Cover

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Als ich Max zum ersten Mal traf, nahm ich ihn sogar wahr. Ich nahm seine graue Jogginghose, seine von weißen Bändern umwickelten Hände, seine breiten Schultern wahr. Ich sah ihn abschätzig, ich sah ihn überheblich an. White Trash Proll dachte ich, zufrieden lächelnd hinter meiner Studentenfassade, das intellektuelle Buch in der Hand. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und kaute mit den spröden Lippen auf einem der Jackenbendel herum, sein Kopf nickte hin und her. Hiphop im Ohr, vermutlich ein Ipod, weiß, klare Linie. Vermutlich Bushido oder Kanye West, das ging grade hatte ich gehört, das konnte man hören. Ich hörte draussen nie Musik. Ich hab es eine Zeit lang getan, als ich in Berlin neu war, als mir der U-Bahn- und Straßenlärm noch zuviel war und die Melodie im Ohr die laute, grelle Welt abschwächte, die mir da begegnete und in der ich mich unbehaglich fühlte. Berlin war extrem. Mehr als das dachte ich nicht. Extrem. In allem.
Mein Blick fiel auf seine, auf Knöchelhöhe überkreuzten Beine, sie steckten in nagelneuen Nikes, Modell keine Ahnung. Meine Augenbrauen tanzten den Tanz der Selbsgerechtigkeit.
Ungeniert, unverforen, vielleicht für taktlos muss er mich gehalten haben, ich stierte ihn an, betrachtete ihn einfach so, von meinem Sitz aus, der sicher gewirkt haben muss wie ein Podest, ein Thron. Irgendetwas drohendes vielleicht. Ich werde nicht müde mich zu fragen, was es sonst gewesen ist, dass ihn auf die Idee brachte, ihm die Zündschnur entfachte, oder ihm, egal, vielleicht auch nur den Anreiz gab, mich anzusprechen. Ich frage mich, ob er da bereits wusste, ob er da bereits etwas vorhatte.
Nach dreieinhalb Minuten Mustern kam die ratternde Bahn, sie war leer wie immer, am Anfang und Ende der U9.


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Max Stimme war dunkel und kräftig, sie erinnerte mich an die großen rauen Hände meines Vaters, die ich als kleines Mädchen so gern gehalten hatte, an Kaminfeuer und an dunkles Holz. Er sprach nie zuviel und wenn er etwas erzählte dann auch nur so förmlich, so schmucklos, dass es kaum ein Erzählen war, als mehr ein Berichten. Er benutzte selten Adjektive. Ausgerechnet Adjektive, die mir so heilig waren, die ich so zelebrierte, die ich, in jener Zeit an alle Dinge hängte oder ihnen vorausschob, sie zwischen Kommata in Sätze packte, sie als Adverbien tarnte, sie zur Unkenntlichkeit substantivierte und die ich nur ungern und nur wenn ich mir sicher war, dass es der Beschreibung nicht abträglich war, wieder strich, immer begleitet von dem Gefühl etwas doch Entscheidendes wegzulassen. Er, mit der kargsten Sprache, die mir je untergekommen war und in der ich zuerst kaum etwas schönes zu finden vermochte. Und doch gefiel mir seine Stimme. Ich hatte das Gefühl sie versetze den ganzen Sitz unter mir in Vibration und mit ihm mich und mit mir die Welt. Mir fiel es schwer den Inhalt seiner Worte zu fassen, ich blickte ihm starr ins Gesicht und nahm ihn doch kaum wahr.
Mädchen hat er mich seit dem Tag genannt als wir uns kennen lernten und nie wieder anders, außer einigen holprigen Versuchen mit meinem richtigen Namen, die ich als störend, ja als verstörend wahrnahm und die in mir irgendwie das Gefühl hervorriefen, ich müsse mich umdrehen und schauen wer hinter mir stehe und gemeint sei. So blieb es beim Spitznamen, der irgendwann die eigentliche Bedeutung verlor und zu meinem Namen wurde, zu dem Namen, der mich zierte, wenn ich bei ihm war und auf die eine Weise mehr als jeder andere von mir beim Namen nannte. Dabei sprach er es ganz furchtbar aus. Mit diesem typischen SCH der Berliner Jugendszene, als hätten alle deutsch verlernt, oder - was noch schlimmer ist - als wäre es ihnen zu uncool.
Mädschen

taufte er mich und ich fand nicht eine Sekunde Missfallen daran.
Ich kann heute nicht mehr sagen, was er gesagt hatte, als er mich zum ersten Mal ansprach, ich weiß nur noch, dass er es dreimal sagen musste, ehe ich aus der Erstarrung erwachte in die sein plötzliches Sprechen und seine Stimme mich versetzt hatten.
Meine erste unterbewusste Reaktion darauf war, meine Hände zur Faust zu ballen und die abgekauten Fingernägel darin zu verstecken. Schon daran hätte mir klar sein müssen, wie gefährlich er mir werden könnte.
Zwei Fremde blickten sich ins Gesicht, deren Alltag in einem riesigen Monster aus Existenzen auf einmal aufgerieben war, durchbrochen wurde voneinander. Ich war irritiert, verstört fast, er blickte unwirrsch, missbilligend. Das mochte er nie, Aufmerksamkeit. Ein Omen kann man vielleicht die Tatsache nennen, dass unsere Begegnung angefangen hat, wie sie verlief und endete: Wortlos.


3



Seine Stille reichte für uns beide. Sie war durchdringend, erfüllend, ohne beredt zu sein, ohne dass darin etwas mitschwang oder dass sie peinlich wurde. Es war nicht einmal so, dass wir uns nichts zu sagen hatten. Wir redeten durchaus, nur nicht über wichtiges. Wir redeten über Zigaretten, über Essen, über den Regen und seine Schönheit einmal, was schon viel war. Wie man mit anderen Leuten um den heißen Brei herumredet, fing ich mit ihm einfach gar nicht erst zu reden an. Lange lief ich noch mit dem Gefühl des Unausgesprochenen herum, mit dem Gefühl etwas mache uns, unser Zusammensein unsicher, hatte aber Angst jedes Wort könnte sich zwischen uns stellen und ich könnte eine Barriere erreden. Doch nach viel vergeblichem Hoffen und dem Trugschluss der Zeit, versiegte das Gefühl und zurückblieb nur noch die endlose Sehnsucht nach seiner körperlichen Nähe, die nicht zu stillen war, schon gar nicht durch seine Anwesenheit.
Max war nicht von traurigem Gemüt, er grollte nicht, hegte keine Wut. Er war mir niemals böse, noch unterstellte er mir je etwas, mir schien, als hege er keinerlei Misstrauen gegen die Welt und seine Bewohner, weil diese ihm nichts anhaben konnten. Er war ein lebloser Stein im reißenden Fluss und wurde er auch ab und zu ein Stück weitergeschubst, so war es ihm doch ganz gleichgültig, da jede Stelle im Fluss gleich gut, jede Biegung gleich interessant war. Er liebte nichts und dennoch an allen Tagen alles.


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Max fragte oft weshalb ich nie Musik hörte, weshalb ich nie fern schaute und auch kaum zum Kino zu überreden war. Meine ehrlichste Antwort war ein Kuss. Ich war so hungrig, so lebensbegierig, so verzweifelt vom Fieber befallen, wie ich ein Viertel Jahrhundert lang verschlossen und still gewesen war. Und er war der Auslöser ohne selbst dieselbe Leidenschaft zu empfinden. Ich konnte kein Musik mehr hören, weil ich das Gefühl hatte am Dämpfen zu ersticken, am gedämpft leben. Jeden hellen Tag im Schatten zu verbringen, eingeschläfert und verschleiert vom Alltagstrott. Zwischen einer Million Menschen zu leben heißt niemand zu sein und nichts zu leben. Deshalb keine Musik mehr. Lieber, besser die pure Stadt. Mit den Geräuschen, dem Lärm. Auch mit dem Geruch nach Schweiß, Urin, selten Erbrochenem. Das verkörperte Leben strömt in Augen und Nase, in Ohren, erfüllt uns, durchdringt uns, durchfährt uns, liebt uns und lässt uns danach alleine zurück. Das verkörperte Leben für mich allein.
Max war rein, klar, clean. Er war stets frisch rasiert, umgeben von einem Geruch so sehr nach ihm, nach Mensch, nach Mann ohne jeden Darstellungsversuch. Ich liebte den Schweiß, der ihm in glitzernden Bächen von der Stirn und über den Rücken rann, wenn wir uns in der Sonne liebten, ich fuhr mit den flachen Händen darüber, zuerst über ihn, dann über mich. Salz und Schweiß und kein Zentimeter mehr Abstand, mehr Distanz zwischen uns. Kein Parfum, kein Rasierwasser, kein Duschgel und auch keine Ängste. Nur wir, nur wir und nur unsere Körper, das Denken hatte uns verlassen, hatte keinen Platz mehr in einer Welt in der nur wir, wir waren. Sonst nichts.
In manchen Nächten schlief ich, seinen warmen Arm mit dem meinen umschlingend, die Nase an seinem Ellenbogen. Dachte in diesen Stillen Stunden, in denen er nicht mehr Wache stand, könnte ich ihn einsaugen, ihn mir zu eigen machen, einverleiben und müsste ihn so niemals missen. Nichts wollte ich im Leben von ihm missen, obwohl ich schon immer wusste: Er wird niemals mir gehören.


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Natürlich fragte ich mich oft, vielleicht eine Ewigkeit lang jeden Tag, was er an mir fand. Warum er, der in seiner Welt jede haben konnte, gerade mich wählte, mich, die in meiner Welt niemand besonderes war. Seine Nähe hat mich nie selbstsicher werden lassen, ich konnte in seinen Armen neugierig in die Welt schauen, wie das Kind über die Schulter der Mutter oder der junge Kuckuck aus dem Nest. Ohne Angst mir könnte etwas passieren. Flügge geworden bin ich deshalb nicht. Hilflos ja. Ich weinte in der Zeit mit ihm sicher mehr als danach oder wegen deren Ende. Weshalb ist mir nicht klar, nur das es wohl etwas zu bedeuten hatte. Ich liebe Max, schrieb ich mit dem schweizer Taschenmesser in die Rinde des Baums unter dem wir an den heißen Tagen immer lagen, aber auch nach einem ganzen Sommer hatte er nichts daneben geritzt.


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Er ging nach 5 Monaten aus meinem Leben, wie er hineingetreten war. Mit der U-Bahn 9. Tausend Schilderungen ließen in meinem Kopf lange kein klares Bild entstehen: Er muss getrunken haben, 2 Flaschen Wodka zu viert geleert sagte einer, ein anderer sprach von Bier und mehreren Flaschen Cointreau zuvor. Einen, den ich öfter gesehen hatte, sagte, sie wollten zu einer Party eines Mädchens in Moabit. Eines Mädchens. Der gleiche sagte auch, sie hätten sich nicht gestritten und niemand habe irgendwen gestoßen, während viele andere sagten, sie seien sogar laut geworden und hätten sich am Kragen gepackt. Was aber alle gemeinsam erzählten war, Max habe ruhig in ihre Richtung gesehen bevor die Bahn ihn erfasste und er habe nicht versucht von den Gleißen zu kommen.


7



Der Tag, an dem ich mit Max über den Regen sprach veränderte vieles. Es war einer dieser Sonntage, entsprungen aus einer Werbung für Waschmittel. Die weißen Laken schmiegten sich um mich, ich betrachtete meine eigenen Haarspitzen, meine Haut, auf der sein Körper unauslöschliche Spuren hinterlassen hatte. Rote Schlieren der wütenden Bisse, aufgestellte Häärchen nach sanftem Atmen. Max stand weit weg, diesmal am Fenster, malte mit seinem Atem milchige Muster auf das Fenster, die noch da waren, als er es schon nicht mehr war. Er sagte: Schau, es regnet.
Nur ein kurzer Blick zwischen der geschaffenen Wirklichkeit, nur ein kleiner Tritt ab vom Wege. Ich lächelte, ich wusste, er wollte sagen: Schau nur, wie es regnet, wie jeder Tropfen fällt er im richtigen Licht, unsere Welt in tausend Stücke bricht.

Wie es abermillionenmal geschieht, jeden Tag, in aller Welt und wie sich niemand darum schert. Wo wir doch sonst so empfindlich unsere heile Welt verlangen.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.08.2008

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