Béatrice, die Metzgerin
„Ich möchte Metzgerin werden“ verkündete Béatrice selbstbewusst. Sie saß mit ihrer Freundin Leonor in der Vorlesung „Karolingisches Reich“, einer Wahlveranstaltung, die nur weibliche Jurastudentinnen aufsuchten. Das makellose Aussehen des Redners und Rechtwissenschaftlers Dr.Dr. Lende hatte sicherlich einen Einfluss auf diese unausgewogene Verteilung der Geschlechter. „Wie bitte?“ Leonor war fassungslos „Hör mal, das mit Richie ist schiefgelaufen. Zugegeben. Obwohl ihr eigentlich zusammengepasst hättet. Wie oft habe ich mir eure Prachthochzeit vorgestellt? Ihr habt euch einfach nur zum falschen Zeitpunkt getroffen. Du solltest übrigens zu einer Sitzung von Dr. Waala gehen. Er hat eine interessante Theorie zum metaphysischen Zeit-Raum-Bezug. Richie und du, ihr wart einfach nicht auf demselben Koordinaten. Hör dir Dr. Waala an. Vielleicht kann er dir helfen. Außerdem …“
„Außerdem was? fragte Béatrice sichtlich genervt. „Außerdem ist Béatrice kein Name für eine Metzgerin.“
„Leonor, du nimmst mich nicht ernst“ antwortete Béatrice, die übrigens inzwischen keine Ahnung mehr hatte, wie sie auf diese glorreiche Idee gekommen war, ihren beruflichen Werdegang etwas zu modifizieren. Aber sie musste ja auch nicht jede lebenswichtige Entscheidung rechtfertigen. Nicht vor sich selbst und schon gar nicht vor ihrer besten Freundin.
Der erste Ausbildungstag schien zunächst recht unspektakulär zu verlaufen. Béatrice hatte schon befürchtet, sie müsse sich mit blutigen, möglicherweise gar verstorbenen oder - noch schlimmer - zerstückelten Tieren auseinandersetzen, aber es war nicht so. Sie saß zusammen mit den anderen Metzgeranwärtern, die zu ihrer großen Überraschung, alle männlichen Geschlechts waren - und das obwohl keine weibliche gutaussehende Figur vorne am Pult stand. Die Stimme des Meisters hallte in der Fleischhalle: „Nach dem Absetzen werden die männlichen Rinder durch den Tierarzt kastriert und somit als Ochsen bezeichnet. Dies ist u.a. auch notwendig, da jetzt die Rinder geschlechtsreif werden und weibliche und männliche Rinder sonst nicht gemeinsam auf die Weide gehen könnten.“ Gelächter. Einige ihrer Klassenkameraden äußerten lauthals tiefes Mitleid für die Rindviecher.
Sie hörte verdutzt zu, wie der Metzger-Häuptling ihnen anhand eines leicht angegilbten Posters die unterschiedlichen Teile eines Ochsens höflich vorstellte. So eklig fand sie das gar nicht mal: Brust, Filet, Ochsenschwanz. Mmmmh, sie musste spontan an die Ochsenschwanzsuppe ihres Lieblingsrestaurants „Das Maronenhäubchen“ denken. Sie sah sich kurz um und stellte fest, dass die Menschen etwas anders aussahen als sie. „Aha, das ist also Klassenunterschied“ philosophierte sie stumm. Ihre Gedanken waren nicht überheblicher Natur, sondern schlicht und ergreifend wissenschaftlich. „Diese Menschen gehören also einer anderen sozialen Schicht an als ich. Und das NORMA „Label“ hat hier offensichtlich den gleichen Stellenwert wie Louis Vuitton in unserem Revier.“ Das machte ihr nichts aus. Sie hatte noch nie Angst vor Begegnungen der dritten Art gehabt und würde jetzt auch nicht damit anfangen, log sie sich an. Sie wurde aus ihrer tiefgehenden Sozialanalyse von einem labberigen „Platsch“ geweckt. Der Lehrer hatte gerade auf ihren Tisch ein Schweineherz hingeknallt, die Raumperspektive änderte sich … und sie hörte ihren Körper auf den Boden fallen. Das Letzte was sie sah, war ein Bild an der Wand, auf dem drauf stand: „Blick nach vorne und die Ärmel zurück, so schafft man jede Hürde."
Das war das erste von vielen Malen, an denen sie diese Woche in Ohnmacht fallen würde. Der Metzgerausbilder Müller hatte ihr nach zwei Tagen angeboten, nur noch auf dem Boden sitzend ihre Ausbildung weiterzuführen, um Arbeitsunfälle zu vermeiden, versteht sich. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ganz einschätzen, ob ihr Projekt wirklich ein bahnbrechender Erfolg sein würde. Am Freitag, kurz nachdem sie wieder mal alle Sinne verloren hatte, brüllte sie ein junger Mann an, einer ihrer Metzgerkommilitonen: „Verdammt nochmal, wir wollen hier weiterkommen. Wie soll das gehen, wenn wir dich die ganze Zeit vom Boden wegkratzen müssen? Was machst du überhaupt hier, Prinzessin?“ Ihr Vater nannte sie auch immer Prinzessin, sie fühlte sich gerührt - vorübergehend. „Willst du mal von einem richtigen Mann gepackt werden? Oder hast du irgendeine perverse Phantasie und möchtest es einfach zwischen hängenden Schweinen treiben? Dann lass uns das hinter uns bringen und verpiss dich.“
Béatrice fand, dass der Mann ein bisschen wie Patrick Swayze in „Dirty Dancing“ aussah, nur, dass er eben nicht tanzte und nur „dirty“ war. Sie verstand nicht, was er mit „treiben zwischen den Schweinen“ gemeint hatte, wahrscheinlich handelte es sich dabei um einen traditionellen Metzgertanz. Oder vielleicht ein Initialritus? Egal. Sie merkte, dass sich ein inneres, wahrscheinlich leicht verrostetes, wenn nicht gar komplett ungenutztes Gefühl bei ihr regte. Man nennt es den Stolz.
Ihre Gedanken nahmen freien Lauf. Béatrice hatte noch nie eines ihrer Vorhaben abgebrochen, befand erneut ihre innere Stimme. Na gut, Ballett hatte sie aufgehört weil die Mädels zickig zu ihr waren, Tennis war halt nur was für Männer, Klavierspielen, gäääähn…Mmm, ich habe diese ganzen Sachen doch nur wegen meinen Eltern angefangen, ich wollte sie nicht desillusionieren. Diese Gefahr bestand übrigens jetzt nicht mehr. Ihre Eltern waren von Béatrices neustem Unterfangen dermaßen enttäuscht und entrüstet, dass es mit Worten kaum zu fassen war. Sie schaute dem jungen Mann mit einer übertrieben hochmütigen Pose tief in die Augen und sagte: „Patrick, ich werde Metzgerin“.
„Scheiße, Mann, ich heiße nicht Patrick“.
Am Wochenende hatte Béatrice Zeit, sich mit ihrer neuen Situation zu befassen und passende Strategien zu entwickeln. Ihr oberstes Ziel hieß, erst mal nicht mehr in Ohnmacht zu fallen. Und da fiel ihr ihre Freundin Alicia ein. Die, die beim Horrorfilme anschauen immer autogene Trainingseinheiten durchführte. Genau, das war die Lösung. Béatrice rannte zum nächsten multimedial ausgerüsteten Einkaufszentrum und kaufte gleich sieben DVDS, die sich ausgiebig mit Tiefenentspannung und Angstbewältigung beschäftigten. Sie fühlte sich schon viel besser und würde jetzt ihren grandiosen Einfall mit einem ausgiebigen und vor allem ergiebigen Bummel belohnen. Sonntagnachmittag fielen ihr die DVDs wieder ein. Panik. Sie versuchte den ersten Film anzuschauen und schlief nach guten 2 1/2 Sekunden tief ein und wachte erst gegen Abend wieder auf. „Aaah, eine, mindestens eine Übung muss ich können“. Nachdem sie beim Einbein-Lotus-Zehenspitzenstand kläglich gescheitert war, entschied sie sich für die Übung „Sukhasana“, im Volksmunde auch Schneidersitz genannt.
Am Montag probierte sie, sobald sie die Kühlhalle betreten hatte, ihre Strategie aus. Sie setzte sich im Schneidersitz auf dem Boden, schloss die Augen und atmete 20-mal tief ein und aus. Das klappte. Sie verbrachte zwar nahezu den ganzen Montag auf dem Boden, aber immerhin bei vollem Bewusstsein.
Die Tage vergingen und Béatrice schaffte es mittlerweile auch einige Stunden stehend. Sie hatte sogar schon einmal ein Kotelett berührt und ein Fleischstück von den Sehnen befreit. Béatrice fühlte sich wie neugeboren.
Patrick, der nicht Patrick hieß, war inzwischen etwas von ihrer Hartnäckigkeit beeindruckt. Außerdem sah das Püppchen verdammt gut aus, fand er. Er sprach sie in der Mittagspause an: „Möchtest du mit mir essen?“ Béatrices Augen glänzten, denn ehrlich gesagt hielten sich die sozialen Kontakte in ihrer Ausbildungsstätte eher in Grenzen (obwohl sie durch die Ohnmachtsanfälle wohlbemerkt oftmals berührt worden war), aber das hier war was anderes, sie spürte es deutlich: “Ich? Ja, ja. Ich kenne ein gutes, schnuckeliges Lokal. Mit dem Taxi sind wir in nur 20 Minuten da.“ Nicht-Patrick schaute sie leicht verzweifelt an und fing an, sein Vorhaben zu bereuen: „Hier“ Er setzte sich auf die Eingangsstufe zur Metzgerhalle und gab Beatrice ein Päckchen. „Das ist`n Curry Maxe. Die beste Currywurst weit und breit“. Sie schaute sich die surrealistische anmutende Verpackung dieser Mahlzeit genau an und erwiderte. „Entschuldigung, ich esse kein Fleisch. Ich bin Vegetarierin.“ Jetzt musste Patrick laut lachen. „Du erstaunst mich immer wieder.“ Er drehte die Packung und las die Ingredienzen durch. „Keine Angst, in dieser Wurst ist kein bisschen Fleisch drin. Diese Wurst war nicht mal in der Nähe eines Tieres.“ Béatrice war auf Grund der guten Argumentation ihres Kommilitonen sichtlich beruhigt und verschlang die indisch gewürzte Wurstattrappe mit Genuss. Dem Ende der sozialen Isolation ein Stück näher zu kommen förderte offenbar den Appetit.“Wie heißt du eigentlich?“ „Béatrice, das stammt aus dem okzitanischen und bedeutet die Seligmachende“. Der frisch getaufte Patrick antwortete darauf: „Ich nenne dich Trixie“
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Eines Tages tauchte ein Mann ganz in Schwarz auf. Er wirkte unsympathisch und stieg aus einem Porsche Cayenne aus. Auch schwarz. Er ließ demonstrativ den Motor laufen, um die Kürze des kommenden Gesprächs zu signalisieren. Er führte Béatrices Meinung nach eine recht laute und zudem fäkalgeprägte Konversation mit Herrn Müller durch. Streng genommen war es ein Monolog, denn Müllers Stimme war nicht zu hören. Béatrice bemerkte sofort, dass dieser Mann zwar eher der Vuitton- als der NORMA-Gruppe angehörte, sie mochte ihn trotzdem nicht. „Dieser Ignorant hat sicherlich noch nie ein vegetarisches Würstchen probiert“, dachte sie bemitleidend. Der Mann ohne Wurstkenntnisse ging und hinterließ alle mit einer ernsten Miene. „Was ist los?“ fragte Béatrice. Patrick, der inzwischen von allen Patrick genannt wurde und langsam nicht mehr wusste, wie er eigentlich richtig hieß, erklärte ihr, dass er ein Immobilienhai sei, der dieses Gelände kaufen wollte. „Er möchte hier Luxus-Appartements bauen“ meldete sich Müller deprimiert “ wegen der Nähe zur Stadt und dem grünen Umland. Das ist das Ende des Schlachthofs und das Ende der Metzgerausbildungsstätte. Einen anderen Platz für uns gibt’s in dieser Stadt nicht“. Béatrice, die sich von ihrem Vorhaben, Metzgerin zu werden, von nichts und niemandem mehr abbringen lassen wollte, entgegnete erschüttert. „Das können wir nicht zulassen. Wir möchten doch alle Metzger werden! Wir sind eine großartige Familie und das ist unser Heim“. Große Augen starrten sie an. „Was willst du machen, Püppchen? Willst du ihm die Leviten lesen, einmal anbrüllen und sagen, dass er das nicht machen darf?“ fragte Patrick. „Ja“ antwortete Béatrice schlicht.
Béatrice ging an jenem Abend zu ihrem Vater. Sie hatten sich in letzter Zeit nicht oft gesehen. „Papa, ich möchte einen Baugrund käuflich erwerben, am besten am Stadtrand und in Naturnähe, um für mich später dort ein schönes Haus errichten zu lassen. Es soll meiner zukünftigen Familie höchste Lebensqualität bieten, Nähe zur Stadtmitte und das Grüne in Sichtweite, damit die Kinder mal unbeschwert im Freien herumspringen können“. Der Vater war entzückt. Die Kleine wird reif, bemerkte er – und sie ist zuckersüß, meine Prinzessin. „Ich habe mich in einem Grundstück verliebt (namens Patrick – dachte sie), aber ein böser, hemmungsloser Makler kam mir zuvor. Er will es, egal was es für mich bedeutet. Und er hat laut geschrien. Ich bin sehr erschrocken“. Mein Gott, kann ich unehrlich sein, erkannte sie.
„Wo ist diese Immobilie?“ fragte der beschützende, pflichtbewusste Vater. „Feldberghof 122“ antwortete sie sehr rasch, sehr bündig. Der Vater verschwand und kam ein paar Stunden später zurück. “ Der Hai heißt Peter Böck. Er hat so viel Dreck am Stecken, dass ich ihn problemlos von seinem Plan abhalten kann. Als Staatsrichter kenne ich die richtigen Überredungsmethoden, Schätzchen“.“Oh, Papa“ ,sie umarmte ihn recht ehrlich und küsste ihn auf die Wange.
Drei Tage später hatte Béatrice die Besitzerurkunde in der Tasche. Sie fuhr zur Immobilienkanzlei Peter Böck und betrat siegessicher das Büro des Chefs: „Du Gesäßöffnung, du darfst die Metzger-Schule nicht schließen. Du darfst sie ab jetzt nicht einmal betreten. Sie gehört mir! Du hast es nicht anders gewollt.“ Sie ging raus und protzte vor Stolz. Sie hatte nämlich noch nie einen Fremden geduzt. Sie war noch ein bisschen nervös vor Aufregung und beschloss spontan, ihre Yoga-Übung auf der Straße vor der Kanzlei zu machen. „Aghhh“, jetzt fühlte sie sich besser.
Beatrice wusste jetzt, dass Trixie ein verdammt guter Name für eine Metzgerin sein würde.
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2009
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