1
morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt
„Warum arbeitest du überhaupt für einen Hospiz-Dienst?“, fragte Charlotte missmutig.
Ulla antwortete nicht schnell genug, um der nächsten Frage zuvorzukommen.
„Bist du neugierig, zu sehen, wie es ist, wenn einer stirbt?“
Ulla geriet ein wenig aus der Fassung. Auf Fragen nach ihrer Qualifikation und ihrem Glauben war sie gefasst gewesen, aber nicht darauf, gleich bei der erstbesten Begegnung Tacheles zu reden.
Charlotte funkelte sie so ungeduldig an, dass sie sich beeilte, möglichst schnell und unverfänglich zu antworten:
„Ich wollte mich nützlich machen. Schwerstkranke und ihre Familien brauchen Unterstützung und emotionale Entlastung. Außerdem denke ich, dass sie zu Hause besser als im Krankenhaus aufgehoben sind.“
Spöttisch betrachtete Charlotte ihr nervöses Gegenüber. Eigentlich sah sie ganz nett aus, diese Ulla. Ein klein wenig zu moppelig vielleicht, aber von der angenehmen Sorte. „Solange sie jung sind, geht das mit dem Speck ja auch“, dachte Charlotte, selbst bis auf die Kochen abgemagert, neidisch. „Da schwabbelt und hängt ja noch nichts und alles liegt schön fest in der Hand.“
Ulla dürfte Anfang dreißig sein, schätzte Charlotte. Ihr dickes, rot-blondes Haar war kurz geschnitten. Die Klamotten hatte sie, dem Anlass ihres ersten Treffens gemäß, dezent gewählt. Aber Charlotte war sich sicher, dass sie es eigentlich lieber farbenfroh mochte. Das Gesicht war offen und auf fast verzweifelte Weise freundlich. Aber Charlotte beschloss, dass das Ulla vorerst gar nichts nützen würde.
„Das glaubst du doch selber nicht, dass du nur hier bist, um etwas für mich zu tun. Emotionale Entlastung! Das ich nicht lache. Wie willst du das denn anstellen? Da bin ich aber wirklich gespannt, was sie euch dazu in eurem Vorbereitungs-Kurs beigebracht haben. Komm mir bloß nicht mit Yoga und Entspannungstechniken!“
„Äh, naja ...“, wand sich Ulla, während Charlotte schon am nächsten Geschoss feilte.
Mit ausgestreckten Zeigefinger feuerte sie es geradewegs in Ullas Gesicht. „Ich kann mir nur einen Grund vorstellen, warum jemand so etwas macht: Du bist hier, weil du deine eigene Angst vor dem Tod in den Griff kriegen willst!“
Ulla zuckte, ratlos über diesen Volltreffer, die Schultern und bemühte sich angestrengt um professionelle Distanz. Man hatte sie schließlich darauf vorbereitet, dass der nahende Tod, insbesondere, wenn Gehirntumore, jede Menge Medikamente und Angst im Spiel waren, ziemlich persönlichkeitsverändernd wirken konnte. Auch von ausgeprägten Stimmungsschwankungen war im Kurs durchaus die Rede gewesen. Sicher war diese arme, todkranke Frau hier eigentlich ganz nett. Also würde Ulla sich nicht sofort ins Bockshorn jagen lassen, sondern ihr helfen. Dazu war sie schließlich angetreten.
„Wenn man für einen Hospiz-Dienst arbeiten will, kommt man schließlich nicht drumherum, sich mit dem Tod und dem eigenen Sterben auseinander zu setzen“, erklärte Ulla höflich.
Charlotte setzte ein böses Grinsen auf.
„Ich hoffe, du hast ordentlich Angst vor deinem eigenen Sterben. Es ist nämlich noch tausend mal schlimmer, als man gemeinhin denkt.“
Damit schloss sie, müde und von boshafter Genugtuung erfüllt, die Augen und überließ Ulla ihren reichlich gemischten Gefühlen.
Ulla, froh über die Atempause, betrachtete aufmerksam die ausgemergelte Person. Während sie selbst immer um die 86 Kilo herumlavierte, dürfte Charlotte kaum noch mehr als die Hälfte davon auf die Waage bringen.
Der Tisch neben dem Sofa, auf dem Charlotte aufgebahrt lag, quoll vor Medikamentenschachteln nur so über. Charlotte selbst war in so viele Decken gehüllt, dass ihre Umrisse nur wage zu erkennen waren. Ulla schwitzte schon, wenn sie sich nur vorstellte, unter so viel Stoff begraben zu sein. Lediglich Charlottes hohlwangiges Gesicht mit den dunklen Schatten unter den Augen schaute aus wollenen Kokon heraus. Ihr Kopf, vermutlich mangels Haar, war von einer freudlosen, dunkelgrauen Mütze bedeckt.
Hinter der Sofalehne murmelte leise das Sauerstoffgerät vor sich hin.
Die Wohnung gefiel Ulla eigentlich richtig gut. Sie war gemütlich und auf angenehme Weise unordentlich. Die Möbel schienen ein eher zufälliges Ensemble zu bilden, dass sich im Laufe der Jahre zu einem harmonischen Ganzen geformt hatte. Es gab quasi kaum eine Wand, die nicht von Bücherregalen verdeckt gewesen wäre. Ulla wusste, dass Charlotte und ihr Mann beide Anfang vierzig waren und keine Kinder hatten. Charlotte hatte als Zeitungsredakteurin gearbeitet. Er arbeitete selbständig und neuerdings auch an der Uni.
Nach einer Weile öffneten sich Charlottes hungrige Augen wieder und der matte Hauch eines Lächelns schlich sich auf ihre fahlen Lippen.
„Du denkst bestimmt, ich sei verrückt, auf die Hand zu spucken, die du mir reichst. – Entschuldige bitte. Aber die Chemo mit ihrer Scheiß-Übelkeit, raubt mit schier den letzten Rest von Anstand.“
Ulla nickte versöhnlich.
„Sie sind wütend. Das ist normal.“
„Ja? Hast du das so gelernt, in deinem Vorbereitungs-Kurs? Die drei Phasen, die der Erkenntnis folgen, dass man sterben muss? Angst, Wut, Gelassenheit? Scheiß drauf! Müsste ich nicht schon längst bei der Phase der „Gelassenheit“ angekommen sein?“ Sie malte die zwei Anführungszeichen in die Luft und spukte das Wort „Gelassenheit“ geradezu aus.
Ulla fühlte ein wachsendes Unbehagen, was den Verlauf dieses Kennenlern-Treffens betraf. Sie fühlte sich ziemlich ertappt. Tatsächlich hatte sie sich eher vorgestellt, auf einen Menschen zu treffen, der sich bereits seinem Schicksal ergeben hatte und ihr gegenüber reine Dankbarkeit dafür empfinden würde, dass sie sich freiwillig der unbehaglichen Nähe des Todes aussetzte. Charlottes Mann Oliver hätte beim Vorgespräch wenigstens darauf hinweisen müssen, dass seine Frau sich wie eine Tollwütige aufführte.
„Dann sag ich dir mal was“, feuerte Charlotte unterdessen weiter. „Das mit der Gelassenheit funktioniert nur, wenn man von den Medikamenten total abgeschossen ist. Und das verwechseln die Ärzte. Sobald man wieder klar in der Birne wird, ist der Zauber nämlich vorbei.“
„Vielleicht wollen Sie noch etwas einnehmen?“, hätte Ulla am liebsten gefragt, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Lippen und fragte sich, wie sie hier ohne verhängnisvolle leere Floskeln weiterkommen konnte. Sicher war jedenfalls nur, dass sie hier mit „Das wird schon wieder“ voll gegen die Wand fahren würde.
„Verdammt, mein Mund ist so trocken. Reichst Du mir bitte den Tee?“, fragte Charlotte nach einer Weile.
Ihr bleiche Hand wühlte sich unter den Decken hervor. Als sie Ullas Finger berührte, war sie, trotz all der Decken, eiskalt.
Als Ulla Charlotte eine frische Wärmflasche an die Füße gelegt hatte, beschloss sie, eine Frage zu wagen: „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“
Charlotte gab nur ein verärgertes Grunzen von sich und drehte den Kopf zur Wand. Eine Weile hörte man nichts, außer dem beunruhigenden Gerumpel, mit dem Charlottes angeschlagene Eingeweide versuchten, wenigstens die Verdauung eines Schlückchens ungesüßten Tees zu bewältigen.
„Falls du so eine bescheuerte Gläubige bist, die hier aufgelaufen ist, um Fürsorge zu heucheln, damit sie bei ihrem Gott Punkte macht und die von mir erwartet, dass ich meinem „gnädigen Herrn“ täglich für meinen beschissenen Zustand danke, ist es vielleicht besser, wenn du nicht mehr wiederkommst.“
Ulla war einigermaßen beeindruckt von Charlottes gradliniger Ablehnung.
„Nein, es stört mich nicht, wenn Sie nicht gläubig sind. Ich bin es auch nicht“, betonte sie ausdrücklich.
Charlotte wandte ihr wieder das Gesicht zu.
„Wirklich nicht?“, fragte sie misstrauisch.
„Naja, nicht im eigentlichen, katholischen oder evangelischen Sinne. Ich fürchte, ich habe mir aus allen möglichen Religionen zusammengesucht, was mit gefällt. Ein furchtbares Durcheinander, dass keiner theologischen Hinterfragung standhalten könnte.“
Charlotte nickte und starrte eine Weile vor sich hin.
„Das hat man ja jetzt gerne so. Religiöser Freestyle, sozusagen. Totaler Blödsinn. Zeigt einfach nur, dass keiner weiß, wo es langgeht. – Obwohl ... es fällt mir schwer, das einzugestehen, aber manchmal beneide ich diese gläubigen Kirchgänger richtig. Es muss schön sein, zu denken, dass es in Ordnung ist, früher als alle anderen zu sterben und seinem Gott auch noch dankbar dafür sein zu können. ... Soll ich mal erzählen, was es mir mit der Kirche so richtig versaut hat?“, fragte Charlotte zu Ullas Überraschung.
Sie nickte eifrig, heilfroh, dass offensichtlich doch ein normales Gespräch möglich war.
„Als ich klein war, habe ich mal einen Kinderfilm gesehen. An einem sonnigen Sommertag, bei weltschönstem Wetter, war ein Junge, zirka 10 Jahre alt, mit seiner Mutter an einem See. Ich weiß nicht mehr warum, aber die Mutter, eine nette junge Frau, ertrank und der Junge sah es vom Ufer aus hilflos mit an. Im unvermeidlichen Gedenkgottesdienst sagte der Priester dann mit sonorer Stimme den entscheidenden Satz, der dazu geführt hat, dass ich meine gesamte Kindheit in Angst und Schrecken vor Gott verbracht habe: „Wen Gott liebt, den nimmt er früh zu sich!“ – Kannst du mir vielleicht erklären, was das für ein Scheiß-Glauben sein soll?!“
Charlotte regte sich so auf, dass sie versuchte, sich hochzurappeln. „Los, hilf mir auf, ich brauche Luft!“, keuchte sie.
Als Ulla ihr Kissen in den Rücken gestopft hatte und Charlotte wieder Luft genug zum weiterreden hatte, erzählte sie: „Das musst du dir mal vorstellen! Für den Rest meiner Kindertage hatte ich furchtbare Angst, dass Gott mich lieben könnte, weil ich der festen Überzeugung war, dass er Leute, die er liebt, besonders gerne und jung umbringt. Ein Schelm, wer da nicht an Jesus denkt. Das Ganze wurde zu guter Letzt getoppt von der letzten Zeile des Liedes „Guten Abend, gute Nacht“. Die geht nämlich so:.“...morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“. Das war endgültig zu viel für meine zarte Kinderseele, denn das heißt ja auch, dass er einen nicht weckt, wenn er nicht will. - In der Folge versuchte ich seitdem verzweifelt, IHM“, sie zeigte mit dem Finger zur Zimmerdecke, „auf keinen Fall irgendwie aufzufallen. Weder im Guten, noch im Schlechten. Wobei es mir erwiesen schien und immer noch scheint, dass schlechte Menschen durchaus gesund und reich sehr, sehr alt werden können, während ich mir bei den Guten überhaupt nicht mehr sicher war, ob sie nicht persé dem Tode geweiht waren. Ich stellte mir vor, dass, wenn ich betete, Gott wohlwollend und gerührt in meine Richtung sehen, und er als nächstes, aus lauter Liebe, eine Ader in meinem Gehirn platzen lassen würde.“
Ulla konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. „Oweia, das ist ja echt dumm gelaufen“, sagte sie.
„Allerdings“, bestätigte Charlotte. „Später hatte ich in der Schule einen total bekloppten Pfarrer in Reli. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir mit dem Typ für Schlachten geliefert habe. Diese Geschichten aus dem alten Testament haben mich völlig fertig gemacht. Hiob zum Beispiel, den hat Gott ja auch geliebt. Die Geschichte ist doch die reinste Zumutung! Hiob ist Gott auch nur ins Auge gefallen, weil er so ein vorbildlicher Gläubiger war. Und statt ihn zu belohnen, hatte Gott nichts besseres zu tun, als mit dem Teufel eine Wette darüber abzuschließen, dass Hiob ihn auch dann noch anhimmeln würde, wenn er seine Familie, Mitglied für Mitglied, auslöschen würde. Also hat er Hiobs Frau und dessen Kinder einen nach dem anderen abgemurkst, nur um dem Teufel zu beweisen, dass Hiob trotzdem bei der Stange bleiben würde. Ist das nicht der Gipfel der Niederträchtigkeit? Wer will denn so einen Gott? Wie kann man seine Seele so einem Scheusal anvertrauen?“
„Aber die Geschichte geht ja noch weiter. Später ist Hiob doch reich belohnt worden und hat sogar eine neue Familie bekommen, wenn ich nicht irre“, sagte Ulla vorsichtig.
„Super, dass wird seine getöteten Kinder und die Frau, die zum Spielball von Gottes Stolz wurde ja sicher trösten.“
Charlotte hustete und versuchte, die aufkommende neue Welle von Übelkeit zu ignorieren.
„Sie haben schon recht. Ich komme mit der Bibel auch nicht klar“, gab Ulla zu. „Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Es wäre irgendwie ... viel zu wenig.“
„Zu wenig“, dachte Charlotte. „Das trifft es wohl auf den Punkt.“
Sie bot Ulla das „Du“ an.
2
wenn man keine Lust mehr hat,
sagt man Bescheid
Beim nächsten Treffen fragte Charlotte unvermittelt: „Und, wie stellst du es dir vor, dein Leben nach dem Tod?“
Ulla lachte verlegen auf.
„Tja, wenn ich das so genau wüsste! Ehrlich gesagt, schwanke ich seit Jahren zwischen verschiedenen Theorien. Von den Christen habe ich die Vorstellung übernommen, das es irgendeine Art von Belohnung geben muss, wenn man seine Sache gut gemacht hat. Von den Buddhisten und Hindus habe ich die feste Vorstellung übernommen, dass es die Wiedergeburt gibt. Manchmal denke ich, dass vielleicht jeder das bekommt, was er sich ein Leben lang vorgestellt hat. Keine Ahnung, wie das dann bei einem Flugzeugabsturz oder so aussieht.“
„Flugzeugabsturz?“, Charlotte konnte nicht ganz folgen.
Ulla räusperte sich und setzte zur Erklärung an:
„Ich muss mir immer alles in der Praxis vorstellen. Wie soll das bei einem Absturz vonstatten gehen? Irgendwie ist es doch schließlich was anderes, ob man für sich alleine stirbt oder mit 300 anderen Leuten zusammen, nicht wahr?“
„Allerdings“, bestätigte Charlotte. „Es geht schnell und zusammen ist man weniger allein. - Red nur weiter, ich halte das aus.“
„Naja. Dann frage ich mich natürlich, wie das organisiert ist, wenn im selben Flugzeug Atheisten, Christen, Aleviten, Hindus, Juden usw. sitzen und zusammen abstürzen“, sagte Ulla achselzuckend. „Da muss man sich ja überlegen, wie jeder zu seiner ... äh ... Sippe kommt.“
Charlotte ließ ein leises Glucksen hören.
„Meinst Du, da gibt’s dann verschiedene Gangways zu den verschiedenen Glaubensabteilungen? Nach dem Motto: Christen bitte hier rechts entlang, Orthodoxe bitte die erste links abbiegen.“
„Ist ja schon gut“, wiegelte Ulla peinlich berührt ab. „So wird es wohl kaum laufen. – Aber auf jeden Fall glaube ich, dass man abgeholt wird. Es kann schließlich kein Zufall sein, dass alle Leute, die ein Nahtod-Erlebnis hatten, das Gleiche erzählen“, sagte Ulla.
Charlotte wurde wieder ernster. „Die Atheisten und Nihilisten unter uns sagen aber, dass das nur letzte Zuckungen verreckender Synapsen sind. Eine Art Endprogramm, dass unter Ausschüttung von Unmengen Adrenalin und Endorphinen stattfindet. - Wozu auch immer das gut sein soll.“
Charlotte sah vor ihrem geistigen Auge eine höchst persönliche Supernova explodieren. So ungefähr sollte das mit dem Licht doch sein, oder? Wie eine Art Laterne, damit man den Weg nicht verpeilte und sich durch den dunklen Tunnel traute.
„Und wenn schon. Es scheint ja wohl großartiges Kino zu sein. Und mir gefällt die Vorstellung, dass man nicht alleine ist, sondern von Familie, Freunden oder Engeln abgeholt wird.“
„Engel? Ist klar“, Charlotte winkte ab. „Tja, es ist eine Schande, dass noch keiner zurückgekommen ist, um uns zu erzählen, wie es wirklich ist. Man könnte sein ganzes Leben anders leben, wenn man diese Angst vor dem Tod nicht mit sich herumtragen müsste ...“
Unvermittelt wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Zäher gelber Schleim klebte danach in dem Taschentuch, das ihr Ulla hastig gereicht hatte.
„Vielleicht ist das der Trick an dieser ganzen Sterbescheiße“, keuchte Charlotte angewidert. „Wenn es einem vorher so richtig dreckig geht, ist einem am Ende alles egal. Wenn das Leben nur noch wehtut, kann einen der reine Zustand des Tot-Seins wenigstens nicht mehr erschrecken. Es ist nur noch der Vorgang des Sterbens selbst, der einen ängstigt.“
Das hatte sich Ulla auch schon so gedacht: „Es gibt ja Leute, die sagen, es muss wohl so ähnlich sein, wie geboren zu werden. Aber das ist jetzt nur so daher gesagt.“
„Hm.“ Charlotte sah ärgerlich zu ihrem, vor Gesundheit strotzenden Gegenüber, hinüber. Es war so viel leichter darüber zu reden, wenn man den eigenen Tod noch weit weg glaubte. Wenn man, wie Charlotte wusste, dass man sich am Ende der medizinischen Möglichkeiten bewegte und nur noch Wochen oder bestenfalls Monate des Leidens vor sich hatte, erlebte man solche Unterhaltungen anders. Schmerzlicher und intensiver.
***
Abends saß Charlottes Mann Oliver bei ihr am Sofa und las Zeitung. Er liebte die langen Artikel in der „Welt“ und in der „Zeit“. Früher hatte er gerne am Küchentisch gelesen. Aber jetzt suchte er ihre Nähe. Sie betrachtete still seine Züge, erinnerte sich daran, wie schön sie ihn als jungen Mann gefunden hatte. Der Kummer hatte ihn in kurzer Zeit um Jahre altern lassen. Heimlich studierte Charlotte die Falten, die sich tief in sein Gesicht gegraben hatten, die grauen Schatten unter seinen Augen und die fahrige Geste, mit der er sich immer wieder über den Mund fuhr. Als wollte er Worten, die er nicht aussprechen wollte, den Weg nach draußen versperren. Sie sah seinen Adamsapfel zucken, als er schluckte und den grauen Dreitagebart, der in letzter Zeit so oft seine Wangen bedeckte. Sie liebte ihn so sehr und es tat ihr weh, ihn so zu sehen.
„Es tut mir so leid“, sagte Charlotte.
Verwirrt sah er von seiner Zeitung auf. „Was tut dir leid?“
„Es tut mir leid, dass du ein bisschen mitsterben musst. Dabei hast du gar nichts falsch gemacht und doch sehe ich, wie du jeden Tag mitleidest, wie du jeden Tag älter und verzweifelter aussiehst.“
Verwundert fuhr er sich über das Gesicht. „Das ist doch nichts, was dir leid tun muss. Schließlich bist du genauso schuldlos in diesen Schlamassel geraten.“ Er schluckte, als er sah, wie traurig und abgeschlagen sie an diesem Abend wirkte. Er hoffte, dass ihre schlechte Stimmung nur dem elend langen Winter und nicht seinem neuem Job zu verdanken war.
„Ich wünschte, ich könnte es alleine zu Ende bringen“, gestand Charlotte. „Ich will gar nicht, dass du das bis zum Ende mitdurchleiden musst. Es reicht doch, dass ich da durch muss.“
„Unsinn“, widersprach er entschlossen. „Du bist zwar eine ungemein starke und tapfere Person, trotzdem würde ich dich ganz sicher nie alleine lassen.“
„Aber vielleicht“, flüsterte Charlotte, nachdem sie eine Weile seine Hand gestreichelt hatte, „vielleicht sollten wir die Sache beschleunigen. Wir wissen ja, dass es nur noch schlimmer werden kann.“
Oliver biss sich auf die Lippe. Er hatte immer befürchtet, dass Charlotte das Thema einmal ansprechen würde.
„Was stellst du dir denn vor, wenn du das so sagst?“, fragte er vorsichtig.
„Wir brauchen einen Arzt, der uns etwas aufschreibt, was ich trinken kann, wenn wir nicht mehr weitermachen wollen.“ Sie sah ihn fest an. „Sei so gut: häng dich ins Internet und krieg raus, woher wir sowas kriegen können. Holland, Schweiz. Weiß der Teufel. Wir müssen unseren Arzt fragen, wo es am problemlosesten geht.“
Oliver fühlte, wie sein Hals eng wurde. Er sprang auf und einen kurzen Moment lang glaubte er, dass sein Herz so schmerzte, weil sich ein Infarkt anbahnte. Doch er schaffte es, gegen alle Widerstände in seiner Brust, tief einzuatmen. Er nickte stumm und ging eilig zur Küche, um sich einen doppelten Whisky einzuschenken.
***
„Erzähl mir noch was von deinem Leben nach dem Tod“, forderte Charlotte Ulla bei ihrem nächsten Treffen auf. „Das ist lustig. Du hast Dir so viele Gedanken dazu gemacht. Es interessiert mich, was dabei herausgekommen ist.“
„Ähm ... so direkt fällt mir gar nichts dazu ein.“
„Die Leute zum Beispiel. Die Leute, die dich abholen sollen. Irgendwelche Verstorbenen. Die können doch nicht wiedergeboren werden, solange sie da auf dich warten, oder?“
„Ja, das stimmt, das habe ich mir auch schon oft überlegt“, antwortete Ulla prompt. „Aber ich kann nicht glauben, dass man einander für immer in Zeit und Raum verlieren muss, wenn man mit großem zeitlichem Abstand stirbt. Nicht, wenn hunderte von Menschen nach ihren Nahtod-Erlebnissen etwas ganz anderes erzählen. Ich glaube fest, dass manche Leute aufeinander warten. Jedenfalls, wenn ihre Beziehung stark genug war. Gerade, wenn jemand sehr jung gestorben ist und die Trennung deshalb vielleicht um so schmerzlicher war, gibt es doch so viel zu erzählen und heil zu machen – bevor sich dann alle in eine neue Runde stürzen.“
„Eine neue Runde!“, lachte Charlotte. „Du bist echt so lustig. Wie kommst du eigentlich auf sowas?“
„Ach, das ist ganz einfach und schon eine Weile her“, erzählte Ulla. „Eines Tages ist unsere Katze gestorben. Wir haben sie den ganzen Tag liegen lassen, um sicher zu sein, dass sie auch wirklich tot ist. Am Abend hat sich die Familie versammelt, um sie im Garten feierlich zu begraben. Es war ein wunderschöner Sommerabend. Ein laues Lüftchen ließ die Blätter schaukeln und vor dem rosa Himmel schwebten kleine Schäfchenwolken friedlich dahin. Es war perfekt. Meine Mutter hatte endlich aufgehört zu heulen und aus dem nichts heraus sagte mein Neffe, damals gerade mal vier: „Auf solchen Wolken fliegt man ja, wenn man tot ist.
Und wenn man keine Lust mehr hat, sagt man Bescheid.
Und dann fällt man unsichtbar in den Bauch seiner neuen Mutter.“
„Was?“ rief Charlotte ungläubig dazwischen. „Das hat er wirklich gesagt? Einfach so? Quatsch! Das haben ihm doch seine Eltern vorher so erzählt.“
„Nein, nein. Dieser Ausspruch kam für uns alle völlig überraschend. Wir waren alle genauso baff wie du und genauso beeindruckt. Meine Schwester ist nicht so, dass sie sich sowas ausdenken würde. Unglaublich, oder? Das kann er sich doch nicht selbst ausgedacht haben. Man sagt ja, dass Kinder manchmal noch eine bessere Verbindung zu den anderen Sphären haben. Vielleicht hat er sich einfach nur an das erinnert, was vor seiner Geburt war.“
„Sagenhaft. Und seitdem glaubst du, dass das so ist?“
„Naja, irgendwie schon“, gestand Ulla etwas verlegen.
Eine Weile schwiegen beide. Ulla drehte eine Strähne ihres rot-blonden Haares um den Zeigefinger, während Charlotte in den fahlen Himmel hinter den Fenstern starrte.
„Je länger ich mir das durch den Kopf gehen lasse, desto besser gefällt mir der Ausspruch deines Neffen“, gestand Charlotte. „Zu schade, dass du nicht auch noch jemanden kennst, der sich einfach gleich an ein früheres Leben erinnert. Das wäre eine ziemliche Erleichterung ... und einfach zu schön.“
3
René hat die Bahn genommen
„Tu dir nur keine falsche Scham an. Du kannst mir ruhig sagen, dass ich heute super aussehe!“, sagte Charlotte.
„Entschuldigung!Das hätte ich natürlich nicht übersehen dürfen.“ Ulla sah ihr Gegenüber prüfend an und begann zu lächeln. Dank eines Urlaubsfotos im Flur der Wohnung, war es ihr vom ersten Tag an nicht schwer gefallen, sich vorzustellen, dass Charlotte einmal eine sehr attraktive Frau gewesen war. Das Bild zeigte eine strahlende Charlotte, die in einem weißen Kleid vor dem Türkis des Meeres die glänzenden braunen Locken in den Nacken warf und mit braungebranntem Gesicht und weißen Zähnen in die Kamera lächelte. Fast wie ein Model, nur irgendwie schöner.
„Tatsächlich!“, sagte Ulla, angenehm überrascht. „Ein wenig Farbe im Gesicht, ein buntes Kopftuch ... aber vor allem die Augen! Die leuchten heute. Darf ich fragen, ob es einen besonderen Anlass gibt?“
„Ich weiß es nicht genau. Tatsache ist aber, dass es ein paar Tage nach der Chemo manchmal schlagartig bergauf geht bei mir. Endlich ist einem plötzlich nicht mehr speihübel, die Kraft kehrt zurück, man kann endlich überhaupt wieder etwas riechen und schmecken. Es ist, als würde eine erstickende Decke aus Vergiftung, Tod und Vernichtung von einem gezogen. Und dann kann man plötzlich wieder Tageslicht sehen, wo zuvor nur ein schwarzer Nebel aus Schmerz und Kraftlosigkeit war.“
„Freut mich ... wirklich!“, schob Ulla schnell hinterher, da sie mittlerweile wusste, dass Charlotte nichts so sehr hasste, wie belanglose Floskeln. Einer plötzlichen Eingebung folgend stemmte sie die Hände in die Hüften „Sollen wir ein wenig rausgehen? Es ist wärmer, als es aussieht. Man könnte fast an Frühling denken.“
Eine halbe Stunde später saßen die beiden Frauen in einem Park. Der Weg war mühsam gewesen. Immer wieder musste Charlotte ausruhen und Ulla hatte schon befürchtet, ihr zu viel zugemutet zu haben. Sie hatten die nächstbeste Bank genommen, Charlotte war wieder zu Atem gekommen und einen Moment hatten beide ihre Nasen in die blasse Märzsonne gehalten.
Je länger sie dort waren, desto düsterer wurde Charlottes Stimmung. Ungehalten stierte sie einem Rauhaardackel hinterher.
„Ist es nicht einfach lächerlich, dass diese dumme kleine Vieh mich vermutlich mühelos überleben wird?“, fauchte sie und machte eine ausladende Geste. „So wie alles hier, hat es dieser blöde Köter nicht die geringste Ahnung, wie wunderbar allein seine bloße Existenz ist. Wie grandios jeder einzelne Atemzug, jeder Herzschlag.“ Sie sah sich wütend um. „Jeder Baum hier ist locker dreimal so alt, wie ich jemals sein sei werde. Selbst diese Grasbüschel werden sich im Herbst noch genüsslich mit Dünger für´s nächste Jahr vollkacken lassen, wenn für mich schon alles vorbei sein soll! ... Das ist ... einfach nicht in Ordnung!“ Sie schüttelte unwillig den Kopf und sah mit verkniffenem Mund zu Ulla: „Nicht, das du mich falsch verstehst. Ich liebe Rauhaardackel. Aber wenn sie mich überleben, hört mein Verständnis und meine Toleranz irgendwie auf.“
Ulla nahm Charlottes Hand, als deren Stimme immer belegter und brüchiger wurde.
Sie konnte es so gut verstehen. Charlotte war irgendwie über diesen furchtbaren, rheinischen, nassen Winter gekommen. Und nun, wo der Neubeginn für alle zum Greifen nahe war, wo sich jede einzelne Knospe bis zum Bersten mit Saft vollgesogen hatte, um im hellsten Grün zu explodieren, nun sollte sie sich damit abfinden zu sterben? Ins Schwarze, unter die Erde gehen? Ulla wünschte sich plötzlich innig, sie hätte die Idee mit dem Spaziergang für sich behalten. Es war grausam, Charlotte den Frühling und den für sie fast unerreichbaren Sommer vor die Nase zu halten.
Ulla blinzelte ärgerlich und unzufrieden in die Sonne. „Ich komme da auch nicht drüber, warum manche Leute jung sterben müssen.“ Sie machte eine Pause und erinnerte sich an das Gelernte aus dem Kurs für angehende Sterbebegleiter : Erst fragen, bevor man anfängt, von sich selbst zu palavern und den Klienten zusätzlich noch mit eigenen Geschichten belastet!
„Stört es Dich, wenn ich etwas von mir erzähle?“, fragte sie demnach höflich.
„Natürlich nicht. Fast jede Story dürfte besser als meine eigene sein.“
„Oh, da bin ich mir nicht so sicher.“
„Erzähl!“
„O.k. – Ich war 14. Da ist mein Cousin René gestorben. Er war 17 und ich und alle anderen fanden ihn so ... wahnsinnig toll. Er war einfach super, schon als Junge. Wir haben stundenlang zusammen gespielt und wenn er weg war, haben meine Schwester und ich uns wegen ihm die Augen ausgekratzt. Alle meine Freundinnen waren genauso in ihn verschossen wie wir. Es hat mich völlig aus den Socken gehauen, als es passierte. Danach war es nie mehr wie vorher. Im Gegenteil. Meine Tante ist sechs Jahre danach an Krebs gestorben. Aus lauter Kummer, haben alle gesagt. Sie hat sich in das gleiche Grab legen lassen, wie René. Ich fand das total krank. Finde ich immer noch. Mein Onkel hatte sich da schon längst von ihr getrennt. Ist einfach weggelaufen vor all den Erinnerungen und gegenseitigen Vorwürfen. Meine Mutter hat meine Tante bis zum Ende gepflegt. Als sie starb, war sie erst 45 Jahre alt.“
„Die Geschichte muntert mich ja tatsächlich enorm auf“, sagte Charlotte und tröstete Ulla gleich darauf mit einem: „Nein, war nur ein Scherz. Woran ist denn nun dein Cousin gestorben?“
„Sein Tod war so derartig überflüssig und profan. Ich glaube fast, das war das Schlimmste daran. Es klingt so doof, dass ich mich schon immer geschämt habe, es zu erzählen: Er war auf einer Party und ist danach total betrunken eine Abkürzung über die Gleise gegangen. Das war´s schon. – Es blieb nichts übrig, wovon sich seine Eltern hätten verabschieden können.“
„Das ist ja grauenhaft! Es tut mir sehr leid. Für Deine Familie ... und für ihn.“
„Danke. – Es war diese absolute Sinnlosigkeit. Die machte es so besonders unerträglich und entsetzlich. Ich erinnere das als regelrecht körperlichen Schmerz, der kaum zu ertragen war. Und dann eben all die Fragen, die du dir auch stellst und auf die man keine Antwort findet.
Wie kann Gott so etwas zulassen?
Warum ist der Abend nicht irgendwie anders gelaufen?
Warum ist er nicht auf der Straße lang gegangen?
Warum hatte niemand gesehen, dass er zu betrunken war, um alleine nach Hause zu gehen?
Warum hatte ihn kein Freund mit nach Hause begleitet?
Warum hatte der ICE keine Panne? Und so weiter. –
Was auch immer. Wenn Gott, der Allmächtige, gewollt hätte, hätte es tausende von Möglichkeiten gegeben, das Unglück zu verhindern. Aber keine Einzige hat er gewählt. Er hat ihn sterben lassen. – Früh zu sich geholt, wie in deinem Kinderfilm. Ich hoffe bloß, mir kann irgendwann irgendwer erklären, wofür das gut gewesen sein soll.“
„Verstehe, das ist also dein spezielles Verhältnis zum Tod“, sagte Charlotte leise. „Deshalb willst du auch so gerne glauben, dass man aufeinander wartet.“
Sie schwiegen eine Weile, bis Charlotte höchst missvergnügt zwei quietschlebendigen Amselmännchen beim Kampf um das beste Brutrevier zusah, was sie wieder auf ihr Thema brachte.
„Ich weiß natürlich, dass ich nicht die Einzige und auch nicht die Jüngste bin, der so etwas passiert“, sagte sie. „Aber es geht kein Trost von den anderen Toten und Sterbenden aus. Jedenfalls nicht für mich. Bis jetzt warte ich vergebens darauf, dass ich damit klar komme und, wie man so schön sagt, in Frieden sterben kann. Stattdessen“, stieß sie hervor, „komme ich immer wieder an den Punkt, dass ich nicht einverstanden bin. Mein Leben ist, Scheiße nochmal, nicht vorbei. Es sollte jedenfalls nicht vorbei sein. Ich habe einen so netten Mann. Ich hatte einen Wahnsinnsjob. Wir haben keine Kinder bekommen. Wir haben Geld um zu reisen, uns schöne Dinge zu kaufen und das Leben zu genießen. Ich habe nichts Böses getan, womit ich verdient hätte, das alles nicht zu bekommen. Verstehst du? Das Leben liegt vor mir ausgebreitet, wie ein Tisch, prall gefüllt mit wunderbaren Köstlichkeiten. Doch meine Arme sind zu kurz. Ich erreiche sie nicht mehr, kann ihren Geschmack nicht mehr kosten. Als würde man ein Biaffra-Kind vor ein Bäckerei-Schaufenster stellen. Wie bei dem schlechten Contergan-Witz: keine Ärmchen, keine Kekse.“
Eine Mischung aus bitteren Lachen und Hustenanfall schüttelte sie und Ulla beeilte sich, ein neues Taschentuch aus ihrer Handtasche zu fummeln, um Charlotte nicht ihr eigenes geben zu müssen.
„Ich würde verrückt werden, wenn ich nicht glauben würde, dass es danach weiter geht und all diese Fragen noch geklärt werden“, sagte Ulla bestimmt.
„Wie sollen die sich denn klären?“, schnaufte Charlotte.
„Für mich muss es so sein, dass da der alte Mann mit Rauschebart sitzt und mir alles erklärt!“, sagte Ulla, ohne mit der Wimper zu zucken. Charlotte tippte sich schnalzend an die Stirn, aber Ulla sprach weiter. „Ich habe mal gehört, dass es vielleicht wie bei einem großen Teppich ist, von dem man aber zu Lebzeiten nur einen Ausschnitt, wohlmöglich sogar nur einen Ausschnitt von der Rückseite, sieht. Erst wenn man tot ist, kann man, mit etwas Abstand, den ganzen Teppich sehen und erkennen, welches Bild das Muster insgesamt ergibt. Zu Lebzeiten, nur mit dem winzigen Ausschnitt, hat man keine Chance, das große Ganze zu erfassen. Aber dann versteht man endlich, warum der ein oder andere rote Faden dort enden musste.“
„Aha“, sagte Charlotte mürrisch. „Und was müsste ich denn, deiner Meinung nach, tun, damit auch ich so einen netten Alten treffen, der mir seinen Teppich zeigt?“
Plötzlich musste sie über ihre eigene Frage, in die sie eine gewisse Anzüglichkeit gelegt hatte, lächeln.
„Ganz ehrlich. Ich habe ja schon gesagt, dass mit mir in Glaubensfragen nichts anzufangen ist. Nach dem Tod meines Cousins gab es vier Monate später einen Schulgottesdienst zum Erntedank. Der Pfarrer hat sich fast überschlagen mit seinen Dankesbekundungen. Und das ganz stumpfe Volk hat die 1000 Danke hinterhergeplappert, bis mir vor Wut fast übel wurde. Nach dem Gottesdienst bin ich zu ihm hin und hab ihn gefragt, warum er in seinem ganzen Gottesdienst kein einziges Wort übrig hatte für die, die weniger zu danken hatten. Dieser Ignorant! Da schaute er mich ganz überrascht an und wollte wissen, warum ich das frage. Ich sagte ihm, dass der junge Mann, der vor vier Monaten an der Bahn gestorben war, mein Cousin gewesen ist. Da zuckte er doch eiskalt die Schultern und sagte allen Ernstes: Tja, Gottes Wege sind manchmal unergründlich ... Du weißt schon, zum Kotzen. Aber zurück zu deiner Frage: ich glaube, dass der nette Alte für alle da ist. Ich kann an keinen Gott glauben, der Leute nach ihrem Glauben oder gar ihrem Gerede in Andachten beurteilt. Wenn da nicht Taten zählen, dann weiß ich es auch nicht. In meinen Himmel kommen sogar Tiere und ehrlich gesagt, ich glaube, eigentlich alle Lebewesen.“
„Na hör mal – alle? Das hab ich ja noch nie gehört.“
„Ja, ich weiß, dass ich vermutlich spinne. Aber ich glaube, dass alles, was lebt, auch beseelt ist. Und Seelen gehen nun mal nach ihrem Tod zu Gott.“
„Und schweben auf einer Wolke, bis sie nicht mehr wollen“, sagte Charlotte versöhnlich. Doch der friedliche Moment währte nicht lange. Dann runzelte sich ihre Stirn schon wieder. „Ja und dann? Kann man befördert werden? Und wenn ja, ist es als Mensch überhaupt besser, als als 1000-jährige Eiche? – Im Moment würde ich natürlich die Eiche vorziehen. Dann hätte ich noch 958 Jahre pralles Leben vor mir. Stell dir das vor!“
„Na ja. Ich denke schon, dass sich Seelen im Laufe ihrer vielen Leben entwickeln. Aber ich habe gelesen, dass diese großen Wechsel eine seltene Sache sind. Sogar die Gegend, im Sinne ganzer Kontinente, wechselt man wohl nicht so leichtfertig. Du kennst doch bestimmt auch diese Leute, die irgendwie nicht am richtigen Platz sind, oder? Ich stelle mir immer vor, dass diese Seelen sich ein wenig verirrt haben oder kurz nach so einer großen Umstellung leben.“
„Zur falschen Zeit am falschen Ort“, sinnierte Charlotte.
Eine Weile schauten beide vor sich hin. „Es macht mir Spaß, mir deine Gedanken anzuhören“, sagte Charlotte. „Sie sind so herrlich naiv und dabei meinst du es gleichzeitig todernst. Ich will auf jeden Fall noch mehr davon hören. Aber jetzt geht mir das laue Lüftchen hier gehörig auf den Zwirn und ich möchte wieder auf mein Sofa. Zu viel Dackelscheiße hier.“
4
Pernod hilft
Ulla stutzte. Sie zog die Brauen zusammen und fragte sich, wie Charlotte auf diese Buchtitel reagiert hätte. Sie war in der Abteilung „Esoterik + Grenzwissenschaften“ ihres Lieblingsbuchladens gelandet. Als sie sich fragte, was sie hierher getrieben hatte, gestand sie sich ein, dass ihre Gedanken unentwegt um Charlotte kreisten.
„Zum Glück ist nächste Woche Reflexionstreffen im Hospiz-Verein“, dachte sie. In der halbjährigen Vorbereitungszeit war sie zwar gründlich darauf eingestellt worden, dass diese monatlichen Treffen von größter Wichtigkeit waren, aber dass sie sie so dringend brauchen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Die ganze Sache entsprach überhaupt nicht dem, was sie erwartet hatte. Zum Glück gab es noch eine zweite Begleiterin, die ebenfalls zu Charlotte ging. Damit lastete die Verantwortung wenigstens nicht alleine auf ihren Schultern.
Jedenfalls war es ihr unmöglich auch nur einen Titel zu lesen, ohne sich lebhaft vorzustellen, wie Charlotte ihn kommentieren würde.
„Liebe Dein Leben“ – auf diesen heißen Tipp würde Charlotte besonders abfahren.
„Krankheit als Weg“ – Charlottes Wutausbruch wäre gespickt mit Schimpfwörtern, Körperteilen und Fäkalien.
„Schicksal als Chance“ – käme wohl auch nicht so recht an.
„Zeit ist eine Illusion“ – hier blieb Ullas Aufmerksamkeit schon länger hängen. Unschlüssig blätterte sie in dem Buch. Vielleicht doch etwas zu abgehoben für Charlotte. Sie würde sofort losschießen, dass Zeit wohl kaum mehr eine Illusion ist, wenn der Arzt sagt, dass man nur noch Wochen zu leben hat. So eine Aussage machte Zeit nun einmal wirklich recht griffig und real. Mehr vielleicht, als alles andere.
„Das Erlebnis der Wiedergeburt – Heilung durch Reinkarnation“ von Thorwald Dethlefsen. War der Typ nicht eine echte Koryphäe für spirituelles Allerlei? Auch hier las sich Ulla einige wahllose Seiten durch. Hier erzählten Menschen wie du und ich unter Hypnose, wie sie als Christen von den Römern verfolgt wurden oder 18hundertnochwas unglücklich verheiratet waren. Merkwürdig. Es klang so leicht. Sie kaufte das Buch nicht, obwohl sie es interessant fand. Aber im Moment war sie etwas knapp bei Kasse. Ein anderes Mal, beschloss sie. Vorerst musste das Internet reichen. Sie würde sehen, was sie dort zu dem Thema finden konnte.
Unzufrieden mit sich und der Welt, beschloss sie, nach Hause zu gehen und sich einen starken Kaffee zu kochen. Lustlos griff sie nach der gestrigen Tageszeitung, nur, um sie wieder beiseite zu legen. Sie starrte an ihre Küchenwand und dachte an Charlotte.
Manchmal konnte sie Charlottes ununterbrochene Wut darüber, sterben zu müssen, kaum noch ertragen. Mehr als einmal war sie kurz davor gewesen, auszusteigen. Vielleicht war sie einfach doch nicht die Richtige für so eine schwere Aufgabe? Wie hatte sie nur glauben können, das auszuhalten?
Dabei war sie sich so sicher gewesen, der Belastung gewachsen zu sein. Aber der Kummer darüber nicht mehr tun zu können, machte sie rasend. Keine Frage, sie würde mit ihrem Coach vom Hospiz-Verein reden müssen.
Später, als sie an die Decke ihre Schlafzimmers starrte, ärgerte sich Ulla, dass sie sich den späten Kaffee gegönnt hatte. Nun war es sechs Stunden später und von Schlaf konnte keine Rede sein. Es war Montagabend. Es gab nichts zu tun. Das Fernsehprogramm war schlecht, die Kneipen würden leer sein. Ihre Freundinnen würden vermutlich schon längst in ihren Betten liegen. Weil sie einen Job hatten, weil sie Kinder hatten. Ein erfüllteres Leben vielleicht als sie selbst? Schnell verdrängte Ulla die unliebsamen Gedanken. Bevor sie sich ihrer eigenen Misere stellte, angefangen bei ihrer molligen Figur, über den geschmissenen Job, die gescheiterte Firmengründung und ihr derzeitiges Singledasein, wollte sie lieber weiter über Charlotte nachdenken und darüber, wie sie sich nützlich machen konnte.
Also, was war ihr heute begegnet? Reinkarnation.
Aber: Reinkarnation?
Es konnte doch nicht so schwer sein, herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Voller Scham dachte Ulla an ihre erste Begegnung. „Wie kommst Du nur dazu, für einen Hospiz-Verein zu arbeiten?“ hatte Charlotte gefragt. Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie sofort zugegeben, dass es wirklich ihre eigene Angst vor dem Tod war, die sie dorthin getrieben hatte. Und das sie hoffte, etwas über den Tod herauszufinden, wenn sie anderen beim Sterben zusah.
Hatten Sterbende vorher lichte Momente?
Charlotte jedenfalls schien kein bisschen hellsichtig zu sein. Und überhaupt machte ihre verzweifelte Wut Ulla nur Angst. Wenn so ein starker Typ wie Charlotte keine Chance gegen den Krebs hatte, wer sollte dann überhaupt stark genug sein, dieser bösartigsten aller Seuchen Stand zu halten.
Eine Seuche. Das war es doch. Rund um sie herum gab es, mitten in dieser Wohlstandsgesellschaft, Massen von Menschen, die an Krebs litten. Da nahm es doch nicht Wunder, das der verbleibende Rest wahlweise an Depressionen oder Angstzuständen litt. Was für eine kranke Welt. Einfach Scheiße – da musste sie Charlotte recht geben.
Ulla beschloss, das die einzige Hilfe gegen die belebende Wirkung eines starken Kaffees nach 18.00 Uhr nur genauso starker Alkohol sein konnte. Also trieb es sie zurück an den Küchentisch und die Aussicht auf die Küchenwand, die sie schon am Nachmittag genossen hatte.
Ihre Wahl fiel auf Pernod. Mit wenig Wasser. Das viele Eis würde ihn sonst zu wässrig machen.
Toll, wie schnell man mit Pernod Umdrehungen aufnehmen konnte.
Beim Klirren der Eiswürfel in ihrem zweiten halbvollen Glas wuchs in ihr die Idee, das Charlotte selbst nachschauen gehen musste. Als sie den letzten Schluck zwischen den Eiskrümeln heraussog, war die Idee zur festen Überzeugung geworden. Charlotte selbst musste aktiv werden und herausfinden, wie viele Leben sie hatte.
Beim dritten Glas, das sie vor dem flimmernden Computerbildschirm einnahm, recherchierte sie, wie die Chancen standen, in Köln Hilfe für diese Aufgabe zu finden. Nachdem sie sich eingelesen und eine tolle Ansprechpartnerin gefunden zu haben glaubte, war Ulla so euphorisch, dass sie Charlotte am liebsten sofort angerufen hätte. Sie fokussierte die eindeutig zu kleine Zeitanzeige am unteren rechten Bildschirmrand.
2.32 Uhr. Keine gute Zeit um Charlotte und Oliver angetrunken aus dem Bett zu klingeln. Etwas konsterniert über die ernüchternde Erkenntnis, dass sie ihre phantastische Idee nicht sofort mit dem Rest der Menschheit und vor allem nicht mit Charlotte selbst teilen konnte, überlegte sie, was stattdessen zu tun sei.
Erleichtert wurde sie sich zuletzt ihrer Müdigkeit bewusst. Noch ein winzig kleiner Absacker. Und dann würde sie schlafen können. Und zwar richtig gut.
Pernod hilft.
Ende Kapitel 11
Lioba
[ ... ]
Ulla war so aufgeregt, dass sich eine flaue Übelkeit bei ihr breitgemacht hatte. Wenn das hier funktionieren würde, wenn Charlotte in ein früheres Leben schauen könnte, dann wäre das sowohl für sie, als auch für Charlotte ein so unfassbar großer Trost. Darin läge so viel Erleichterung und Hoffnung. Sie alle, die schon vor uns gegangen waren, sie wären nicht tot. Ulla wünschte sich so sehr, dass es funktionieren würde.
„Wie geht es Dir?“
„Es geht mir sehr gut. Ich bin sehr glücklich.“ Charlotte lächelte und wirkte vollkommen locker und entspannt. Ihre Stimme, ihr ganzer Tonfall klang völlig verändert. Das konnte nicht gespielt sein. Ulla und Sandra tauschten erleichtert einen kurzen Blick, während Sandra Ulla zukniepte und den Daumen der rechten Hand reckte. Es war ihr anzusehen, dass sie sich genauso sehr wie Ulla freute.
„Was macht Dich so glücklich?“, fragte sie.
„Ich bin ausgebüxst!“ Triumph schwang in Charlottes kindlicher Stimme mit und Ulla und Sandra warfen sich erneut einen Blick zu.
„Bist Du ein Mann oder eine Frau?“
„Ich bin noch ein Mädchen. Ich bin gerade erst 15 geworden.“
„Wie siehst Du aus?“
„Hm ... ich weiß es nicht so richtig. Nicht besonders hübsch, glaube ich. Ich habe lange, wellige Haare, fast bis zu den Hüften. Sie sind von einem ganz dunklen blond. Fast schon hellbraun. Ich hätte viel lieber richtig blonde oder schwarze Haare. Ich bin ziemlich klein.“
„Bist Du alleine im Wald?“
„Nein. Meine Freundin ... Ava ist bei mir.“
„Und wie heißt Du?“
„Mein Name ist Lioba ... Aber Ava nennt mich Lio.“
„Kannst Du uns sagen, in welcher Zeit Du bist?“
Charlotte zog die Stirne kraus. Sie schien nachzudenken.
„Ich glaube, ... ich ... genau weiß ich das nicht.“
„Konzentriere Dich. Du kannst mir die Jahreszahl jetzt sagen.“
„Ja ... es ist 1236.“
„Sehr gut. Erzähl einfach weiter. Von wo bist Du ausgebüxst und wohin willst Du mit Ava?“
Sandra unterbrach Charlotte immer seltener, denn es zeigte sich, dass Lio ein aufgeregtes Mädchen war, das viel zu erzählen und einen aufregenden Tag vor sich hatte.
Als sie auf dem Heimweg waren, schwankten Charlotte und Ulla zwischen fassungslosem Staunen und hysterischer Freude. Ihr Versuch hatte alle Erwartungen übertroffen.
Am nächsten Tag trafen sie sich schon am frühen Vormittag, um sich gemeinsam noch einmal die Aufnahme anzuhören. Lios Geschichte, gewoben aus unzähligen Fragen und Antworten, begann mit einem erzwungenen Abenteuer.
Ulla und Charlotte beschlossen sofort, ein Protokoll der Sitzung zu schreiben, dass das Gespräch, das Sandra mit Charlotte in Trance geführt hatte, zu einem Prosatext verband. Auch, wenn sie das Ergebnis als unzureichenden, stümperhaften Versuch der Wiedergabe von Lios Abenteuer empfanden, waren sie sich darüber einig, dass man der Geschichte in dieser gestrafften Form am besten folgen konnte.
Erstes Protokoll
Es war erst Ende Mai, aber so heiß, wie im Hochsommer.
Lio hatte schon tagelang auf Ava eingeredet. „Bitte, bitte, bitte! Sei doch nicht so ein Angsthase!“, quengelte sie. Doch Ava hatte sich mit Händen und Füßen gesträubt.
„Lio, wenn uns jemand erwischt, lässt sie uns den ganzen Sommer nicht mehr vom Webstuhl aufstehen.“ Ava meinte ihre Mutter und Lio wusste, dass sie nicht übertrieb. Trotzdem dachte sie nicht daran, nachzugeben.
„Aber letztes Jahr sind wir auch zum See gegangen!“ stampfte sie auf.
„Ja, aber jetzt bin ich auch schon wieder ein Jahr älter. Du weißt, dass ich nächstes Jahr heiraten soll. Wenn ich jetzt halbnackt am See erwischt werde, macht sie mir die Hölle heiß. – Und du“, sie zeigte feixend auf Lios Brüste, „gehst auch schon als halbe Frau durch.“
Lio wurde rot und schubste ärgerlich die Hand ihrer Freundin beiseite.
„Alle haben Spaß!“, maulte sie unzufrieden. „Jede Magd und jeder Knecht hat mehr Spaß als wir. Das sehe ich überhaupt nicht ein!“
Die Saat vertrocknete auf den Feldern, kaum dass das Frühlingshochwasser abgelaufen war. Als wenn das Jahr den Frühling vergessen hätte, war es nach dem langen und schneereichen Winter übergangslos Sommer geworden.
Die Hitze stand schon Mittags wie eine Wand und der Schweiß lief einem nur so runter, sobald man aus den Burgmauern trat. Bis zum Abend arbeiteten die Leute schwitzend und stöhnend so wenig und so langsam wie möglich und fieberten der Stunde vor Sonnenuntergang entgegen, wenn sie endlich frei wären, sich abzukühlen.
Es war Lios und Avas tägliches und streng verbotenes Abendvergnügen, dem Gesinde nachzuschleichen und sie heimlich am Fluss zu beobachten. Voller Neid hockten sie in ihrem Versteck hinter einem umgestürzten Baum, während die anderen jungen Burgbewohner, vom Küchenjungen bis zu den Mägden nach und nach eintrudelten, um sich lachend Staub, Dreck und Schweiß aus den Gesichtern und den Haaren zu waschen.
Die Hitze des Tages schien alle mit einer frivolen Lust an verbotenen Blicken und zweideutigen Gesten aufzuladen und sie nutzten hemmungslos die Gunst dieser seltenen Stunden, da sie unter sich waren, um sich bei wüsten Wasserschlachten, derben Neckereien und handgreiflichen Spielchen näher zu kommen. Jedenfalls so lange, bis sie von der tobenden Hausmeierin, Avas notorisch schlecht gelaunten Mutter, zurückgepfiffen wurden – bevor sich zwei in die Büsche schlugen und mehr daraus werden konnte.
Lio und Ava waren so einem Liebespaar, das klug genug gewesen war, sich rechtzeitig zu verdrücken, im letzten Sommer einmal nachgestiegen. Danach brauchte Lio Tage, um beim Anblick einer der beiden nicht mehr rot anzulaufen.
„Wenn du nicht mitgehst, gehe ich eben alleine“, drohte Lio ihrer älteren Freundin und setzte trotzig hinzu: „Mich will sowieso keiner verheiraten – also brauche ich mich auch nicht so zu benehmen.“
Avas Widerstand bröckelte sichtbar, bis sie, widerwillig grinsend den Kopf schüttelte. „Du bist so ein Biest! Du weißt genau, dass ich dich nicht alleine gehen lassen kann! Das würde genauso viel Ärger bedeuten. Dann kann ich auch gleich mitgehen. – Aber ich warne dich! Wenn wir erwischt werden, sage ich, dass du mir keine Wahl gelassen hast.“
„Vergiss es“, sagte Lio triumphierend. „Wir sind noch nie erwischt worden.“
Noch am gleichen Nachmittag schlichen sie sich, jede einen Korb, um angeblich Kräuter zu sammeln, unter dem Arm, aus der Burg und liefen um das Dorf herum, in den Wald. Jede hatte in ihrem Korb ein trockenes Unterkleid versteckt, damit sie sich später nicht durch die nassen Kleider verrieten. Bis zum See war es weit. Dafür lag er so weit abseits jeder Siedlung, dass einem heimlichen Badevergnügen nichts entgegenstand.
Lio war so gut gelaunt, dass sie schon auf dem Weg ununterbrochen fröhlich vor sich hinsang. „Ich mache dich klatschnass – und du wirst triefen wie ein Hund!“ Ava versuchte sie zu fangen, doch die kleinere Lio war viel schneller als sie.
Genussvoll seufzend sog Ava den Duft von Freiheit und Ungehorsam ein. Lio hatte Recht. Sie lebten das Leben von Gefangenen und es war nur mehr als gerecht, sich zwischendurch einmal fortzuschleichen. Und wer wusste schon, ob so etwas im nächsten Jahr noch möglich sein würde.
Endlich riss das dichte Blätterdach auf und sie erreichten den See, der schwarz und spiegelglatt mitten im Wald lag. Es sah aus, als hätte ein Riese mit seinem Daumen ein kreisrundes Loch in den Waldboden gedrückt. Bis an das Ufer standen hohe Bäume und Sträucher. Mehrere Baumriesen hatten den Winterstürmen nicht standgehalten und lagen halb im Wasser. Am sonnenbeschienenen Teil des Ufers stand dichter Rohrkolben, über dem große Libellen ihr Kreise zogen. Das Wasser war so klar, das man mühelos bis auf den Grund sehen konnte. Der Ort hatte etwas so entrücktes und unwirkliches, dass Lio sofort der festen Überzeugung war, dass seit ihrem letzten Besuch im Sommer zuvor niemand mehr hier gewesen war.
Unwillkürlich wurden die Mädchen leise und standen einen Moment still. Dann hielt es Lio nicht mehr aus und schnürte sich schnell die Schuhe und das hellblaue Oberkleid auf. „Los!“, forderte sie ungehalten und gab Ava einen Schubs. „Zieh dich aus, oder ich mache dein Kleid nass!“
Das klare Wasser kam Lio eiskalt vor und weil sie so verschwitzt war, brauchte sie, genau wie Ava, eine Weile, um sich Schritt für Schritt hineinzutasten.
Doch schon kurze Zeit später gab es kein Halten mehr.
Während Ava peinlich darauf achtete, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, hatte Lio überhaupt keine Angst. Sie fand es nicht schwer, sich über Wasser zu halten und eines Tages hatte sie sogar ausprobiert ganz unterzutauchen. Ava fand, das das unchristlich sei und völlig der menschlichen, und vor allem der weiblichen Natur widersprach. Aber das kümmerte Lio nicht.
Geschickt schob sie beide Hände über die Wasseroberfläche und ein dichter Schwall Wasser traf die aufkreischende Ava unversehens mitten im Gesicht. Sie holte japsend zum Gegenschlag aus, doch Lio verschwand unter der Wasseroberfläche. Ava hasste das.
Lio schoss unter Wasser durch das lichte Grün und freute sich schon auf Avas hektisch suchenden Blick, wenn sie wieder auftauchen würde. Lio würde sie auslachen, wie jedes Mal, wenn sie extra lange unter Wasser blieb, nur, um sie zu ängstigen. Erwartungsvoll schoss sie mit einem Juchzen durch die Wasseroberfläche, dass die Tropfen nur so nach allen Seiten stoben. Doch auf Avas verzerrten Zügen wollte sich keine Erleichterung einstellen. Sie hatte mit aufgerissenen Augen die Hände vor den Mund geschlagen und sah so blass aus, als würde sie gleich umkippen. „Was ist?“, rief Lio, die dachte, Ava würde nur angesichts ihres Tauchgangs wieder die Entsetzte spielen. Doch Ava schüttelte mit einer winzigen Bewegung den Kopf, zwei Finger, zum Zeichen, dass Lio still sein sollte, an die Lippen gelegt. Ohne den starren Blick von Lio abzuwenden, gab sie ihr mit dem Kopf einen Wink, zum Ufer hinüberzusehen.
Lio verstand augenblicklich.
Sie standen da, wie aus der Erde gewachsen.
Direkt neben ihren Kleidern und Körben.
Eine einzige, Fleisch gewordene Katastrophe.
Vier Männer. Ihre Kleidung blutgetränkt.
Angespannt, mit gezogenen Waffen, bereit jeden möglichen Angriff sofort zu parieren, ließen sie ihre wachsamen Blicke über das Ufer schweifen. Lio starrte sie an, als wären sie eine Erscheinung, die sich im nächsten Moment wieder verflüchtigen würde. Sie suchte in ihren schmutzigen Gesichtern nach menschlichen Zügen. Doch Blut, Schweiß und Dreck entstellten sie so, dass man sie auf den ersten Blick genauso gut für böse Geister, aufgestiegen direkt aus der Hölle, halten konnte. Ihre Kleider war so rot von Blut, dass es Tote gegeben haben musste und man nicht einmal erahnen konnte, ob sie selbst vielleicht verletzt waren.
Lio hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten und merkte erst, dass sie pinkelte, als es heiß an ihr aufstieg. In ihrer Not kniff sie die Augen so fest zusammen, dass sie nur noch Funken und Sternchen sah. Sie hielt die Luft an und hoffte innig, dass der Spuk vorbei wäre, wenn sie die Augen nur lange genug geschlossen und den Atem lange genug anhalten würde. Kurz, bevor es ihre Lungen zerriss, schlug sie, in der festen Erwartung, dass sie wieder mit Ava alleine wäre, nach Luft japsend wieder die Augen auf.
Aber sie standen immer noch am gleichen Platz und verströmten unbewegt, grausame Gleichgültigkeit ausstrahlend, ihre überwältigende Überlegenheit.
Endlich senkte der Erste langsam die Spitze seines Schwertes und gab damit das Zeichen, dass er keinen Angriff mehr erwartete.
Lio schluckte hart.
Sie hatten erkannt, dass die Mädchen alleine waren.
Lio war klar, dass es für sie nichts zu tun gab. Sie hatten keine Chance zu verhandeln oder zu fliehen. Das hier waren entweder Räuber oder, noch schlimmer, Männer, die Rudolph von Malberg herübergeschickt hatte, um Unfrieden zu stiften, Pferde zu stehlen und zu töten. So oder so gewissenlose Räuber und Mörder. Die Gewissheit, dass sie nichts anderes tun konnte, als abzuwarten, erfüllte Lio mit einer eigenartigen Ruhe. Als wenn die Zeit zwischen den Polen absoluter Überlegenheit und vollkommener Ausweglosigkeit stehengeblieben wäre, prägte sich Lio jede Einzelheit ihrer Erscheinung ein.
Ihr Äußeres, aber vor allem der Triumph des Sieges, der ihnen genauso anhaftete, wie der tierische Geruch nach Blut, Schweiß und Rost, ließ keine Zweifel an dem zu, was sie getan hatten.
Lio überlegte, welche armen Teufel ihnen in die Arme gelaufen sein mochten, als ihr Blick gebannt an dem Mann hängen blieb, der ohne jeden Zweifel ihr Anführer sein musste.
Sei es, weil er den blutigsten Anblick von allen bot, sei es, weil er einen Schritt näher als die anderen am Ufer stand, oder weil er mit einem so unerträglich anmaßend zufriedenen Blick in die Runde schaute, dass alleine seine lässige Haltung und zur Schau getragene Selbstsicherheit, Lios Trotz weckte.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, flog sein wachsamer Blick zu ihr. Trotzig hielt Lio ihm stand und verfolgte mit zusammengebissenen Zähnen, wie sich ein Grinsen auf seinen Züge breitmachte. Dann schweifte sein Blick noch einmal zu Ava, bevor er sich mit dem blutigen Ärmel den Schweiß von der Stirn strich und sich in einem das Lederband, das die langen, blutverklebten Locken aus seinem Gesicht gehalten hatte, vom Kopf zog.
Lio traute ihren Ohren nicht. Alles, was er sagte, war:
„Ein See. Wie schön. Genau, was wir gesucht haben.“
Ohne weiter zu zögern, begann er zu ihrem fassungslosen Staunen, sich auszuziehen. Lio hörte, wie Ava ein erschrockenes „Oh nein!“ hauchte, aber sie konnte sich nicht von dem unwirklichen Schauspiel abwenden. Er zog sich das blutige Hemd über den Kopf und warf es mit lässigem Schwung in hohem Bogen in den See. Im Flug flammten die hellroten Flecken im grellsten Kontrast zum blauen Maihimmel noch einmal im Sonnenlicht auf, bevor sie für immer verblassen würden. Es war Lio, als würde das Eintauchen des blutigen Tuches die vollkommene Reinheit des Sees schlagartig entweihen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie rote Fäden auf den schwarzen Grund des Sees sinken, wo sie, auf Rache sinnend, das schlummernde Böse wecken würden. Sie konnte fast sehen wie sich das klare Wasser des Sees rötlich verfärbte. Erschrocken schüttelte sie das Bild ab und dachte zum ersten Mal, dass sie besser Angst haben sollte, anstatt sich in Fantasien zu verlieren.
Unter dem Hemd trug er einen ärmellosen Wams aus dickem Leder, dass seitlich geschnürt wurde und sicher guten Schutz gegen weniger harte Hiebe bot. „Was für ein perfider Trick“, dachte Lio empört. „Sie nähern sich ohne Wappen ihren arglosen Gegnern und dann ...“
„Los, hilf mir!“, befahl er dem Rothaarigen neben ihm und inspizierte kleinere Wunden an seinen Armen. Sein kräftiger Nachbar, der unter seinen roten Strähnen, feindselig zu Lio hinübergestarrt hatte, half ihm, die Lederbänder zu lösen. Als er auch das ärmellose Hemd, dass er unter dem Leder trug, um sich nicht wundzuscheuern, ausgezogen hatte, konnte man quer über seiner Schulter eine langgestreckte Narbe sehen, die sich bis zur Brust hinunterzog. Das musste vor Jahren eine lebensbedrohliche Wunde gewesen sein, dachte Lio, die ihn weiterhin schamlos anstarrte, weil sie noch immer nicht recht glauben konnte, das sie wirklich Menschen aus Fleisch und Blut sein sollten.
Gerade, als Lio sich fragte, wohin das Ganze führen sollte – und dessen waren sich wohl auch seine unschlüssig herumstehenden Begleiter nicht gewiss – , sagte er:
“Schlagt keine Wurzeln! Wascht euch! Wir stinken wie die Tiere.“
Lio holte tief Luft. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er seine Leute einfach ins Wasser schicken wollte, obwohl Ava und sie schon im See waren. Das war ein derartig respektloser Affront, eine so unglaubliche ignorante Dreistigkeit, wie sie Lio überhaupt nicht für möglich gehalten hätte. Einen kurzen Moment überlegte sie sogar, ob der See nicht verzaubert wäre und das Wasser vielleicht unsichtbar machte. Aber dann bemerkte sie die schälen Blicke, die die beiden Männer, einer noch eher ein Junge als ein Mann, auf Ava warfen, während auch sie begannen sich auszuziehen und hatte schlagartig keine Zweifel mehr, dass sie Ava genauso klar sahen, wie sie selbst.
Ihr lockiger Anführer löste inzwischen seinen Gürtel, und Lio sah aus dem Augenwinkel, wie Ava einen Schritt zurückwich, während die beiden Männer, die sich, seinem Befehl gehorchend ebenfalls auszogen, in nervöses Kichern ausbrachen.
Nur der Rothaarige blieb mit verkniffenem Gesicht und verschränkten Armen bewegungslos stehen:
„Hier ist es nicht sicher“, murrte er. „Die Weiber werden wohl kaum alleine hier sein.“
„Schön“, sagte der Lockige trocken. „Dann bleib bei den Waffen. Und gib das Signal! Die Pferde müssen trinken.“
Der Rothaarige legte mürrisch die Finger an die Lippen und stieß einen kurzen Pfiff aus.
Lio und Ava standen nach wie vor wie angewurzelt.
„Wie kann er das nur tun?“ fragte sich Lio, immer wieder gegen den Drang ankämpfend, die Realität auszublenden und sich den Bildern in ihrem Kopf zu überlassen, wie sie es immer tat, wenn es ihr zu anstrengend wurde. Aber eine derartig haarsträubende Situation hatte sie auch noch nicht erlebt.
Als wären sie überhaupt nicht da, als wäre das Wasser nicht eisig, hatte er sich kopfüber in den See gestürzt. Beim Auftauchen, warf er die langen Haare zurück, dass die Tropfen fast bis zu Ava flogen. Lio sah, dass deren Hände vor ihren bläulichen Lippen haltlos zitterten. Auch Lio fühlte unangenehm den Seegrund zwischen ihre Zehen quellen und merkte, wie kalt ihr schon war.
Während sich die drei Männer unter dem mürrischen Blick ihres rothaarigen Begleiters Blut und Dreck aus den Gesichtern wuschen, wurde immer offenbarer, wie jung sie tatsächlich noch waren. Lio erinnerte sich daran, dass sie schon oft über diese perfide Taktik von Rudolph hatte reden hören. Statt die offene Konfrontation zu suchen, schickte er junge Männer auf ausgedehnte Raubzüge in Kurtrierer und Manderscheider Gebiet. Sie standen in dem Ruf, genauso schnell zu verschwinden, wie sie auftauchten und Lio wusste, dass auf diese Männer Rudolphs von Malberg eine noch höhere Belohnung ausgesetzt war, als auf gewöhnliche Räuber und Mörder.
Ihre Jugend, wusste Lio, machte sie nicht weniger gefährlich. Zu Rudolphs Taktik gehörte auch, auf ihre jugendliche Risikobereitschaft und Skrupellosigkeit zu zählen.
Während die Männer ihre blutigen Hemden zwischen ihren Fäusten rubbelten, und die Flecken von rot zu fleckigem rosé verblassten, machte Lio vorsichtig einen kleinen Schritt zurück. Niemand schien es zu bemerken. Ava schien ohnehin interessanter zu sein als sie. Wenn sie sich ganz unauffällig rückwärts bewegte, würde sie vielleicht das Rohrkolbengestrüpp erreichen und sich verstecken können. Vorsichtig machte sie ein zweites und drittes Schrittchen, als er plötzlich zu ihr hinübersah. Lio erstarrte unter seinem Blick und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Es war dumm gewesen. Er war viel zu aufmerksam, viel zu gut darin geübt, auch auf die kleinste Bewegung zu reagieren. Er beantwortete ihren lächerlichen Versuch mit einem warnend erhobenen Zeigefinger, während ein spöttisches Lächeln seine Lippen umspielte. Lio kam zum erste Mal der Gedanke, dass er sich prächtig amüsierte, während sie und Ava fast erfroren.
Zufrieden mit seinen Bemühungen, warf er sich sein Hemd über die Schulter und wandte sich den Mädchen so abrupt zu, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass sie überhaupt da waren. Als wäre es das Belangloseste der Welt und als hätte er ihnen irgendetwas zu befehlen, wie Lio grimmig dachte, sagte er zu ihnen: “Geht raus und zieht euch an!“
Dann drehte er sich Richtung Ufer um und winkte den Rothaarigen in das Wasser. „Los, wasch dich, ich bin fertig!“
Ava und Lio schauten sich entsetzt an. Erst jetzt merkte Lio, dass sie die Arme über der Brust gekreuzt hatte und sich ihre Finger schmerzhaft verkrampft in ihre Muskeln bohrten. Sie schüttelte nur leicht den Kopf und war sich sicher, dass auch Ava niemals freiwillig herausgehen würde. Wie auch? Die nassen Unterkleider würden an ihren Leibern kleben und sie wären so gut wie nackt.
Ein weiterer Mann brach mit mehreren Pferden durch das Gebüsch. Sie begannen so gierig zu trinken, dass er sie mit Klapsen zur Seite scheuchen musste, damit Platz für alle war. Lio zählte mit Grauen nicht weniger als elf Pferde. Es war klar, dass die Männer die überschüssigen Tiere ihren Opfern abgenommen hatten. Diese Männer, dachte Lio, die wie zu groß geratene Jungs kichernd im Wasser standen und verschämte Blicke hinüberwarfen und deren Anführer sich Wasser aus Locken wrang, um die ihn sicher manches Mädchen beneidete, hatten vermutlich eine ganze Reihe toter Männer auf dem Gewissen.
„Hab ich was verpasst?“, fragte der Neue mit einem Wink seines Kopfes in Richtung Ava und Lio.
„Nein, wir haben auf dich gewartet. Wasch dich!“, antwortete der Anführer und ließ die Mädchen darüber im Unklaren, was das bedeuten sollte. Auch zu dem Dicken, der immer noch mit verbissenem Gesichtsausdruck vor sich hinschwitzte, sagte er: „Sieh zu, dass du endlich ins Wasser kommst!“ Mit einem Kopfnicken in Richtung der Mädchen setzte er spöttisch hinzu: „Sie werden dir schon nichts tun.“ Die Männer lachten schadenfroh auf und der Dicke grunzte ärgerlich über den Spaß auf seine Kosten. Widerstrebend gehorchte er.
Der Anführer, der große Blonde und der Junge, waren schon wieder angezogen, als er sich erneut den Mädchen zuwandte.
„Also, die Damen. Unsere Zeit wird langsam knapp. Kommt raus und lasst uns sehen, was wir hier für Fische gefangen haben.“
Lio war mittlerweile vor Kälte so erstarrt, dass sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen konnte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Davon abgesehen, dass sie auch gar nicht daran dachte, ihm den Gefallen zu tun. Inzwischen waren sogar der Neue und der Dicke, die sich recht hastig gewaschen hatten, wieder aus dem Wasser und Lio hatte auch ihre Verwandlung von blutbesudelten Bestien in Menschen staunend verfolgt. Der junge Mann, der mit den Pferden hinzugestoßen war, hatte sich gerade wieder den Gürtel zugebunden, als der Anführer ihn aufforderte: „Hol sie raus!“ Er wollte den Knoten gleich wieder lösen, als der Anführer ihn stoppte: “Nicht so.“
Dann deutet er auf den Bogen, der am Boden lag.
Ava seufzte erschrocken auf und Lio dachte besorgt, dass sie noch blasser wurde. Unter den Blicken aller legte der drahtige junge Mann einen Pfeil an und spannte entschlossen die Sehne. Er zielte direkt auf Avas Hals. Augenblicklich schien es totenstill zu sein. „Nein“, hauchte Ava leise, als sie die Hände um ihren Hals legte.
Auch Lio schüttelte nur den Kopf.
„Doch“, sagte der Anführer und winkte sie mit einer knappen Geste heraus. Ängstlich fragend schaute Ava zu Lio, doch die schüttelte entschieden den Kopf.
Der Bogenschütze sah fragend zu seinem Anführer, der nur knapp nickte. Er zog die Sehne noch strammer und zielte unversehens auf Lios Stirn. Damit hatte Lio überhaupt nicht gerechnet.
„Nein!“ keuchte Ava entsetzt und hob abwehrend eine Hand. „Nein!“
„Dann kommt endlich“, sagte ihr Anführer mit leicht gelangweiltem Unterton.
Ava sah hilflos auf die bewegungslose Lio und machte einen ersten kleinen Schritt auf das Ufer zu. Lio biss sich vor Anspannung die Lippe blutig, so überwältigend brach das schlechtes Gewissen nun über sie herein. Das alles hier war ganz alleine ihre Schuld. Die Bilder in ihrem Kopf rissen sie kurz mit sich. Sie und Ava würden gleich mit aufgeschnittenen Kehlen an diesem Ufer liegen und bis man sie finden würde, würden schon die weißen Maden aus ihren Wunden kriechen. Lio konnte nichts dafür. Während sie ganz in dem Bild ihrer stinkenden, fliegenumschwirrten Leichen versank, ging Ava mit zittrigen Schritten auf das Ufer zu. Der Impuls, sie zurückzurufen, schnürte Lio den Hals zu. Aber die brachte keinen Ton heraus. Bald reichte Ava das Wasser nur noch bis zu den Schenkeln und Lio ertrug es nicht, in die Gesichter der Männer zu sehen. Sie öffnete die zusammengekniffenen Augen erst wieder, als Ava schon am Ufer stand uns sich das trockene Überkleid vor ihre Blöße hielt.
Lios Herz schlug bis zum zerbersten.
„Nett“, sagte der Lockige leichthin und lächelte die schamrote Ava an, als wüsste er nicht, dass sie gerade tausend Tode starb. Dann wurde sein Blick wieder kühl und er schaute zu Lioba herüber. „Komm schon!“ befahl er ruppig und klatschte ungeduldig in die Hände. Alle Blicke richteten sich auf sie. Ohne eine Mine zu verziehen, richtete der Bogenschütze erneut den Pfeil auf sie. „Unbarmherziger Hund“, dachte Lio. „Dieser Schuss würde dein sicheres Ende bedeuten.“ Aber vorher würde er sie genau zwischen den Augen treffen.
Lio konnte einfach nichts dafür. Die Situation war zu unerträglich, um nicht mit den Gedanken abzudriften. Noch nie in ihrem Leben war sie in einer auch nur annähernd so bedrohlichen Lage gewesen. Das hier war eindeutig zu heftig. Anstatt im Hier und Jetzt zu bleiben und auch nur ein Zeichen des Verstehens von sich zu geben, malte sie sich in den schillerndsten Farben aus, wie ihre Leiche still im schwarzen See treiben würde und wie man ihre Geschichte einmal erzählen würde. „Als man sie fand, waren die Spuren ihrer Mörder längst im Schlamm des Ufers getrocknet. Blutrote Rinnsale zerschnitten das Weiß ihrer Stirn. Der Pfeil, der ihr Leben beendet hatte ...“
„Ist sie so klein, oder ist sie schon so tief im Schlick eingesunken?“ Seine Stimme, triefend vor Spott, zwang sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Die Arme verschränkt, amüsierte er sich mit seinen Männern prächtig über seinen Scherz.
In Lios Kopf schrie es: „Du mieses Schwein. Ich werde Dir nicht den Gefallen tun, mich von Dir demütigen zu lassen! Was glaubst Du überhaupt, wer Du bist? Ich werde Dich vierteilen, köpfen und hängen lassen. Eintausend Martertode hintereinander! Die Trierer und Heinrich werden dich dafür braten!“
Doch sie biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte.
Ein winziger Ruck mit dem Kopf als Befehl genügte dem Rothaarigen, um Ava mit erstaunlicher Gewandtheit ihr Kleid zu entreißen und ihr den freiwerdenden Arm auf den Rücken zu drehen. Ihr schriller Schrei, den er sofort erstickte, ging Lio durch Mark und Bein. Ihre Lippe zitterte vor Aufregung und Kälte unkontrolliert, als ihr Blick zwischen dem Pfeil und der heulenden Ava hin und her schwirrte. Offensichtlich genügte schon die kleinste Geste und sie wäre in der nächsten Sekunde tot. Kurz schob sich das Bild ihres eigenen Gesichtes mit einem nicht unerheblich großen, blutigen Loch in ihrer Stirn vor ihre Augen. Doch in der nächsten Sekunde holte sie ein erneutes Aufheulen Avas zurück zum See. Avas ersticktes Gewimmer und ihre verrenkte Gestalt in der Gewalt des Rothaarigen, ließen Lios Trotz unsinnig und dumm erscheinen. Als würde er jeden Gedanken erahnen, nickte der Anführer Lio nur auffordernd zu.
Es schmerzte sie, dass er so mühelos bekam, was er wollte, aber sie setzte sich mit taube Füßen mühsam in Bewegung. Wenigstens lockerte der Rothaarige sofort seinen Griff und ließ Ava ihr Kleid wieder aufnehmen. Die Strecke schien keine Ende zu nehmen. Als Lio nur noch bis zum Nabel im Wasser stand, ging ihr Atem vor Aufregung so schnell, dass sie Mühe hatte, noch auf den Beinen zu bleiben.
Dankbar ließ sie sich Ava entgegenfallen, die sich losgerissen hatte, um Lio mit ihrem Kleid vor den Blicken der Männer zu schützen.
Atemlos schwankend standen sie am Ufer, als er sie interessiert, wie ein Kater seine Beute, umrundete. Er schaute zu ihrer kleinen Gestalt hinunter, während Lio verbissen versuchte, Haltung zu bewahren.
„Weiße Haut, bestickte Unterkleider, feine Stoffe. Rosige Füße, die Schuhe gewöhnt sind und Finger, die keine schmutzige Arbeit tun“, stellte er fest und drehte sich zufrieden zu seinen Männern um. „Ich würde sagen, das ist ein richtig guter Fang, der uns hier ins Netz gegangen ist.“
Er wandte sich wieder Lio zu und ließ zu ihrem Schrecken seinen Finger über ihre Wange fahren. „Lasst sie in Ruhe!“, fauchte Ava sofort und Lio staunte über ihren Mut.
Er lächelte Ava anerkennend an. „Gut“, sagte er und räusperte sich. „Nennt mir euren Namen und Stand.“ Lio, fest entschlossen nichts preiszugeben, schüttelte mit einem warnenden Blick zu Ava den Kopf.
Ava schwieg, bis er sie mit einem „Los!“ so erschreckte, dass sie mit gesenktem Kopf murmelte: „Das darf ich nicht sagen.“
Er schaute sich fragend um.
„Wer sollte es dir verbieten? Ich sehe hier niemanden, außer uns. Und wir wissen gerne, mit wem wir es zu tun haben.“
„Es geht nicht“, beharrte Ava.
Er grinste seine Männer an. „Es geht nicht, hört ihr. Das ist ein Glückstag, ihr werdet sehen.“
Plötzlich wurde er wieder ernst. „Namen und Stand“, wiederholte er, diesmal schon wesentlich ungeduldiger.
Ava schüttelte nur den Kopf. Daraufhin wandte er sich wieder Lio zu.
Im Zurückweichen hatte er sie schon gepackt. Ava wollte ihr zur Hilfe eilen, wurde aber ebenso schnell von dem großen Blonden mit dem kantigem Kinn, zurückgehalten.
Ehe Lio sich versah, hatte er ihr das schützende Kleid aus den Händen gerissen. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Verstört sah sie auf und zuckte erschrocken zurück, als sie sah, welch neuer, gefährlicher Ausdruck plötzlich in seinem Blick lag. Doch ehe Lio in ihrer Panik irgendetwas einfiel, was sie hätte sagen können, hatte er schon fest ihre Handgelenke im Griff und zwang ihre Arme auseinander. Lio schüttelte bittend den Kopf, aber sie fand kein Mitleid in seinen Augen. Mit der Kraft eines Schraubstockes zwang er sie, in dem nassen, an ihrem Leib klebendem Kleid, mit ausgebreitete Armen vor ihnen zu stehen und sich ansehen zu lassen. Tränen der Wut und Scham stiegen ihr in die Augen, während sich die Blicke in ihre Haut brannten und sie stumm mit ihm rang, wobei ihr Widerstand ihn keinerlei Anstrengung kostete.
Der grausame Augenblick, nur Sekunden und doch eine ganze Ewigkeit zu lang, endete erst, als Ava, sich nach Leibeskräften in den Armen des Blonden windend, hysterisch rief: „Um Gottes Willen, lasst sie sofort los! Rührt sie nicht an!“ Ava keuchte atemlos. „Ich bitte euch, tut ihr nichts. Sie ist doch noch ein Kind!“ Mit vorgeschobenen Lippen und einem Wiegen des Kopfes deutete er an, dass man das auch anders sehen konnte. Ava warf sich einen Schritt nach vorne. „Ich bitte Euch, lasst sie! – Wenn es denn sein muss, ... nehmt mich ...“
Als wäre ein Bann gebrochen, ließ er Lio augenblicklich mit einem Zwinkern und einem zuckersüßen Lächeln los. Er bückte sich und gab ihr das Kleid mit so galanter Geste vom Boden zurück, als wäre es die gute Tat eines Edelmannes, es ihr zu reichen.
Hastig zog Lio das Kleid über, um wenigstens angezogen zu sein. Mit gespieltem Erstaunen wendete er sich Ava zu.
„Was für ein schöner Nachmittag! ... und was für ein leichtfertiges Weib Ihr seid! Kaum fischt man Euch halbnackt aus einem See, seid Ihr schon bereit, Euch hinzugeben?“, fragte er das puterrot anlaufende Mädchen mit verschränkte Armen.
Dann kam er ihr noch einen Schritt näher, strich ihr bedächtig die nassen Haare aus dem Gesicht und nahm ihren Kopf in beide Hände. „Ihr sagt nicht, wer ihr seid, macht aber Fremden solche Angebote?“, fragte er tadelnd, während seine Lippen sie fast berührten. Der Rothaarige wandte sich mit einer wegwerfenden Geste angewidert ab, der Junge lief rot an, während die anderen, in Erwartung eines Kusses, wie gebannt auf die Szene starrten.
Doch statt sie zu küssen sagte er mit dem umwerfendsten Lächeln, dass sich Lio vorstellen konnte – und das so gar nicht zu seiner eben gezeigten Grausamkeit passen mochte:
“Das ist wirklich ein ... sehr reizendes Angebot. – Aber bevor noch etwas passiert, ziehst du dir, wie deine kleine Freundin, besser schnell etwas an. Wir reiten. Alle!“
Damit ließ er die verblüffte Ava stehen.
Noch einmal wandte er sich zu Lio, die sofort mit gesenktem Kopf erstarrte, um.
„Und jetzt, wo du angezogen bist, sagst Du mir nun, wer du bist?“
Lio schüttelte ängstlich den Kopf.
„Was ist denn an dir dran, dass sich deine Freundin sogar für dich aufopfern möchte? Ist sie deine große Schwester oder deine Dienerin?“
Lio hätte es nicht über sich gebracht, auch nur aufzuschauen. Dieser Teufel durfte auf keinen Fall erfahren, wer sie war.
Völlig überrascht taumelte sie rückwärts, als er sie ohne Vorwarnung an der Schulter schubste. „Bist Du vielleicht stumm, dass du kein Wort herauskriegst?“, fragte er.
Lio schoss ein Schwall glühender Zornesröte ins Gesicht. Reflexartig hob sie die Hand zum Schlag. Doch im gleichen Moment hatte er ihren Arm schon fest im Griff und lachte sie aus, während sie ihn bitterböse von unten anfunkelte. „Wenn Du mich noch einmal schubst, reiße ich Dir die Augen aus! Du hast keine Ahnung, wozu ich fähig bin. Ich werde Dich vierteilen lassen, blenden, pfählen! Das wird Dir alles noch furchtbar leid tun!“, dachte Lio und biss sich auf die Lippe, um es nicht hinauszuschreien.
Unvermittelt ließ er sie los und klatschte so laut in die Hände, dass ein paar erschrockene Vögel aufflogen. „Los, los, los! Packt die Mädchen auf Eure Gäule und lasst uns aufbrechen! Wir reiten heute Nacht durch und zwar zügig.“
Ava und Lio tauschten einen entsetzten Blick.
Ava, endlich angezogen, fand als Erste die Sprache wieder. „Aber das geht nicht“, sagte sie entgeistert.
„Doch, das geht“, erwiderte er ungerührt.
„Wenn wir nicht nach Hause kommen, wird es furchtbaren ...“, stammelte Ava. Lio funkelte sie warnend an.
„Ja ... ich höre!“, forderte er. „Was wird es geben?“
Ava senkte den Blick und suchte hektisch nach Worten.
„Aber man wird uns suchen. Ihr werdet in furchtbare Schwierigkeiten geraten.“
„Ich kann gut mit Leuten umgehen, die mir Schwierigkeiten machen“, erwiderte er unbeeindruckt. „Ab jetzt, meine Schöne“, setzte er kühl hinzu, „wird nur noch geredet, wenn es etwas zu sagen gibt.“
Der Junge warf die Sammelkörbe in den See, als Lio von dem Blonden ausgerechnet auf das Pferd des Bogenschützen gehoben wurde.
„Jerôme!“, hörte sie den Dicken, der vor Zorn und Widerwillen geradezu sprühte, ungehalten zischen. „Ich will mit Dir reden!“
Sein Name war Jerôme.
Anfang Kap. 13
back again
Als Sandra sie aus der Trance geholt hatte, wusste Charlotte sofort, wo sie war, aber auch was gerade gewesen war und welche Geschichte sie mit Lio erlebt hatte.
Immer wieder fuhr sie sich mit den Händen durchs Gesicht. Doch so sehr sie auch rubbelte: das glückliche Grinsen konnte sie sich nicht aus dem Gesicht wischen.
„Ich kann es nicht glauben!“, sagte sie immer wieder. „Ich kann es nicht glauben! Es war einfach zu perfekt!“, rief sie. „Ich habe mich so lebendig gefühlt! Ich war so jung, ... so drall ... und so gesund! Ich habe mich so stark gefühlt ... und ich hatte solche Angst. Oh mein Gott, hatte ich eine Angst! Und jede ... jede! Kleinigkeit war da. Jedes Steinchen, das ich übermütig weggetreten habe, der juckende Schweiß auf meiner Stirn, der Geruch des Wassers, alles war da!!! ... und mein Gott, es war so heiß!“ Unwillkürlich schaute sie sich unter die Achsel, in der festen Überzeugung, dort einen riesigen Schweißfleck zu finden. „Ich fasse es nicht. Alles war so unglaublich echt! Als könnte ich jetzt noch seinen Griff spüren!“ Sie streckte die Arme und starrte ihre Handgelenke an, als sähe sie sie zum ersten Mal. In Erinnerung der Demütigung brachte sie nur noch: „Oh Gott, war das schlimm! ... oooh, das war so schlimm! ...“, heraus. Kopfschüttelnd schaute sie zu Sandra.
„Kann das alles Einbildung gewesen sein?“, fragte Charlotte.
1000 Fragen schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf.
Sandra lächelte zufrieden. „So eine spannende Rückführung habe ich allerdings auch selten erlebt. Unglaublich, mit welcher Vehemenz du immer wieder sagtest, dass du in der Geschichte bleiben willst. Dabei war die Anspannung schon beim bloßen Zuhören fast unerträglich.“
Das konnte Ulla nur bestätigen. Sie fühlte sich selbst vom Zuhören erschöpft.
„Ich muss unter allen Umständen wissen, wie es weitergeht!“, sagte Charlotte.
Sandra zuckte mit den Schultern. „Eigentlich spricht ja nichts dagegen. Aber vielleicht solltest du deine Eindrücke erst mal sacken lassen? Schließlich wissen wir alle nicht, wie die Geschichte weitergeht.“
„Irgendwo ist das alles aufbewahrt! Irgendwo steht sie geschrieben, diese Geschichte! ....wahrscheinlich in meine Hirnrinde gekratzt, oder was? Egal ... Unmöglich, sie nicht weiter zu lesen! Und selbst wenn alles nur ein Hirngespinst wäre. Ich will, ich muss sie unter allen Umständen weiterlesen“, forderte Charlotte mit Nachdruck.
„Tu mir den Gefallen und beschäftige dich erst mal mit dem, was wir hier haben“, sagte Sandra und holte die fertige CD, auf der das Gespräch aufgezeichnet war, aus dem Brenner. „Wenn du bisher nicht an Reinkarnation geglaubt hast und der ganze Gedanke an frühere und damit auch nächste Leben für dich neu ist, solltest du erst mal auf diese neuen Aspekte draufschauen.“
„Nächstes Leben?“, fragte Charlotte und lehnte sich einen Moment entspannt zurück, nur um in der nächsten Sekunde wieder hochzuschnellen. „Oh mein Gott. Du hast Recht. Ich werde wieder ein Baby sein! Ich werde nichts, aber auch gar nichts, unter Kontrolle haben. Ich werde meinen Eltern mit Haut und Haaren ausgeliefert sein und ...“. Ihr fehlten die Worte, all die sich überschlagenden Fragen zu formulieren:
Was, wenn ihre Mutter während der Schwangerschaft trinken würde? Dann wäre ihr Gehirn schon Brei, bevor sie überhaupt geboren würde!
Was, wenn ihre Mutter in der Schwangerschaft traurig wäre, weil der werdenden Vater sie verlassen hätte? Dann hätte sie für den Rest ihres neuen Lebens Schuldgefühle und Depressionen!
Was, wenn ihre Eltern schlichtweg Asis wären und sie sich plötzlich in Köln-Chorweiler, statt in der Südstadt wiederfände?
Was, wenn sie gar nicht wieder hier in Köln ankäme, sondern ganz woanders? Nicht auszudenken ... oder vielleicht ganz interessant?
Was, wenn sie im nächsten Leben wieder krank sein würde? War es dann überhaupt so wichtig, dass sie in diesem Leben krank war?
Und was war überhaupt in der Zeit zwischen den Leben??? Glückliche Luft? Was hatte das Kind noch gesagt? „Wenn man tot ist, schwebt man auf den Wolken. Und wenn man das nicht mehr möchte, sagt man Bescheid und dann fällt man unsichtbar in den Bauch seiner neuen Mutter.“
Unglaublich. Das alles hatte sie vielleicht vor sich. Aber Moment: dann sagt man Bescheid? Wem denn? Und wo? Sie hatte ja gar keine Ahnung!
Sandra hatte Recht. Das musste erst mal sacken.
„Ich rufe dich an – und es wird nicht lange dauern bis dahin!“, versprach Charlotte Sandra zum Abschied.
„Jederzeit,“ sagte Sandra freundlich.
Kapitel 44 (extra für Rheinländer)
Dom in Flammen
„Yipiieeh!“
„Glückwunsch, die Wette geht an dich!“
„Juhu! Nicht zu fassen!“
Die Freudenschreie der drei Frauen hallten quer durch die Praxis und bis in die angrenzenden Wohnungen. Der Jubel über einen millionenschweren Lottogewinn hätte nicht hemmungsloser ausfallen können. Ulla und Sandra fielen sich glücklich in die Arme, während Charlotte: „Kerzen, Kerzen, jede Menge Kerzen für Jerôme!!“, skandierte.
„Ich komme mit“, rief sie dann enthusiastisch. „Genau! Dass ich daran noch nicht gedacht habe. Ich sterbe! Ich bin Kölnerin! Ich muss mit in den Dom! Nichts kann mich dem lieben Gott auf die Schnelle näher bringen! Juhu, wir gehen Kerzen anzünden! Kerzen? Was sag ich? Das wird das reinste „Dom in Flammen!“, rief Charlotte in Anlehnung an das jährliche große Feuerwerksspektakel „Rhein in Flammen“.
Die Frauen lachten aus vollem Halse.
„O.k.!“, sagte Ulla. „Kannst du noch? An mir soll es nicht liegen. Von mir aus fahren wir jetzt und auf der Stelle.“
„Hau rein!“, nickte Charlotte. „Ruf das Taxi! Du kommst doch mit, Sandra, oder?“
Sandra strahlte über das ganze Gesicht. „Es gibt nichts, was ich in diesem Moment lieber täte!“
Charlotte und Ulla waren in der Taxi-Zentrale längst als die „bekloppten Weiber, die komisches Zeug reden“ bekannt. Aber die heutige Fahrt toppte alles, was die Taxi-Fahrer mit ihren neuen Stammgästen bisher erlebt hatten.
Jeder Kölner, egal welcher Konfession, kannte die eigenartige, ehrfurchtgebietende Erhabenheit des Domes. Ganz gleich, ob draußen Herbststürme tobten oder laue Frühlingslüfte über den Rhein wehten, im Dom war es immer gleich. Immer war es, wie ein nach Hause kommen, wenn man durch die verschwindend kleinen Türen in das überwältigende Innere der Kathedrale trat. Der seit der Kindheit vertraute Geruch nach etwas sehr Altem, nach etwas Heiligem, nach Kerzen und Weihrauch, schien sich nie zu ändern. Die Domschweizer in ihren roten Kutten, die Weite des schwarzen Raumes, bei Sonnenlicht durchbrochen von unzähligen Lichtspielen der jahrhunderte alten Fenster, bei bewölktem Himmel umso dunkler – das alles verströmte einen Hauch von der Gewissheit, dass es etwas Großartiges, übergeordnet Schönes geben musste, dass es selbst dem gemütlichen „Et hätt noch immer joot jejangen“- Kölner ermöglicht hatte, etwas derartig Großes zustande zu bringen. Der Dom war unfehlbarer, steingewordener und monumentaler Beweis dafür, dass Menschen zu Höherem fähig waren. Wer ein Herz hatte, musste dem ganz besonderen Zauber der Kathedrale verfallen.
Charlotte war glücklich, ein letztes Mal hier zu sein. Nicht, weil sie plötzlich katholische Gefühle hegte oder sich zum Christentum hingezogen fühlte. Nein, es war der Platz selbst, der etwas unendlich Besonderes war. Zum letzten Mal hier zu sein, bedeutete auch, Abschied von Köln zu nehmen.
Ulla und Sandra hatten sich bei ihr untergehakt und schoben sie sanft durch den Mittelgang.
„Wo sollen wir ihm die Kerzen anmachen, was meint ihr?“, fragte Ulla.
Ratlos sahen sich die drei um.
Keine der drei Frauen kannte sich wirklich damit aus.
„Jedenfalls nicht bei Maria. Von Frauen hat er ja gerade die Faxen dicke“, beschied Charlotte.
„Wie wäre es mit diesem Drachentöter-Typ? Der passt doch“, schlug Ulla vor.
„Gibt es den denn hier?“, fragte Sandra. „Der ist mir hier noch nie aufgefallen.“
„Gibt es den nicht in jeder Kirche?“, fragte Ulla erstaunt. „Leider weiß ich auch gar nicht, wie der heißt.“
„Nee, wir müssen schon wissen, wofür der Heilige steht. Schließlich tragen wir hier auch Verantwortung für Jerômes Seelenheil. Am Besten, wir fragen einen der Domwichtel hier. Wenn die nicht wissen, wer der Richtige für Jerôme ist, fahren wir zum Papst nach Rom.“
Die Drei kicherten. „Domwichtel?“, fragte Sandra lachend.
„Na, die Aufpasser hier. Wie heißen die denn sonst?“, frug Charlotte.
„Domschweizer“, erklärte Sandra geduldig. „Wie im Vatikan, nur eben für den Dom. - Wichtel! Also ehrlich!“
„Sind das eigentlich immer die selben?“, flüsterte Charlotte. „Ich glaube, die sind heimlich unsterblich oder geklont. Die sehen alle immer gleich aus.“
„Das soll so sein“, flüsterte Sandra zurück.
Der Domschweizer in seiner roten Kutte schaute zunächst tadelnd auf die drei Frauen, die sich schwankend und kichernd auf ihn zu bewegten. Es kam nicht selten vor, dass sich unter den Touristenmassen auch Personen mit wenig respektierlichem Verhalten in den Dom verirrten. Vermutlich hielt er sie für ziemlich angetrunken, da sie die Mittlere von ihnen sogar offensichtlich stützen mussten. Erst als sie näher gekommen waren, erkannte er, dass sie sehr krank aussah und nahm die übliche, professionelle Haltung mit geradem Rücken und aufmerksam-ernstem Gesicht ein.
„Guten Tag“, grüßte Charlotte freundlich. „Wir brauchen einen Heiligen. Für einen jungen Mann. Einen ziemlichen Haudegen.“
„Sie wollen für ihn bitten?“, fragte der Domschweizer mit gefalteten Händen und freundlichem Lächeln.
„Bitten? ... Äh, ja natürlich ... bitten und vor allem Kerzen anzünden. Das hilft doch auch, oder?“ Irgendwie wollte Charlotte den Domschweizer wenigstens ein bisschen teilhaben lassen und plapperte munter los: „Wissen Sie, er ist eigentlich gar nicht so verkehrt, aber im Moment...ist sein Leben etwas außer Kontrolle geraten. Zwischendurch hat er ziemliche Scheiße, oh Entschuldigung, ziemlichen Mist gebaut und jetzt muss er mit den Konsequenzen klarkommen.“
„Wenden sie sich an unsere Maria“, empfahl er respektvoll und deutete in Richtung des Maria-Gnaden-Bildes, auch Schmuck-Madonna genannt, weil sie über und über mit Ketten, Uhren und Broschen dankbarer Gläubiger behangen war.
„Ich weiß nicht“, sagte Charlotte zweifelnd. „Haben sie nicht diesen Drachentöter-Heiligen hier oder sonst jemand Männlichen, der für junge Männer und Ritter zuständig ist?“
„Sie meinen den heiligen Georg“, stellt der Domschweizer fest. „Nein, den haben wir hier nicht. Außer in diesem Muttergottes-Krönungsfenster.“ Er deutete auf eines der hohen Domfenster, das im unteren Teil nur diverse prächtige Wappen zeigte. Erst, wenn man den Kopf in den Nacken legte, entdeckte man den heiligen Georg, einen Fuß auf dem getöteten Drachen, einem grünen Ding zwischen Schlange und Hund.
„Hm“, sagte Charlotte unzufrieden, „sieht aus wie einer der für das Artensterben mit verantwortlich ist.“
Die Züge des Domschweizers verdüsterten sich erneut.
„Schließlich war er ja Ritter“, erklärte Charlotte. „Jedenfalls fast. Aber das würde jetzt auch zu weit führen.“
„War ... Ritter?“, fragte der Domschweizer den so schnell nichts aus der Ruhe brachte, der aber nun doch überlegte, ob hier Drogen im Spiel waren und ihn die Drei auf den Arm nahmen.
„Tja“, sagte Charlotte, „ich musste mich auch erst an den Gedanken gewöhnen. Es ist eben doch schon eine Weile her. – Es ist uns jedenfalls ein besonderes Anliegen, sicher zu sein, dass sich da oben einer Seiner annimmt und er gut aufgehoben ist.“ Charlotte zeigte nach oben.
Der Domschweizer, ein etwas wohlgenährter, älterer Herr mit Halbglatze, folgte ihrem Fingerzeig irritiert. „Ich verstehe nicht recht. Sagten sie nicht eben, er ist gerade in einer etwas schwierigen Phase? Nun hört es sich an, als sei er bereits verstorben“, fragte er.
„Ja, leider. – Es ist wirklich tragisch, dass es so kommen musste, aber, naja, das hat der liebe Gott ja persönlich so eingerichtet und für gut befunden, nicht wahr?“, räumte Charlotte ein. Sie zögerte: „ ... tja, also genau wissen wir nicht, wann er gestorben ist. Aber da er 1236 ein junger Mann war, dürfte es gut und gerne 700 Jahre her sein.“
Die drei Frauen bemühten sich um das unschuldigste Lächeln seit ihren Kindertagen, während der Domschweizer seinen Ärger hinunterschluckte und sich die um Professionalität bemühte, die er sich im Lauf der Jahre im Umgang mit Millionen Touristen aus aller Welt angeeignet hatte. Aber fast schlimmer als die vielen Touristen waren Leute, wie diese hier. Kölner, was immer man mit denen angestellt hatte, waren, ähnlich wie Holländer und Besucher aus Kalifornien, irgendwie besonders meschugge. Domschweizer hatten schon von Berufs wegen nicht den geringsten Zweifel an der Daseins-Berechtigung von Berufsgruppen wie Therapeuten und Psychologen.
„Unsere Mutter Gottes wird sich in ihrer Güte sicher gerne ihres ... Ritters annehmen“, sagte er.
„Ist sie nicht nur für Frauenleiden und so zuständig?“, flutschte es Charlotte noch heraus, bevor der säuerliche Gesichtsausdruck des Domschweizers sie verschämt verstummen ließ.
„Unsinn“, erklärte Ulla und versuchte ihn dabei möglichst versöhnlich anzulächeln. „Maria kann wirklich alles. Sie ist so eine Art Universal-Heilige. – Sag mal, bist Du evangelisch oder wieso weißt Du das nicht?“, fragte sie vorwurfsvoll.
„Ich war“, sagte Charlotte. „Und selbst das nur äußerst halbherzig.“
Möglichst artig bedankten sie sich bei dem älteren Herren im roten Kostüm, wie Charlotte ihn später immer wieder nannte, wenn sie sich über ihn amüsierte.
Dann pilgerten sie zur Schmuckmadonna und investierten in einem kollektiven religiösen Rausch ihr komplettes Kleingeld und zwei kleine Scheine in sage und schreibe 62 Kerzen. Als sie sich vor der Madonna ausruhten und glücklich ihr Werk betrachteten, hatte keiner von ihnen Zweifel, dass sie Jerôme, wo immer er gerade war und wer er auch gerade war, gerade etwas richtig Gutes getan hatten.
Wie beim Verlassen der kölschen Kathedrale üblich, fühlten sie sich nach dem Besuch des Domes, praktischerweise wie von selbst geläutert und spirituell erneuert und Ulla schlug vor, noch Käsekuchen essen zu gehen. Aber für Charlotte war für heute Schluss. Jetzt, in der warmen Luft, die die dunkle, sonnengewärmte Fassade des Domes und die Pflasterfläche davor abstrahlten, spürte sie, wie die Euphorie der letzten Stunden von ihr abfiel und der Erschöpfung wich.
„Nein“, sagte sie. „Das war so ziemlich der beste Tag meines Lebens. Käsekuchen wäre jetzt einfach zuviel des Guten. Bringt mich heim, ich will ins Bett und von Lio und Jerôme träumen.“
„Ehrlich?“, fragte Sandra. „Hast du schon mal von denen geträumt?“
„Nein, noch nie. Das war nur so dahingesagt“. Charlotte unterdrückte ein Gähnen.
Sie brachten zuerst Sandra nach Hause, dann fuhren sie zu Charlottes Wohnung.
„Kommst du mit meiner Idee langsam besser klar?“, fragte Charlotte Ulla, als sie alleine auf der Rückbank des Taxis saßen.
„Ich gewöhne mich langsam an den Gedanken“, sagte Ulla nachdenklich. „Aber wie wird das mit Oliver funktionieren? Ihm wird es vermutlich noch viel schwerer fallen, sich darauf einzulassen.“
„Ja, das wird eine harte Nuss. Die letzte Schlacht“, sagte Charlotte missmutig. „Aber ich muss es bald in Angriff nehmen. Ich merke, dass mir die Zeit davon läuft.“
Ulla sah sie sorgenvoll an.
„Es ist eine Art von Schwäche, die sich mehr und mehr ausbreitet. Jede einzelne Aktion wird immer unüberwindlicher und schwieriger. Jeder Atemzug zu einem Kraftakt. Gleichzeitig wird vieles immer weniger erstrebenswert. Das Essen schmeckt fad und vieles erscheint unwichtig und grau. Ich glaube, es ist am Ende die Schwäche. Sie zehrt einen so aus, dass man sich zuletzt vermutlich nicht mehr wehren kann und auch nicht mehr wehren will. Dann kann er kommen, der Sensemann, und braucht nicht mehr mit Widerstand zu rechnen.“
Ulla schüttelte sich und nahm Charlottes Hand.
„Ja, es ist gruselig, ich weiß.“ Charlotte imitierte den Tonfall der Kräuter-Anni: „Es ist eine Schande, ein so hübsches Mädchen so zu Grunde zu richten!“
[ ... ]
Texte: Copyright: Jessica Reisner
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
„RE“ ist für
Jürgen Schmidt und Karli Umrath, deren Tod mich fast umgebracht hat.
Außerdem für :
Regina Wendt,
Wolfgang Mengen,
Michael Sgonina,
den Heinemann,
die kleine Lena,
und Bines Schwester Gigi.
Und für diese besonderen Menschen, die ich zwar weniger gut kannte,
deren Tod mich aber dennoch sehr bedrückt hat:
Pascals Freund Peter Knappe,
Nils Freund Thomas Rathgeber,
Bärbels Freundin Manuela,
Raoul Entemann,
Uwe Orth