„Mama? Papa! Seid ihr noch da?“, rief Kasumi, während sie ihre dunkelblau-schimmernden Haare zurück strich. Ihr eigentlicher Name war Kasumi-Amaya. Sie hatte ihre Eltern damals nach diesem Namen gefragt. Sie erklärten ihr, dass Kasumi „Dunst bzw. Nebel“ hieß und Amaya „Nacht und Regen“. Sie meinten, Kasumi wäre schon von klein auf ein Geheimnis gewesen, da sie immer sehr still war und nie viel redete. Und sie sagten, wenn sie jemanden anschaute, dann wäre der wie hypnotisiert. Kasumi glaubte nicht an so etwas. Sie glaubte eher ihre ebenso dunkelblauen Augen, wie ihr Haar, seien ein genetischer Fehler.
„Ja Schatz! Wir sind noch da. Aber wenn du uns noch Tschüss sagen möchtest, musst du dich jetzt beeilen!“, kam es von ihrer Mutter. Kasumi rannte die Treppe runter. Dann blieb sie vor ihren Eltern stehen und lächelte. „Tschüss Mama! Tschüss Papa! Bis morgen Abend!“, und sie drückte ihren Eltern einen Kuss auf die Wangen. „Tschüss meine kleine Lady“, kicherte ihr Vater. Sie verdrehte die Augen und lachte. Seit dem sie 15 geworden war, sagte er das immer und immer wieder. „Tschüß mein Schatz“, sagte ihre Mutter nochund drückte Kasumi an sich, dann verschwanden sie zur Tür hinaus. Das Mädchen winkte noch zum Abschied, dann schloss sie die Tür und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Wie oft war sie schon Tagelang alleine geblieben, wegen der wichtigen Arbeiten ihrer Eltern. Aber nur zwei Tage...das war eindeutig die kürzeste Zeit. Kasumi strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und schaute sich in dem Spiegel, der ihr gegenüber stand, an. Plötzlich stiegen wieder traurige Gefühle in ihr auf. Nie hatte sie Zeit mit ihren Eltern über irgendwas zu reden. Sie war immer alleine. Sie hatte keinen großen Freundeskreis. Die meisten hielten sie für eine seltsame, verschlossene Person. Deshalb hielten sie sich von ihr fern. Ab und zu redete mal einer mit ihr. Aber das war selten.
Früher,als sie noch klein war, sie konnte sich ganz genau daran erinnern, wollten sie alle gemeinsam Verstecken spielen. Sie alle waren in ihrem Versteck und einer nach dem anderen wurde gefunden. Und als alle außer Kasumi gefunden waren, spielten sie vergnügt weiter, ohne sie wahrzunehmen. Als sie anfing zu weinen, hatten sie alle ausgelacht und weitergespielt. Kasumi stiegen die Tränen in die Augen und sie schluckte den Kloß runter der in ihrem Hals aufgetaucht war. Dann schaute sie auf die Uhr und merkte wie spät es schon war. Sie packte ihre Schulsachen und ging in Schuluniform zum Mahio-Guneso-Gymnasium. Sie war in der neunten Klasse. Doch auch die stickigen Schulräume und die strengen Lehrer konnten sie nicht von ihrer Traurigkeit ablenken. Sie war sogar noch stiller als sonst. Als es zum Schluss klingelte, ging sie langsam den Bürgersteig entang, wobei ihr etwas ins Auge fiel. Auf der Auffahrt zur Bundesstraße hatte es einen Unfall gegeben und alle möglichen Leute standen um die Unfallstelle herum. Da Kasumi nicht schaulustig war, wollte sie gerade weitergehen, als sie das auf der Fahrbahn liegende Nummernschild sah. Sie ging langsam hin und merkte wie
die Angst in ihr aufstieg. Sie...sie kannte es. Ja! Sie kannte es ganz eindeutig. Das! Genau das waren die Inizialien ihrer...NEIN! „NEIN!!“, schrie sie. Sie rannte zu der Menschenmenge und stieß die Leute an die Seite, welche ihr daraufhin wütend hinterherschauten. Doch die bösen Blicke blieben nicht lange, als die Leute sahen was plötzlich passierte. Aus ihren Augen kamen jetzt Mitleid, Traurigkeit und Erschrecken. Sogar Tränen. Ja...viele der Frauen, sogar einige der Männer, fingen an zu weinen als sie sahen wie Kasumi die Absperrung durchbrach und sich neben ihre Eltern kniete. „NEIN! NEIN! MAMA! PAPA! DAS KANN NICHT SEIN!! WACHT-AUF!!! NEIN!!!!! BITTE!...BITTE..BITTE..bitte.......bitte..“, schrie sie bis
ihr die Kehle wehtat. Am Ende war es nur noch ein einziges Wimmern und ihr liefen die Tränen über die Wangen. Sie weinte und weinte und zwischendurch schrie sie. Sie wollte nie wieder aufhören zu weinen. Jetzt waren jeder einzelnen Frau der schaulustigen Masse die Tränen in die Augen gestiegen, ein paar wendeten sogar den Blick ab. Als ein Polizist kam um Kasumi aufzuhelfen und ihr einige Fragen zu stellen versuchte, war sie mittlerweile schon in einer Art Trance und nahm nichts mehr war. Auch die Hilfe vom Polizisten nahm sie nicht wahr und blieb einfach sitzen währen sie immer weiter weinte. Als ein anderer Polizist das sah, schaute er den neben Kasumi stehenden an, und schüttelte den Kopf. Die beiden gingen daraufhin zu dem LKW-Fahrer, um ihm einige Fragen zu stellen, der den Unfall verursacht hatte und die Augen voller Schuld und Traurigkeit nicht mehr von Kasumi abwenden konnte. Er wusste was er getan hatte, obwohl es keine Absicht war. Trotzdem fühlte er sich mehr als schuldig. Denn er hatte Kasumi die Familie genommen. Die einzige. Keine Großeltern mehr und auch keine anderen mehr. Denn die wohnten auf der anderen Seite der Welt und wussten noch gar nichts über den Unfall. Jetzt war Kasumi-Amaya alleine. Ganz alleine auf dieser Welt. Und das wusste sie.
Sie wurde im Polizeiwagen nach Hause gefahren. Die Polizisten versuchten mit ihr zu reden, doch sie war verschossen und hatte vor es nie wieder zu ändern. Morgen sollte sie trotz ihrer 15 Jahre zur Adoption freigegeben werden, da sie sich weigerte auf die andere Weltseite zu ziehen und man die Bekannten dort nicht erreichen konnte. Jetzt erst merkte sie wie einsam und gemein diese Welt sein konnte. Vor einigen Stunden hatte sie aufgehört an Gott zu glauben. Und niemand konnte ihr helfen, denn niemand verstand sie. An ihrer Haustür hielt sie der Polizist noch immer am Arm fest, damit sie nicht umkippte. Dann versuchte sie sich aus der Hand zu befreien. Als der Polizist das merkte fragte er vorsichtig : „Willst du für diese Nacht nicht doch lieber auf der Wache bleiben?“
Langsam drehte Kasumi sich um und sah ihm mit durchdringendem Blick direkt in die Augen und sagte mit leiser, aber trotzdem klarer Stimme : „Dazu habe ich keinen Grund.“ Dann wendete sie den Blick wieder ab. Der Polizist stand eine Weile benommen da und war unfähig sich zu bewegen. Seine Sinne waren wie vernebelt, doch er wusste nicht, wie sie das gerade gemacht hatte.Doch als er wieder alles wahrnehmen konnte, sah er gerade wie Kasumi die Tür schloss. Also stieg er ins Auto und fuhr zurück zur Nachtschicht.
Kasumi schloss die Tür und trat in das dunkle, stille Haus. Ohne das Licht anzumachen ging sie langsam die knarrende Treppe hoch und wollte ihre Zimmertür aufmachen. Doch plötzlich sah sie im Halbdunkel einen Jungen in ihrem Alter, vielleicht auch ein oder zwei Jahre älter, in der Mitte ihres Zimmers stehen. Sie bekam einen solchen Schreck, dass sie zurück taumelte und die erste Stufe der Treppe verfehlte. Sie merkte dass da keine Stufe mehr war und trat ins Leere. Doch der Junge rannte, ja er flog förmlich, zu ihr und stützte sie mit all seiner Kraft, so dass sie wieder festen Boden unter den Füßen bekam. Dann sank sie voller Angst in die Knie und der Junge legte die Arme um sie. Auf einmal flüsterte er in ihr Ohr : „ Du wirst mich wiedersehen...“ Dann rannte er die Treppe runter und verschwand zu Haustür hinaus. Kasumi fing an zu schluchzen. Was hatte sie getan? Erst wurden ihr die Eltern genommen und dann tauchte ein...ja was war er überhaupt...ein Stalker in ihrem Zimmer auf? Sie spürte ihr Zittern am ganzen Körper, sie hatte Angst er wollte ihr etwas tun, aber zur Polizei wollte sie nicht. Sie rappelte sich auf und taumelte in ihr Zimmer. Dort nahm sie ihren übergroßen Kapuzen-Pulli aus dem Schrank und zog ihn über. Er hatte immer etwas an sich, was sie an ihre Familie erinnerte. Sie nahm ein Bild von ihren Eltern vom Schreibtisch und stopfte es in ihre Tasche. Dann ging sie runter, nahm den Haustürschlüssel und trat in die ruhige Nacht. Sie schloss behutsam die Tür hinter sich ab und ging. Sie wusste nicht wohin sie wollte und wo sie ankam, doch sie musste hier weg. Sie wollte nicht in dem Haus sein, in dem sie immer ihre Eltern sehen würde. Sie wollte die Erinnerungen behalten, aber sie wollte sie in ihrem Kopf in einer Schublade einschließen und den Schlüssel wegwerfen. An diese Art von Erlebnis wollte sie niemals mehr erinnert werden. Auf keinste Weise!
Die klare Nachtluft zog langsam durch die raschelnden Gräser und ließ Kasumis Haar im leichten Schein des Mondes flattern. Jeder, der sie jetzt gesehen hätte, hätte gedacht sie wäre ein Engel. Mit ihrem dunklen, übergroßen Kapuzen-Pulli, ihrer engen Röhrenjeans und ihrem wunderschönen, schimmerndem, langem Haar. Wenn man sie sah, dachte man, man währe in einem wunderschönen, niemals endendem Traum. Sie war etwas Besonderes. Das wussten selbst die Mädchen und sogar Jungen aus ihrer Klasse, obwohl sie nichts mit ihr zu tun hatten. Sie war immer still und einsam. Doch sie liebte es. Mit Aufregung, Trubel, Getratsche und Lästerei hätte sie sich niemals wohlgefühlt. Doch trotzdem wünschte sie sich im Moment nichts sehnlicher als einen Menschen, mit dem sie über vieles reden könnte. Die Traurigkeit machte sich in ihr breit und weil sie niemandem ihre Sorgen erzählen konnte, fraß sie sie langsam von innen auf. Und irgendwann wäre nur noch eine leblose Hülle von ihr in der Welt. Mit nichts als Traurigkeit gefüllt. Doch so weit wollte sie es nicht kommen lassen. Deswegen ging sie. Sie steuerte auf den in Dunkelheit gehüllten Wald zu. Er erstreckte sich endlos weit. Deswegen lief sie immer weiter und wollte nie mehr stehenbleiben. Doch bald fingen ihre Beine an müde zu werden. Und als sie wirklich nicht mehr weiter konnte, lehnte sie sich an einen Baum, rutschte mit dem Rücken an ihm herab und als sie saß konnte sie die Augen schon nicht mehr offenhalten. Die Müdigkeit kam mit aller Kraft über sie und ließ sie nicht mehr mitbekommen, dass da ein Rascheln hinter ihr war...
Und da sie nicht wusste, was sie tun sollte, schlenderte sie einfach ein bisschen durch die Gegend und zerbrach sich den Kopf darüber, wieso sie hier war. Sie kam schon bald zu dem kleinen Bach, den sie gehört hatte. Aber er war gar nicht so klein! Nein er war sehr prachtvoll! Seerosen schwammen vereinzelt in dem klaren, kühlen Blau und einige kleine Felsen ragten aus dem Wasser. Am Rand wuchsen überall wunderschöne, bunte, exotische Blumen, die allerlei Tiere anlockten. Kasumi dachte: „Wo ich doch schon mal hier bin, kann ich doch auch ein Bad nehmen.“ Also setzte sie sich an das Bachufer, schaute in das seichte Gewässer, stieß jedoch einen Schrei aus und kippte vorn über, direkt ins Wasser. Sie sprang auf, überrascht von dem, was sie gerade gesehen hatte. Die Haare klebten ihr nass im Gesicht und vorsichtig schaute sie wieder ins Wasser. Sie war entsetzt. Ihr Spiegelbild! Das-das war doch nicht sie! Wie sehr hatte sie sich verändert? Das war doch überhaupt kein Mensch was sie da sah!
(Fortsetzung folgt...)
Texte: 1. Auflage 2009
(c)2009 by Minuro |K.S.|
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Druck und Binderarbeiten: BookRix
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2009
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