Nuuk
Vor langer, langer Zeit lebte am Fuße des Berges Takunit ein kleiner Junge namens Nuuk. Trotz seiner kleineren Statur war er stark und grazil. Seine Haut hatte die Farbe einer Aprikose und seine Augen strahlten in blaugrün. Nuuk war sehr fleißig, sehr ehrlich und deshalb auch sehr beliebt. Es gab keinen Menschen, keine Blume, keinen Baum, der seine sanfte, respektvolle Art nicht schätzte. Trotz dieser Anerkennung war Nuuk ein trauriger Junge. Niemals hatte ihn jemand aus seinem Dorf lächeln sehen. Viele fragten sich, ob er überhaupt Zähne besaß, so verschlossen war seine Miene. Doch die Wahrheit war eine ganz andere: Nuuk war ein Waisenkind, das vor langer Zeit seine Eltern verloren hatte. Er wuchs geborgen im Häuschen der drei Alten auf, von denen er Achtung, Fleiß und Aufrichtigkeit lernte. Trotz der guten Absichten dieser Herren vermisste Nuuk das Leben mit seinen Eltern, das gemeinsame Spielen am Fluss und vor allem das Angeln. Ja, damals hatten sie Stunden verbracht, oft Tage und Nächte gemeinsam in ihrer fließenden Holzschale, und hatten Ausschau nach Fischen gehalten. Mutter war die einzige Frau, die er kannte, die beim Angeln immer dabei gewesen war. Der Aberglaube verbot das, aber sie hatte sich nie davon abhalten lassen. Und das war gut so. Denn so blieb dieses sehnsüchtige Bild im Kopf, dieses Bild der unglaublich glücklichen Dreisamkeit beim Angeln.
Nuuk hatte nur noch einen Traum: Er wollte zurück zu seinen Eltern. Er konnte nicht mehr essen, nicht mehr trinken, er war verzweifelt. Er flehte die drei Alten an, ihm zu helfen. Die drei Alten sprachen eines Tages zu ihm:“ Nuuk, wenn es das ist was du wirklich möchtest, dann geh Richtung Nordstern und steig auf den höchsten Berg, den Toik-Gipfel. Dort wirst du einen alten Mann antreffen, Baani. Er kann dir helfen.“ Nuuk verlor keine Minute, er rannte davon, bis er an seinem Zielort ankam und einen alten Mann erblickte. Dessen Bart war so lang, dass er bis zum Tal hinunter hing.
„Sei gegrüßt, Nuuk, ich habe lange auf dich gewartet. Du möchtest zu deinen Eltern zurück? Deine Eltern sind lange tot“ sagte Baani. „Ich weiß“ antwortete Nuuk, „mir ist nicht wichtig, in welcher Form ich sie wieder sehe und was ich dafür tun muss. Ich möchte einfach bei ihnen sein“.
„Also gut. Hier hast du eine Karte. Darauf sind fünf Aufgaben aufgezeichnet. Jedes Mal, wenn du ein Problem richtig löst, wirst du einen Stein finden. Stapele die Steine aufeinander und sie werden den Weg zu deinen Eltern erschaffen“.
„Aber eine Sache muss dir klar sein: Wenn du diese Karte in die Hand nimmst und dich dazu entscheidest, deinen Schicksal auf diesen Weg zu lenken, musst du dein Vorhaben bis zum Ende durchführen, sonst wirst du dem ewigen Unglück verfallen.“ Nuuk konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas oder irgendjemand ihn von seinem innigsten Wunsch abhalten könnte. Nuuk sagte: „Ich verspreche dir, ich werde meiner Bestimmung nachgehen und sie vollenden. Und wenn ich dabei umkommen sollte. Ich werde es tun.“
Baani guckte Nuuk mit einem ernsten, man kann sogar sagen, klagenden Blick an und sagte mit zittriger Stimme: „Nuuk, ich bin alt und schwach. Eigentlich möchte mein Leben langsam aus meinem Körper gleiten. Aber meine Zeit ist noch nicht gekommen, deshalb habe ich eine große Bitte an dich: Bring mir ein paar Blätter des Manli-Strauches, der am Eingang der Kah-Höhle wächst. Geh drei Tage und drei Nächte in Richtung Sonnenuntergang und du wirst ihn finden. Bring sie mir, ohne eine Pause einzulegen, denn ihre Wirkung lässt nach kurzer Zeit nach. Und wage es nicht, sie zu kosten. Damit werde ich mir den Lebenssaft brauen, der mir die nötigen Kräfte verleihen wird, um meine restliche Zeit zu bewältigen. Geh jetzt, mein Junge.“
Nuuk senkte den Blick als Zeichen des Respekts, wie er es immer tat, wenn er älteren Menschen zuhörte, und rannte anschließend davon. Am Tag des vierten Sonnenaufgangs tauchte urplötzlich inmitten des Morgennebels eine kleine Höhle auf. Daneben stand ein Gebüsch mit rosabraunen Blättern. Sie rochen wunderbar. Nuuk konnte diesem verführerischen Duft kaum widerstehen. Ein kleiner Rotfußfalke schaute ihn an und sagte: „Iss nur, mein Junge. Diesen Geschmack wirst du nie vergessen.“ Benebelt durch den Schlafmangel, die Aromen und die Schönheit der Morgendämmerung steckte sich Nuuk die Blätter in den Mund, als plötzlich eine Stimme aus seinem Hinterkopf rief: „Nuuk, alte Menschen musst du ehren und ihnen gehorchen, denn nur sie bringen die Erfahrung. Ihr Wort ist das Fundament deines Weges.“ Es war die Stimme seines Vaters.
Nuuk spuckte die noch ganzen Blätter aus und lief, so schnell wie er konnte. Nicht ein einziges Mal hielt er an. Bis er Baani antraf. Die Augen des Greises strahlten unendliche Dankbarkeit aus. Er mischte sich seinen Zaubertrank und nahm ihn ein. Der alte Mann veränderte sich mit jedem Schluck, seine Muskeln strafften sich, sein Gesicht wurde weicher und die neu gewonnene Energie strahlte förmlich aus ihm heraus. „Nuuk, du hast soeben deine erste Aufgabe erfüllt: Ehrlichkeit macht unendlich stark. Als Belohnung dafür bekommst du von mir den ersten Stein. Ich werde jetzt meine Kraft nutzen, um meine bleibenden Jahre zu meistern. Hier hast du deine Karte, dein Schicksal. Und vergiss nie dein Versprechen. Leb wohl!“ Nuuk bemerkte einen Rest Elixier in Baanis Kessel und trank ihn aus. Mit einem Mal wusste er, dass er soeben zum kräftigsten Jungen der Welt geworden war. Er nahm den riesigen Stein und stellte ihn an einem sicheren Ort ab.
Nuuk setzte sich an einen schattigen Platz und studierte die Karte ganz genau. Er sah, wie auf der Karte die Kah-Höhle eingezeichnet war und er sah Baanis Satz geschrieben: Ehrlichkeit macht unendlich stark. Die zweite Aufgabe lautete: Raum zum Leben. Stell dich genau vor die Kah-Höhle und schau Richtung Horizont. Da steht eine Gebirgskette, bestehend aus dem Grünen Berg, den erkennst du sofort. Er ist bedeckt mit einem Flausch aus saftigem grünem Gras. Dieser Berg ist fruchtbar und schön. Dem Roten Berg: Hier sind die Rosen zu Hause und alle Tierchen, die unmittelbar ihre Nähe zum Leben brauchen. Und dann gibt es den Grauen Berg: Dieser Gipfel war einst das Baumhochland. Leider verbreiteten sich die Bäume dort wie die Pest, bis sie sich gegenseitig die Luft raubten und erstickten. Jetzt stehen dort nur tote Stämme herum. Befreie diesen Berg! Reiße 100.000 Baumstämme heraus und schleppe die Hölzer fort, damit dort wieder Leben entspringen kann.
Nuuk kannte den Weg. Vier Tage später erblickte er den aschgrauen Gipfel. Er zerrte mühelos an den Stämmen, an einem nach dem anderen, bis er bald einen kahlen Berg vor sich stehen hatte. Neben ihm lag so viel Holz, dass man eine Holzstraße durchs ganze Land hätte bauen können. Aber er hatte eine bessere Idee. Mit dem Holz baute er sich das schönste Holzhaus, das man sich vorstellen kann, man kann sagen, es war eher ein Holzpalast. Sieben Monate waren inzwischen vergangen, als er mit seinem neuen Zuhause fertig war. Nun erinnerte er sich an sein Ziel und sah, dass genau dort, wo einst der Holzberg gewesen war, jetzt ein riesengroßer Stein lag. Er sammelte ihn auf und stapelte ihn auf den ersten Stein.
Die Karte sollte ihn zu einem See führen, einem eiskaltem Gewässer zwischen zwei Gletschern, auf 3.000 Metern Höhe. Er las: Saft zum Leben. In diesem Gewässer lebten einst die vielfältigsten, sonderbarsten und schönsten Fische der Welt. Das Wasser galt als das reinste Wasser auf Erden. Nun sterben die Fische aus, weil der See salzig geworden ist. Finde den Grund und beseitige ihn, damit die schwimmende Farbenpracht wieder entstehen kann.
Nuuk fing in der Früh die Besteigung des Berges an und war beim ersten Sonnenstrahl des Folgetages an den See gelangt. Dort war es schön und bitterkalt. Die weiße Kulisse der Gletscher stieg empor. Nuuk war durstig, ging einige Schritte weiter und lutschte gierig an einem Eiszapfen. Das Seewasser konnte er ja nicht trinken. Um auf die Ursache des hohen Salzgehaltes zu kommen, musste er zunächst die Quelle entdecken. Und da war schon das erste Problem: Die Quelle war jeden Tag woanders. Und jedes Mal, wenn er sich der Quelle vorsichtig annäherte, verschwand sie. Die Lösung des Rätsels kam ganz unerwartet. Nuuk saß an einem Abend am Seeufer und aß Beeren, die er über den Tag gesammelt hatte. Er lehnte sich an einen dickstämmigen Baum, als er plötzlich ein leises, bekanntes Geräusch hörte. Es war das Atmen eines Menschen. Nuuk umkreiste unauffällig den Stamm und schaute, was sich hinter dem Riesenbaum verbarg. Dort entdeckte er das schönste, zarteste Geschöpf, das er jemals gesehen hatte. Eine junge Frau mit großen perlgrauen Augen, langen schwarzen Haaren und mit einer Haut, weiß und glatt wie Marmor, schaute ihn ängstlich an. Nuuk verliebte sich auf der Stelle. Und dieses Gefühl sollte ihn nie wieder verlassen. „Wer bist du?“. „Ich bin Naja. Ich kam vor langer Zeit hierher. Aber ich weiß nicht mehr wie und wieso. Ich weiß nur, dass mich die Einsamkeit dieser Gletscherlandschaft zerstört. Leider habe ich keine Ahnung, wo ich hingehen soll. Hier kann ich mich ja wenigstens ernähren. Ich bin so traurig, dass ich täglich 100 Eiszapfen lutschen muss, damit mir meine Tränen nicht ausgehen.“
Eine irrsinnige Idee ging durch Nuuks Kopf. „Wo standst du gestern, als du geweint hast?“ „Dort auf dem schwarzen Felsen, schräg über dem See.“ „Und vorgestern?“ wollte Nuuk wissen. „Auf der anderen Seite, zwischen den Zwillingsgletschern.“
„Naja, du bist die Quelle dieses Sees. Deine Tränen versalzen das Wasser und die Fische können nicht mehr dort leben.“ „Ohhh!“ sagte Naja bestürzt.
„Naja, möchtest du mit mir weg von hier?“ Er zögerte ein bisschen und schließlich: „Möchtest du meine Frau werden?“ fragte Nuuk mit dem ehrlichsten und aufrichtigsten Gesichtsausdruck, den man sich vorstellen kann. Naja konnte ihr Glück nicht fassen, sie nickte und versenkte ihren Kopf in Nuuks Hände. Sie weinte zum letzten Mal, aber dieses Mal vor Freude. „Warte“ sagte Nuuk, „ bevor wir gehen, muss ich die Ursprungsquelle wieder in Gang setzen“.
„Die ist da oben“ antwortete Naja, „zwischen den nackten Felsen, aber da läuft nichts, weil ein riesiger Steinbrocken dort eingeklemmt ist“. Nuuk riss mit seiner übermenschlichen Kraft den Stein beiseite. Das frische Wasser nahm seinen Lauf. Naja und Nuuk begannen Hand in Hand den Abstieg.
„Warum nimmst du den Stein mit?“ wollte Naja wissen. „Das ist eine Erinnerung an unsere Begegnung“ lächelte Nuuk. Als sie zu Hause waren, nahm Nuuk heimlich den Stein und legte ihn vorsichtig auf die zwei anderen.
Der Stein sollte nicht die einzige Erinnerung an diese Episode sein. Neun Monate später kam der kleine Usaja zur Welt. 15 sehr glückliche Jahre vergingen, als Nuuk eines Tages und fast aus Versehen die gelbliche Karte mit den Lebensaufgaben erblickte. Er dachte, dass es langsam genug sei, er war doch noch so jung gewesen, als er dieses Versprechen abgegeben hatte. Er konnte trotzdem die ganze Nacht nicht schlafen. Und seine Gewissensbisse siegten über die Unlust! Er nahm die Karte in die Hand und las aufmerksam: Das Lachen der Kinder. Im Aja-Tal liegt der Palast des Königs Patal. Böse Zungen behaupten, er wäre böse und verrückt. Doch das ist er nicht. Im Kerker dieses Palastes sind 100 Waisenkinder eingesperrt. Befreie sie und bringe sie wieder zum Lachen. Aber gib acht, es müssen wirklich alle Kinder dieses Palastes die innere Fröhlichkeit erlangen. Vergisst du eins, wirst du den Stein nie bekommen.
An diesem Abend schaute Nuuk seine geliebte Naja an und sprach: „Naja, ich werde für eine Weile weg sein. Doch ich komme zurück und dann wirst du nie wieder alleine sein. Ich verspreche es dir.“ Naja nickte leise.
Nuuk fand den Palast schon nach kurzer Zeit. Er schlich sich in der Nacht in die Tiefe des Gebäudes. Die Türen zum Keller waren unbewacht, genauso wie der Eingang zum Kerker. Mit seiner Bärenkraft zerbrach Nuuk die Gefängnisgitter und bat die Kinder, zu schweigen. „Habt keine Angst. Ich bin da, um euch zu befreien – und zwar für immer. Ich nehme euch mit zu mir, zu meiner Frau und meinem Sohn. Ihr werdet in meinem Holzpalast wohnen, frei und glücklich. Aber jetzt müsst ihr ganz leise sein, damit wir unentdeckt hier herauskommen. Folgt mir.“ Eine Karawane von 100 Kindern machte sich lautlos auf den Weg, Richtung Wald, Richtung Freiheit. Als sie endlich weit genug weg waren, ließen die Kinder ihren Emotionen freien Lauf. Sie schrien und jubelten vor Freude. „Endlich raus aus diesem Loch“, „Wir brauchen nie wieder diesen bösen König zu sehen“ riefen sie überglücklich. „Nie wieder“ brüllte ein Kleiner, „und auch nicht seine komische Tochter“ „Hurra!!“.
„Was hast du gerade gesagt?“ fragte Nuuk. „Ja, der König hat eine Tochter und sie schaut genauso grimmig aus wie er“ antwortete der Junge.
Nuuk erinnerte sich an seine Aufgabe und resigniert sagte er: „Hört zu Kinder, ich muss im Palast noch was erledigen. Seid brav und bleibt bitte hier, bis ich zurückkomme.“ Die Kinder rückten zusammen und folgten seinen Anweisungen.
Nuuk kehrte zum Schloss zurück und sah von weitem, wie ein Mädchen sich aus dem Fenster lehnte und die Vögel beobachtete. Mit dem Mut, den seine Kraft ihm verlieh, klopfte er an die Tür. Der König öffnete und schaute ihn überrascht an. Sein Ruf war so schlecht, dass sich seit Jahren niemand hatte hier blicken lassen. „Deine Tochter mag gerne Vögel“ sagte Nuuk einfach so.
„Sie mag die Musik und das Tanzen der Vögel. Sie kann sie stundenlang betrachten. Auch ihre Mutter war sehr musikalisch und liebte den Tanz. Aber seitdem sie gestorben ist, hat mein liebes Töchterchen nie wieder gelächelt. Leider. Es macht mich krank und wahnsinnig, sie so zu sehen. Tag ein, Tag aus die gleiche tiefe Traurigkeit in ihrem Blick. Mit großer Hoffnung hatte ich sogar 100 Kinder hierher gebracht, damit sie nicht einsam ist. Damit sie endlich wieder lacht. Aber diese Kinder weinen und schreien nur und sind ehrlich gesagt keine große Hilfe.“ antwortete der König mit einer überraschenden Offenheit.
Nuuk dachte an die Sehnsüchte seiner Kindheit.
Er kannte dieses Gefühl der Einsamkeit, dieses Gefühl, einen Teil von sich selbst verloren zu haben.„Ich werde Ihre Tochter wieder zum Lachen bringen“ sagte Nuuk.
„Komm rein, Fremder“ lud ihn der fassungslose König ein. „Lassen Sie mir drei Monde Zeit und ich werde es schaffen. Aber ich habe eine Bedingung. Sie dürfen nie wieder Kinder einsperren. Ich habe mir erlaubt, die Gefangenen frei zu lassen“.
„W-Waaas?“ brüllte der König. „Sie müssen mir das versprechen“ sagte Nuuk ganz ruhig. Der König hörte das leise Weinen seiner Tochter, atmete tief ein und verkündete: „Ich verspreche es dir.“
Nuuk rannte in den Wald, wo ihn die Kinder sehnsüchtig erwarteten. Die Überraschung von Naja war unbeschreiblich groß, als sie ihren Mann mit der Kinderkolonne ankommen sah.“Es sind Waisenkinder. Sie werden ab jetzt mit uns leben“ sagte Nuuk und wusste, dass er mit diesem Satz seine Frau zur glücklichsten Frau der Welt gemacht hatte. Sie ging in dieser Aufgabe richtig auf. Sie bereitete Bettchen vor, nähte Wäsche, kochte mit den Kindern, machte lange Spaziergänge, unterrichtete sie. Naja war die vollkommene Mutter. Aber Naja war auch etwas anderes. Naja war das musikalischste Wesen, das Nuuk jemals begegnet war. Ihr Tanzen hatte die Leichtigkeit des Windes, die Grazie eines Vogels. Nuuk erzählte ihr vom König und von dem unglücklichen Mädchen. Auch Naja identifizierte sich in gewisser Weise mit der Kleinen und sagte: „Ich werde mit den Kindern ein musikalisches Tanzstück einüben und in drei Monden dem König und seiner Tochter vorführen.“
Die Kinder lernten schnell, einige konnten singen, andere bewegten sich wie Gazellen und andere machten einfach aus Dankbarkeit so gut mit, wie es halt ging. Naja nähte in der Zwischenzeit die schönsten Kostüme, die man sich vorstellen kann. Einen Tag vor dem dritten Mond war alles fertig und Nuuk verriet den Kindern, wo der große Auftritt stattfinden würde. Sie erstarrten vor Angst. „Nein, nicht dahin, bitte, nie wieder, du hast uns doch gesagt...“ kamen die Stimmchen von überall. Nuuk brachte sie zum Schweigen und zeigte mit den Fingern in Richtung Roter Berg. „Seht ihr diesen Berg?“ Die Kinder nickten. Nuuk ging dahin und riss mit bloßen Händen den Berg aus der Erde. „Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich bin bei euch. Wir gehen da hin, um die Tochter des Königs glücklich zu machen, und anschließend kommen wir hierher zurück.“
Er überzeugte und sie machten sich auf den Weg. Als sie beim König eintrafen, sagte Nuuk: „Bereite den Tanzsaal vor und bringe deine Tochter.“ Nuuk, der König und seine Tochter nahmen Platz in der vordersten Reihe, direkt vor der Palastbühne. Plötzlich ertönte hinter dem Vorhang die wunderbarste Stimme, die die Zuschauer jemals gehört hatten. Der Vorhang ging auf und ein atemberaubendes Meer aus Farben füllte die Bühne. 100 Kinder, die mit fantastischen Federkostümen eine bunte Vogelwelt darstellten, betraten den königlichen Schauplatz. Die Musik ertönte begleitet von einem beeindruckenden Tanzspektakel und natürlich von einer einzigartigen unerreichbaren Stimme - Najas Stimme.
Die Königstochter saß mit geöffnetem Mund da, ihre Tränen kullerten, und als die Vorführung zu Ende war, klatschte sie. Und wie sie klatschte, sie jubelte, lachte, umarmte ihren Vater, trampelte mit den Füßen auf dem Boden. Sie machte sogar einen Purzelbaum. Dabei blieb ihr Kleid hängen und sie musste noch mehr lachen.
Naja ging auf sie zu. „Wie heißt du?“ „Ich heiße Mina.“ antwortete sie.“ Mina, sollen wir an jedem vierten Vollmond so ein Stück für dich vorführen?“ „Ja, ja, jaaa“ stotterte sie begeistert. „Du musst uns aber ein bisschen mithelfen. Kannst du nähen?“ „Oh, ja.“ „Dann bist du für die Bühnengestaltung und die Kostüme zuständig und wir für Tanz und Musik“ sagte Naja bestimmend.“Vater, darf ich?“ fragte sie. „N-Natürlich“ antwortete König Patal, der tief gerührt war. Sein Blick richtete sich auch an die Kinder, seine Augen baten um Vergebung. Und bekamen sie.
Alle verabschiedeten sich und der König hielt Nuuk kurz am Arm fest. „Meine Dankbarkeit ist unendlich groß. Ich schenke dir die goldene Statue meines Urgroßvaters Patal des Ersten. Sie ist mehr wert als ein ganzes Land. Wir sehen uns wieder, mein Freund.“ „Danke“ sagte Nuuk. Die Statue war an einem riesigen Stein befestigt. Als alle endlich wieder zu Hause waren, trennte Nuuk die Statue von dem Stein und legte den Stein auf die drei anderen. Der Steinberg war inzwischen so hoch, dass er über den Roten, den Grauen und den Grünen Berg herausragte.
Wieder vergingen 15 wunderbare Jahre. Nuuk war schon ein alter Mann mit langem Bart. Naja, die inzwischen ihre ersten grauen Strähnchen hatte, meisterte die Aufgabe der Hausherrin mit Bravour, alle liebten sie. Mina kam inzwischen oft zu Besuch. Usaja und sie verstanden sich sehr gut und verschwanden oft Hand in Hand für mehrere Stunden. Es wurde über Hochzeit gemunkelt. Nuuk wurde zunehmend unruhig, er wusste, dass er sein Versprechen noch nicht eingehalten hatte. Ein Stein fehlte noch. Er wollte aber nicht weg.
Eines Tages betrachtete er von weitem Naja. Er sah, wie diese freudestrahlende Frau die Hochzeit ihres Sohnes vorbereitete. Er sah die hübsche Mina beim Tanzen, und alle Waisenkinder, wie sie inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen waren. Er sah Usaja. Und was er sah, war ein aufrichtiger, ehrlicher Mann, ein Mann, wie er früher mal einer gewesen war, ein Mann, auf den man sich immer würde verlassen können. Er betrachtete alles ganz genau und fühlte zunehmend eine Wärme, eine Leichtigkeit. Diese Leichtigkeit breitete sich auf eine sehr angenehme Weise in seinem Körper aus, bis plötzlich ein kolossaler Stein von seinem Herzen fiel. Er brauchte die Karte nicht anzugucken. Er wusste, dass das der fünfte Stein war. Er kletterte mit dem Stein bis zum Gipfel seines Steinbergs und stellte ihn darauf. Die Bergspitze verschwand jetzt in den Wolken. Zwei Hände griffen seine Hand und halfen ihm nach oben. Er verschwand.
Usaja war beim Holz hacken, als er plötzlich eine wunderbare Wolke sah. „Guck mal, Mutter. Diese Wolke sieht aus wie drei Menschen beim Angeln“. Naja betrachtete sie, lächelte und verstand. Sie war froh, dass auch ihr Mann sich seinen Lebenstraum erfüllt hatte.
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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2011
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