieren als ich gedacht habe und das obwohl er so ein super Elitehund sein soll.«
»Wovon redest du verdammt?!« Langsam riss mein Geduldsfaden. Diese Shadow ging dermaßen auf die Nerven mit ihrem Geschwätz und Überheblichkeit – noch schlimmer als Noah. Aber das bittere daran war ja, das sie Recht hatte. Es musste wirklich ein Kinderspiel gewesen sein Cupcake zu manipulieren undmich zu beobachten, damit man den günstigen Zeitpunkt abpassen konnte um zuzuschlagen.
»Fanny lass dich nicht von ihr ablenken«, warnte mich Noah. »Die will doch bloß Zeit schinden, damit aus dem kleinen harmlosen Hund für immer ein Monster wird.«
»Ach Noah. Dich habe ich in all der Zeit am meisten vermisst. Anstatt mit dir Spielchen zu spielen musste ich Mrs Nullcheckerin hinterher kriechen wohin sie auch ging (sogar in den Träumen und der Geisterwelt). Aber zum Glück hast du sie ja fast immer auf Schritt und Tritt verfolgt, da war es mal eine richtige Herausforderung.«
»Jetzt reicht's mir! Geh von Cupcake weg oder ich werde richtig sauer!« Wieder lachte Shadow nur über meine leere Drohung.
»Dann kämpfe um ihn.«
»Liebend gern.« Noah machte einen blitzschnellen Schritt nach vorne und hob sein Katana. Doch die Schattenkämpferin hatte ebenfalls gute Reflexe. Sie parierte gut und holte sogleich zum Gegenschlag aus. Doch Noah wäre nicht der beste Kämpfer den ich in der Geisterwelt kenne (eigentlich ist er auch der einzige), wenn er ihr nicht standhalten könnte.
»Du bist wie immer nicht schlecht. Aber leider nicht gut genug«, stichelte Shadow weiter.
»Wenn einer nicht reicht, werden zwei wohl genügen!« Ethan stürzte sich ebenfalls in den Kampf mit einem Kurzschwert. Es erinnerte mich an eines der Schwerter aus Grandpas Waffensammlung, auch wenn es nicht wie die antiken Stücke aussah, sondern eine eher fantasievolle Form besaß. Als ich einmal wieder einen meiner Spaziergänge durch das Anwesen gemacht hatte, entdeckte ich diesen Raum durch Zufall und war fasziniert von der Vielfalt. Grandpa war anscheinend viel gereist und in der Welt herumgekommen. Die Bücher und Landkarten, Souvenirs und Andenken der anderen Länder ließen mich immer weit weg träumen. Doch das schützte mich nicht minder vor der Realität. Der bitteren Realität, welche darin bestand mir Geheimnisse offen zu legen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie überhaupt existieren könnten.
Stahl traf auf Stahl. Man konnte nicht sagen welcher der beiden Parteiendie Oberhand in dem Kampf haben würde. Ich fühlte mich so hilflos. Ich wollte helfen. Aber ich wusste nicht wie.
Jemand packte mich an der Hand und zog mich mit sich.
»Bring sie von hier weg«, sagte Randy zu Juliette, die schon dabei war mich tiefer inden dunklen Wald zu ziehen.
»Juliette, warte. Wir können nicht gehen.« Ich versuchte gegen ihre Zugkraft anzukommen.
»Und warum nicht? Du wirst zerfleischt wenn du länger da bleibst oder aufgespießt. Warum kapierst du nicht endlich, dass wir dich nurbeschützen wollen? Ich habe dir gesagt du solltest dich da raus halten,aber du hast mir die ganze Zeit über ja nie zugehört.«
»Wie bitte? Du warst doch die ganze Zeit über nur arrogant und hochnäsig zu mir und hast getan als wäre ich eine Idiotin. Immer hast du versucht mich zu vergraulen und mir versucht mit deinen Visionen-Aura-Quatsch Angst zu machen.«
»Das ist kein Quatsch und ich habe dich nicht belogen.« Wir kamen auf einen Weg, der direkt an einem Fluss lang führte.
»Wieso ist eigentlich alles so dicht bewachsen?« Ich zupfte einen Zweig aus meinen Haaren. »So viele nah beieinanderstehende Baumgruppen hat der Hydepark doch nicht.«
»In der Zwischenwelt zu Mensch- und Geisterwelt kann es zu Realitätsverzerrungen kommen. Es entsteht eine Art Fusion aus beidem. Das kann mitunter sehr verwirrend, aber auch nützlich sein in einem Kampf.« Juliettes Erklärung leuchtete mir ein und für einen Moment hatte ich unseren Streit von eben vergessen. Meine Neugier war wieder geweckt.
»Und was ist mit dem »Geheimversteck« in dem Buchladen?« Sie zog mich weiter mit sich.
»Der ist eine Verschmelzung zwischen Mensch- und Zwischenwelt. So kann man ihn betreten ohne seine Körperhüllezu verlassen. Wir müssen schnell weiter. Ich glaube nicht, dass wir schon aus der Gefahrenzone raus sind.« Wie aufs Stichwort meldete sich ein, mir nur zu bekanntes, Knurren. Wir wussten beide sofort was das zu bedeuten hatte. Zeitgleich verfielen wir ins Rennen und das keine Sekunde zu spät, denn direkt hinter uns preschte Monster-Cupcake mit soeiner Geschwindigkeit aus dem Wald, das er beinahe in den Fluss gefallen wäre. Gerade so bekam er noch die Kurve und preschte auf uns zu. Juliette und ich nahmen die Beine in die Hand und rannten so schnell wir konnten. Unser Ziel war die Brücke, die nur ein paar hundert Meter vor uns lag. So wie ich Juliette kannte, hatte sie bestimmt einiges auf dem Kasten und konnte Cupcake ein paar Sekunden aufhalten, um uns eine Flucht in den Wald auf der anderen Seite zu verschaffen.
Kaum hatten wir es auf die Hälfte der Brücke geschafft, zog Juliette mit zwei Fingern eine Linie in der Luft und schaffte so eine flimmernde Wandbarriere. Wenige Sekunden später knallte unser Verfolgunsmonster dagegen und ließ ein frustriertes Brüllen von sich. Doch dieser Misserfolg führte nur dazu, dass die Verwandlung von Cupcake zu einem Traumfresser weiter voranschritt.
In mir krampfte sich alles zusammen. Das durfte nicht passieren. Diese Verwandlung musste ich doch irgendwie aufhalten können.
»Juliette wir müssen was tun«, sagte ich.
»Das einzige was wir tun müssen, ist von hier zu verschwinden«, entgegnete sie und wollte mich schon wieder weiter ziehen, doch versperrte uns jemand anderes den Weg.
»Wie rührend du willst ihn immer noch retten«, spottete Shadow. Für einen Momentwar ich verwirrt. Sollte sie nicht von Ethan, Noah und Randy bekämpft werden? Wie konnte sie den dreien entkommen?
»Wo sind die anderen?«, fragte Juliette und man hörte das Sorge in ihrer Stimme mit schwang. »Was hast du mit ihnen gemacht?«
»Oh ich hab sie nur ein bisschen beschäftigt. Ich beherrsche eine interessante Tricks, wie zum Beispiel einen oder ein paar mehr Doppelgänger aus Schatten zu erschaffen, die eure kleinen Freunde für eine Weile ablenken können, sodass ich mich voll und ganz euch widmen kann. Das heißt … eigentlich habe ich nur Interesse an Fanny. Tut mir leid für dich Juliette.« Mit einer schnellen Handbewegung schleuderte Shadow eine Art kleinen schwarzen Ball auf die magische Barriere. Kaum trafen die beiden Dinge aufeinander, gab es ein unheilvolles Splittern, wie von Glas, und die Barriere brach in sich zusammen. »Los Cupcake! Fass!«
Juliette und ich waren wie erstarrt und wir konnten uns nicht rühren. Dafür setzte sich das große Monster in Bewegung, welches meinem Cupcake überhaupt nicht mehr ähnlich sah –nicht im Geringsten. Ich erhaschte einen Blick zu Juliette, die völlig versteinert da stand. In ihren Augen war die Pure Angst zu sehen. Sie wusste nicht was sie machen sollte. Und ich wusste es auch nicht.
Auch wenn ich noch so viel nachdachte, würde mir nichts einfallen, was ich in so einer Situation machen sollte. Also überließ ich einfach meinem Instinkt das Denken und bewegte mich von ganz allein. Ich wusste nur, dass Juliette da weg musste. Sonst würde sie mit einem Haps Geschichte sein. Es ging alles sehr schnell. Ich stieß Juliette zur Seite, sodass sie ein bisschen unsanft gegen die Brückenbrüstung fiel und aus der Gefahrenzone war. Doch ich hatte ebenso wenig bedacht, was meine Aktion für Konsequenzen haben würde.
Als erstes spürte ich nur, wie etwas großes sich in meinen rechten Brustkorb und Schulter bohrte. Es presste mich zusammen wie ein Auto in einer Schrottpresse und nahm mir fast die Luft. Die Schmerzen setzten erst ein, als mein Kopf den Schock überwunden hatte, der meinen ganzen Körper gelähmt hatte. Der Schrei vor Schmerzen blieb mir im Halse stecken und kam nicht über meine Lippen.
Es fühlte sich so an wie ein Déjàvu. Wie meine erste Begegnung mit Monster-Cupcake in meinem Traum. Nur war das hier viel schlimmer und intensiver.
»Fanny!«, schrie Juliette schockiert. Ich sah sie im Augenwinkel. Ihr vor Schreck geweitetes Gesicht werde ich niemals in meinem Leben vergessen können. Aber sie wusste anscheinend genauso wenig wie ich, was sie tun sollte.
»Das ist doch mal eine amüsante Wendung.« Shadow setzte sich auf Cupcakes Kopf. Auf einmal war sie da. Anscheinend hatte sie eine Art Teleportation genutzt. »Ich hatte wirklich gedacht du würdest die Flucht ergreifen, aber das du so eine Selbstlose-Aufopfernde-Aktion bringst … Ich bin beeindruckt Fanny. Sonst hast du ja nie viel Initiative gezeigt und dich immer nur auf andere verlassen.«
»Woher … willst du das wissen?«, presste ich mühselig hervor. Es war wahnsinnig schwer nicht vor Schmerzen zu schreien. Nur stumme Tränen liefen mir übers Gesicht, kalter Schweiß brach in mir aus und mein verzerrtes Gesicht brachte mein Empfinden treffend zum Ausdruck.
»Du hast es nie bemerkt oder? Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. Gesehen wie du Ahnungslos von einem Ereignis ins nächste gestolpert bist. Es war sogar sehr amüsierend. Ich habe dich getestet. Mehrmals sogar. Aber du hast mich nie erkannt oder auch nur geahnt, dass ich dahinter stecke. Ich kann nicht verstehen,wie dummein Mensch sein kann. Aber mach dir nichts daraus. Deine Freunde haben auch keinen Verdacht geschöpft.« So wie sie so redet, hört sich das an, als würde ich sie kennen. In meinem Kopf ging ich so gut wie alles durch, was mir nach meinem Umzug merkwürdigeswiderfahren war. Aber ich kam nicht dahinter, wer oder was, mir immer Schwierigkeiten bereitet hatte und auch noch in meiner Nähe sein sollte.
»Vielleicht hilft dir das deinem Gedächtnis auf die Sprünge.« Shadows Stimme hatte sich plötzlich verändert und klang wie ein normales Mädchen. Ein Mädchen das ich kannte. Und als sie dann noch die Kapuze lüftete und ich ihr Gesicht sah, blieb endgültig die Luft weg. Das durfte nicht wahr sein …
»Maya …«, flüsterte ich heiser und fassungslos. Das hätte ich am wenigsten erwartet. Ausgerechnet sie?! Sie, die immer so ruhig und schüchtern war, kein Wort über die Lippen brachte und vor allem und jedem Angst hatte – oder zu haben schien. »Aber du…«
»Es war eine perfekte Tarnung oder?« Sie lachte selbstsicher. »Das kleine schüchterne Mädchen, ist in Wirklichkeit eine Schattenkämpferin die nur darauf wartet die Gilde der Traumjäger zu vernichtet. Und nun ist der Tag endlich da.«
»Was willst du überhaupt?«
»Du hast wirklich keine Ahnung. Aber das war mir schon klar. Ich will deine Seelenflamme. Sie ist äußerst besonders und sehr nützlich für unsere weiteren Vorgehen.«
»Dann … war Cupcake nur …«
»Er war nur ein Vorwand. Nicht mehr. Ich könnte mir jederzeit ein besseres Experiment verschaffen. Er war lediglich nur ein Köder um dich zu bekommen. Einmal im Park hätte ich es auch fast geschafft, aber da musste ja dieser Gentleman auftauchen und dir helfen. Doch ich wusste ich würde eine zweite Chance bekommen.« Nun war mir alles klar. Die ganzen unerklärlichen Dinge. Sachen auf die ich keine Antwort hatte.
»Die Stimme …«
»Ja das war auch ich. Ebenso wie das kleine Mädchen im Traum.« Maya änderte ihre Gestalt und nun stand vor mir das kleine Schneewittchenmädchen namens Liz. »Es hätte auch beinahe funktioniert.« Ihre Stimme klang nun wie das Mädchen, welches mich immer im Traum gerufen hatte. Unschuldig und niedlich.»Fanny, hilf mir. Komm her Fanny«, äffte sie in perfekter Tonlage die Hilferufe nach. »Du warst so naiv.« Sie verwandelte sich wieder zurück. »Hättest du deine Freunde nicht gehabt, dann wärst du schon längst mein Opfer geworden.«
Auf einmal fiel mir Granny Crofts Vision wieder ein. Drei schwarze Male, eine Rose aus der Blut tropft,einen Kreis aus fünf - in schwarz gehüllten - Leuten, einen verwunschenen Wald in dem eine Bestie wohnt, Schneewittchen, Blut (viel Blut) und Noah.
Fünf Sachen waren schon aufgetreten. Die schwarzen Male bekam ich ganz zum Anfang. Die Rose aus der Blut tropft befand sich unterhalb meines Schlüsselbeins auf der Haut, mit dem verwunschenen Wald war wohl der Hydepark gemeint und Cupcake die Bestie die darin wohnt. Und Blut verlässt gerade meinen Körper – viel Blut. Vom Kreis der Fünf hatte ich nur gehört, aber es war noch keiner in Erscheinung getreten. Ob Maya zu ihnen gehörte?
Granny ist also keine Spinnerin. Sie kann wirklich in die Zukunft sehen.Ein Schauer lief mir bei dem Gedanken über den Rücken.
»Fanny!« Das war Noahs Stimme. Sechs Dinge die schon aufgetreten sind.
»Oh wie schön, da kommen ja auch deine Freund um dir beim Sterben zuzusehen. Gerade noch rechtzeitig.« Maya ließ eine Barriere erscheinen. »Verzeiht mir die Abgrenzung. Aber eine Unterbrechung nimmt bei einer Todesszene immer die Dramatik raus.« Ich war so dumm gewesen. Ich hätte auf Noah hören sollen. Er sagte mir ich solle keinem vertrauen.
»Lass meine Cousine gehen!«, schrie Ethan, der vor Wut schon regelrecht kochte.
»Fanny wir helfen dir!« Tip und Top schwebten auf mich zu, doch prallten an der unsichtbaren Barriere ab und wurden weit zurückgeworfen.
Es tat schon richtig weh, zu sehen, wie sehr sich alle bemühten mich zu retten und ich ihnen alles nur noch erschwerte. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Tut mir leid … Vielleicht … ist es besser wenn ich … nicht mehr-«
»Denk nicht mal daran!«, schrie mich Noah an. Ich zuckte zusammen. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt.»Wenn du jetzt aufgibst verzeih ich dir das niemals! Dann wäre alles umsonst gewesen!«
»Und das ist es auch sowieso!«, sagte Maya und lachte. »Verzeiht mir die Unterbrechung eures rührseligen Abschieds, aber das alles endet jetzt und hier!« Sie wandte sich an mich. »Hab keine Angst du stirbst nicht wirklich. Nur wirst du dann Antriebslos sein -nicht mehr als eine leblose Hülle. Und es wird auch nicht sehr weh tun«, versprach sie mir in einem Ton, den ein Kinderarzt zu einem Vierjährigen sagen würde, wenn er eine Spritze bekäme. Doch dann bildete sich auf ihrem Gesicht ein diabolisches Grinsen ab, das mir eine Gänsehaut bescherte. »Nein,es wird sogar extrem weh tun.« Mit diesen letzten Worten tauchte sie ihre schwarz glühende Hand in meine Brust hinein, als wäre es eine Wasseroberfläche, da wo das Herz lag und griff zu. Ich schnappte nach Luft. Von neuem erlitt ich einen Schock, der wieder von Schmerzen verdrängt wurde. Es waren noch furchtbarere Schmerzen als der Biss von Monster-Cupcake. Wenn ich es treffend beschreiben müsste, würde ich sagen es war, als würde man mir das Herz herausreißen. Bei lebendigem Leibe. Diesmal war kein halten mehr und ich Schrie mir die Seele aus dem Leib.
»Mach dir keine Sorgen um deinen kleinen Hund«, flüsterte sie mir ins Ohr, als sie ihre Hand betont langsam herauszog, was ein noch unangenehmeres Ziehen verursachte. »Er wird es bei mir gut haben. Ich kann es kaum erwarten, wenn er seine erste Seele gefressen hat. Das ist ein wahnsinnig beeindruckender Moment, glaub mir.« Kaum war dieser Satz ausgesprochen und die damit verbundenen Zukunftsvorstellungen durch meinen Kopf gelaufen, erweckte das etwas in mir. Ich war wütend.
»Das könnte dir so passen«, zischte ich und packte Maya mit meiner linken Hand an der Stirn und die rechte legte ich auf Cupcakes Schnauze.
Was dann geschah, wusste ich nicht mehr. Meine Hände begannen zu glühen und ich sah nur noch Mayas schockiertes Gesicht vor mir. Ich sah wie sie etwas sagte, aber ich hörte nichts mehr. Alles um mich herum war schlagartig still.
Als das Glühen aus meinen Händen verschwand, wurde ich plötzlich von Cupcake losgelassen und fiel. Den Aufprall spürte ich kaum. Ich hatte allgemein kein Gefühl mehr. Nur eine Sache war da, die sich ganz klar und deutlich an mich klammerte.
»Fanny! Fanny! Komm mach keinen Mist! Bleib wach!« Ich hörte Noahs Stimme und auch die meines Cousins. Tip und Top waren nicht zu überhören. Die Sorge in ihren Stimmen überschlug sich gänzlich und ich konnte mir ihre Gesichter dazu nur vage vorstellen. Alles war schwarz vor meinen Augen und meine Gedanken flogen wild durcheinander. Ich konnte nicht einen klaren mehr von ihnen fassen. Lediglich auf meine Sinne konnte ich eingehen, die mir Empfindungen mitteilten. Doch selbst diese waren nicht mehr so aktiv, wie vor der Verletzung. Mein ganzer Körper fühlte sich so schlaff an. Ganz ohne Kraft. Es war schon fast wie schweben.
Nur auf eine nicht angenehme Weise, mit den ganzen anderen Empfindungen vermischt.
»Fanny! Du musst durchhalten, hörst du?«
Wieso? Warum schreit ihr alle so? Was ist überhaupt passiert? Und warum musste ich durchhalten? Ich bin doch nur müde, mehr nicht. Müde und …
»Kalt. Mir ist …. so kalt.«

Kapitel 31

 »Brauchst du noch was?«, fragte Ethan und sofort meldete sich mein Magen zu Wort.
»Was zu essen wäre nicht schlecht«, sagte ich mit einem peinlich berührtenLächeln. Ethan nickte und verschwand nach unten in die Küche.
Nachdem ich aufgewacht war, fand ich mich zu meiner Überraschung in meinem Zimmer auf Haddington Hall wieder. Das erste was mir in den Sinn kam war Cupcake gewesen. Ich war sofort aus dem Bett gesprungen und wollte nach ihm sehen, aber in meinem Zimmer war er nicht. Als ich zur Tür hinausstürmte, lief ich prompt in Noah und Ethan hinein, die mich sofort wieder ins Bett verfrachteten. Beide versicherten mir, dass es Cupcake gut ginge und er nur für einige Zeit bei einem Spezialisten sei, der sich gut mit solchen Fällen auskenne. Das beruhigte mich zwar nicht wirklich, aber sie versicherten mir, alles zu erklären. »Es tut mir leid«, sagte ich nach einer Weile des Schweigens zu Noah. Er saß auf einem Stuhl neben meinem Bett.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast nichts falsch gemacht. Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen.« Das war nur teilweise wahr. »Wie geht es deinem Kopf?«
»Tut nur ein bisschen weh, aber wird schon besser.« Auf meiner Stirn prangte ein großes Pflaster. Anscheinend hatte ich mir beimhinfallen den Kopf gestoßen und mir dabei eine Platzwunde zugezogen. Zum Glück keine Große. Trotzdem musste sie mit fünf Stichen genäht werden.
»Was ist eigentlich passiert, nachdem ich das Bewusstsein verloren hatte? Nein, eigentlich schon davor.«
»Du weißt nicht was du getan hast, bevor du Ohnmächtig wurdest?« Ich schüttelte den Kopf.
»Nachdem meine Hände angefangen haben zu glühen, fühlte es sich so an, als wäre bei mir der Ton abgedreht worden«, versuchte ich zu erklären.
»Keiner von uns hatte geahnt, dass du solche Kräfte entfesseln kannst. Du hast Maya ihre Fähigkeiten entzogen. Was ganz erstaunlich ist, weil so etwas nur möglich ist, wenn man die dafür besondere Begabung besitzt und nach langjährigem Training es beherrscht. Und Cupcake hast du, wie damals in deinem Traum, wieder zurück verwandelt. Allerdings waren wir uns nicht sicher ob er noch unter negativem Einfluss steht, deswegen haben wir ihn in die Obhut eines Experten gegeben, der sich um ihn kümmert. Deine Wunden waren schlimm und es hat lange gedauert bis wir sie schließen konnten. Wir hatten echt Angst, dass du uns abkratzt. Danach haben wir dich wieder in deinen Körper befördert und hierher gebracht. Ende der Geschichte.«
»Und was ist mit Maya?«, fragte ich. Denn ein bisschen Sorge hatte ich schon, dass sie wieder etwas anstellen könnte.
»Um die brauchst du dir erst mal keine Sorgen machen. Sie hat keinerlei Kräfte mehr was die Traum- und Geisterwelt betrifft. Allerdings werden wir sie weiterhin im Auge behalten. Man kann ja nie wissen.« Es mag sich zwar ein bisschen herzlos anhören, aber ich bin froh,dass ich ihr, wenn auch ungewollt, die Kräfte entzogen haben, mit denen sie vielleicht noch mehr Schaden hätte anrichten können. Aber es waren immer noch einige Dinge ungeklärt.
»Also sind Tip und Top wirklich…«
»… von mir geschickt worden?«, vollendete Noah den Satz. »Ja. Ich dachte du würdest dichvon Anfang an dagegen wehren, deswegen überlegte ich mir, wie ich sie dir indirekt an die Seite stellen konnte.Dass du sie sehen konntest wusste ich nicht. Aber wenn ich ehrlich bin hat es mir, dass Ganze etwas erleichtert. Ich weiß, dass das alles vielleicht ein bisschen psychopathisch rüber kommen muss, aber ich denke du weißt nun warum ich es getan habe.« Ja da gab ich ihm Recht. Nun ergab sein Überbeschützerinstinkt einen Sinn. Und ich war froh, dass er trotz meiner heftigen Proteste sich nicht davon abbringen lassen hat. Aber trotzdem…
»Deine spöttischen Bemerkungen über sie und das du so getan hast als wäre ich verrückt, werde ich dir trotzdem nicht so leicht verzeihen«, sagte ich trotzig.
»Ich denke das habe ich verdient.« Noah lächelte leicht. »Ach ja«, setzte er an und starrte ein bisschen verlegen zu Boden. Noah und verlegen! Langsam bekam ich verschiedene Emotionen von ihm zuGesicht. »Das wegen dem … Kuss.« Oh das Thema also. »Das hatte nichts damit zu tun woran du jetzt vielleicht denkst. Es war eine Art Schutzvorrichtung für denFall das ich nicht vor Ort sein kann, um dich zu beschützen.«
Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Wie das?«
»Ich hab einen Teil meiner Kräfte auf dich übertragen. Sie hätten sich automatisch aktiviert wenn du in Schwierigkeiten gesteckt hättest und mir spüren lassen wo du wärst.« Ich wusste sofort was er meinte mit Schutzvorrichtung. Es war der leicht blau schimmernde Schild gewesen, der mich davor gerettet hatte von Monster-Cupcake gefressen zu werden.
»Deine Art wie du das gemacht hast, gefällt mir zwar gar nicht, aber ich bin dir trotzdem dankbar dafür. Ich sehe darüber hinweg und betrachte es als Notfallaktion.« Ich war nur froh, dass der Kuss keine anderen Absichten hatten.
»Gut«, meinte Noah und man hörte raus, dass er etwas erleichtert war.
Zaghaft klopfte es an der Tür. Ich nahm an das es Ethan sein würde mit dem Essen, doch außer ihm kam Juliette mit zur Tür hinein. »Hallo«, sagte sie und sah mich an. »Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte sie. Und mit einem Blick aufdie anderen beiden Gäste, fügte sie noch hinzu: »Allein?«
Noah und Ethan verschwanden, aber ließen zum Glück das Tablett mit dem Essen da. Ich starb vor Hunger und das gab auch mein Magen offen kund.
Juliette setzte sich auf den Stuhl. Ihr Blick sah nicht gerade fröhlich aus, weshalb ich annahm gleich eine Standpauke zu bekommen. Ich bot ihr aus Höflichkeit (und als ein bisschen Bestechung) ein Sandwich an, doch sie lehnte ab.
»Iss nur«, sagte sie in einem freundlichen Ton, der mich etwas verwirrte. »Du hast es nötig nach der ganzen Anstrengung.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. »Ich bin hier um mich bei dir zu entschuldigen.« Sofort fiel mir das Sandwich aus den Händen. Juliette und sich entschuldigen?! So etwas tat sie? Ich war baff. Bin ich im falschen Film? Ah ich hab's! Das ist bestimmt nur ein Traum. Oder es ist ein Trick.
»Wofür denn?«, fragte ich.
»Ich war nicht gerade nett zu dir – und das von Anfang an schon. Du hast viel durchgemacht und anstatt dich von allem fernzuhalten und zu vergraulen, hätte ich dich unterstützen und dir helfen sollen.« Nun war ich sprachlos. Das hätte ich nicht erwartet. Aber offenbar können sich Menschen auch ändern.
»Das sagst du jetzt aber nicht nur so, weil ich dir das Leben gerettet habe und du mich für meine Tapferkeit bewunderst oder?« So etwas konnte vorkommen.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte wenn ich dich von allem fern halte, dann kann ich dich besser beschützen, und die anderen, aber da lag ich wohl komplett falsch. Wir haben ja gesehen wohin das geführt hat und es tut mir auch ehrlich leid.« Ich seufzte. Sie hatte es ja nur gut gemeint, aber erst zu spät gemerkt,dass es der falsche Weg war.
»Also«, räusperte ich mich. »Ich denke,dass ich da auch nicht ganz unschuldig bin. Mein Verhalten war auch nicht gerade ein Vorzeigebeispiel. Ich würde sagen wir vergessen das alles und fangen nochmal ganz von vorne an«, schlug ich vor.
»Das hört sich gut an.«

Nachdem sich alle vom P.U.S.P. Klub versichert haben das es mir gut geht, konnte man sie endlich dazu überreden nach Hause zu gehen. Es war schon schlimm genug, dass sie wegen mir alle die Schule geschwänzt haben. Mein bewusstloser Zustand hatte zum Glück nur für einen halben Tag angehalten. Noch länger und ich hätte die Fotoausstellung verpasst, zu der ich mit Nathan hingehen wollte. Mir war schon klar, dass ich ihm eine Erklärung liefern musste, warum ich die letzten zwei Tage nicht zur Schule gekommen bin und wieso an meiner Stirn ein großes Pflaster klebte. Aber ich denke,dass mirAusreden gut liegenund Nathan ist auch zum Glück keiner, der einem misstraut und hinterher spioniert, so wie Noah. Auch wenn es mir missfällt das ich ihn anlügen muss, so ist es nur zu seinem Schutz unddenmeinem. Er würde mich nur für verrückt halten und wenn nicht, dann weiß ich nicht …dann wird er mich vermutlich in Gedanken für verrückt halten.
Am Abend ging ich durch die Flure von dem Anwesen. Allein. Ohne Cupcake fühlte ich mich furchtbar einsam, auch wenn das Haus voller Leute war. Trotzdem fehlte etwas und ich fragte mich, wann ich ihn wohl wiedersehen werde.
Vor den Gemälden meiner Vorfahren, blieb ich lange stehen. Ich habe, seit ich das erste Mal Grandmas Bild gesehen habe, mich gefragte, ob sie mich gern gehabt hätte.
»Ich wünschte ich könnte mit ihr reden«, seufzte ich.
»Das würde ich mir auch wünschen.« Ich fuhr zusammen und drehte mich um.
»Grandpa. Du hast mich ganz schön erschreckt.«
»Entschuldige.« Er stellte sich neben mich und betrachtete ebenfalls das Bild. »Es ist schon merkwürdig«, sagte er. »Man merkt erst was man an einem Menschen so liebt, wenn man ihn verloren hat. Und das können manchmal die absurdesten Dinge sein.«
»Ich weiß was du meinst. Wenn ich nach Hause komme fehlt mir dieser spezielle Geruch, den es nur in unserem Haus gab. Dad hatte mir immer beim Frühstück die Haare verwuschelt und Mum konnte wunderbar vorlesen. Ich hatte Glück das ich solche Eltern gehabt habe. Sie waren beide immer sehr verständnisvoll und geduldig mit mir.« Eine Träne stahl sich aus meinem Auge und lief langsam die Wange hinunter.
»Das was ich über deinen Vater und besonders über deine Mutter gesagt habe … es war nicht so gemeint. Ich hatte die Nacht zuvor schlecht geschlafen und war dementsprechend nicht gut drauf an diesem Tag. Aber deine Mutter …« Er rang nach Worten.
»Was ist mit meiner Mutter?« Ich sah es ihm an, dass er etwas sagen wollte. Etwas das mir vielleicht nicht gefallen würde.
»Sie … war eine äußerst vielseitige Frau«, brachte Grandpa seinen Satz bedacht zum Abschluss. Aber ich wusste,dasser mir nicht die Wahrheit gesagt hatte. Doch weil ich merkte wie unangenehm es ihm war, darüber zu reden, lenkte ich das Thema auf etwas anderes.
»Tip und Top mussten dir versprechen, das sie auf mich aufpassen stimmt‘s?«
»Ja. Und ich finde sie hatten es nicht leicht.«
»Kann man wohl sagen.«

»Miss Fanny? Draußen wartet ein junger Mann, der sie abholt.« Humble war in mein Zimmer getreten und informierte mich über das eintreffen meines Freundes. Alice zupfte noch hier und da an meinem Kleid herum, das mich für diesen Anlass entsprechend einkleidete – das war zumindest Alice Meinung, ich fand es ein bisschen übertrieben. Meine Haare hatte sie mit einem Lockenstab zurecht gemacht und mir die hintere Partie hochgesteckt. Alice hat sich wirklich viel Mühe gegebenund ich staunte nicht schlecht, als ich das erste Mal in den Spiegel geblickt hatte.
»Ich bin gleich fertig Humble. Sagen Sie ihm bitte, dass ich gleichuntenbin.«
»Und sind Sie schon aufgeregt Miss Fanny?«, fragte mich Alice als Humble verschwunden war.
»Und wie«, gab ich zu. »Ich wurde noch nie zu so etwas eingeladen und ich bin total auf die Fotos von Nathan gespannt.«
»Dann ist das also so etwas wie ihr erstes Date«, schloss mein Zimmermädchen daraus.
»Was ein Date?!« Ich lief rot an.
»Aber natürlich. Wenn ein Junge und ein Mädchen sich verabreden und etwas zusammen unternehmen, dann ist das ein Date. Sie sind doch ein Paar.«
»Natürlich, aber wir sind dort nicht alleine«, erinnerte ich Alice.
»Ein Mann findet immer Wege mit seiner Angebeteten allein zu sein«, sagte sie zu mir und zwinkerte dabei.
Nathan stand in einem Anzug vor dem Anwesen, hinter ihm ein Auto. »Du siehst toll aus«, sagte er und küsste mich zur Begrüßung.
»Sehe ich denn sonst immer Durchschnittlich aus?«, neckte ich ihn.
»Tut mir leid ich muss mich verbessern. Du siehst immer toll aus, nur heute bist du atemberaubend schön.« Ich wurde ein bisschen rot und stieg schnell ein.
»Du warst gestern und heute nicht in der Schule«, sprach mich Nathan auf meine Abwesenheit der zwei Tage an.
»Ich hatte einen kleinen Unfall«, gestand ich ihm und zeigte das Pflaster an meiner Stirn, welches gut verdeckt wurde durch meine Haare. Nathan streckte seine Hand aus und strich mit einer liebevollen Geste, vorsichtig über die verletzte Stelle. »Es ist alles in Ordnung mir geht es gut.«
»Erzähl mir später davon. Und wenn du dich nicht gut fühlst, dann sag mir bescheid. Ich bring dich dann sofort nach Hause.«
»Mach ich.«
Der Rest der Fahrt verging recht kurz und wir schwiegen beide. Ich brachte kein Wort heraus, weil ich immer an das Denken musste, was Alice zu mir gesagt hatte. Das ist ein Date, das ist ein Date,....
Es war ein komisches GefühlAbendsin die Schule zu gehen. Außer den paar Schülern und Lehrern, warenauch Eltern und andere Erwachsene anwesend, die sich für die Fotos interessierten.
Die Fotoausstellung fand in der Aula statt, die dafür entsprechend umgebaut wurde. Begrüßt wurde man mit einem Glas Sekt oder Orangensaft, je nachdem, was einem lieber war. Da ich mich noch nicht wirklich mit Sekt (allgemein alkoholischen Getränken) angefreundet habe, verzichtete ich diesmal darauf und griff zum Orangensaft.
»Wirklich toll aufgebaut. Da habt ihr euch viel Mühe gegeben.« Jedes Foto war auf einer großen Plattform gedruckt und gestalterisch im ganzen Raum verteilt. »Und? Welche Fotos sind von dir?«
»Das musst du selber herausfinden.« Also ein kleines Ratespiel, dass konnte er gerne haben. Wir durchstreiften den Raum und ich sah mir alle Fotos genau an. Es waren sehr schöne Motive dabei. Und mal riet ich Nathans Bilder richtig, mal nicht. Aber bei einem Bild war ich mir hundertprozentig sicher, dass es nur von ihm sein konnte. Wir waren schon fast durch mit der Ausstellung, als wir bei den letzten vier Bildern ankamen. Bei der Bildgruppe hatten sich schon einige Menschen angesammelt. Als ich näher kam und eine Lücke erhaschen konnte, um die Bilder besser zu sehen, blieb ich bei einem wie angewurzelt stehen. Das durfte doch nicht …
»Fanny lass mich das erklären«, setzte Nathan zu eine Erklärung an, als er mein zu Stein erstarrtes Gesicht sah.
»Es ist wunderschön«, sagte eine etwas ältere Frau neben uns. Sie musste um die 60 sein, oder jünger. Elegant gekleidet und einen großen Hut hatte sie auf. »Diese Farben, die Perspektive, das Modell … einfach alles wunderschön. Wie ein Gemälde«, schwärmte sie. »Sind Sie der Fotograf?«, wandte sie sich an Nathan.
»Ja der bin ich«, gab er zu. »Mein Name ist Nathan Grimm.«
»Es ist mir eine Freude. Cecilia Mainfield. Ich interessiere mich sehr für Fotografien. Sagen Sie mir doch wer ihr Model war.«
»Also das…«
»Das bin ja ich«, kam es endlich aus mir raus. Die Verarbeitung hatte länger gedauert und bis die Information endlich in mein Hirn angelangt und ich im Stande dazu war eineAntwort zu geben, war etwas Zeit vergangen.
Das Foto zeigte mich. Ich saß an einem Baum gelehnt, schlafend, in der Hand ein Buch und die Sonne schien von der linken oberen Seite des Bildes und im aufgeschlagenen Buch lag ein rotes Baumblatt. An den Tag konnte ich mich nicht mehr so genau erinnern, aber das Blatt hatte ich noch, das wusste ich genau.
»Mein Herzchen Sie sehen wundervoll auf dem Bild aus. Sie sollten darüber nachdenken Model zu werden. Ihre Ausstrahlung ist so natürlich und rein, dass gefällt mir besonders gut.« Mrs Mainfield plapperte und plapperte weiter über Fotos und deren Kontrast und so weiter, doch ich hörte ihr schon längst nicht mehr zu. Ich ließ mir den Moment nicht nehmen und betrachtete weiterhin das Bild.
Irgendwann hatte Nathan Cecilia Mainfield abgewimmelt und zog mich beiseite. »Es tut mir leid wenn es dir nicht gefällt oder du sauer auf mich bist. Ich wollte das Foto eigentlich nicht rein nehmen, weil du ja nicht wolltest, dass ich eins von dir benutze, aber dann habe ich das Foto doch mit in die Auswahlmappe reingelegt und viele waren begeistert davon gewesen, sodass ich mich letztendlich dazu hinreißen lassen hab, es doch mit in die Ausstellung reinzunehmen. Es tut mir wirklich leid-«
»Es ist wunderschön.« Ich unterbrach seine Entschuldigungsrede und schaute ihn mit einem Lächeln an. »Ich finde es wirklich toll und es gefällt mir super gut. Ich bin dir nicht böse. Außerdem scheint es gut anzukommen. Du kannst stolz auf dich sein.«
»Ich bin eher stolz auf mein Model.« Er beugte sich zu mir runter und küsste mich. »Dieser Abend gehört nur dir.« Und es wurde ein schöner Abend. Wir redeten, lachten und flirteten viel miteinander. Nathan brachte mich nach Hause, wir redeten noch ein bisschen vor dem Anwesen, küssten uns zum Abschied und ich ging mit einem zufriedenen Grinsen ins Bett.

»Schwörst du, Fanny Haddington, eine Traumjägerin zu werden, mit dem Ziel Licht in die Dunkeheit zu bringen…?«
»Ich schwöre.«
»…stets das Gute zu tun und dafür zu sorgen, dass die Menschen der Stadt London vor den Machenschaften der Schattenkämpfer zu beschützen?«
»Ich schwöre.«
»Damit nehmen wirdich, Fanny Haddington, Tochter von Charles und Margeret Haddington, in den Kreis der Traumjäger auf und heißen dich herzlich Willkommen.« Mattimeo schloss das Buch in demunterzeichnethatte undschütteltemeine Hand. »Ich freue mich auf dieZusammenarbeit mit dir.«
»Und ich erst.«
Nach dem Ereignis mit Monster-Cupcake und Maya im Hyde-Park beschloss ich, dass es besser für mich wäre, und alle anderen, wenn ich den Traumjägern beitreten würde. Ich wollte lernen wie ich meine Kräfte besser einsetzen und unter Kontrolle bringen konnte, um andere nicht unnötig zu verletzen und mich besser verteidigen zu können.
»Jetzt hat dein Kontrollzwang endlich ein Ende«, sagte ich zu Noah als die Aufnahmezeremonie vorbei war.
»Darauf würde ich nicht wetten FannyBunny. Bis du dich erfolgreich alleine verteidigen kannst, wird es noch eine Weile dauern.« Er hatte wieder sein übliches Grinsen aufgesetzt. »Außerdem sind wir Partner, vergiss das nicht. Wir werden also für eine lange Zeit zusammenarbeiten.«
»Aber nur bis zu deinem Abschluss. Danach bist du sowieso weg.«
»Woher willst du das wissen. Nach meinem Abschluss kann ich noch genauso gut weiter machen wie bisher. Außerdem bin ich dein Beschützer, vergiss das nicht.«
»So etwas nerviges wie dich vergisst man nicht einfach so. Da müsste ich schon senil sein.«  

Nachwort

  Hallo meine lieben Leserinnen und Leser,

ja ich bin es. Fanny Haddington, um die sich alles dreht in dem Buch (na ja nicht ganz, aber größtenteils). Ich bedanke mich herzlich für euer Interesse an meiner Geschichte und kann euch beruhigen, falls ihr jetzt schon Panik geschoben habt. Meine Abenteuer als Traumjägerin sind mit dieser Story noch lange nicht abgeschlossen. Im Gegenteil. Sie hat gerade erst begonnen. Deswegen bin ich ganz stolz euch mitteilen zu können, dass noch weitere Geschichten von mir erzählt und euch zum Lesen zur Verfügung stehen werden.

In der nächsten Geschichte erwarteten mich und Noah ein großes Problem vor dem wir stehen. Quasimodo macht sich endlich für mich sichtbar. Einem unserer Mitglieder wird die Seelenflamme gestohlen und wir müssen herausfinden wer der geheimnisvolle Dieb ist, um sie zurückzubekommen. Außerdem scheint Maya, trotz ihrer verlorenen Kräfte, etwas im Schilde zu führen. Doch das ist noch nicht alles. Weihnachten steht vor der Tür und es stehen Anstandsbesuche bei verschiedenen Familienmitgliedern an und ich erfahre Geheimnisse über meine Eltern, die ich lieber nicht gewusst hätte. Darüber hinaus muss ich Grandpa dazu überreden ein weihnachtliches Familienfest zu feiern, da er aus irgendeinem Grund etwas gegen dieses Fest zu haben scheint. Und zu allem Überfluss bleibe ich von Traumfressern nicht verschont.

Ihr seht also, es kommen ganz schön turbulente Zeiten auf mich zu. Dennoch möchte ich euch sowohl die schönen, als auch die unangenehmen Erlebnisse meines Lebens erzählen. Ich freue mich auf die nächste Geschichte für euch.
Bis dahin geduldet euch bitte :)
Danke das ihr diese Geschichte zu Ende gelesen habt und ich hoffe das ihr bei der nächsten auch wieder am Start seid.
Vielen Dank für alles (den lieben Ansporn und eure Interesse)
Eure Fanny Haddington    

Impressum

Texte: All rights by Momo Harper
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2015

Alle Rechte vorbehalten

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