„Ich habe ihm alles bedeutet. Warum verlangt er dann, dass ich zu einhundert Prozent nach seinen Vorstellungen lebe?“ „Sie sagt, ich soll mich ändern. Sie könne meine egoistische Art nicht länger aushalten.“ „Sie ist zu dominant.“ „Er spielt mit meinen Gefühlen.““Meine Eltern waren nie für mich da.“ „Sie wünschten sich so sehr einen Jungen, und dann kam ich. Damit sind sie nie fertig geworden.“
Diese und ähnliche Phrasen hörte sich Norbert Palmer Tag für Tag an. „Wenn meine Patienten nur wüssten wie durchschnittlich sie und ihre Probleme sind. Wie wiederkehrend, wie langweilig“, dachte er und wusste zugleich, dass auch die Unzufriedenheit mit dem routinierten Ablauf seines Berufalltags nicht besonders originell war.
Alle Tränen waren aus dem gleichen Wasser gegossen. Jedes Schicksal stellte lediglich ein Ebenbild des anderen dar.
Norbert musste sich allerdings auch eingestehen, dass er gar nicht wusste, ob er eine größere Nummer überhaupt bewältigen könnte. Hatte er jemals jemanden mit einer schweren psychischen Erkrankung geheilt? Die meisten suchten nur das Gespräch oder besser gesagt, den Monolog. Sie bezahlten fürs Angehört werden, und das tat ihnen gut. Der Psychologe hatte in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft die Rolle des Priesters oder der tratschlustigen Nachbarin übernommen. Zum Leid seines Egos und zum Wohle seines Geldbeutels.
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Sarah Wagner betrachtete sich im Spiegel. Was sie sah gefiel ihr. Auf den ersten Blick. Sie war Ende 30, groß, blond, blau-grüne Augen. Ihr Aussehen wurde im Punktesystem ihrer Blind-Date Online-Agentur mit 5 Sternen und dem Vermerk „Top-Score“ belohnt. Würde man ihren Charakter mit einem Kommentar beurteilen, würde dieser mit großer Wahrscheinlichkeit „schwer vermittelbar“ lauten. Die halbdurchsichtige pistaziengrüne Seidenbluse war perfekt mit der Farbe der Mokassins und des Augenlidschattens abgestimmt. Dazu dunkelblaue figurbetonte Jeans einer renommierten Marke. Das Ergebnis: Eine Frau, nach der sich jeder Mann umdrehen könnte, wäre da nicht das große „Aber“. Das „Aber“ hatte nämlich genau mit dieser Perfektion zu tun. Als kleine Veranschaulichung: Sarah war möglicherweise die einzige Person, die sich den Film „Besser geht´s nicht“ mit Nicholson anschauen konnte, ohne dabei etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Das Lachen der Zuschauer hatte sie nie nachvollziehen können.
Sarah legte nicht nur Wert auf Genauigkeit in absolut jeder Situation ihres Lebens, sie war süchtig danach. Sie besaß 52 Lineale. In jedem Zimmer lagen mindestens zwei, in jeder Handtasche eins, in jeder Kulturtasche eins… Aber eigentlich brauchte sie längst keine Lineale mehr, denn mittlerweile konnte sie mit bloßem Auge einen Millimeter exakt abschätzen. Schließlich hatte sie jahrelang die Kunst des Abmessens, Vermessens, Zurechtrückens praktiziert. Die Symmetrie der Dinge war für Sarah eine Lebensessenz, ein Skelett, das ihr Halt gab. Im Hause Wagner unterlag alles einer exakten Anordnung der Dinge: Alles war genau bemessen, nichts war dem Zufall überlassen. Die Lücke zwischen zwei Töpfen betrug immer 2 cm. Die Kosmetikprodukte im Bad waren alphabetisch geordnet mit immer genau 5 mm Abstand zueinander. Und Sarah verfügte über außerordentlich viele Produkte zur oberflächlichen Verschönerung des Ichs! Sie hatte extra dafür ihre Wohnung umbauen müssen: Das Gästezimmer musste zugunsten eines größeren Bades geopfert werden. Zugegebenermaßen brauchte sie das Gästezimmer nicht wirklich oft. Streng genommen: nie.
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Es war Mittwochmorgen und Norbert bereitete sich auf einen möglicherweise öden Tag vor. Er war dennoch gut gelaunt, er wollte am Abend mit seinem alten Schulfreund kegeln gehen und sich anschließend mit der geselligen Unterstützung von ein paar Bierchen über alte Zeiten unterhalten. Luc, sein alter Schulgefährte, hatte die Clique vor einigen Jahren in Schock versetzt, als er Karriere und Familie aufgab, um sich nach Indien zur Meditation zurückzuziehen. Einige Jahre später kam er zurück und eröffnete eine Yoga-Schule in der Stuttgarter Innenstadt. Aus dem immer kreidebleichen, nervösen, spindeldürren Luc war ein braungebrannter, absolut ruhiger und nur nach wie vor etwas zu dünner Zeitgenosse geworden. Ein Asket war er allerdings nicht. Überhaupt trennte Luc seine berufliche Lebenseinstellung von seinen privaten Vorlieben ganz und gar. Und zwar ohne dabei nur einen Hauch von schlechtem Gewissen zu entwickeln! Um die Offenheit, mit der Luc zu seiner Doppelmoral stand, beneidete Norbert ihn ein bisschen.
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Sarahs Klamotten hingen alle an Kleiderbügeln und wurden der Farbe nach angeordnet. Es fing links bei Weiß an und glitt langsam ins Hellgelb über, dann Gelb, Orange, Rot, Lila, Blau, Türkis, Grün, Oliv, Braun, Braun-Grau, und zum Schluss Schwarz - ganz rechts. Auch die Unterwäsche hing an Kleiderbügeln. Die Distanz zwischen zwei Bügeln betrug 7,5 cm. Der Übergang von einer Farbe in die andere wurde mit einem kleinen Fähnchen in dem entsprechenden Farbton signalisiert. Zudem hatte sie ein Handbuch, in dem alles nummeriert aufgelistet war. Die Aufkleber mit der Nummer waren mit einer Sicherheitsnadel an dem jeweiligen Kleidungsstück befestigt.
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Sarahs Traum, irgendwann den Mann fürs Leben zu finden, hatte sie schon vor langer Zeit dazu bewegt, sich ein Doppelbett anzuschaffen. Am Kopfende lagen zwei Kopfkissen. Der Zwischenraum zwischen beiden Kissen betrug genau 50 cm. Und zwar immer! Als Wächterin der vollkommenen Symmetrie sah sie es als ihre Aufgabe an, auch während der Schlafzeit für Ordnung zu sorgen. Der Wecker klingelte um Mitternacht, um 3 und um 6 Uhr, um sicherzugehen, dass auch in dieser Zeit die erwünschte Distanz eingehalten wurde. In Anbetracht dieser nächtlichen Aktivitäten ist es kaum verwunderlich, dass die zweite Hälfte des Doppelbettes bisher jungfräulich unangetastet geblieben war. Tja, und das war Sarahs zermürbende Realität: Trotz ihres überaus anspruchsvollen Aussehens, ihren intaktem Erscheinungsbildes und ihres nicht zu verachtendem Intellekts war sie nicht gerade eine Person, mit der man es mehr als 1 Minute am Stück aushalten hätte können (es sei denn, man würde es zu wissenschaftlichem Zwecke machen). Ihre 111 Blind-Dates waren bereits vor der gemeinsamen „Drink“-Bestellung gescheitert. Denn kein Mann (und zwar wirklich egal in was für einer verzweifelten Lage er sich befand) hatte Lust, dass sein Stuhl von der potentiellen Dame seines Herzens haargenau mittig zur linken und rechten Tischkante platziert wurde, bevor dann auch noch Besteck und Gläser spiegelgleich angeordnet wurden. Bevor die Bedienung kam, hatte Sarahs Gegenübersitzender in der Regel bereits die Flucht ergriffen. Und weil zu Sarahs symmetrischer Lebensplanung ein Solo-Dasein nicht passte, entschied sie sich für eine Therapie.
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Norbert öffnete die Akte seiner ersten Patientin. Eine Neue. Auf den ersten Blick schien nichts Spannendes auf ihn zu zuzukommen. Karrierefrau, reich, hübsch, erfolgreich und Single. Sie stand kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag und Panik dirigierte nun diesen bizarren Wettkampf: Partnerfindung versus Zeit. Typisch, urteilte er nur.
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Er hörte die Arzthelferin: „Frau Sarah Wagner, sie können ins Sprechzimmer.“ Sarah Wagner ging mit gesenktem Kopf Richtung Stuhl. Was Palmer nicht wissen konnte: Sie zählte die Schritte.
Sie stellte den Stuhl genau in die Mitte vom freien Platz zwischen den zwei Tischbeinen, überprüfte den Abstand zur linken und dann zur rechten Seite akribisch. Sie schüttelte die zwei Kissen, die auf dem Sessel lagen, und verpasste ihnen einen kleinen Schlag genau in die Mitte. Der „Kissenscheitel“ war perfekt gelungen. Die „Sich-Hinsetzen-Zeremonie“ dauerte ca. drei Minuten. Norbert Palmer schaute fasziniert zu. Sie nahm endlich Platz und schaute nochmal ganz genau wo, sie die Handtasche ablegen könnte. Norbert nahm ihr spontan die Tasche ab und legte sie auf eine Liege. „Dann kann ich Sie besser sehen“, argumentierte er. Dabei fielen zwei Meterstäbe raus. Er hob sie auf und entschuldigte sich für seine Tollpatschigkeit. Wahrscheinlich hatte sie noch einen Ausflug zum nächsten IKEA-Einrichtungshaus vor, dachte er. Jetzt konnte er ihr zum ersten Mal in die Augen sehen und bereute sofort, die Handtasche entfernt zu haben. Wo sollte er sich jetzt verstecken?
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Die Gefühle, die sich nach der ersten Begegnung in Norbert Palmer breit machten, waren unsittlich und im höchsten Maße unprofessionell. Das wusste er. Deshalb entschied er sich, diese Behandlung mit besonderer Härte anzugehen. Um möglichen Gefahren aus dem Weg zu gehen, versteht sich. Die abendliche Verabredung mit Luc vergaß er total.
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Sarah ging überglücklich aus der ersten Sitzung. Der Arzt hatte ihr keine Löcher in den Bauch gefragt, wie sie befürchtet hatte. Und was noch viel bahnbrechender war: Sie hatte es ohne jegliche Art des Ausflippens ertragen, als er ihre Handtasche woanders deponierte und auch noch die Meterstäbe rausfielen. Für Sarah war das eine gewonnene Schlacht, die sofort mit dem Einkauf von zweiundzwanzig Feuchtigkeitscremes gefeiert werden musste. Sie liebte Schnapszahlen.
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„Frau Wagner, Sie sind absolut neurotisch und haben eine massiv ausgeprägte Zwangsstörung“. Palmer hatte noch nie so zu einem Patienten gesprochen, er traute seinen eigenen Ohren nicht.“ Sie erleben Ihre neurotischen Züge als Teil Ihrer Persönlichkeit. Fakt ist, dass, wenn Sie nicht so handeln, Sie von Ängsten und Anspannungen gequält werden. Nur die Wiederholung des Rituals bringt Entspannung. Kurzfristig. Ihre Störung ist tief verwurzelt. Ich kann Ihnen – wenn überhaupt - nur helfen, wenn Sie ein Bewusstsein für das Problem entwickeln. Im Klartext: Wenn Sie einsehen, dass Sie nicht ganz klar ticken. Und dazu scheint bei Ihnen momentan keine Bereitschaft zu bestehen.“
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Sarah stand ruckartig ohne Durchführung von Zeremonien auf und verließ türknallend die Arztpraxis.
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Norbert Palmer fühlte sich miserabel. Er hatte diesen Schritt zur Bewahrung seines guten Rufs machen müssen. Sarah Wagner war dabei, sein recht solides Gefühlsgerüst völlig auf den Kopf zu stellen und sein berufliches Ethos in Gefahr zu bringen. Und das durfte er nicht zulassen! Aber, war die heutige Episode professionell gewesen? Alles andere als das. Er sagte alle Termine für den heutigen Tag ab und entschied sich, heute das Treffen mit Luc nachzuholen. Er brauchte dringend ein Ventil.
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Sarah konnte es nicht ertragen, als neurotisch oder gar zwanghaft bezeichnet zu werden. Nur weil man einen ausgeprägten Hang zur Ordnung hatte, war man nicht gleich reif für die Purzelbaumfabrik, grübelte sie vor sich hin. Sie war enttäuscht, zutiefst beleidigt und zu diesem Zeitpunkt nicht gerade bereit, dieser Therapie oder besser gesagt diesem Therapeuten eine zweite Chance zu geben. Am liebsten würde sie diese Geschichte sofort abbrechen, aber sie hatte sich 33 Sitzungen als Ziel gesetzt und konnte jetzt schwer davon abkommen. Notfalls würde sie auf 22 oder 11 runterfahren müssen. Immerhin kaufte sie sich keine Trostprämien in „schnapszahliger“ Menge, wie sie es sonst gemacht hätte. Ein Licht am Ende des Tunnels?
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Norbert hasste sich für seine bescheuerte Aktion. Abends erzählte er Luc von Sarah. Er verschwieg seinem Freund allerdings den jämmerlichen Auftritt vom Vormittag und die Tatsache, dass er Hals über Kopf in seine Patientin verliebt war. Luc schlug Norbert vor, Sarah zu seinem Yoga Studio vorbeizuschicken. Meditation und Yoga konnten bei psychischen Leiden, die typisch für Wohlstandsgesellschaften waren, Wunder wirken, argumentierte er. Norbert war nicht in der Stimmung für esoterisches Gesülze. Er nickte ungläubig.
Am nächsten Tag wachte Norbert mit einem monumentalen Kater auf. Jetzt blieben ihm sechs Tage Bange und Zweifel bis er die Gewissheit haben konnte, ob er seine Angebetete jemals wiedersehen würde. Eine qualvolle Zeit lag vor ihm. Resignation und Trauer nahmen gemütlich ihren Platz in Norberts Psyche ein. Er konnte nicht ahnen, dass es gerade Sarahs Zwang war, der ihm zu dieser sehnlichst erwünschten Begegnung verhelfen würde.
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Es war wieder Mittwoch, und Sarah ging umhüllt von ihrem Schild der Gleichgültigkeit in die Therapie. Sie würde diese Behandlungsstunden zwecks symmetrischer Vollendung durchziehen. Es gab kein Weg zurück. Aber zu ihrer großen Überraschung war Dr. Palmer heute wie ausgewechselt. Er war sanft, höflich, ging in keinem Moment auf das letzte Gespräch ein und bewarf sie auch nicht mit verletzenden Aussagen. Ein komplett anderer Mensch. Es war richtig angenehm bei ihm. Sie spürte, wie sie das Schild langsam runternehmen konnte. Und ganz nebenbei bemerkte sie, dass ihr Arzt doch verdammt gut aussah. Aber er war definitiv zu edel, zu formell, zu sehr der alten Schule treu, um sich für eine Patientin über die Therapie hinaus zu interessieren. Sie lächelte bei dem Gedanken, sich Dr. Palmer als Mann vorzustellen, das war unmöglich. Er war schlicht und ergreifend der Therapeut. Übrigens, seine Idee, ein Yoga-Studio zu besuchen, fand sie großartig. Jede Behandlungsform die mit physischen und nicht mit psychischen Anstrengungen zu tun hatte, begrüßte sie.
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Es waren einige Wochen seit dem absurden Auftritt vergangen und erstaunlicherweise war es möglich gewesen, die Wogen zu glätten. Sarah hatte ihm offensichtlich verziehen und kam regelmäßig zu ihm. Eigentlich müsste er glücklich sein. Aber Norbert war bei einigen Themen nicht so weltfremd, wie er vielleicht auf den ersten Blick wirkte. Er begriff zu gut, dass zwar die Distanz zwischen Arzt und Patient immer kleiner wurde, die Distanz zwischen Mann und Frau wurde aber von Mal zu Mal größer.
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Luc war ein total durchgeknallter Typ, der aber Sarah vom ersten Moment an zum Lachen brachte. Jedes Mal wenn sie (sehr diskret) mit einer millimetrischen Berechnung begann, starrten zwei Augen sie an. Sie durchschauten Sarah. Luc erwischte sie wirklich jedes Mal. Dann nahm er sie an die Hand und lenkte sie mit einigen schwierigen konzentrationsintensiven Körperhaltungen ab. Er war unglaublich. Und tatsächlich gelang es ihr mittlerweile auch zu Hause, sich mit Yogaübungen im Griff zu bekommen. Mal mehr, mal weniger.
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Die Zeit verging, und in einer von trostloser Harmonie geprägten, wenn nicht sogar geplagten Sitzung geschah etwas, das Norbert als therapeutischen Fortschritt betrachten sollte (vorausgesetzt er wäre noch ein Therapeut gewesen, was er aber längst nicht mehr war). Nicht für Sarah Wagner. Denn für sie versuchte der Psychologe Norbert Palmer krampfhaft diese Rolle loszuwerden, aber er entkam ihr nicht. Und nun zum angeblichen Erfolg: Seine Patientin – wie furchtbar diese Bezeichnung in seinen Ohren klang - setzte sich vorsichtig auf das Sofa, und zwar, ohne die Kissen minutiös anzuordnen. Sie schaute ihn stolz an. Der Stolz des sich heilenden Patienten. Doch Norbert wollte nicht so angeschaut werden. Nicht von ihr. Dann tat er etwas, was er nie für möglich gehalten hatte und definitiv therapeutischer Selbstmord war. Er reihte die Kissen von Hellgelb bis Dunkelrot an. Er kontrollierte die Zwischenräume und er zog die Zeremonie pedantisch durch, wie sie es immer gemacht hatte. Sie schaute ihn an und sie lächelte. Und zwar nicht von Patient zu Arzt, sondern von Frau zu Mann. Sarah und Norbert waren im Nu für den nächsten Tag zum Essen verabredet.
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Sarah konnte es nicht glauben. Das erklärte einiges. Den ausfälligen Auftritt nach der ersten Sitzung, dann sein Verständnis und die sanfte Art. Norbert Palmer konnte sie so gut verstehen, weil er selber einer von ihnen war (einer wie sie, der Symmetrie zum Leben brauchte). Das war abstrus. Konnte das wirklich sein? Sarah beschloss, der Sache näher auf den Grund zu gehen und verabredete sich mit ihm.
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Norbert schwor sich hoch und heilig, diese Methode nur für das erste Date anzuwenden. Wenn das Eis gebrochen wäre, würde er sofort damit aufhören.
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Sarah hatte bezüglich Norberts Zwanghaftigkeit Zweifel. Manchmal verhielt er sich ganz normal und manchmal war er noch extremer gestört, als sie jemals es gewesen war. Sie konnte die Sache noch nicht ganz einordnen.
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Norbert war verzweifelt. Er merkte, dass Sarah an ihm nur dann wahrlich interessiert war, wenn er den Neurotiker rausließ. Je mehr, desto besser. Der normale Norbert Palmer schien in ihr nicht das Geringste anzusprechen. Also musste er wohl oder übel die Inszenierung fortsetzen. Er übte nun in jeder freien Minute neue Variationen des Zwanges, um möglichst imposant auf sie zu wirken.
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Sarah war jetzt komplett sicher: Norbert Palmer hatte ernste psychische Probleme und sie hatte das Bedürfnis, ihm zu helfen.
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Für Norbert Palmer gab es kein anderes Thema mehr, als sein Wissen über die bizarrsten Zwangsstörungen der menschlichen Seele aufzubauen. An seinen schauspielerischen Fähigkeiten hatte er am Anfang viel arbeiten müssen. Das brauchte er jetzt nicht mehr. Wenn er in diese Rolle einstieg, kam alles schon ganz von alleine. Er war glaubwürdig, das wusste er.
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Luc und Sarah. Die Übungen und Stellungen, die sie derweil im Studio oder bei Sarah praktizierten, fielen nicht mehr unter die Kategorie Yoga. Ihre heilende Wirkung war dennoch bemerkenswert! Die Beiden waren zu einem erstaunlichen Paar verschmolzen, das sich kaum aus unterschiedlicheren Menschentypen zusammensetzten konnte.“Luc“, sprach Sarah eines Abends, „weißt du, dass dein Freund Norbert massive Zwangsstörungen hat?“
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Der neu kreierte Norbert Palmer war mittlerweile immer in seiner Funktion einsatzbereit. Wo war der alte Dr. Palmer? Gab es ihn noch?
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Luc und Sarah gingen Arm in Arm spazieren und sprachen nochmal über ihren gemeinsamen Freund.
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Norbert Palmer ging mit gesenktem Kopf schrittezählend die Straße entlang, als er zwei vertraute Stimmen hörte.
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“Bist du sicher?“ fragte Luc. „Ich bin jetzt mehrmals mit ihm Essen gegangen und habe ihn genau unter die Lupe genommen“, antwortete Sarah und berichtete bis ins letzte Detail über ihre Beobachtungen.“Ich dachte, wenn ich mehrmals mit ihm was unternehme, erfahre ich mehr über seine Krankheit. Wir müssen ihm helfen.“ „Du bist eine wunderbare Person, so aufmerksam, so liebevoll“, flüsterte Luc. Eine Umarmung, ein intensiver Kuss folgten. Das Pärchen ging weiter.
Erstarren. Wut. Trauer. Und dann kam die Erleuchtung. Norbert hatte diese Szene beobachtet und wusste jetzt schlagartig, was zu tun war. Immer der Symmetrie genügend, ging er rasch zu seiner Praxis zurück. Für die sieben Stockwerte nahm er immer die Treppe, um sich fit zu halten sagte er. Um Stufen zu zählen, war der wahre Grund. Er öffnete die Tür und machte alle Lichter an. Es war eigentlich nicht notwendig. Es war ein heller Tag und die Gardinen waren nicht vorgezogen. Durch die fast menschengroßen modernistischen Fenster erstrahlte ein wunderschöner Tag. Norbert wusste, dass er eine Grenze überschritten hatte und empfand deshalb die Sache mit Luc und Sarah als angemessene Strafe für sein Vergehen.
Norbert schob seinen geliebten Stoelcker Stuhl aus massivem Buchenholz ans Fenster. Er holte aus seiner Aktentasche ein Metermaß und ging wieder zum Fenster. Er öffnete beide Fenstertüren nach innen, bis sie je in einem 90 Grad Winkel standen. Er stellte den Stuhl in die Mitte. Da er noch nicht so fortgeschritten wie Sarah war, brauchte er seinen Zollstock, um die Mitte zu bestimmen. Dann stieg er auf das Fensterbrett und stellte sich möglichst zentral. Der Abstand zwischen Fuß und Fensterwand betrug je 20 cm. Der Zwischenraum vom linken zum rechten Fuß auch. Er schaute nach unten. Sieben Stockwerke müssten reichen. Er ging einen Schritt nach vorne. Diesen Schritt brauchte er nicht mehr zu zählen.
Nachwort
In Deutschland leiden Schätzungen zufolge über eine Million Menschen unter einer Zwangsstörung.
Die besessene Ordentlichkeit und diese zwanghaften Symmetriebestrebungen in der Ausrichtung von Gegenständen gibt es tatsächlich. Die Form, die Darstellung, die Personen und das Ausmaß in dieser Geschichte sind natürlich von mir frei erfunden. Doch das Leben zeigt uns, dass die Realität häufig die Fiktion bei weitem übertrifft. Vielleicht auch in diesem Fall? Das erfahren wir nur wenn wir lernen die Augen offen zu halten und über unseren Tellerrand zu schauen. Die Grenze zwischen „Normalität“ und Störung ist oft hauchdünn und nur schwer erkennbar. Menschen mit Zwängen kann geholfen werden.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2010
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