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Gruftmöhren

Es war ein milder Frühlingsabend, Pia Pastinake und ihr Freund Paule saßen in einem nagelneuen „Gurk zwodreivier“, den sie von Paules Vater geschenkt bekommen hatte, ‘quasi als vorgezogenes Hochzeitsgeschenk’, wie er mit reichlich Schulterklopfen, Zwinkern und Rippenstößen mehr als einmal betont hatte, und waren auf dem Weg zu einer Hochzeit, die für Pia von fast genau so großer Bedeutung war, wie es ihre eigene werden sollte. Ihre beste Freundin Rabea Petersilienwurz würde Morgen den Bund der Ehe eingehen, und zwar mit Rudolpho Rettich, Pias erster großer Liebe. Keine Sorge, das Verhältnis war von keiner Seite durch Groll oder Missgunst getrübt, denn die Liebe zwischen Rudolpho und Pia war längst in Freundschaft umgeschlagen, und das nicht erst an dem Abend, als Rudolpho Pia mit Paule bekannt gemacht hatte.
„Was meinst du, Schatz, wann sind wir da?“ Eine Frage, die Pia auf dieser Fahrt nicht zum ersten Mal stellte. Würde er jedes mal einen Cent dafür bekommen, dachte Paule schmunzelnd, hätte er am Ende der Fahrt sicher für den Rest des Monats ausgesorgt. Natürlich konnte er ihre Aufregung verstehen, trotzdem hielt er lächelnd den Mund, denn er hatte keine Ahnung, wie lange ihre Reise noch dauern würde. Nach den Informationen, die er sich vor der Fahrt besorgt hatte, und bei so etwas war er sehr gründlich, müssten sie nämlich schon längst da sein. Und auch der Wald, durch den sie gerade fuhren, und der stetig dichter zu werden schien, war seines Wissens auf keiner Karte verzeichnet gewesen.
„Bald müssten wir aber wirklich da sein, meinst du nicht auch?“, hakte Pia nach, und Paule ließ sich wenigstens zu einem gequälten „Hmmpff…“ hinreißen. Noch lächelte er dabei.

Die Straße wurde zum Weg, der Weg wurde schmaler, wurde zum Pfad, um schließlich, vollkommen überraschend, gar nicht mehr zu sein.
„Warum hältst du an, Schatz?“, fragte Pia, die überhaupt nicht auf die Straße geachtet hatte, sondern in ein altes Fotoalbum vertieft gewesen war, das sie für Rabea dabei hatte.
„Die Straße ist zu Ende“, erklärte Paule verwirrt. Seine Freundin lachte schallend los.
„Das ist keine Witz. Sieh doch aus dem Fenster.“ Bevor Pia sich über die verschwundene Straße wundern konnte, wurde es so dunkel, dass sie sie nicht einmal mehr gesehen hätte, wenn sie noch dort gewesen wäre. Ein kurzer Schreckensschrei entfuhr ihr. Auch Paule wurde nervös, so schnell war es noch nie dunkel geworden, das konnte nicht sein, das war doch gar nicht möglich.

Natürlich war es möglich, denn sonst wäre es ja nicht passiert. Hätte Paule nicht so angestrengt in seinem Gehirn nach einer meteorologischen, physikalischen oder wie auch immer wissenschaftlich gearteten Erklärung für diesen plötzlichen Nachteinbruch gesucht, wären ihm die seltsamen Gestalten vielleicht früher aufgefallen. Warum Pia sie ebenso spät bemerkte? Nun, sie starrte ihren Freund an, in der Hoffnung, von ihm eine Erklärung, oder zumindest ein festes und sicheres „Alles in Ordnung, Schatz“ zu bekommen. Da hörten sie ein Klopfen und erstarrten. Irgendjemand pochte auf das Dach des nagelneuen „Gurk zwodreivier“. Oder war es irgendetwas? Als erste konnte sich Pia wieder bewegen, sie boxte ihrem Freund in die Seite und raunte: „Jetzt guck schon nach!“ War das wirklich so schlau? Doch selbst in so einer Situation legen wir unsere üblichen Muster und Verhaltensweisen nicht ab, und da Paule immer tat, was Pia von ihm verlangte, öffnete er zaghaft die Wagentür und stieg aus. Pia hörte noch ein dumpfes „Plopp!“, ein schleifendes Geräusch, und dann war ihr Freund verschwunden, danach war alles still. Vollkommen still. Pia rührte sich nicht. Zumindest nicht so lange, bis ihr der Gedanke kam, dass sie allein im Auto vermutlich nicht sicher war. Aber was sollte sie tun? Der dunkle Wald würde ihr keinen Schutz bieten, hier verschwanden Straßen, hier verschwanden Pastinaken, sie wäre sicher die nächste. Andererseits konnte sie doch auch ihren Freund nicht seinem ungewissen Schicksal überlassen.
„Kannst du nicht?“ Erneut entfuhr ihr ein Schrei. Sie hatte doch nichts gesagt, gar nichts ...
„Du brauchst auch gar nichts zu sagen, ich versteh dich sowieso.“ Endlich sah sie, zu wem die Stimme gehörte, denn wie aus dem Nichts war jemand auf dem Fahrersitz aufgetaucht. Leuchtendorange war das spitze Gesicht, der schmale Körper war ganz in schwarz gekleidet, fantastisch gekleidet, nebenbei bemerkt und ausgefallener filigraner Silberschmuck schmückte Hals und Arme.
„Du bist eine … Aber euch gibt es doch gar nicht … Ihr seid nur …“, stotterte sie, und ihr neuer Sitznachbar lachte heiser.
„So so, du glaubst also, wir sind reine Fantasiegebilde? Wir Gruftmöhren.“

Genau das hatte Pia bisher geglaubt. Nichts anderes als Hirngespinste waren diese Gruftmöhren doch, erfunden, um jungen Gemüsesprossen Angst zu machen, kleine Gruselgeschichten zum Einschlafen. Sie selbst hatte schon nicht mehr an sie geglaubt, als sie noch ihre Keimblätter hatte. Und jetzt saß so ein Geschöpf neben ihr? Sie musste eingenickt sein.
„Bist du nicht. Aber wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Martinez Öreste Horaz Rolando von Elk. Meine Feinde nennen mich Möhre.“
„Ich bin Pia“, sagte Pia. „Und ich habe keine Feinde.“ Möhre zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „Wie schade.“ Mit seiner langen, schmalen rechten Hand, die bei all den Silberringen kaum noch zu erkennen war, streichelte er ihren weißen Hals.
„Möchtest du?“
„Wie bitte?“
„Möchtest du ein paar Feinde haben? Das bringt Spaß, ein wenig Spannung in den eingefahrenen Alltag. Ist dir nicht manchmal ein wenig langweilig in deiner kleinen süßen heilen Welt?“ Sie fühlte sich ertappt, bestritt aber die Vorwürfe heftig. Die Hand wehrte sie nicht ab, sie tat einfach so, als hätte sie die übersehen.
„Wir könnten sicher auch hier im Wagen eine Menge Spaß haben“, sagte Möhre mit aufregend tiefer Stimme, „aber möchtest du mich nicht lieber begleiten?“
„Aber nur, weil ich Paule suchen will.“
„Aus keinem anderen Grund.“

Sie stiegen aus dem nagelneuen „Gurk zwodreivier“, und dort, wo vorher nicht einmal mehr ein Trampelpfad gewesen war, lag ihnen jetzt ein orangeroter Teppich zu Füßen, das Dunkel wurde beleuchtet von Kerzen in orangerot und sie schritten auf ein Gemäuer zu das, genau, orangerot war.
„Voilà, Burg Möhre“, verkündete Möhre voller Stolz.
„Das ist wirklich bizarr“, staunte Pia. „Alles ganz karottenfar…“ Blitzschnell hatte sich Möhre zu ihr umgedreht und sie am Hals gepackt.
„Hey, …chhh keine… Luffff…“, röchelte sie.
„Sag das nie wieder!“
„Wahh… dnn… ?“
„Was? Na, Karotte!“ Er spuckte auf den Boden. „Sag niemals Karotte, wenn eine Möhre neben dir steht! Hast du mich verstanden?“
„Hhhhmmm…“ Endlich ließ er sie los.

Was in ihn gefahren war? Nun, der Streit zwischen Karotten und Möhren dauert beinahe schon so lange, wie es Wurzeln gibt. Das Geschlecht der Möhren ist ein hedonistisches kleines Völkchen, schlicht in seinen Ansprüchen und ausdauernd im Genuss. Leben ist ihre Maxime, leben lassen vielleicht nicht immer, von Arbeit zumindest wird ihr Tag nicht bestimmt. Auch die Karotten glauben nicht an das Prinzip Arbeit, doch nicht aus Lebensfreude, sondern schlicht aus Arroganz. Denn nur die eigene Arbeit ist ihnen zuwider, für alle anderen ist sie ihrer Ansicht nach wie gemacht.

Auch die Eingangshalle erstrahlte selbstverständlich in schönstem Möhrenrot, einzig durchbrochen vom Schwarz und Silber der anwesenden Gruftmöhren. Pia war erstaunt von der großen Möhrenmenge, es waren vielleicht fünfzig oder sechzig, und sie standen, saßen, lagen oder tanzten überall herum, hielten Getränke in den Händen oder auch Körperteile ihrer Gegenüber.
„Oh, eine Party“, hauchte Pia. „Möglicherweise komme ich ungelegen.“
„So blöd kann auch nur eine Pastinake sein, was?“, scherzte Möhre. „Wie kann denn ein Gast ungelegen zu einer Party kommen?“ Er drückte ihr ein Getränk in die Hand und forderte sie auf, sich unter die Gäste zu mischen. „Na los, hab mal ein wenig Spaß, ist doch bestimmt schon eine Weile her.“ Sie sagte nichts. Sie kippte ihren Drink in einem Zug hinunter, nahm dankend einen weiteren und mischte sich dann. Alles war neu, alles war so furchtbar aufregend, die Gruftmöhren waren allesamt prächtig gekleidet, mit Fantasie und Liebe zum Detail, beim Silberschmuck übertrafen sie sich gegenseitig, überall funkelten ziselierte Kunstwerke und Kostbarkeiten. Das Ganze bot nicht etwa ein angestrengtes Bild von Protz und Selbstdarstellung, sondern alle hatten ungezwungen Spaß und manche lümmelten sich sogar auf dem Boden herum. Pia entspannte sich, griff zum nächsten Getränk und tanzte irgendwann. Hatte sie Paule ganz vergessen?


Paule zumindest dachte ununterbrochen an Pia, er hatte nämlich keineswegs soviel Spaß wie sie. Man amüsiert sich einfach eher mäßig, wenn man an Händen und Füßen angekettet in einem dunklen Keller sitzt. Wer ihn dort hingebracht hatte, wusste er nicht genau. Sie waren groß und schlank gewesen, schwarz gekleidet, aber sie trugen Kapuzen über ihren Köpfen. Gesprochen hatte auch niemand mit ihm. Am „Gurk zwodreivier“ hatte er einen Schlag auf den Kopf bekommen, der ihn bewusstlos gemacht hatte. Als er aufwachte bemerkte er gerade noch, wie diese Gestalten die Ketten um seine Fußgelenke schlossen, dann rauschten sie davon. Jetzt lag er also hier und sorgte sich. Nein, nicht um sich selbst, um Pia machte er sich Sorgen. War ihr etwas zugestoßen, allein, in diesem gefährlichen Wald? Paule kam fast um vor Angst um seine Freundin.

Auch Rabea Petersilienwurz fragte sich langsam, wo ihre Gäste blieben. Pia war immer die korrektere von ihnen beiden gewesen, immer pünktlich, immer zuverlässig. Und sie war doch für sie die wichtigste Person bei ihrer Hochzeit.
„Da wird doch nichts passiert sein?“, fragte sie Rudolpho besorgt, doch der tat ihre Bedenken mit einem Kopfschütteln ab.
„Ich weiß nicht …“ So leicht war Rabea nicht zu beruhigen, zu sehr hatten sich die beiden Schulfreundinnen auf diesen Abend, den Abend vor der Hochzeit gefreut. Gemeinsam wollten sie in aller Ausführlichkeit in alten Zeiten schwelgen, Pia hatte noch ganz stolz von dem „urigen“ Fotoalbum geschwärmt, dass sie wiedergefunden hatte, sie wollten ein paar Gläser Sekt trinken und es sich richtig gemütlich machen, während ihre Männer, nun, irgendetwas taten, was sie gern tun würden.
„Wir sollten sie suchen“, drängte sie Rudolpho, doch der ließ sich nicht überzeugen.

Pia ließ es sich derweil gut gehen, die Getränke waren ihr gehörig zu Kopf gestiegen, die Gruftmöhren verstanden es wirklich, zu feiern. Man tanzte und lachte und trank, doch auf einmal wurde es still. Wie auf ein geheimes Kommando blieben alle ruhig stehen, wer saß oder lag erhob sich und gesellte sich zu den anderen die sich, wie Pia schließlich bemerkte, vor der großen Treppe im Foyer aufreihten. Augenscheinlich erwarteten sie irgendetwas oder irgendwen. Das Gemurmel verstummte, als ein seltsamer kleiner Tusch ertönte. Was war das bloß für ein Geräusch? Noch einmal war es zu hören, und da erkannte Pia, was es war. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, denn diese perverse Ankündigungsmelodie war aus nichts geringerem zusammengesetzt als aus den Geräuschen eines elektrischen Gemüsehobels. Schon schritt, begleitet von dieser schaurigen Melodie, Möhre die Showtreppe hinab, gewandet in eine schwarze Robe, über und über mit orangefarbenen Glitzersteinchen besetzt, in der Hand hielt er einen Kristallkelch, der mit einer weißen Flüssigkeit gefüllt war. Pia sah auf das Glas in ihrer Hand, offensichtlich handelte es sich um das gleiche Getränk. Sie seufzte und nahm einen Schluck, sofort fühlte sie sich etwas besser. Jetzt war Möhre am Fuße der Treppe angekommen, er kam auf Pia zu und erhob sein Glas.
„Prost! Auf unseren weltberühmten Pastinaken-Champagner!“ Pia ließ umgehend ihr Glas fallen und erbrach sich auf den Fußboden.
„Na, na, das ist jetzt aber unappetitlich. Könnte das jemand …?“ Er winkte nach irgendjemandem. „Haben wir uns wieder gefangen?“, fragte er Pia, die sich den Mund abwischte.
„Das wissen wir noch nicht“, fauchte sie zurück.
„Komm schon, trink einen Schluck mit mir“, schmollte er, und drückte ihr seinen Kristallkelch in die Hand. „Auf Paule.“

Paule hörte schlurfende Schritte. Dann Stimmen, sie näherten sich. Angestrengt lauschte er, wie viele waren es, worüber sprachen sie? Doch er konnte nur Fetzen, nur einzelne Wörter aufschnappen: „richtig zur Sache“, „ekelhaft“, „wird ein Heidenspaß“, „das Gesicht seiner Frau“. Leise quietschend ging die Tür auf und vier Gestalten kamen herein, noch immer konnte er sie nicht erkennen, da sie die Kapuzen auf ihren Köpfen hatten. Zwei setzten sich rechts von ihm auf den Boden, die anderen beiden links.
„Dann wollen wir mal“, begann der erste.
„Darauf freu ich mich schon den ganzen Tag“, sagte der nächste.
„Das wurde aber auch wirklich mal wieder Zeit“, ergänzte der dritte. Der vierte sagte gar nichts, sondern nahm ein Schlüsselbund von seinem Gürtel und begann, Paules Fesseln zu lösen.

Rabea hatte so oft auf die Uhr gesehen, dass sie einem Schleudertrauma nah war. Es hatte keinen Zweck, so würde sie diesen Abend nicht überstehen, sie musste endlich wissen, wo Pia blieb. Sie ging hinauf ins Bad, da Rudolpho angekündigt hatte, er wolle sich in die Wanne legen und entspannen. Wenn die Gäste sowieso nicht kämen, könne er sich doch auch in aller Ruhe auf Morgen, „auf unseren großen Tag, Schatz“, einstimmen. „Dir geb ich gleich Schatz“, dachte Rabea, und beschleunigte ihren Schritt. Ihr Bräutigam würde sich jetzt gefälligst auf die Suche nach ihrer besten Freundin machen, sonst würde er morgen über den Status des Verlobten nicht hinauskommen. Wütend riss sie die Badezimmertür auf. Und starrte auf die leere Badewanne. Sie ging näher heran. Die Wanne war trocken, kein Handtuch war feucht, der Spiegel war nicht beschlagen. Ihr Zorn wuchs, sie stapfte aus dem Badezimmer. Hatte er sich also ins Bett gelegt, ja? „Na, dich schmeiß ich schon aus deinen süßen Träumen.“ Doch im Schlafzimmer war Rudolpho nicht, Ratlosigkeit erfasste Rabea. Sie lief die Treppe hinab, aus der Haustür, und draußen stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass der Wagen nicht in der Einfahrt stand. Lautstark fluchte sie auf ihren Verlobten, was war denn in ihn gefahren? Er konnte sich doch am Vorabend der Hochzeit nicht einfach aus dem Staub machen, ohne ein Sterbenswörtchen zu ihr zu sagen. Zeternd ging sie zurück zum Haus um fiese Rachepläne zu schmieden. Als ihr Fuß gegen etwas auf dem Boden stieß, trat sie zunächst erneut danach, doch dann bückte sie sich, um den Gegenstand aufzuheben, was auch immer es sein mochte. Es war ein Buch, alt und abgewetzt, und auf dem dunkelblauen Umschlag stand in Jungmädchenschrift: „P & R forever“, und da erkannte sie, was es war: direkt vor ihrer Haustür lag das alte Fotoalbum ihrer Freundin Pia.

Seinen Arm hatte Möhre so fest um sie gelegt, dass es Pia nicht gelang, ihn abzuschütteln. Sie war den Tränen nahe, doch die Blöße wollte sie sich nicht geben. Was sie denn von ihm halte, hatte er gesagt, so habe er das doch gar nicht gemeint, als er auf Paule trinken wollte. Soweit sei der Abend doch noch gar nicht fortgeschritten.
„Meine liebe Pia“, hatte er gesagt. „Das Entsaften kommt doch erst noch, das werden wir dir doch nicht vorenthalten.“ Bei diesen Worten hatte die versammelte Gruftmöhrengesellschaft gelacht und gejubelt und applaudiert, und dann hatten sie ihre Gläser in die Höhe gehoben und „Auf Paule!“ gerufen. Ihr war so schlecht. Wieso war ihr nicht aufgefallen, dass sie die ganze Zeit, „Oh mein Gott!“, Pastinaken-Champagner getrunken hatte? Wieso hatte sie nicht nach Paul gesucht? Wenigstens musste ihr jetzt ganz schnell etwas einfallen, ein Ausweg, eine Lösung. Wenn sie diese grässliche Möhre richtig verstanden hatte sollte gleich, als perverse Attraktion des Abends, die „Große Entsaftung“ stattfinden, was nichts anderes bedeutete, dass Paule, ihr Paule, auf grausamste Weise ums Leben kam. Das musste sie verhindern! Aber wie? Alle Augen waren erwartungsvoll auf Möhre gerichtet und Möhres Augen ruhten auf Pia. Gab es denn überhaupt keine Gelegenheit, zu entkommen? Damit wäre ihr Freund natürlich immer noch nicht gerettet, aber es wäre eine Chance, sie könnte ihn suchen, finden, befreien. Neben der Eingangshalle öffnete sich eine große Flügeltür, Ahs! und Ohs! klangen durch den Raum, und als sich alle Blicke, inklusive Möhres, erwartungsfroh zur Tür drehten, nutze Pia die Chance und rannte los. Welch sinnloses Unterfangen, möchte man sagen, doch im gleichen Moment polterte es an der Eingangstür, das war kein freundliches Klopfen, schnell klang es nach Krawall, und blitzschnell brach, aus lauter Empörung über die Störung, die so unhöflich war und so ungelegen kam, ein Tumult los. Alle Gäste rannten schimpfend durcheinander, Möhre regte sich dermaßen auf, dass er vollkommen orientierungslos wirkte und Pia rannte durch die nächstbeste Tür, lief durch die Küche und kam schließlich in den Garten.

Nachdem alle Fesseln gelöst waren stellten sie Paule auf die Beine und schoben ihn zur Tür. Wer sie waren, was sie taten, verrieten sie ihm auch auf seine eifrigstes Drängen nicht. Er würde es schon von selbst merken. Er wankte durch einen langen Flur und von Ferne hörte er ein seltsames, unfreundliches Geräusch. Was war das? Es kam ihm bekannt vor, doch es weckte keine angenehmen Assoziationen.
„Dann kann es ja losgehen“, sagte einer der Schwarzgewandeten und griff zur Klinke der großen Flügeltür.

„Wir werden das nicht zulassen!“, schrie August Karotte, und seine weißbeanzugte Meute stimmte ihm lautstark zu. Vor den Toren von „Burg Möhre“ hatten sie sich versammelt, um dem verwerflichen Treiben dort ein Ende zu machen.
„Wie lange müssen wir denn noch gegen die Tür schlagen? Warum lässt uns denn niemand ein?“ Dass man sie warten lies, waren Karotten einfach nicht gewöhnt. Endlich wurde die Tür geöffnet, und als er das „Begrüßungskomitee“ erblickte, entlockte dies August Karotte seinen häufigsten Satz: „Das hätte ich mir ja auch gleich denken können!“. Selbstverständlich hätte er sich gleich denken können, von einer Horde Möhren begrüßt zu werden, er stand ja auch vor „Burg Möhre“, aber so weit dachte August nicht.
„Wir sind gekommen, um dem verwerflichen Treiben hier ein Ende zu bereiten!“
„Och nöö, was ist denn nun schon wieder?“


Rabea wusste nicht mehr weiter, sie hatte jeden angerufen, von dem sie sich Hilfe erwartet hätte, aber niemand war zu erreichen. Rudolpho hatte drei gute Freunde, mit denen er häufig etwas unternahm, aber sie waren alle nicht zu Hause. Bei einem von ihnen hatte sie zwar mit der Freundin gesprochen, doch auch sie wusste nicht weiter. So blieb Rabea nichts anderes übrig, als die Polizei anzurufen, die natürlich nicht kommen wollte.
„Wenn ein Mann am Abend vor der Hochzeit verschwindet, gute Frau, ist das garantiert kein Fall für die Polizei. Da hätten wir ja auch viel zu tun.“ Danke, schönen Abend noch.

August und seine Karotten drängten sich ins Foyer und warteten mit ihrer Standpauke, bis sie lange genug über das, was sie sahen, die Nase gerümpft hatten.
„So geht das nicht, ihr könnt hier nicht die ganze Nacht durchfeiern.“
„Und warum nicht?“ Möhre war äußerst angestrengt, er mochte es gar nicht, wenn man ihm den Höhepunkt des Abends verdarb. August konnte er sowieso nicht ausstehen.
„Weil die Burg morgen für eine Feier vermietet ist, und so, wie es hier aussieht, wird das Reinigungsteam niemals rechtzeitig fertig.“
„Und warum hast du die Burg vermietet, obwohl du genau wusstest, dass ich hier heute ein Fest gebe?“
„Du gibst doch ständig irgendein Fest, da kann ich mich nicht nach richten.“

Der Streit zwischen Karotten und Möhren dauert beinahe so lange an, wie es Wurzeln gibt, und dass „Burg Möhre“ aus testamentarischen Gründen einem seltsamen Nutzungsrecht unterliegt, gestaltet das Verhältnis nicht friedlicher. Die Möhren dürfen, so lautet die Regelung, die Burg aktiv nutzen, was bedeutet, dass sie dort frei wohnen und feiern dürfen. Die Karotten hingegen dürfen das Anwesen, das bei ihnen übrigens „Casa Karotta“ heißt, passiv nutzen, was heißt, sie dürfen es an andere vermieten, etwa für Festlichkeiten wie Hochzeiten und Empfänge. Ständig gibt das Ärger, ständig.

„So, mein Freund, dann wollen wir uns heute nochmal so richtig amüsieren, was?“, kam es unter der vierten Kapuze hervor, und gerade, als Paule die Stimme erkannte, schwang die Tür auf und sein Blick fiel auf die Barhocker, den Tresen, die Dekoration und die Stripperin. Eine heiße Rote Bete.
„Na, mein Freund“, bellte Rudolpho und zog sich, zeitgleich mit den anderen, die Kapuze vom Kopf. „Ist das was?“
„Bist du verrückt?“, schrie Paule. „Das war der schlimmste Abend meines Lebens!“
„Ach, stell dich nicht so an.“ Rudolpho zog ihn in die Bar und drückte ihm eine Bier in die Hand. „Irgendwie ist die Idee ja auch von dir.“
„Wie bitte?“
„Du hast immer gesagt, für so eine scharfe Rote Bete Braut würdest du dich glatt irgendwo anketten lassen. Bitte schön!“

Die Möhren ließen sich den Spaß nicht verderben, sie schmissen die Karotten raus und feierten weiter. Ganz egal, die Feier von Rabea Petersilienwurz und Rudolpho Rettich fand am nächsten Tag sowieso nicht im „Casa Karotta“ statt. Sie fand gar nicht mehr statt. Bei der ganzen Sache war nämlich einiges schief gelaufen. Und wenn sich auch die Möhren darüber freuten, dass der Fehler bei den Karotten lag, so war es Rabea scheißegal, wem sie diesen scheußlichen Abend zu verdanken hatte. Auch Pias Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Wie es eigentlich hätte ablaufen sollen? Nun, spätestens eine halbe Minute nach der „Entführung“ von Paule sollte Freddi Karotte auftauchen, Pia alles erklären und gemeinsam mit ihr zu Rabea fahren. Doch Freddi war schon mit wesentlich geringeren Aufgaben überfordert, hatte aber zuviel Angst vor August, um das zuzugeben, so war er einfach zu Hause geblieben und hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Bis Möhre kam, und die hübsche Pastinake allein im Wagen sitzen sah, na, ab da kennen wir die Geschichte ja. Ach so, der Pastinaken-Champagner ist natürlich nicht aus Pastinaken gemacht, sondern von Pastinaken, und die Entsaftung ist nichts anderes als ein hemmungsloses Wett Trinken. Bis der erste spuckt.

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Tag der Veröffentlichung: 29.03.2009

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