Er stand neben diesem Gebäude und betrachtete seine graue, etwas heruntergekommene Fassade. Es war mal eine alte Pinselfabrik gewesen. In diesem Gebäude werden Träume wahr, dachte er und erwischte sich dabei, diese Werbesprache zu nutzen, die ihm jahrelang das täglich Brot eingebracht hatte. Verdammt. Er konnte sie nicht ganz ablegen. Er betrat die alte Fabrik und bewunderte sein Werk. Regale und noch mehr Regale, die Ware darin fein sortiert, etikettiert und sofort auffindbar. Auf einem langen Stahltisch lag noch das Anatomiebuch, aufgeschlagen auf S.113: der Kehlkopf …..heute kannte er jeden Winkel der Larynx auswendig.
Das Treppenhaus der Kinderklinik ist still in dieser Nacht. Helena kommt, ihre Augen strahlen diese kindliche Vorfreude, ihre Brüste strahlen etwas anderes aus. Sie ist hübsch, aber nicht mein Typ. Leidenschaftlich und schnell werden wir zu einem Menschen. Sex als Mittel zum Zweck – ein Deal wie jeder andere – denke ich und schaukele weiter. Leises Stöhnen füllt den Raum. Ihre Schicht auf der Intensivstation nimmt ein süßes Ende und sie überreicht mir diskret das Päckchen mit dem Wundermittel.
Zu wissen, dass ich niemandem weh tun muss, um meine Mission zu erfüllen, macht mich zum Heiligen. Diese milchig weiße sedierende Flüssigkeit -Propofol- macht mich zum Heiligen. Ich bin stolz auf mich. Noch. Ich weiß, dass der Zweifel später kommen wird. Aber ich werde mit ihm fertig. Ich bin immer mit ihm fertig geworden.
Ronnie Feldermann ist Koch. Er hasst seinen Job, nein, er hasst seinen Chef und seine machtsüchtigen, durch akute Unehrlichkeit und Arroganz geprägten Kollegen. Er hasst die Arbeitszeiten, das nach vermodertem Tabak riechende After-Shave von Dennis, dem 2. Koch in dieser Sterne-Staffel voller Idioten. Er hasst die giftgrüne Farbe der Küche, die seiner Meinung nach nur zwecks psychischen Folterns und zur Förderung der Appetitlosigkeit ausgewählt wurde. Er hasst sich, weil er nicht den Mut hat, jedem einzelnen dieser kulinarischen Pappnasen die Meinung zu sagen.
Kochen ist Kunst. Er würde gerne alles, was in ihm steckt, lauthals herausschreien. Er bereitet gerade Jakobsmuscheln auf einer Ingwer-Weißwein-Frischkäse-Soße zu, dazu ein Pastinaken-Kartoffel-Carpaccio. Dieses kulinarische Kunstwerk passt nicht zur fäkalen Sprache, die ihm im Zusammenhang mit seinen Kollegen einfällt. Dennis raucht in der Küche und Asche fällt über die Jakobsmuscheln. Ronnie läuft raus und läuft und läuft. Am Ende der Straße setzt er sich auf den nassen Bürgersteig und kotzt sich die Seele aus dem Bauch. Niemand hört ihm zu…
Es gibt zu viele unerhörte Stimmen, das ist unerhört. Ich lache für mich über mein kleines Wortspiel und stelle mit Entsetzen fest, wie ungewohnt das Lächeln für meine Gesichtsmuskulatur ist. Vielleicht würde es an dem Tag besser werden, an dem ich die Stimmen befreit habe.
Das Einfamilienhäuschen in Finkenwerder war eine alte Villa aus dem 19. Jahrhundert. Innen komplett renoviert, außen ein bisschen verwildert. Die Symbiose aus dem Perfektionismus meines Vaters und der künstlerischen Ader meiner Mutter kamen hier beispiellos zum Vorschein. Papa kam von einer Geschäftsreise zurück. Mama war weg, aber ich weiß nicht mehr, wo sie war. Die Erinnerungen an diesen Tag konzentrieren sich auf das Wesentliche. ‘ Thorsten, Erik, ich bin wieder da und habe euch etwas mitgebracht’ rief mein Vater, kaum war er in den Vorgarten eingetreten. Ein Auto für Erik, ein Ball für mich. Ich hasste Bälle. Erik schenkte dem Auto einen raschen, desinteressierten Blick, riss mir den blöden Ball aus den Händen und lief mit Papa in den Garten. Es roch nach feuchten Rosen. Ich hörte die Stimmen: ‘Papa, schieß. Na los Papa, mach schon.’
Das Auto war ein Opel Olympia Baujahr 1951, Model 1:18, schwarz-silber. Im Gegensatz zum Vorgängermodell hatte dieser ein Reserverad, 2 PS mehr Leistung, Nebel-Lampen und einige Karosserie-Veränderungen. Autos kannte ich damals bis zum letzten Detail – nie wieder habe ich mich so sehr für etwas interessiert – außer natürlich für die Anatomie des Kehlkopfs. Aber das war ja nur eine medizinisch- technische Notwendigkeit sozusagen. Ich wollte ja niemanden umbringen, deshalb musste ich mein Handwerk genauestens kennen. Plötzlich packte mich die Wut, ich nahm den Opel und warf ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Papa kam wie ein Blitz durch die halboffene Eingangstür herein, schnell – zu schnell für meinen Geschmack. Er starrte mich an und zum ersten Mal merkte ich, dass seine Augen olivgrün waren. War das das erste Mal, dass ich ihm in die Augen schaute? Jedenfalls war es das letzte Mal.
Papa packte mich am Kragen und sperrte mich in die kleine ungenutzte Speisekammer ein. Sie war dunkel, roch nach alten Batterien und gab mir das Gefühl, zu ersticken. Ich schrie und schrie. Nichts geschah. Ich weiß nicht, wie lange ich dort war. Ewig. Endlich kam Papa. Er kam mit einem Becher, einem Plastikbecher. Der Inhalt roch ranzig und mir wurde ein bisschen übel, als ich meine Nase annäherte. Trink. Ich gehorchte ihm und schluckte alles auf einmal. Es brannte so fürchterlich, so höllisch, dass ich für einen Moment mein Bewusstsein verlor.
Die Schmerzen holten mich jedoch schnell aus der Ohnmacht zurück, um mir mitzuteilen, dass gerade mein Hals von innen weggeätzt wurde. Tolle Mitteilung. Und dann verschwand meine Stimme. Ich schrie der Form halber oder weil mir sonst nichts einfiel noch eine Weile lang. Lautlos. Meine „Nicht-Stimme“ blieb unbemerkt. Scheinbar.
Zwei Tage später sperrten Mama und Papa die Tür auf: „Thorsten, um Himmels Willen – wo hast du nur gesteckt?“ Meine Mutter brachte in Tränen aus. Echte Tränen. „Wir haben dich überall gesucht. Wieso hast du dich hier eingesperrt? Wieso hast du uns nicht gerufen?“ Ich antwortete nicht, ich antwortete nie wieder.
Mein Vater brachte mich zu einem der besten Ärzte – er hatte gute Beziehungen. Der Arzt sagte, ich hätte Glück gehabt, trotz des Schadens wären die Stimmbänder noch einigermaßen heil – man könnte alles operieren. Ich war froh, denn ich hatte ja Glück gehabt. 10 Jahre und sieben Operationen später brachte ich den ersten Ton wieder aus mir raus – ein gesprächiger Typ wurde ich trotzdem nicht. Ich hatte aber in dieser lautlosen Phase immerhin eine Aufgabe von meinem Ich gekriegt: Ich wusste, warum ich auf diese Welt gekommen war und ich wusste, dass meine Bestimmung darin lag, alle unerhörten Stimmen zu retten, zu befreien.
Irgendwann. Irgendwann würde ich alle diese etikettierten Gläschen aufmachen und diese Bändchen, diese Resonanzbändchen frustrierter Botschaften würden schreien. Ich konnte den Tag kaum erwarten.
Da war ja dieser Koch, das arme Schwein. Ich verlor keine Zeit. Zack! Eine Spritze Propofol und ab in die Pinselfabrik. Ich setzte ihn in einen alten Rollstuhl und lehnte seinen Kopf an eine Friseursalon-Waschanlage, solche die man üblicherweise benutzt, um sich die Haare von einer hübschen Praktikantin waschen zu lassen. Ich musste kurz an Helena denken und merkte, wie die Hose etwas zwickte. Keine Zeit für solche Gedanken. Ronnie Feldermann nahm unbewusst Platz. Ich musste ihn anbinden. Trotz der Betäubung konnte es zu Zuckungen kommen und ich wollte ihn ja nicht beschädigen, ich wollte ja nur seine Stimme retten.
Ich spreizte sein Halsinneres mit einem gynäkologischem Instrument, einem sogenannten Scheidenspekulum, auf. Zugegeben, das war irgendwie das falsche Fachgebiet, aber schließlich war ich kein Arzt und ich wollte mich nicht auffällig machen, indem ich mich nach laryngoskopischen Instrumenten umguckte. Das Ding schafft es auch. Schön Mund aufmachen: Aaah, sagte ich für mich und schaute tief in diesen Hals rein: da waren sie schon, Epiglottis und Stimmbänder. Ich nahm die kleine Schere und fühlte mich so, als würde ich die Saiten einer Gitarre durchschneiden. Klippp, klippp.
Mit einer langen, feinen Pinzette nahm ich diese Stimmbänder und steckte sie in einem mit verdünntem Alkohol gefülltes Gläschen. Glas zugeschraubt. Und Etikette dran geklebt. Ronnie Felderman, Befreiung am : 21.04.02, Angaben. Frustrierter „Möchtegern-Fünf-Sterne-Koch“. Und ab ins Regal. 231 ehemalige Johannisbeerenmarmeladengläschen. Ich hatte den höchsten Pro-Kopf-Johannisbeerenmarmeladenkonsum der Republik. So viel stand fest. Ronnie saß – natürlich - noch mit offenem Mund auf seinem Coiffeurstuhl . Sein blutverschmiertes Gesicht fragte nicht nach einem Haarschnitt. Gut so, denn ich bin kein Frisör. Ich rollte ihn mit dem Stuhl in die Duschanlage der Fabrik, spritzte ihn ab und zog ihm warme trockene Wäsche an. Ich wollte schließlich nicht, dass er sich erkältete. Ich fuhr ihn dorthin, wo ich ihn getroffen hatte und hinterließ ihn schlafend auf der Straße.
Der Tag X war gekommen. Ich konnte vor Aufregung nicht einschlafen. Heute vor 25 Jahren hatte ich ein Wochenende in einer Speisekammer verbracht. Eine runde Zahl, fast wie eine Silberhochzeit. Das war ein Grund zum Feiern. Ich fuhr zur Fabrik, riss alle Türen auf, alle Fenster auf und machte mich an die Arbeit. Ich holte alle Gläschen raus und stellte sie nebeneinander vor die Pinselmanufaktur. Wie eine Ameisenreihe standen alle verschlossenen Stimmbandbehälter nebeneinander.
Die Schlange fing vor der Eingangstür an und ging fast bis zum Ende dieses Grundstücks. Hmm, ich warf einen Blick auf die Etiketten: Toni Weimar, Befreiung am: 01.06.00 Angaben: drittklassiger Tennislehrer; Jessi Lewin, Befreiung am: 10.12.1999, Angaben. Mutter eines frechen Rotzbengels und Ehefrau der untreusten Seele aus Hamburg. Walter Steeg, Befreiung: 12.09.99, Angaben: Schauspieler der Kategorie Z, schlechter geht`s nicht, Marc Meinhofer, Befreiung 12.01.1998, Angaben: Miserabler Liebhaber, verschmäht von Männern und Frauen zugleich, Eric Henkel, Befreiung: 02.03.97, Angaben: Bruder und Arschloch.
Ich wusste gar nicht mehr, warum ich die Stimmbänder meines Bruders in diese Sammlung einbezogen hatte, er war es nicht wert, er passte nicht zum Rahmen. Egal, ich würde mir nicht diesen festlichen Tag von Erik oder was auch immer von ihm übrig blieb versauen lassen. Ich kann mich nur vage daran erinnern, dass ich bei seiner Befreiung nicht so sorgfältig vorgegangen war wie sonst. Meine Hände waren zu zittrig gewesen. Vielleicht hatte ich zu viel Kaffee getrunken, vielleicht war es auch der Hass. Ich glaube ich hatte damals zu tief geschnitten – ich weiß nicht mehr.
So, kein Platz für sentimentalen Kram. Ich holte meine zwei Lautsprecher raus und los ging´s. Bon Jovi grölte „Blaze of Glory“. Ich stellte mich an den Anfang der Schlange und fing an, alle Gläschen aufzumachen. Ich war so aufgeregt. Und 1 und 2 und 3 und 4. Nach knapp 4 Minuten hatte ich alle Gläser offen. 25 Jahre in vier Minuten. Ein Rekord? Ein komisches Gefühl machte sich breit.
Ich machte die Musik leise. Und Stille. Wie? Wieso Stille? Wo waren die Stimmen? Habt ihr denn nichts zu sagen? Habt keine Hemmungen, niemand kann mehr weghören. Die Unterdrückung war gestern. Heute ist eure Sprechstunde gekommen. Hihi – Sprechstunde-das klingt wie beim Arzt. Ich bin ein Typ mit Humor – das hätte ich nie gedacht. Sagt was. Stille. Allmählich fing ich an durchzudrehen. Wie unpassend an so einem Feiertag. Sagt doch endlich was, ihr schnödes Volk. Stille, die mir die Luft wegraubte. Sagt was, sagte ich zitternd. Das ist der Dank für all die Jahren. Jetzt sprach ich wie eine vorwurfsvolle Hausfrau mit Plastiklockenwicklern. Scheiß Pack. Stille. Aus. Fertig. Ich war ein Versager. Auch jetzt.
Ich ging in die Fabrik. Stellte mich vor den Badezimmer-Spiegel. In der rechten Hand die Schere, in der linken Hand das verdammte Scheidenspekulum. Ich schaute noch einmal auf das Gläschen, das ich gerade etikettiert hatte. Thorsten Henkel. Befreiung: Heute. Angaben: Versager. Stimmlos. Mal wieder
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2009
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Widmung:
Lars, der mich auf die Idee brachte