Klack,klack, ratterratter – klack, klack ratterratter, dieses Geräusch prägte meine Kindheit und ich liebte es, denn dieses Geräusch stand für die intensiven Momente mit meinem Bruder. Und davon gab es wahrlich nicht viele.
Mein kleiner Bruder Louis war Autist und spielte oft stundenlang mit seiner grossen Kasse aus Kunststoff. Münze rein, Tasten runter, Schublade auf, Münze raus. Die Therapeutin behauptete, diese Tätigkeit wäre gut, weil er dabei die kindliche Analphase spielerisch durchlaufen würde und das würde wiederum seine Entwicklung aktivieren. Dazu kann ich nicht wirklich viel sagen, Fakt ist, dass er in diesen Momenten absolute Zufriedenheit ausstrahlte. Und genau auf Grund dieser Erinnerung entschied ich mich später dazu, Kassiererin zu werden. Nun ja, das mag auf den ersten Augenblick etwas langweilig klingen, aber für mich war es alles andere als das. Denn ich entwickelte während meiner Arbeit im Supermarkt eine einzigartige Fähigkeit: Ich konnte anhand des Einkaufs die genaue Geschichte, die Gefühlswelt, ja, sogar die dunkelsten Seiten jedes Käufers ermitteln. Und zwar bis zum kleinsten Detail seiner Biographie. Jedes Einkaufsnetz bot mir eine einmalige Plattform zur Tiefenanalyse des Subjekts an. Psychoanalyse im Netz, sozusagen! Sah ich beispielsweise eine Konstellation X von Produkten, wusste ich sofort, ob der Käufer ledig oder geschieden war, ob er treu oder unehrlich war, ob es im Hause Harmonie oder Streit gab, ob dieser Streit mit Trennung oder mit versöhnendem Sex endetet. Ein Blick in die Einkaufstasche und ich wusste ob jemand einsam, Hypochonder, verbindlich oder narzisstisch war. Hatte er sie wegen der besten Freundin oder wegen einer viel Jüngeren verlassen? Stand er auf experimentelle Kunst aus Österreich oder sammelte er Stofftiere? Hatte der oder diejenige chronische Schlafstörungen, war er gewalttätig oder der geborene Altruist? All das erschloss sich mir nach der genauen Betrachtung des Einkaufsnetzes. Ein Blick, ein Mensch.
Und ich war ausgesprochen präzise mit meiner Diagnostik, das hatte ich schon mehrmals überprüft. Ja, ich war mit der Zeit zu einer ziemlich guten Detektivin der menschlichen Seelen geworden, die im Übrigen oft ziemlich abgründig waren.
Und so kam ich zu meinem Fall!
Es war ein Tag wie jeder andere, doch dann passierte etwas, das mein Leben und das Leben des einkaufenden Subjekts radikal verändern würde. Was ich an jenem Montag auf dem Förderband vor meiner Kasse sah, warf mich komplett aus der Bahn: Bockwurst, Ketchup und Blumenkohl. Die Diagnose war eindeutig: Der Käufer war ein Mörder.
Nun wusste ich aus Erfahrung, dass ich mich mit meiner Theorie trotz des absoluten Wahrheitsgehalts nicht an jede Polizeistation wenden konnte. Ein Blumenkohl in ungünstiger Begleitung würde kaum eine Sicherheitskraft dazu bewegen, diesen Mann zu verfolgen. Obwohl diese Lösung sicherlich die richtigste gewesen wäre.
Kurzum, ich entschied mich dazu, auf eigene Faust zu ermitteln, ohne Rücksicht auf Risiken und ohne Rücksicht auf Verluste. Schließlich war ich ein verantwortungsbewusster Mensch, der auf seine Mitbürger achten musste. Jammern half nicht, ein Plan musste her. Und siehe da, das Glück war auf meiner Seite. Der mutmaßliche Täter hatte seine Mütze auf dem Förderband vergessen. Ich schnappte sie mir und folgte ihm unauffällig. Er ging die Straße entlang, bog einmal nach rechts und verschwand in einer mehrstöckigen alten Wohnung. Nun kannte ich seine Hausnummer, aber nicht die Wohnung. Ich klingelte an irgendeiner Tür dieses Gebäudes und fragte nach einem jungen Mann mit einem roten Cappy. Ich sei die Kassiererin vom Supermarkt um die Ecke und würde ihm gerne seine Mütze, die er am Einkaufsort vergessen hatte, zurückgeben. Ich bekam die erwünschte Information prompt. Ich stieg die Treppen hoch bis zum dritten Stockwerk und liess die Mütze vor seiner Tür liegen.
Ich musste nun mit meinem Chef sprechen. Ich brauchte Urlaub, um meinen Enthüllungsplan fortzuführen.
Herr Müller, mein Chef, war überrascht über meine plötzliche Urlaubsanfrage. „Ab morgen, Frau Kramer? Wie soll das gehen?“ fragte er leicht verzweifelt.
Ich wusste aber, dass ich gute Karten hatte. Ich hatte knapp über 300 Überstunden, war noch nie krank gewesen und hatte wahrlich eine makellose Kassiererinnenlaufbahn in seinem Etablissement absolviert. Ich erzählte von meinem autistischen Bruder, der mich unbedingt brauchte weil er eine tiefe lebensbedrohliche Krise durchmachte. Müller hatte ein weiches Herz und gab rasch nach. Die Bruder-Masche funktionierte immer
War das nicht ein bisschen niederträchtig, meinen kranken Bruder als Ausrede zu nutzen?, so fragte ich mich. Nein. Schließlich war ich wegen ihm Kassiererin geworden und dann durfte ich ihn ja wohl ab und zu als Vorwand für meine Pläne einsetzen. Ich steckte meine Gewissensbisse in die Schublade „ausgleichende Gerechtigkeit“ und machte mich gleich an die Ermittlungsarbeit (ran).
Ich stand morgens um vier auf weil ich ja nicht wusste wann genau der junge Mann, den ich verfolgen musste, zur Arbeit ging. Ich wusste allerdings auf Grund seines Einkaufsprofils, dass er keine Nachtschicht hatte. Und ich wusste auch, dass seine Leber ziemlich im Eimer sein musste. Aber das war ein anderes Thema.
***
„Scheiße“, dachte Maik, als ihn sein Wecker aus seinem leicht alkoholisierten Schlaf holte. Am liebsten würde er liegen bleiben und die Welt sollte ihm einfach den Buckel runterrutschen. Aber das ging nicht. Er war schließlich der neue Maik. Der neue Maik versäumte keinen Arbeitstag.
“Ich muß aufstehen. Ich darf diesen Job nicht verlieren. Alles läuft gut, ich bin schon drei Monate dort, die haben sogar meine Probezeit verlängert. Die haben mir eine zweite Chance gegeben trotz der Drogengeschichte. Ja, alles läuft gut. Also, Mann, reiß dich zusammen“. Der neue Maik siegte über den alten Maik und sprang vom Bett direkt in die Klamotten des Vortages.
Maik warf einen skeptischen Blick in den Spiegel, eilte anschließend die Treppen runter und raste mit seinem klapprigen Fahrrad Richtung Arbeit. Maiks Leben war alles andere als ein Vorzeigemodell gewesen. Sein Hang zum Koksen hatte ihn oft auf die schiefe Bahn gebracht, zumal das Zeug ja saumäßig teuer war. Mit legalen Jobs war seine Sucht nicht zu finanzieren. Ein klassischer Teufelskreis. Aber diese Phase hatte Maik hinter sich. Er vergötterte seinen Chef, der ihn immer wieder mal auf die richtige Seite des Lebens brachte, und das zahlte sich aus. Er war stabiler geworden und hatte sogar schon seit zwei Monaten und drei Tagen eine feste Beziehung zu Melanie, der perfekten Frau. Er würde gleich heute Abend auf dem Rückweg am Friedhof eine Rose für sie klauen. Sie liebte Blumen.
„Maik, du bist fünf Minuten zu spät“.
„Tschuldigung Chef, soll nicht wieder vorkommen“ antwortete Maik mit gesenktem Blick.
Maik arbeitete in einer riesengroßen Lagerhalle. Dort nahm man Lebensmittel in Empfang, die in enormen Containern direkt vom Hafen angeliefert kamen. Sie wurden hier aus sortiert, umgepackt und kurzzeitig gelagert, bis die entsprechenden Supermarktketten und Märkte die Ware abholten.
Maik war Lagerarbeiter, durfte aber ab und zu auch einen Gabelstapler bedienen. Streng geheim und nur unter Aufsicht des Chefs, denn er hatte noch keinen Gabelstaplerschein. Sollte sich Maik bis Weihnachten bewährt haben, wollte der Chef mit ihm über die Gabelstaplerausbildung sprechen. Wenn er das schaffen würde, dann wäre sein Leben unter Dach und Fach. Ein für alle Mal. Maik war hochmotiviert. Er arbeitete vier Stunden und genehmigte sich dann die erste Kaffeepause. Dann bemerkte er erst, dass eine Frau am Eingang saß. Ihr Gesicht kam ihm leicht bekannt vor, aber er konnte es unmöglich einordnen. Dunkelblond. Nicht zu hübsch, nicht zu häßlich.
„Sie hat nach dir gefragt“ sagte ihm ein Kollege, „sie sitzt seit zwei Stunden dort“
Er ging auf sie zu und fragte „Kennen wir uns?“
„Ja.“ antwortete sie schlicht. Sie guckte ihm in die Augen und verschwand. Wortlos.
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Es ist irgendwie paradox, dass ich, die Ermittlerin, und er, der Täter, sozusagen in der gleichen Branche arbeiten. Er stapelt die Ware, die dann vor meiner Kasse landet. Wir schließen den Kreis. Eine gewisse Seelenverwandtschaft wird meine Arbeit sicherlich erleichtern. Je besser ich mich in ihn reinversetzen kann, desto leichter werde ich ihn überführen können. Manchmal muss das Schicksal eben auch auf der Seite der Guten sein.
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Die Kassiererin hinterließ einen völlig verwirrten Maik. Wer zum Teufel war das? Er ahnte nichts Gutes und grübelte vor sich hin. Hatte er sie beim letzten Suff kennengelernt? Scheiße, das war sicher vor zwei Wochen auf Dirks Party gewesen. Da hatte er Stress mit Melanie gehabt und musste sich zwangsläufig bis zur absoluten Besinnungslosigkeit volllaufen lassen. Mann, oh Mann, das war kein guter Tag gewesen. Oder war das eine ältere Geschichte?
Plötzlich überkam ihn ein finsterer Gedanke. Er erstarrte bei der Vorstellung.
Oh Gott, hoffentlich hatte er niemanden geschwängert. Das war das Letzte was er gerade gebrauchen konnte. Anderseits sah die Dame zu fromm aus. Aber wer weiss, stille Wasser sind bekanntlich am tiefsten und manchmal sind eben die, die am bravsten aussehen, letzten Endes am heftigsten drauf, rechtfertigte sich Maik in einem Meer gedanklicher Konfusion.
Der arme Maik war unkonzentriert, nervös, äußerst schlecht gelaunt und machte den Rest des Tages nur noch Fehler. Sein Chef sah ihn besorgt an und sagte nichts. Maik vergaß auch, auf dem Rückweg die Blume zu besorgen.
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Jetzt habe ich ihn ein bisschen nervös gemacht. Das ist gut so, denn erfahrungsgemäß passieren so die Fehler, die einem guten Detektiv dazu verhelfen, den Täter zu erwischen. Morgen werde ich meine Beobachtung diskreter angehen. Ich werde mich im Lager verstecken. Wenn ich genau beobachte, wie er mit seinen Händen arbeitet, kann ich vielleicht herausfinden, wie er einen Mord begehen würde. Mit bloßen Händen, mit einer bestimmten Tatwaffe, mal sehen. Eins kann ich schon definitiv sagen, er respektiert irgendwie seine Arbeitsstätte. Das heißt, dass er die Leiche nicht dort verstecken würde. Das ist schon mal ein wichtiger Punkt.
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Am nächsten Tag erschien Maik überpünktlich, dennoch recht verkatert am Arbeitsplatz. Weit und breit keine Dame zu sehen. Maik atmete auf. Und stapelte, lagerte, sortierte so gut es halt in diesem benebelten Zustand möglich war. Die Alkoholfahne entging seinem Chef nicht. Genauso wenig entging ihm, dass mittags die Dame vom Vortag die Halle durch die Hintertür verlassen hatte. Maik dachte zwar heute daran, die Blume zu beschaffen, zog aber, sobald er die Wohnung betreten hatte, den Telefonstecker raus und schlief tief bis zum nächsten Tag durch.
Seine Psyche war wieder einigermaßen geradegerückt, bis er kurz nach 11 eine Frau an dem Kaffeautomaten sah. Schon wieder sie. Jetzt platzte ihm der Kragen.“ Was machen Sie hier? Wer sind Sie überhaupt?“ brüllte er los. Sie beschloss spontan, dass der richtige Zeitpunkt zum Antworten noch nicht gekommen war. Außerdem bemerkte sie eine leichte Panik und das war nicht gut für die Qualität der Recherchen. Sie lief schnell weg. Und der Chef kam.
„So, Maik. Jetzt reicht es langsam. Kannst du bitte deine privaten Angelegenheiten außerhalb der Arbeit erledigen? Diese Frau ist jetzt zum dritten Mal da, du machst immer mehr Fehler und über deinen gestrigen Zustand will ich gar nicht erst was sagen.“
„Zum dritten Mal?“ stotterte Maik. Er merkte wie sich ein Unbehagen über seinen ganzen Körper ausbreitete.
„Ja, vorgestern, gestern und heute“ antwortete sein Vorgesetzter genervt.
„Chef, Sie müssen mir glauben. Ich weiß nicht mal wer diese Frau ist“.
„Maik, ich glaube dir sogar. Aber das macht es auch nicht gerade besser“. Antwortete er streng. „Maik, das ist deine absolut letzte Chance. Nimm dein Leben in die Hand oder du kannst dich von diesem Job und den guten Aussichten, die ich dir gestellt hatte, verabschieden. Ich bin gut zu dir gewesen, aber irgendwann bin ich mit meinem Latein am Ende. Wir sind hier keine karitative Organisation. Reiß dich endlich zusammen, verdammt nochmal!“
Maiks Mund war trocken und seine Knie wurden weich: „Ja, Chef“. Maik war fassungslos, machtlos und fühlte die Ungerechtigkeit in Form eines pochenden Schmerzes im Brustbereich.
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Morgen besuche ich ihn zu Hause. Ich bin mir mittlerweile recht sicher, dass er der emotionale Typ ist. Kein Mörder aus Berechnung, sondern eher jemand, der aus Wut die Kontrolle über sich verliert und zuschlägt. Mit anderen Worten: Ich muss mir seine private Umgebung näher anschauen, um mir ein genaueres Bild von ihm und seinen potentiellen Tatmotiven zu machen. Vielleicht lerne ich ja auch bald seine Freundin kennen.
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Maik schwänzte den nächsten Arbeitstag, er fühlte sich irgendwie gar nicht wohl. Gründe für diese Verstimmung gab es übrigens genügend: der Anschiss von gestern, die Tabletten zur Beruhigung, die Flasche Korn (ein übler Fusel für 2,69 Euro, den er übrigens mit Sicherheit nie wieder anrühren würde), eine unnötige Rauferei in der Kneipe um die Ecke, zwei Stunden auf der Wache und ein verstauchter Fuß. Das war die traurige Bilanz seiner letzten Nacht. Arbeiten war demnach völlig undenkbar.
„Ding, dong“, es klingelte an der Tür.
Maik dachte, es könnte nur Melanie sein. Er freute sich so sehr auf sie. Sie würde ihn verstehen, umarmen, ihm helfen oder sogar einen Eiswickel für den Fuß zurechtlegen. Melanie war so mütterlich. Er vermisste ihre Wärme und ihre Kraft. Er fühlte sich wie ein Häufchen Elend.
Es war nicht Melanie.
„Sie schon wieder? Wer zum Teufel sind Sie?“
„Sie sehen übel aus. Darf ich reinkommen?“, die Kassiererin konnte ihren eigenen Mut kaum fassen. Aber ihr Sinn für Gerechtigkeit war stärker als die Angst.
„Nein“ krächzte Maik.
Sie ging rein. Öffnete das Gefrierfach, holte Eiswürfel raus, wickelte sie in einer Stofftüte und legte sie auf seinen angeschwollenen Fuß. Sie nahm ein Handtuch und wischte ihm das Blut vom Gesicht. Er war zu hilflos, um sich zu wehren.
Ding. Dong.
„Scheiße, das ist Melanie. Bleiben Sie ganz still“
„Maik, du Betrüger. Ich weiß genau, dass du da drin bist. Mach sofort auf oder ich komme rein“, so die hysterische Stimme von Melanie.
Eineinhalb Sekunden später drehte sich der Schlüssel im Schloss herum. Maik hatte keine Ahnung, seit wann Melanie einen Schlüssel von seiner Wohnung besaß. Eine Frage, die derzeit auch eher von zweitrangiger Bedeutung war. Sie kam rein und sah, wie eine fremde Frau ihrem Maik das Gesicht wusch.
Melanie flippte komplett aus, und nach einer kurzen, dennoch unmissverständlichen Predigt verließ sie türknallend die Wohnung. Die Schlüssel hatte sie dagelassen. Maik war erstaunt über Melanies Wortschatz.
***
Meine Ermittlungen gehen zu langsam voran, dachte die Kassiererin, sichtlich unzufrieden mit den bisherigen Ergebnissen. Die Situation wird zunehmend brenzlig und ich habe außer den Beweisen im Netz nichts vorzuweisen. Mir fehlen die Leiche, die Tatwaffe und das Motiv. Letztendlich bin ich noch nicht sicher, ob er die Tat schon begangen hat oder ob er unmittelbar davor steht. Der Typ kann auf Grund seiner Süchte und seiner Labilität zu allem fähig sein. Die Planungslosigkeit und Spontanität seiner Handlungen machen meinen Job auch nicht gerade leichter. Denn er kann jederzeit zuschlagen. Ich muss schneller sein. Ich muss meine Strategie überarbeiten. Vielleicht sollte ich einen Tick provokanter werden. Somit könnte ich ihn aus der Fassung bringen und in die Falle locken.
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Maik kam gerade von der Arbeit zurück. Er hatte dort seine Krankmeldung abgeben wollen und bekam stattdessen seine Kündigung überreicht. Der Chef zahlte ihm den heutigen Aufwand bar auf die Hand. Ein fairer Kerl, trotz allem, dachte Maik. Das Geld wurde sofort in Bierdosen umgewandelt. Er ging die Treppen hoch und siehe da, vor seiner Tür saß die unbekannte Frau. Natürlich.
Maik sah sie an, wie sie steiff wie ein Brett auf dem Stuhl wartete. Mit einem hochkonzentrierten Ausdruck im Gesicht. Wieviele Stunden sie dort wohl schon gesessen hatte?
Maik ging ein Licht auf: „Sie sind Zeugin Jehovas, stimmt´s? Mensch, warum haben Sie das nicht gleich gesagt! Da hätte ich Ihnen viel Zeit und Arbeit erspart. Sie sind doch Zeugin Jehovas, oder?“ Maik wurde nervös.
„Nein“, sie stand auf, räumte den Sitzplatz weg und ging. Auch diesmal schweigend.
Das war Psychoterror. Maik trank eine Dose in einem Schluck weg, noch bevor er seine Wohnung betreten hatte. In der Unordnung seiner Bude fiel ihm nicht auf, dass der zweite Wohnungsschlüssel, der gestern noch durch die Gegend geflogen war, wieder fehlte.
Er ließ sich auf das Sofa fallen und war am Ende.
Ding. Dong.
Eigentlich ist es jetzt egal, wer es ist dachte er. Es war Melanie.
„Melanie, lass mich doch alles erklären“. Melanie gab ihm überraschenderweise einen Kuss auf die Backe. „Ich war gestern sehr aufgedreht und habe dir keine Chance gegeben. Ich finde, wir sollten sprechen.“ Maik spürte das Glück , aber er ahnte auch, dass dies von kurzer Dauer sein würde. Zu kurzer.
***
Ich werde ihn jetzt zur Rede stellen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Aber vorher rufe ich die Polizei an und erzähle ihr, dass ich auf eigene Faust gerade versuche, einen Mörder zu ertappen und dass sie bitte Verstärkung schicken soll.
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Maik hörte das Geräusch eines Schlüssels. Die Tür öffnete sich und die Kassiererin kam herein.
„Maik, ich darf doch Maik sagen. Du möchtest doch schon seit Tagen mehr über mich wissen. Ich bin bereit, dir die Informationen zu geben““
Melanie konnte nicht fassen, dass die Neue schon den Wohnungsschlüssel hatte. Der ohrenbetäubende Knall einer Ohrfeige beendete das neugewonnene Glück zwischen ihr und Maik. Ja, sie hatte Kraft, dachte er.
Maik wandte sich der Kassiererin zu und sprach jetzt mutterseelenruhig: „Nachdem du mein Leben zerstört hast, ist eine Erklärung das minderste, was ich von dir verlangen kann. Ich höre“
„Du wirst es nicht verstehen, wie und warum ich dich durchleuchtet habe, aber ich werde versuchen, es dir zu erklären.“ Sie setzte sich neben ihn.
„Ich bin seit über 26 Jahren Kassiererin. Ich weiß, was für ein Mensch hinter jedem Einkauf steckt. Ich weiß, in welcher Gemütslage sich eine Käuferin befindet, wenn sie Schoko-Trauben-Nuss-Schokolade und Chicoreesalat aussucht. Ich kann dir sagen, wann ein Mann zum letzten Mal gevögelt hat und ob seine Partnerin ihm einen Orgasmus dabei vorgespielt hat. Und zwar nur anhand der postkoitalen Einkäufe. Ich weiß, wie oft ein berufstätiger möchtegernerfolgreicher Mann seine Mutter im Altenheim besucht. Beispielsweise anhand der Whiskyflasche, die er sich halbjährlich kauft, wenn er an sie denkt und sich hoch und heilig verspricht, dass er nächste Woche bei ihr vorbeischaut. Ich weiss, seit wann der Hund der alten Dame tot ist, obwohl sie noch so tut als wäre er am Leben. Ich…“
„Du spinnst“ fasste Maik seine Gedanken laut zusammen.
„Und du bist ein Mörder“ antwortete sie siegessicher.
„Waas?“
Sie trug ihre Gedanken weiterhin hemmungslos vor: „Die Konstellation Bockwurst, Ketchup, Blumenkohl ergibt ein klares Bild, das einen Mörder kurz vor seiner Tat profiliert. Die Wurst stellt das Opfer in seiner Hilflosigkeit und seiner Kurzlebigkeit dar. Die Wurst sagt uns auch, dass der Mörder eher einer einfacheren sozialen Schicht angehört. Ein Anwalt hätte seinen Mord konsumtechnisch mit einem T-Bone Steak oder einem Rinderfilet angekündigt. Ketchup ist in diesem Fall die klassische Metapher für Blut. Auch hier wird die Armut des Täters ersichtlich. Kein HEINZ, sondern eine „No-Name- Ware“. Die Botschaft war aber eindeutig, weil du roten Tomatenketchup und nicht beispielsweise Curryketchup ausgewählt hast, der die ganze Geschichte entschärft hätte und dich zwar als geschmacklos, aber harmlos dargestellt hätte. Kannst du mir folgen? Und der dritte Baustein, der Blumenkohl als unverkennbares Symbol für deinen Gemütszustand. Er steht für unkontrollierte Bitterkeit, Wut und Rachegelüste. Nicht wahr?“
Sie stellte die Frage tatsächlich, als würde es sich um eine Floskel handeln. Alles war ja selbstverständlich.
„Diese Puzzleelemente, diese Mischung aus Produkten kann sich nicht zu einem rational-kulinarischen Bild fügen. Es kann nur die die perverse, natürlich unbewusste Wiederspiegelung einer klaren mörderischen Absicht sein. Ja, so ist der Mörder ins Netz gegangen.“
Sie guckte ihn stolz und mit einem siegessicheren Gesichtsausdruck an.
Maik merkte, wie sich langsam aber sicher ein Gefühl in ihm regte. Irgendetwas Übermächtiges nahm Form in ihm an.
Interessanterweise wusste er, welchen Einkauf sie meinte. Er konnte sich an jenen Tag genau erinnern.
Es war kurz vor 19 Uhr, sein Magen knurrte, sein Kühlschrank war leer und er hatte nur noch eine Packung Hamburgerbrötchen in seinem Schrank gefunden. Er raste die Treppe herunter, als Frau Konradin, die Nachbarin vom dritten Stock, ihm mit ihrem langsamen, zittrigen Schritt entgegenkam. Keine Zeit zum Smalltalk mit der Alten, dachte er.
„Wo brennt`s, junger Mann? “fragte Frau Konradin. „Nimm dir Zeit und nicht das Leben“, sagte sie mit ihrem Ich-bin-immer-gut-gelaunt-Lächeln.
„Sie haben gut lachen, wenn ich nicht in zwei Minuten im Supermarkt bin, gibt es heute nichts zum Abendessen. „
„Oh, das geht natürlich nicht. Ich halte Sie auch nicht länger auf. Ahh, Horst, können Sie mir bitte einen Blumenkohl mitbringen?“ Sie holte im Schneckentempo einen 5 Euro-Schein aus ihrer Tasche und sagte: „Den Rest darfst du behalten“.
Das klang gut, fand er. Allerdings hatte er keine Ahnung, was ein Blumenkohl kostete. Womöglich musste er noch draufzahlen. Das hätte ja gerade noch gefehlt. Er steigerte sich ein bisschen in die potentiellen Frechheit und den Geiz seiner reizenden Nachbarin hinein und beeilte sich dann, doch noch sein Ziel zu erreichen. Er stand vor dem Regal und dachte nach. King Currywurst oder Bockwürstchen aus der Dose? Currywurst hätte den Vorteil, dass er den Ketchup nicht extra kaufen müsste, anderseits waren in einer Dose mehr Würstchen drin als in der Packung. Er zählte das Geld ab und entschied sich dann für die Dose und ein Heinz-Imitat.
Nun zur Gemüseabteilung. Huch, war sie schon immer am Eingang gewesen? Das war ihm bisher nicht aufgefallen. Hmmm, waren die Blumenkohle die weisen oder die grünen? Er nahm den billigsten, der war weiß und er freute sich, dass sein Preis deutlich unter fünf Euro lag. Es reichte noch für ein Bierchen in seiner Stammkneipe. Ein durchaus gelungener Einkauf, wie er dachte.
Wie falsch Maik mit seiner Einkaufserfolgs-Bewertung lag, weiß er erst heute.
***
„Blumenkohl? Scheiße, scheiße. Du hast mein Leben wegen eines beschissenen Blumenkohls zerstört? Blumenkohl ist total uncool, hey. Kapierst du das nicht? Wer zum Teufel isst Blumenkohl, hä? Ich jedenfalls nicht. Du bist total wahnsinnig. Du bist krank im Kopf. Du gehörst eingesperrt.“ Seine Wut konnte er gar nicht mehr in Worte fassen, obwohl er es durchaus versuchte. „Du bist die bescheuertste und beschissenste, hirnamputierteste Schlampe, der ich je in meinem inzwischen völlig sinnlosen Leben begegnet bin“, schrie er lauter, als politisch korrekt gewesen wäre.
„Hör mal zu, du besessene Möchte-gern-Gemüse-Psychologin: Ich habe den Blumenkohl für meine alte Nachbarin gekauft. Höööörst du?“
Sie hörte ihn bestimmt, genauso wie ihn möglicherweise alle Bewohner dieser Bremer Vorstadt hören konnten.
„Ich hasse Blumenkohl, ich habe noch nie - hörst du - noch nie Blumenkohl probiert. Und ehrlich gesagt, denke ich nicht daran, dieses beknackte Grünzeug jemals zu probieren. Und jetzt erst recht nicht!“
Sie guckte ihn verdutzt an.
Maik konnte seinen Zorn überhaupt nicht mehr kontrollieren. Das Übermächtige hatte ihn im Griff „Scheiße. Ich hätte keinen Alkohol vor dieser Konversation trinken sollen. Das macht mich immer leicht aggressiv“ versuchte er sich zu besänftigen.
Doch die Verbitterung konnte mehr. Er packte sie an der Gurgel und plötzlich taten seine Finger etwas, worum er sie gar nicht gebeten hatte. Sie umschlangen ihren Hals und drückten. Und drückten. Er hörte knackende Geräusche. Knackten seine Fingerknorpeln oder ihre Halswirbeln? Er war sicher, dass sich diese Frage bald klären ließ. Seine Finger hatten offensichtlich nicht genug. Seine Daumen wollten sich scheinbar berühren und sie pressten deshalb weiter. Ihr Gesicht wurde blasser. „Du solltest dir einen Job im Freien suchen“ hörte er seine Stimme zynisch sagen,“ du bist so blass“. Ihre Lippen wurden zunehmend blauviolett und es kam nur noch ein nahezu lautloser – dennoch durchaus verständlicher Satz aus ihrer schwachen, durchbrochenen Kehle heraus: „Ich wusste, dass du ein Mörder bist!“
EPILOG
Wenige Sekunden später hörte man die Polizeisirenen. „Wie konnten sie so schnell hier sein? „ wunderte sich der frischgebackene Mörder. Kommissar Kaiser betrat eine Minute später die Wohnung. Er sah Maik mit dem reglosen Körper noch zwischen seinen ungehorsamen Händen. Der Täter hörte noch, wie der Polizeichef zu seinen Kollegen sagte: „Ich liebe solche Fälle, bei denen keine Ermittlung mehr notwendig ist. Alles was ich brauche liegt auf der Hand.“
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2009
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