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Aileen

Es war ein Donnerstag als Aileen den Anruf erhielt, der ihr, der ihr Leben verändern sollte. Sie war gerade dabei Tabea zu baden. Die kleine strampelte wild und die schwarze Kleidung des Teenagers war fast vollkommen feucht. Immer wieder traf sie Wasser ins Gesicht, sodass sie froh war ihr Make-up wasserfest zu besitzen.
Die schwarz umrandeten Augen waren von einem goldbraunen Gesicht umgeben. Die halblangen schwarzgefärbten Harre, die mit türkisenen Strähnchen durchzogen waren hatte Aileen nach hinten  gebunden, um nicht ständig Strähnen im Gesicht zu haben.
Ihre kleine Schwester war erst acht Monate alt und auf ihre Hilfe angewiesen, genauso wie ihr kleiner Bruder Marlon.
Die Mutter der drei Geschwister war wie so oft nicht zu Hause, keiner wusste wo sie sich aufhielt oder wie man sie erreichen konnte. Wahrscheinlich war sie wieder auf der Suche nach Geld, irgendwie musste sie ihre Tablettensucht schließlich finanzieren. Hätte einer der drei Männer von denen sie unterhalt kassierte dies mitbekommen, hätte sie ihre einzige regelmäßige Einnahmequelle verloren.
Der blonde Marlon zog am schwarzen Minirock seiner Schwester, wollte endlich zu Abend essen, da es seit dem Frühstück nichts Essbares mehr gegeben hatte. Aileen hatte erst eine Stunde zuvor die Zeit gefunden einkaufen zu gehen und auch das hatte sich gezogen mit ihren beiden Geschwistern im Schlepptau. Sie hatte schon den Nachmittagsunterricht geschwänzt um die Beiden von der KITA abholen zu können, doch die Zeit reichte vorne und hinten nicht.
„Marlon, bitte, in zehn Minuten bin ich fertig, dann kann ich was zu essen machen.“, bat die 16-jährige sanft. Der 6-jährige zog ohne ein weiteres Wort ab als Tabea zu weinen anfing. „Und mach deine Hausaufgaben!“, rief sie dem blonden Engel noch hinterher, als dieser den Weg zum Fernseher einschlagen wollte.
Entnervt versuchte Aileen ihre Schwester zum Schweigen zu bringen, schaffte dies auch endlich und konnte sie abtrocknen und ihr wieder Windeln anlegen. In einer Strumpfhose und einem T-Shirt konnte Aileen sie in ihren Hochstuhl an den Küchentisch setzen um im Bad ein wenig Ordnung zu machen. Nebenbei beobachtete Aileen Marlon, der fleißig an seinen Aufgaben zu sitzen schien.
Die Schule machte ihrem kleinen Bruder viel Spaß, fiel ihm das Lernen doch leicht und hatte er viele Freunde. Ihr kleiner Bruder glich einem Engel mit den Blonden Löckchen und den blauen Augen. Sein Gesicht strahlte eine solche Freude und eine solche Schönheit aus, das es Aileen manchmal die Sprache verschlug wenn er sie anlächelte. „Großer, packst du bitte deine Sachen zusammen? Wir essen gleich und dann holt Daddy dich ab.“, bat sie Marlon sanft, was dieser auch ausführte.
Aileen war froh, dass ihr Bruder kein anstrengendes Kind war und sie nicht zusätzlich belastete. Er war ein sehr fröhliches Kind, hörte aber auf sie wenn sie ihn um etwas bat.
Etwa fünf Minuten später hatte Aileen das Bad wieder gesäubert und ihr durchnässtes T-Shirt durch ein bauchfreies Top ersetzt. Ihr Bauchnabel-Piercing mit dem dunkellila Steinchen passte perfekt zu der Farbe des Tops, weshalb sie es sich auch gekauft hatte.
Während Marlon seine Nudeln mit der Hackfleischsoße schlürfte versuchte der Teenager Tabea dazu zu bewegen etwas von ihrem Karottenbrei zu essen, wobei mehr auf dem Lätzchen landete als im Mund des süßen Schatzes.
Als es läutete sprang Marlon mit verschmiertem Mund sofort auf und rannte zur Tür. Aileen hielt ihn nach einem Blick auf die Uhr nicht auf. Und auch die Geräusche die sie aus Richtung Wohnungstür erreichten bestätigten ihren Verdacht das Xander vor der Tür stand.
 „Na mein Großer? Alles klar?“, die helle Stimme des 40-jährigen Büroangestellten klang glücklich und auch Marlon war immer ganz aufgeregt wenn er für ein Wochenende zu seinem Vater durfte, was das wilde geklappert bestätigte, das daraufhin ertönte.
Xander kam mit seinem Sohn auf den Armen in die Küche, drückte Aileen einen Kuss aufs Haar ehe er den Blondschopf wieder auf seinen Stuhl setzte, damit dieser zu Ende essen konnte. Xander holte sich ein Gas aus dem Schrank und schenkte sich Saft ein, bevor er sich zu den dreien an den Tisch gesellte.
Xander hatte dunkle, volle Haare, die von grauen durchsetzte waren. Er hatte ein kantiges Gesicht und die blauen Augen die er seinem Sohn vererbt hatte. Der kleine Bierbauch schien mit den Jahren immer mehr zuzunehmen, doch Xander hatte dieses Problem schon in Angriff genommen, sodass nur etwas Speck durch das Hemd zu erkennen war.  Aileen verstand sich sehr gut mit dem Vater ihres jüngeren Bruders, hatte eine Vaterfigur in ihm gefunden, scherte ihr eigener Erzeuger sich doch nicht um sie.
„Wieder ein anstrengender Tag im Büro?“, fragte Aileen, während sie Tabea abputze und die Sauerei verschwinden ließ, die ihre Geschwister hinterlassen hatten. „Da sagst du was.“, lächelte er schwach. „Schlimmer als anstrengend, aber egal.“, lenkte er ab. „Wo ist denn eure Mutter?“, fragte er mit großem Interesse. Xander war froh ihrer Mutter nicht begegnet zu sein, das wusste Aileen, schließlich hatten sie kein besonders gutes Verhältnis zueinander, dennoch schien er stutzig geworden zu sein.
 „Sie ist bei einer befreundeten Friseurin, Haare färben.“, brachte die schwarzhaarige heraus. Xander fragte nicht weiter nach, half Marlon seinen Mund abzuwischen und schickte ihn seine Sachen holen.
„Du musst leider noch Hausaufgaben mit ihm machen, er hat es nicht ganz geschafft.“, entschuldigte sich Aileen, doch Xander schüttelte nur den Kopf. „Ich mach das doch gern, mit ihm. Weißt du doch.“, schmunzelte er und fuhr seinem Sohn durch die Haare, der mit einer Tasche und seinem Schulrucksack zurück in die Küche gekommen war.
„Tut mir leid, aber wir müssen los. Ich hab daheim Kuchen im Ofen.“, bei diesen Worten schrie Marlon freudig auf, drückte Aileen und gab ihr einen Kuss, ehe er mit seinem Rucksack in den Flur verschwand um sich seine Schuhe anzuziehen. „Ich hab ihm auch Badesachen eingepackt, es soll die nächsten Tage doch so warm werden.
Xander hatte extra in seinem kleinen Garten einen Pool aufgebaut, in dem auch Aileen schon einige Male schwimmen hatte dürfen.
„Danke. Pass auf dich auf und ich bring ihn dann Sonntagabend wieder.“, verabschiedete sich Xander mit einer Umarmung und ging Marlon mit der Reisetasche hinterher. Es fielen noch einige Worte, ehe die Wohnungstür ins Schloss fiel.
Nun war nur noch das Gebrabbel ihrer kleinen Schwester zu hören, die langsam müde wurde. Nachdem Aileen sie vollends gesäubert hatte trug sie ihre kleine Schwester noch ein wenig durch die Wohnung, ehe sie Tabea in ihr Bettchen legte. So leise sie konnte schaltete sie das Babyphon an und verschwand aus dem kleinen, liebevoll gestalteten Raum. Die Wände hatte Aileen rosa gestrichen, dazu Prinzessin Lillifee und ein großes Schloss und einige Pferde. Die Spielsachen waren in großen Boxen verstaut, nur weniges lag auf dem Teppichboden. Aileen bemühte sich immer die Zimmer ihrer Geschwister und die Wohnung im Allgemeinen sauber zu halten und ihnen von Anfang an Ordnung beizubringen. Seufzend blickte sie auf ihren Rock, der einen großen orangenen Tropfen aufwies. Sie musste unbedingt die Wäsche machen, denn sie hatte nichts mehr anzuziehen.
 In der Küche versuchte sie denn Fleck so gut es ging aus dem Jeansstoff zu bekommen, hatte aber nur mäßigen Erfolg.
Als Aileen es aufgegeben hatte den hellen Fleck wegzubekommen holte sie sich Wischzeug aus der Kammer und wischte die komplette Wohnung durch. Danach machte sie sich daran die Wäsche einzusammeln und in den Waschkeller zu bringen, um dort die Maschine anzustellen. Mindestens noch zwei Maschinen würden von den dreckigen Sachen gefüllt werden, dachte sie seufzend und ging wieder in die Wohnung um im Zimmer ihres Bruders die Regale abzustauben und die Bettwäsche zu wechseln, die sie dann auch mit in den Waschkeller nahm als die Maschine fertig war.
Die nasse Ladung landete im Trockner, die dreckige in der Maschine. Ein sauberes Bad später konnte Aileen die Sachen aus dem Trockner mit nach oben nehmen und die letzte Maschine anstellen. Inzwischen war es nach acht Uhr und Aileen musste noch die Wäsche im Zimmer ihres Bruders aufhängen, da der Trockner kaum etwas taugte.  
Aus dem Babyphon ertönte ein weinen und Aileen machte sich auf den Weg zu ihrer Schwester. Nachdem sie ihr die Windel gewechselt hatte schlief diese relativ schnell wieder ein und Aileen konnte die zweite Ladung Wäsche in Marlons Zimmer aufhängen.
Das Telefon klingelte und Aileen bemühte sich schnell ranzugehen, damit Tabea nicht wieder erwachte. „Hallo Aileen. Entschuldigung, ich habe vergessen dich anzurufen.“, meldete sich ihr Bruder und Aileen musste unwillkürlich lächeln.
Sie hatten einmal ausgemacht, dass Marlon anrief wenn sie unbeschadet bei Xander angekommen waren.
„Ist schon in Ordnung. Schlaf schön und sag Xander einen Gruß.“, gab sie zurück.
„Ich hab dich lieb.“, kam es zurück, was sie schnell erwiderte, ehe ihr Bruder auflegte.
Ihr Bruder war so unschuldig, bekam kaum mit, was mit ihrer Mutter nicht stimmte, war diese doch kaum zu Hause. Und Aileen würde alles daran setzen dies auch so zu belassen, denn sie würde es nie ertragen, wenn diese schwere Last auf den zarten Schultern des sechsjährigen lasten würde.
Mit einem Blick auf die Uhr begab sich Aileen in die Küche sie selbst hatte den ganzen Tag noch nichts in den Magen bekommen, das Frühstück hatte nur für ihren Bruder gereicht. Lustlos sah Aileen auf die Spagetti im Kühlschrank nahm sich dann einen Apfel und zerschnitt diesen in handliche Stücke. Ihr Handy klingelte und sie klemmte es sich zwischen Schulter und Ohr.
Es war ein sehr neues Modell, das sie von Xander zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Neben dem gemalten Bild von Marlon war dies das einzige Geschenk das sie zu ihrem 16ten Geburtstag bekommen hatte. Dafür waren ihre Freunde mit ihr um die Häuser gezogen. So wie sonst eigentlich auch, nur das es an diesem Tag legal gewesen war, dass sie Alkohol getrunken hatte.
„Hey, was gibt’s?“, fragte sie in den Hörer.
„Hi Li hast du Lust zu kommen? Wie sitzen im Park und chillen ein bisschen.“ Paul, einer ihrer besten Freunde und doch wusste er nicht, was in ihrer Familie los war. Nur, dass sie unter der Woche nie Zeit hatte.
„Nein, sorry. Ich kann nicht. Wir schreiben morgen eine Arbeit und du weißt doch wie es um meine schulischen Aktivitäten steht.“, jammerte sie ein wenig rum, es sollte ja schließlich echt klingen, oder?
Am nächsten Tag würde die KITA geschlossen haben, weshalb Aileen den ganzen Tag ihre kleine Schwester im Auge haben musste, die erst am Abend von ihrem Vater abgeholt werden würde. Marlon hatte am nächsten Tag auch keine Schule und war deshalb schon früher zu Xander als gewöhnlich.
Sie würde am nächsten Tag keine Zeit haben die Schule zu besuchen, in der sie eigentlich Nachsitzen müsste, da sie am Montag die erste Stunde verpasst hatte.
„Kann´ s dir nicht egal sein? Es ist doch erst Anfang des Schuljahrs. Ach komm schon, wir haben auch Bier da.“, versuchte er zu locken, doch Aileen blieb hart, konnte ihm ja schließlich auch nicht den wahren Grund ihres Fernbleibens verraten.
„Sorry, ich kann wirklich nicht. Du, ich muss auflegen meine Mutter. Tschau, wir sehen uns morgen.“, verabschiedete sie sich hektisch und legte sogleich auf, ehe sie in den Keller ging um sich um die letzte Ladung Wäsche zu kümmern. Noch während sie darauf wartete, dass der Trockner seine Arbeit verrichtete klingelte ihr Handy erneut, diesmal eine unbekannte Nummer. Es wunderte sie, dass sie im Keller überhaupt empfang hatte. Mit der Erwartung, ihre Mutter würde sich Melden nahm sie den Anruf an.
„Spreche ich mit Aileen Vogel?“, kam die Frage mit unbekannter weiblicher Stimme.
„Ja, wer ist da bitte?“, kam sofort die Gegenfrage von Aileen.
„Ich bin´s Antonia. Wir sind zusammen in die Klasse gegangen, weißt du noch? Letztes Jahr.“, half Antonia ihr auf die Sprünge.
Aileen brauchte nicht lange zu überlegen, erinnerte sich noch genau an die Klassenzicke mit den großen Brüsten mit der sie sich mehr oder weniger verstanden hatte. Die blonde Antonia war mit ihr in dieselbe Klasse der Gesamtschule gewesen, hatte dann aber die Schule abgebrochen um eine Ausbildung zu machen.
„Was gibt´s?“, kam sie direkt zur Sache, hatte sie doch seit dem letzten Jahr nichts mehr von ihr gehört.
Als Aileen die Wäsche nach oben trug und sie zum Trocknen hängte konnte sie noch immer nicht begreifen zu was sie sich bereiterklärt hatte. Antonia hatte ihr geschildert, dass sie nun mit einem Jungen aus der zwölften Klasse zusammen sei. Hatte sogar versucht ihn ihr zu beschreiben und hatte erwartet sie würde ihn kennen, da er Schülersprecher sei. Doch Aileen hatte schon zwei Jahre gebraucht um alle Klassenkameraden zu kennen.
Antonia hatte sie gebeten ein Auge auf ihren Freund zu werfen, da sie vermutete, dass eine ihrer Freundinnen etwas mit ihm anfangen könnte. Aileen hatte nur einen Moment überlegen können ehe ihre Gesprächspartnerin weiter geplappert hatte und hatte ja gesagt, nur um diese endlich los zu sein. Ihre Rechnung war aufgegangen, doch jetzt hatte sie ein neues Problem.
Manuel Feucht.
Antonia hatte ihr ein Foto von ihm geschickt, auf dem aber nicht viel zu sehen war, da die beiden knutschten. Das wenige das Aileen erkennen konnte waren dunkle Haare und braune Haut. Sein Oberarm sah ziemlich muskulös aus.
Na super, ein Muskelprotz. Aber wen hätte sich Antonia sonst als Freund aussuchen sollen? Die Blondine ging nur nach dem Äußeren.
Zum Glück rutschten diese Gedanken schnell in den Hintergrund, als Tabea wiederholt anfing zu weinen.

Es klingelte an der Wohnungstür und Aileen schnappte sich ihre kleine Schwester und die Tasche die sie für diese gepackt hatte. „Tschüss meine Kleine. Ich hab dich lieb.“, flüsterte sie ihr zu, ehe sie die Tür öffnete und Tabea Vater davor stehen sah. Der Mann vor ihr hätte der Großvater seine Tochter sein können, war er doch über 60 und schon in Frührente. Aileen konnte ihn nicht ausstehen, musste ihm aber seine Schwester überlassen.
 Aileen drückte ihm das Baby in die Hände und dazu die Tasche, dann nahm sie ihre Umhängetasche und zog die Tür hinter sich zu um zu verschwinden. Die 16-jährige drückte sich an Tabeas Vater vorbei und verließ das Mehrfamilienhaus in Richtung S-Bahnhaltestelle.
Mit eiligen Schritten bahnte Aileen sich einen Weg durch die vielen Passanten in der Fußgängerzone. Trotz ihren Hotpants, dem Übergroßen, luftigen Shirt und den Römersandalen schwitzte sie in der Sonne, denn Deutschland wurde von einer Hitzewelle heimgesucht, die selbst im Oktober noch anzuhalten schien. Zum Glück sollte dieses Wochenende das letzte Mal die Hitze kommen, den für die nächste Woche war eine Abkühlung vorhergesagt, damit danach der Herbst hereinbrechen konnte.
Aileen veranstaltete ein Wettrennen mit der S-Bahn, verlor und musste zehn Minuten warten, ehe die nächste kommen würde.
Die Zeit nutzte sie dafür in dem Schreibwarengeschäft ein paar Schritte weiter neue Buntstifte für Marlon zu kaufen. Der kleine war ein richtiger Künstler, konnte tausendmal besser zeichnen als sie selbst, obwohl das keine große Kunst war.
Marlon hatte im Zeichnen und Malen die Tätigkeit gefunden, die ihn glücklich machte und Aileen war froh darüber, versuchte sein Talent so gut es nur ging zu fördern.
Dieser Tag schien irgendwie verhext, denn dank der langen Schlange verpasste Aileen fast erneut die Bahn. Auch ein Sitzplatz schien ihr nicht vergönnt zu sein, denn die Bahn war so voll, das man eng an eng stehen musste. Aileen hatte vor ihrer Nase die Achsel eines verschwitzen Anzugträgers und war froh eine Station später flüchten zu können.
Schon von weitem sah man die lärmende Gruppe Jugendlicher, um die andere Parkbesucher einen Bogen machten und über die Senioren die Köpfe schüttelten. Im schatte einer großen Eiche hatten sich die Freunde von Aileen wie gewöhnlich mit einem Kasten Bier und einem Lautsprechern für Musik niedergelassen. Paco, der Hund von Paul, kam auf sie zugespurtet als Aileen noch einige Meter entfernt  war und schmiss sie fast um als er an ihr hochsprang.
Nun kam auch Luisa auf sie zu gerannt.  Ihre pinken Haare flogen im leichten Wind und weite weiße Top flatterte ein wenig. Aileen schloss ihre Freundin in die Arme und gab ihr einen Kuss auf den Mund, wie sie es seit sie sich kannten zur Begrüßung taten. Hand in Hand liefen beide zu der Gruppe, von der einige sie kaum wahrnahmen und nur ein kurzes Hallo verlauten ließen. Die meisten umarmten sie jedoch, ehe sie sich weiter ihren Gesprächen widmeten.
Seufzend ließ Aileen sich neben Paul nieder, dem sie auch einen Kuss auf den Mund drückte, genauso wie dessen besten Freund Robin.
Paul war ein blasser Teenager mit gut trainiertem Körper. Seine Haare waren schwarz gefärbt und er trug eine rot geränderte Sonnenbrille. Er war an die 1,90m, überragte somit die meisten ihrer Gruppe.
Rob hatte seine Haare hingegen in dem natürlichen Kastanienbraun gelassen. Der 17-jährige war etwa 1,70m, sein Körper von zahlreichen Tattoos gezeichnet und die Unterlippe gepierct. Er war braungebrannt, jedoch ein wenig kräftiger gebaut.
Die drei waren ihre besten Freunde, wussten aber nichts von ihrer Familie, hatten es inzwischen zum Glück aufgegeben nachzuhaken.
Aileen war zu der Gruppe gestoßen, als sie allein mit einer Flasche Wein im Park gesessen hatte und ihren Kummer ertränken wollte. Paco hatte sie fast gebissen und sie danach nicht mehr in Ruhe lassen wollen. So war auch Paul auf sie aufmerksam geworden und eine Weile mit ihr geredet. Er hatte sie zu sich eingeladen und gesagt, sie würde gut zu ihnen passen und ihre damals komplett türkisenen Haare betrachtet.
Seit sie vierzehn war nahm ihre Mutter Tabletten, hatte selbst in ihrer Schwangerschaft mit Tabea die Finger nicht ganz davon lassen können und so ein Tablettensüchtiges Kind bekommen, das zum Glück nun gesund war.
Damals war dies ein großer Schock für Aileen gewesen, sie war fast nicht damit zurechtgekommen sich um  Marlon zu kümmern, doch die Angst vor dem Jugendamt hatte sie funktionieren lassen.
Nun war die Situation schon normal. Es war fast überraschend wenn ihre Mutter mal anwesend war.
Seit zwei Wochen hatte Aileen nun nicht mehr gesehen, wahrscheinlich würde sie mal wieder vorbeikommen um sich von ihr die Kleidung waschen zu lassen und ein wenig an ihr herumzumäkeln ehe sie wieder verschwinden würde.
Aileen beobachtete wie Ricci sich zu ihnen gesellte und ihr einen Kuss auf den Mund gab, ehe sie sich neben Luisa fallen ließ um sie in ihre Arme zu ziehen.
Ricci war die feste Freundin von Luisa, die beiden waren seit einem Jahr zusammen. Das große Mädchen mit der Kurzhaarfrisur hatte etwas mehr auf den Rippen, und obwohl die beiden äußerlich kaum zusammenzupassen schienen waren sie ein Herz und eine Seele und Aileen hatte kaum ein Paar gesehen das besser zueinander passte und sich mehr liebte.

Montagmorgen 8:30Uhr im Klassenzimmer der 10d in der Gesamtschule. „Aileen, schön dass du uns mal wieder besuchen kommst. Hast du eine Entschuldigung für Freitag?“
Aileen war abgehetzt wie immer wenn sie in die Schule musste.
Die KITA für Tabea öffnete erst um acht Uhr und Aileen musste dann noch eine ziemliche Strecke zurücklegen, sodass sie eigentlich immer zu spät kam.
Ihre Klassenlehrerin hatte ihr schon das Jugendamt auf den Hals gehetzt, doch Aileen hatte die Sozialarbeiterin davon überzeugen können, dass alles in Ordnung war.
Aileen hatte die neunte Klasse wiederholen müssen, da sie zu viele Fehlstunden aufgewiesen hatte, seit dem fälschte sie immer Entschuldigungen, die ihr keiner Abnahm.
Frau Färber hatte sie sowieso auf dem Kicker, wieso wusste sie nicht, es kümmerte sie auch wenig, solange die korpulente Frau sie gerecht benotete.
Aileen pfefferte die gefälschte Entschuldigung ihrer Mutter wegen Übelkeit und starker Kopfschmerzen aufs Pult, ehe sie sich auf ihren Platz in der letzten Reihe fallen ließ. Aileens Kopf dröhnte denn ihre kleine Schwester hatte in der Nacht kaum geschlafen und sie ständig wach gehalten.
 Sie hatte mit Tabea im Kinderwagen die Wohnung verlassen müssen, damit Marlon nicht aufwachte und ebenfalls um seinen Schlaf kam. Die halbe Nacht war Aileen mit ihrer Schwester durch die Nacht gelaufen hatte sich davor gefürchtet überfallen zu werden und das anstrengende Wochenende und die vorherige Nacht forderten nun ihren Tribut, indem Aileen ihre Augen kaum offen halten konnte.
Der Matheunterricht war sowieso zehn Minuten später zu Ende und Aileen machte sich auf dem Weg zu einem der unzähligen Getränkeautomaten. Zu ihrem Glück war auch einer der Sorte vertreten der Energydrinks verkaufte. Normalerweise mochte Aileen diese Teile nicht, doch gegen Schlafmangel waren sie besser als der überteuerte Kaffee, den sie sich nicht leisten konnte.
Seufzend schlenderte sie zu ihrem nächsten Unterrichtsraum, Chemie. Aileen war nicht schlecht in der Schule, eher mittelmäßig, doch mit Chemie konnte sie gar nicht. Es interessierte sie nicht was der gertenschlanke Lehrer, der noch bei seiner Mutter wohnte zu erzählen hatte und sie hätte ihm am liebsten gesagt er solle die Klappe halten.
In der Großen Pause stand Aileen auf der großen Empore, von der sie ohne etwas zu sehen auf die Schüler hinunterblickte. Trotz dunkelrotem Minirock und weißem Top war ihr heiß und sie genoss es zu wissen, dass dies der letzte Tag in quälender Hitze sein würde, ehe der Herbst hereinbrach.
Nachdenklich schrieb sie sich auf einen Zettel was sie besorgen müsste, ehe sie ihre Geschwister abholte. Windeln, Babypuder, ein neues Heft für Mathe und Toilettenpapier. Krampfhaft überlegte sie was sie vergessen hatte, ihr lag es auf der Zunge, doch sie bekam es nicht zu fassen.
Eine SMS holte sie aus ihren Überlegungen und seufzend kramte sie ihr Handy aus der alten Umhängetasche.
  Antonia hatte sie ganz vergessen, ohne genauer nachzudenken schrieb sie zurück, dass bis jetzt alles in Ordnung war, sie ihren Freund im Blick hätte.
Nachdem ihr endlich die Pilze eingefallen waren und sie diese auf ihrem Zettel vermerkt hatte, ließ der Teenager seinen Blick doch über die Schüler schweifen.
Tatsächlich ohne lange zu suchen entdeckte sie einen Jungen, der auf Antonias Beschreibung passen könnte. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Bild, das ihre Auftraggeberin ihr geschickt hatte und versuchte es mit dem Typen zu vergleichen der mit einem untersetzten Typen im Schulhof eine rauchte.
Dunkle Haare und muskulöse Statur. Gutaussehend war er auf jeden Fall, groß und breitschultrig mit muskulösem Körper. Sie konnte es Antonia nicht verdenken, dass sie auf ihn reingefallen war, beobachtete ihn Minutenlang, konnte den Blick nicht abwenden.
Die Pause verbrachte Aileen meist alleine, so wie die restliche Zeit in der Schule. Sie verstand sich mit den meisten, das aber auch nur, weil sie sich nicht lange mit ihnen abgab. Es lohnte sich kaum die Menschen kennenzulernen, denn bald würden ihre Wege sich trennen und sie würden sich nicht wieder sehen.
Aileens Handy begann zu vibrieren, stirnrunzelnd ging sie ran.
Ohne sich lange aufzuhalten stürmte Aileen schon los, als sie erfuhr wer am andern Ende war. Die Dame von der KITA erklärte Aileen, das Tabea keine Luft mehr bekommen hatte, sie einen Krankenwagen gerufen hätten und den Namen eines Krankenhauses zwanzig Minuten entfernt.
Auf dem Weg nach drau0en rempelte Aileen einige Mitschüler an, keuchte aber nur ein kurzes Sorry, ehe sie weiterhechtete.
Den Tränen nahe sah sie sich nach einer Transportmöglichkeit um, rannte dann zu S-Bahnstation so schnell sie konnte und erreichte gerade noch so die Richtige.
Wäre sie doch bloß aufmerksamer gewesen, was wenn Tabea einen bleibenden Schaden behalten würde? Sie würde sich das nie verzeihen.
Hätte sie sich doch etwas dabei gedacht, das Tabea nicht schlafen wollte. War sie vielleicht mit ihrem nächtlichen Spaziergang Schuld an der Situation?

„Die Schulschwänzerin bespannt dich.“, machte Manuels  bester Freund Hannes ihn auf Aileen aufmerksam, die diesen wirklich von der Empore im Schulgebäude zu beobachten schien.
Manuel sah sie sich genau an. Er kannte Aileen nur vom Sehen, hatte aber schon so einiges über sie vernommen. Jeder auf der Schule schien die Schulschwänzerin mit den bunten Haaren zu kennen.
Sie kam anscheinend jeden Tag erst zur zweiten Stunde, war schon einmal wegen der Fehlstunden sitzen geblieben.
Man erzählte sich, dass sie mit fiesen Typen herumhing und Drogen nahm, schwanger gewesen sei, doch er traute den Gerüchten nicht. Über ihn war auch so einige im Umlauf, doch man durfte sich so etwas nicht so zu Herzen nehmen.
Manuel betrachtete seinen besten Freund, der wiederum Aileen zu beobachten schien, während er an seine Zigarette zog.
Hannes war klein und dicklich, doch was er nicht körperlich konnte brachte er mit seiner Intelligenz wieder ins Reine. Sein Freund schrieb nur 15 oder 14 Punkte, was mit einer eins gleichzusetzen war. Über jeden verlorenen Punkt in einer Klausur wurde herzhaft mit dem Lehrer gekämpft, was diese schon Leid zu sein schienen.
Die dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten und die blauen Augen leuchteten meist vor Freude. Hannes war ein sehr umgänglicher Mensch, doch er fixierte sich oft nur auf Äußerlichkeiten, vertraute auf das was er von anderen hörte und ließ es nicht selbst auf einen Versuch ankommen, so auch bei Aileen.
Manuel drückte seine Zigarette aus und ließ seinen Blick nun wieder zu Aileen schweifen, diese hatte sich aber fortbewegt. Manu sah sie erst wieder, als sie neben ihm aus der Tür stürmte und ihm die Glastür fast gegen den Kopf rammte. Fluchend sah er dem Mädchen nach, das kurz stehen blieb und wild um sich blickte, ehe sie in Richtung S-Bahnstation rannte.
„Was ist denn mit der los?“, fragte Hannes, der Aileen ebenfalls hinterherblickte. „Geht uns nichts an.“, wehrte Manuel ab.
Er hielt nichts davon über andere zu lästern und auch nicht sich ungefragt in deren Probleme einzumischen wenn er nicht Not am Mann sah. Die Probleme die Teenager in ihrem Alter hatten konnten nicht so groß sein. Seine Freundin weinte ja schon bei einem abgebrochenen Fingernagel.
Als die Pausenglocke das Ende der Pause verriet trotteten die Beiden lustlos zum Sportunterricht, verschwendeten keinen Gedanken mehr an Aileen.

Als Aileen endlich im Krankenhaus angekommen war und sie zu ihrer Schwester wollte kam ein Arzt, der auf sie einredete. Aileen verstand keines der Worte, die der Arzt fachsimpelte und es war auch egal, denn sie wollte nur wissen wie es ihrer Schwester ging.
Der Arzt hatte keine richtige Antwort, er wusste noch nicht eindeutig was ihr fehlte, wahrscheinlich eine Infektion, doch er war guter Dinge, das Tabea überleben würde.
Tabea war in einem abgekapselten Raum untergebracht und beruhigte sich ein wenig als sie Aileens Stimme und ihre Berührungen wahrnahm.
Es vergingen einige Stunden, in denen Aileen sich keinen Zentimeter von ihrer Schwester bewegte, doch dann musste sie langsam Marlon abholen. Kurz kam ihr der Gedanken Xander zu bitten Marlon so lange zu sich zu nehmen bis Tabea wieder in Ordnung war, denn sie wollte sie keine Sekunde alleine lassen.
Schließlich raffte sie sich doch auf und verständigte Tabeas Vater, der versprach sofort aufzubrechen, nachdem sie ihn beruhigt hatte. Hektisch kam Aileen Tabeas Vater entgegen und setzte ihn über alles in Kenntnis, ehe sie aus dem Krankenhaus rannte um ihren Bruder von der KITA abzuholen, in der er nach dem Unterricht noch zwei Stunden ausharrte.
Kurz vor vierzehn Uhr hatte es Aileen dann doch geschafft und saß schließlich mit Marlon beim Mittagessen. Sie hatte unter höchster Anspannung Pizza zubereitet, wie sie es versprochen hatte, wenn auch ohne Pilze und Marlon fiel erst nachdem er satt war auf das seine kleine Schwester nirgends zu sehen war.
Schweren Herzens erklärte sie Marlon was geschehen war und ihn traf es tief. Marlon liebte seine Tabea sehr, das wusste Aileen und es riss ihr das Herz heraus das sie ihn Hausaufgaben machen schicken musste, wo er doch unbedingt Tabea besuchen wollte.
Mit angespannten Nerven brachte Aileen die Küche in Ordnung, ließ dabei ein Glas fallen, da ihre Hände stark zitterten.
„Bitte, ich bin fertig. Bitte, ich will zu Tabea.“, bettelte Marlon, doch Aileen war sich sicher, das Tabea nun viel Ruhe benötigte.
Sie überredete ihren kleinen Bruder dazu mit ihr einkaufen zu gehen zu lenkte ihn noch ein wenig mit malen ab. Gegen acht Uhr steckte sie ihn dann ins Bett und las ihm eine Geschichte vor. Marlon schlief jedoch nicht ein ohne Aileen das Versprechen abgenommen zu haben am nächsten Tag mit ihr zu Tabea ins Krankenhaus zu gehen.
Als Marlon endlich schlief musste sie das Bedürfnis unterdrücken ins Krankenhaus zu stürzen, doch ihr Beschützerinstinkt  gegenüber Marlon hielt sie davon ab. Seufzend nahm sie ihr Handy in die Hand und schaute aus Fenster während es tutete.
Draußen brach langsam ein Gewitter los. Blitze durchzogen den düsteren Himmel und Donnergrollen ließ die Wände beben. Heftige Windböen fegten durch die Stadt und Aileen konnte nur daran denken, dass ihre Schwester ohne sie in einem fremden Bett lag und niemand genau wusste was ihr fehlte.
„Grundig.“, meldete sich schließlich Tabes Vater und Aileen bestürzte ihn sofort mit Fragen, doch an Tabeas Zustand hatte sich nur ein wenig verschlechtert. Sie hatte Fieber bekommen, doch die Ärzte schienen nun zu wissen was mit ihr war, hatten ihr Medikamente gegeben.
Aileen ging mit mulmigem Gefühl in ihr Zimmer, legte sich gerade in ihr Bett als Marlon ins Zimmer kam um unter die Decke zu kriechen und sich an sie zu kuscheln.
Aileen wartete bis ihr Bruder schlief, ehe sie ihren Tränen freien Lauf lassen konnte. Das letzte Mal hatte sie geweint, als sie erfahren hatte, das Tabea Tablettensüchtig war.
Stumm liefen der sonst so starken und taffen Aileen die Tränen über die Wangen, während ihr Bruder an ihrem bebenden Körper ruhig schlief und vor dem Fenster der Sturm zu toben schien, der ihr inneres durcheinander brachte.

„Hör auf mit ihr zu flirten!“, holte Manuel die keifende Stimme seiner Freundin aus dem Gespräch mit einer ihrer Freundinnen. Es war Montagabend und Mau saß mit Antonia und ein paar ihrer Freundinnen zusammen.
„Ich hab nicht geflirtet.“, verteidigte Manuel sich entnervt. Antonia nervte ihn langsam wirklich. Sie waren erst drei Wochen zusammen und ihre Eifersucht nervte ihn in einem hohen Grad. Sie vertraute ihm nicht und deshalb behauptete sie auch immer er würde mit einer ihrer Freundinnen flirten.
Das Kribbeln in seinem Bauch wurde mit jeder Eifersuchtsattacke weniger und er wusste es würde nicht mehr lange gut gehen wenn es so weiter ging. Und doch hoffte er, dass sie zusammenblieben, denn sie war eigentlich ganz okay. Er hatte schon in schlimmeren Beziehungen gesteckt und war froh eine halbwegs normale Freundin erwischt zu haben, wenn diese auch nicht ganz so intelligent zu sein schien.
Die dunklere Haut und die dunkelbraunen Augen seine Freundin verliehen ihr etwas Exotisches. Sie sah gut aus, keine Frage, auch wenn sie sich ihre Haare blond gefärbt hatte. Leider, denn das sah nur wenig exotisch, sondern viel mehr billig aus.
„Ich werde dann mal gehen.“, brachte Manuel hervor, der erst eine Stunde zuvor eingetroffen war. Sofort waren alle damit beschäftigt ihn zum Bleiben zu überreden, doch Manuel hatte keine Lust mehr, musste außerdem für den anstehenden Test in Spanisch lernen.
Antonia machte ihm ein eindeutiges Angebot bei ihr zu übernachten, doch er lehnte ab. Er schlief nicht mit seinen Freundinnen, wenn sie noch keinen Monat zusammen waren.

Aileen erwachte vom nervigen Ton ihres Weckers. Marlon war noch eng an sie gekuschelt und sie war versucht ihn schlafen zu lassen und krank zu melden, überwand sich dann aber doch ihn sanft zu rütteln. Verschlafen blinzelten seine lebensfrohen Augen Aileen an und sie flüsterte ihm sanft zu das sie Frühstück machen würde und ihn dann holte.
Als Aileen Cornflakes und Milch sowie O-Saft für Marlon bereitgestellt hatte musste sie ihn wiederholt wecken.
Ohne Tabea war der Morgen weniger Laut stellte Aileen betrübt fest. Sie selbst hatte keinen Hunger. Sie wollte so schnell wie möglich wieder zu ihrer Schwester und trieb Marlon zur Eile an als sie die S-Bahn zu verpassen drohten.
Als ihr Bruder endlich in der Schule war machte sich Aileen so schnell wie möglich auf den Weg zum Krankenhaus, doch ihr Bruder ließ sie nicht gehen ohne sie ihr versprechen erneuern zu lassen.
Abgehetzt betrat Aileen das Zimmer ihrer Schwester, fand ihr Bettchen und den Raum leer vor. Die nächstbeste Schwester musste ihrer Flut von Fragen standhalten, doch sie wusste nichts, holte schließlich den für Tabea zuständigen Arzt. Dieser berichtete, dass das Fieber über Nacht schlimmer geworden sei sie aber die Richtige Medikation für sie gefunden hatten und es ihr bald besser gehen müsste. Aus Dankbarkeit fiel Aileen dem älteren Arzt um den Hals, befahl ihm aber dann ihre kleine Schwester wieder in ihr Zimmer zu bringen.
Zärtlich betrachtete Aileen Tabea, strich immer wieder sanft mit ihren Fingern über das erhitzte Gesicht. Ihre Schwester würde einmal eine richtige Schönheit werden, dachte sie sich. Marlon würde alle Hände damit voll haben die Jungs von ihr fernzuhalten. Und Aileen würde ihn wohl manchmal an seine Erziehung erinnern müssen, wenn die Mädchen ihm die Bude einrannten.
Aileen malte sich die Zukunft schön aus, denn etwas anderes hätte sie nicht verkraftet.
Als Aileen aufbrach um Marlon von der Schule abzuholen wie versprochen war Tabeas Temperatur schon ein wenig gesunken und sie rief ruhig in der KITA an um Marlon für diesen Tag zu entschuldigen.
Eine Woche verging, ehe Aileen die Schule wieder betrat. Dienstagmorgen hatten sie Gemeinschaftskunde bei ihrer Klassenlehrerin. „Na die Aileen, ich dachte schon du hättest die Schule vollends geschmissen.“, wurde der Teenager spöttisch begrüßt.
Ohne viele Worte legte Aileen das Ärztliche Attest vor und begab sich auf seinen Platz. „Was soll das denn sein?“, fragte ihre Lehrerin verwirrt. „Was da steht. Ich war im Krankenhaus.“, gab sie zurück und erhob sich als es zum Stundenende läutete.
Aileen hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie dem freundlichen Arzt der Tabea geheilt hatte den Rezeptblock gestohlen hatte um sich selbst eine Entschuldigung auszustellen. Ihre Klassenlehrerin war zu blöd um dies zu verstehen, aber ihr konnte es ja Recht sein.
Letzten Dienstag hatte es noch gut ausgesehen, doch am Mittwoch war es Tabea plötzlich wieder schlechter gegangen, eine allergische Reaktion. Daraufhin hatte Aileen Xander gebeten Marlon für den Rest der Woche und das Wochenende zu sich zu nehmen, was dieser ohne zu Zögern bewerkstelligt hatte.
Marlon war nicht sehr erfreut gewesen, dass er von der Seite seiner Schwestern weichen sollte, doch Aileen wollte bei ihrer Schwester bleiben, konnte nicht in dem Wissen nach Hause gehen, dass ihre Schwester allein in einer fremden Umgebung war. Tabeas Vater war immer nur einige Stunden anwesend gewesen und das hatte Aileens Hass auf ihn nur verstärkt.
Die Ärzte hatten Tabea aber dann doch wieder hinbekommen, sodass Aileen sie am vorherigen Abend wieder mit nach Hause hatte nehmen dürfen und sie am Morgen in die KITA gebracht hatte.
Aileen hatte die ganze Zeit kaum geschlafen, immer nur in einem Stuhl im Krankenhaus, hatte sich mit Kaffee wach gehalten und war nur zum Duschen und um sich die Kleidung zu wechseln nach Hause gegangen.
Die letzte Nacht hatte sie durchschlafen können, denn Tabea brauchte noch immer viel Schlaf und dennoch war die Nacht viel zu kurz gewesen und Aileen schlief fast im Stehen.
Die zwei Stunden Musik würde sie gerne schwänzen, doch Aileen befürchtete dann zu viele Fehlstunden zu haben und wieder sitzen zu bleiben. Sie musste alle Stunden besuchen die machbar waren.
Der Musiklehrer setzte Aileen an die Gitarre, hatte sie sich das doch selbst beigebracht, doch es wollte einfach nicht klappen. Das Stück, das sie zu einer Schulaufführung spielen wollten und schon so oft geprobt hatten schien plötzlich eine riesige Hürde zu sein.
Fast keiner der Töne die sie spielte saß und so setzte sie der Lehrer schließlich auf die Bank und sie musste zusehen und konnte endlich vor sich hindösen.
„Plötzlich öffnete sich die Tür des Musiksaales und Aileen richtete den Blick auf den Typen der eintrat. Manuel. Der Lehrer unterbrach die anderen und Manuel entschuldigte sich für seine Verspätung.
„Das ist Manuel Feucht, er wird den E-Bass spielen.“, gab der Lehrer kund und Aileen betrachtete ihr Beobachtungsopfer neugierig. Manuel trug ein enges T-Shirt und schwarze Jeans. Beides stand ihm ausgezeichnet und Aileen musste zugeben, dass Manuel wirklich zum dahinschmelzen war. Aber er war mit Antonia zusammen, welche Charakterstärke hatte er dann wohl? Schwach bis nicht vorhanden?
Klar, Antonia hatte vielleicht eine verborgene Seite, aber was blieb übrig, wenn man dumm wie Stroh war, sich die wunderschönen braunen Haare, die sie von ihrer italienischen Mutter geerbt hatte, blond färbte und nur über Schminke und Jungs redete.
Okay, eines hatte Aileen vergessen, Antonia konnte auch nett sein. Zumindest wenn sie wollte das man ihr Nachhilfe gab. Und natürlich hatte sie auch die gutverdienenden Eltern vergessen, die Antonia alles in den Arsch schoben was sie nicht brauchte und dennoch haben wollte.
Ihre Gedanken über Manuel schienen immer schlechter zu werden und Aileen war froh, dass sie durch eine SMS von seinem Anblick losgerissen wurde. Gerade steckte er das Kabel für den Verstärker in den Bass und ihr Musiklehrer kroch auf der Bühne herum um das Ende des Kabels zu finden und es ins richtige Loch zu stecken.
Doch, wirklich, ein sehr kompetenter Mann, dachte Aileen sich genervt. Dennoch schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen und das war der Moment in dem Manuels Blick ihren traf. Er lächelte ebenfalls.
Aileen erwiderte den Blick furchtlos, wartete bis Manuel den Blick abwandte, da der Lehrer anzählen wollte.
Nun konnte sich der Teenager wieder der SMS widmen. Es war Luisa die Fragte ob sie nach der Schule Zeit hätte und wo sie am Wochenende gewesen sei. Aileen redete sich damit heraus, dass sie am Wochenende mit ihrer Mutter Verwandte hatte besuchen müssen und der Akku leer gewesen sei.
Es hinterließ immer wieder einen schalen Nachgeschmack, wenn sie einen ihrer Freunde anlügen musste.
Als die Klasse das Stück wieder einmal beendet hatte meldete sich Aileen mit der Ausrede auf die Toilette zu müssen ab und verließ den Saal.
Kaum hatte Aileen die Tür hinter sich geschlossen hatte sie ihr Handy am Ohr. Aileen hatte die ganze Zeit das Bedürfnis unterdrücken müssen in der KITA anzurufen um nach ihrer Schwester zu fragen, doch nun hatte sie es nicht unterdrücken können und sie war ja sowieso nicht in den Unterricht eingebunden.

Manuel hasste es für ihren Musiklehrer an der Gitarre oder dem Bass zu stehen, denn dieser hatte zwar wirklich ein musikalisches Ohr, brachte aber sonst kaum etwas auf die Reihe. Es nervte unglaublich.
Eigentlich sollte er zu dieser Zeit in Mathe sitzen und das hatte er wirklich nötig. Und das eingeschleime bei diesem Lehrer brachte ihm noch nicht einmal etwas, denn er würde sowieso eine eins bekommen.
Stirnrunzelnd beobachtete Manuel den ergrauten Mittvierziger wie er einen der Schüler demütigte, in dem er diesem erklärte, dass er selbst den einfachsten Rhythmus nicht auf die Reihe bekommen würde.
Im selben Moment, als der Junge von der Bühne geschickt wurde tauchte Aileen wieder in der Tür auf in der Hand eine Flasche Energydrink.
„Aileen, wenn du schon die Gitarre nicht auf die Reihe bekommst wirst du hoffentlich das Xylophon schaffen.“, fuhr er die hübsche Schülerin an.
Manuels Verwirrung wurde noch Größer, als sie keine Regung zeigte, einfach auf ihn zukam und die schwarze E-Gitarre vom Boden aufhob.
„Ich bekomme die Gitarre wieder hin.“, war ihr einziger Kommentar und der Lehrer schien sich keinen Widerspruch zu trauen.  Ein taffes Mädchen und noch dazu hübsch. Warum hatte Manuel sie nicht schon vorher interessant gefunden?
Doch sogleich viel ihm der Grund wieder ein. Sie war zwar überall bekannt, doch niemand wusste genaueres über sie, auch nicht wann sie in der Schule sein würde und wann sie schwänzte. Außerdem steckte er im Moment in einer Beziehung, weshalb er sich solche Gedanken verbieten sollte, wenn sie auch unglücklich zu werden schien.
Inzwischen spielte Manuel mit dem Gedanken Antonia abzuschießen, doch er suchte noch nach einem Grund, damit er nicht als totales Arschloch rüberkam. Denn dass sie ihn nervte konnte er ihr wohl kaum sagen, oder?
„Gut, dann machen wir ab dem Gitarrensolo von Anna.“, riss der verpeilte Lehrer Manuel aus seinen Gedanken. „Sie heißt Aileen.“, gab der Typ vom Klavier zu bedenken doch weder Aileen noch den Lehrer schien das groß zu jucken.

Während Aileen spielte fragte sie sich wie sie die Noten hatte falsch spielen können. Ihre Hände griffen fast automatisch den richtigen Ton, hatte sie das Solo doch selbst komponiert.
Aileen hatte sich einmal eine billige Gitarre aus einem Discounter gekauft und sich darauf das spielen beigebracht. In der Schule hatte ihr ehemaliger Musiklehrer ihr die großen Pausen zur Verfügung gestellt um sich mit der dortigen E-Gitarre das spielen beizubringen, da sie ihn darum gebeten hatte. Es war oft, als wäre sie in einer anderen Welt wenn sie spielte. Es war eine Möglichkeit kurz ihren Sorgen zu entfliehen und nur sie selbst zu sein. Nur sie selbst und niemand anders. Ohne Lügen und ohne Probleme.
Als endlich die zwei Stunden geschafft waren wartete nur noch deutsch auf sie. Eines ihrer Lieblingsfächer, auch wenn die Lehrerin zum Kotzen war.
Frau Kaiser war eine miserable Lehrerin, nicht weil sie nicht intelligent war, sondern weil sie parteiisch war und dies auch jeden erkennen ließ. Aileen hatte das Glück sie mit ihren guten mündlichen Beiträgen auf ihre Seite gezogen zu haben, dennoch konnte sie die Lehrerin nicht ausstehen.
Langsam schlenderte Aileen durch die Gänge, machte beim Getränkeautomaten halt, da ihr Drink leer war um sich eine neue Flasche zu besorgen.
Einen Zwischenstopp auf der Toilette schien sie bald bereuen zu müssen. Als Aileen in der Kabine verschwunden war hörte sie erneut die Tür zur Mädchentoilette.
Eine weibliche Stimmen ertönte: „Aber ihre Haare sind schon ganz schön cool. Ich wünschte ich wäre so mutig. Weißt du noch als sie ganz Türkis waren?“, schwärmte das eine Mädchen. Aileen nahm wütend zur Kenntnis, dass sie das Gesprächsthema zu sein schien, verhielt sich still, wollte hören was sie zu sagen hatten.
Eine weitere Stimme erklang. Boshaft. „Naja, für eine achtjährige wäre das bestimmt angemessen, aber mit sechzehn? Aber was will man von so jemandem erwarten, ich meine sie schwänzt doch dauernd.“
Es ertönte eine dritte Stimme, die gelangweilt klang. „Naja, ist doch nicht unsere Sache, oder? Aber ich hab gehört sie soll schwanger gewesen sein. Caro hat sie letztens mit einem kleinen Baby gesehen.“
„Na das passt ja.“, ertönte da wieder die gehässige Stimme. „Die soll ja auch Drogen nehmen. Am Wochenende hab ich sie mal mit so einer Gruppe asozialer gesehen. Solche die immer auf der Straße hocken und betteln.“
„Ich glaub nicht dass sie Drogen nimmt. Ich hab schon ein paarmal mit ihr geredet und da war sie echt freundlich.“, ertönte wieder die Stimme die sie zu bewundern schien. Aileen sah auf die Uhr. Sie hatte noch drei Minuten bis Unterrichtsbeginn.
Eine Minute später verließ Aileen die Kabine, sah sich drei erschrockenen Mädchen gegenüber. Drei Blondinen aus Antonias Freundeskreis. Ohne mit der Wimper zu zucken wusch sie sich die Hände, wollte schon nach draußen verschwinden, als die Blondine sie aufhielt, die sie gelobt hatte.
„Warte. Wenn du das sowieso gehört hast kannst du uns auch sagen was wahr ist.“, bat sie Aileen.
Die angesprochene zog die Augenbraue nach oben und schloss die Tür wieder.
Eine solche Courage hatte sie dem zierlichen Mädchen gar nicht zugetraut. Ihre zwei Freundinnen hatten sich inzwischen ebenfalls wieder gefasst. Die eine schminkte sich und die andere sah sie gehässig an. Nun konnte Aileen die Stimmen einfach zuteilen.
„Was willst du denn wissen?“, fragte Aileen nach, wollte wissen ob sie sich weiter traute. Die kleine, Aileen glaubte sie hieß Rebecca, stotterte ein wenig herum.
„Nimmst du Drogen?“, schoss nun die gelangweilte mit einem spöttischen Blick auf Rebecca.
„Na hallo, ich lebe nach dem Motto Sex, Drugs and Rock´ n Roll. Außerdem zählt Kaffee auch, oder?“, gab Aileen zurück. Eine Antwort und dennoch keine genaue. Sie ließ alles offen.
„Und du hast ein Kind?“, fragte nun Rebecca schüchtern.
„Ja, ich hab eins. Weiß nur nicht sicher von wem es ist.“, erklärte Aileen und schaute dümmlich in die Luft. Schockiert sahen alle drei sie an, dachten sie hätte davon gesprochen, dass das Kind ihres sei. Aileen hatte lediglich zugegeben ein Kind zu Hause sitzen zu haben und nicht zu wissen von wem es war.
Okay, das letzte war ein wenig geflunkert. Sie wusste das das Kind ihrer Mutter gehörte und dem Opa, aber da konnte man sich auch nicht sicher sein, oder? Es kam ja immer wieder zu Verwechslungen im Krankenhaus.
„Also wenn ihr dann keine Fragen mehr habt... Ich muss in Deutsch.“, Aileen trat in den Flur, überließ die Tussen ihren Lästereien.
„Und warum schwänzt du immer?“ Rebecca war ihr in den Flur gefolgt, in dem nun die Augen der näheren Umgebung auf ihnen lagen.
„Na hör mal, irgendjemand muss sich doch um die Hosenscheißer kümmern, oder denkst du ich bring sie um?“, empört sah Aileen die kleinere an, deren Mund aufklappte. „Die Hosenscheißer? Du hast zwei Babys?“, fragte Rebecca und Aileen hörte die Personen in der näheren Umgebung nach Luft schnappen.
Ja, ihr Leben war wirklich interessant, da brauchten die andern kein eigenes.
„Hab ich zwei gesagt?“, fragte Aileen dümmlich nach, wusste genau, was die anderen nun denken mussten, interessierte sich aber nicht dafür.
Mit einem letzten dummen grinsen drehte Aileen sich um und rannte direkt in Manuel hinein. Mit einem erschrockenen Bick in dessen Gesicht flüchtete Aileen schnell in ihren Klassenraum.

Aileen sollte schon ein Baby haben? Zwei Babys? Das konnte nicht stimmen. Man hätte ihre Schwangerschaft doch bemerkt, oder?
Manuel hatte selbst kaum auf sie geachtet, hätte dies also nicht mitbekommen. Und obwohl Aileen es zugegeben hatte, konnte Manuel es nicht glauben. Es hatte etwas in ihrem Blick gelegen, das eindeutig Belustigung signalisiert hatte.
Warum sollte sie sich darüber lustig machen wenn sie über ihre Kinder sprach? Oder hatte es ihr Spaß gemacht alle zu schockieren? Denn genau das war die Reaktion aller umstehenden gewesen. Selbst Manuels Sportlehrer hatte den Worten der beiden Mädchen wie hypnotisiert gelauscht. 
„Hi Manu. Wie findest du meinen neues Rock?“, wurde er von Tatjana aus seinen Gedanken gerissen. Die hübsche Freundin seiner Freundin drehte sich einmal im Kreis, damit er ihren Hautengen Minirock von allen Seiten bestaunen konnte.
„Gefällt er dir?“, fragte sie wiederholt. Manuel war es Leid sich von ihr anbaggern zu lassen. Man sollte meinen die gehässige Tatjana würde sich nicht an ihn heranschmeißen, war sie doch schon jahrelang mit seiner Freundin befreundet, doch leider ließ sie sich davon nicht aufhalten.
„Ja, der ist echt super.“, presste er hervor, verabschiedete sich dann schnell mit der ausrede zum Unterricht zu müssen.
Erleichtert stand Manuel zehn Minuten später mit Hannes auf dem Schulparkplatz und drückte seine Zigarette aus.
„Komm wir gehen was essen.“, forderte er seinen Freund auf, der nickte und auf der Beifahrerseite von Manuels Audi einstieg. Manuel hoffte sich die Gedanken eines Gewissen Mädchens mit lauter Musik aus dem Kopf treiben zu können, doch Aileen ließ ihn nicht los.

„Nein, bis jetzt habe ich noch nichts in der Richtung mitbekommen.“, brachte Aileen Antonia auf den neusten Stand während sie das Abendessen für Marlon zubereitete. Antonia stänkerte noch ein wenig herum und legte dann aber glücklicherweise schnell auf.
Sie fragte sich warum sie Antonia nicht einfach sagte sie könne sie am Arsch lecken. Doch sie hatte keine Antwort darauf, wusste nur, dass ein Teil von ihr das verhindern wollte. Und solange sie nicht wusste warum, würde sie nichts tun.  
Einen Fluch unterdrückend versuchte Aileen noch das Wasserglas zu halten, dass Tabea umgestoßen hatte, bekam es aber nicht mehr zu fassen und wischte die Sauerei mit knurrendem Magen zusammen.
Den ganzen Tag hatte sie noch keine Zeit gehabt etwas zu essen, denn schon früh morgens hatte sie mit Marlon einen Termin beim Kinderarzt gehabt um die Impfungen auffrischen zu lassen. Anschließend hatte Aileen ihren Bruder in der Schule abgeliefert und einkaufen gegangen.
Aileen brauchte unbedingt einen Job, denn das Amt hatte seine Zuschüsse gekürzt und Tabeas Vater konnte nicht mehr den ganzen Unterhalt zahlen.
Aileen konnte nicht mehr, musste sich bemühen nicht wieder in Tränen auszubrechen, wie in der Nacht zuvor. Die Woche hatte sie ausgebrannt und Aileen wollte nichts mehr als alles in Alkohol zu ertränken. Erleichtert seufzte sie auf, als Tabea abgeholt wurde, weniger später war auch Xander  gekommen.
Kaum war die Wohnung leer griff Aileen zu ihrem Handy, beredete mit Paul das Wochenende. Eine Stunde später würden sie sich im Park mit den anderen Treffen, Paul war schon dort.
Seufzend ging Aileen ins Bad. Die tiefen Augenringe verrieten ihre Erschöpfung, ebenso wie die blasse Haut und die stumpfen Haare.
Aus dem Badezimmerschränkchen holte Aileen die zuvor gekaufte Haarfarbe. Türkis. Wie sie sie schon einmal hatte. Wenn sie selbst keine gute Laune versprühen konnte, sollte wenigstens ihr Haar den Schein wahren.

Seufzend saß Manuel auf den Treppen vor dem „Sphinx“. Ein Club, in dem die Kellnerinnen einen auf Ägypten machten. Manuel mochte ihn nicht besonders, aber Antonia hatte unbedingt dorthin gewollt. Zusammen mit einigen Freunden, unter denen sich auch Hannes, Rebecca und Tatjana befanden, waren sie schließlich ihrem Wunsch gefolgt, wenn auch weniger Freiwillig.
Inzwischen war es kurz vor zwölf und er rauchte seine siebte Zigarette in zwei Stunden. Und dabei hatte er aufhören wollen, dachte er sich bitter. Aber Antonia hatte etwas an sich, dass ihn gestresst werden ließ und wenn er Stress hatte rauchte er mehr. Außerdem konnte er mit dieser ausrede nach draußen flüchten.  
Die Mädels waren gut angeheitert gewesen, als Manuel den Club zwanzig Minuten zuvor verlassen hatte um sich ein wenig frische Luft und eine Pause zu gönnen.
Plötzlich wurde er an der Schulter gefasst und sah sich Richard gegenüber, einem ehemaligen Klassenkameraden, der die Schule verlassen hatte um eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner zu beginnen.

Um halb eins war Aileen endlich mit ihrer Clique am „Sphinx“, einem Club, der ihrer Meinung nach geschlossen gehörte. Die Musik war schlecht, die Barkeeper waren schlecht und die Kellnerinnen liefen seltsam verkleidet durch die Gegend.
Kein Wunder also, dass sich in diesem Club nur Leute aufhielten, die sich für etwas Besseres hielten, unter anderem auch Antonia mit ihrer Clique.
Sie kamen oft auf dem Weg vom Park zu ihrem Stammclub dort vorbei, an diesem Tag war dies sogar beabsichtigt, denn sie hatten mit Richard verabredet ihn dort abzuholen.
Schon von weitem erkannte Aileen die muskulöse Gestalt ihres guten Freundes. Rick war 18 und machte eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner, mit der er sehr glücklich war.
Aileen, die schon ein wenig angetrunken war rannte los, sobald sie ihn erkannte, hatte sie ihn doch wochenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen.
„Ricki!“, schrie sie durch die Nacht und umarmte ihn stürmisch. „Ricki“, wie nur sie ihn nennen durfte, umschlang sie ebenfalls und wirbelte mit ihr im Kreis. „Wo hast du denn so lange gesteckt? Ich hab dich ja ewig nicht gesehen.“, wurde sie leicht getadelt, doch das kümmerte sie wenig.
„Aileen, das ist Manuel, er ist mit mir in die Klasse gegangen. Vielleicht kennst du ihn ja, er geht in die zwölfte auf deiner Schule.“, gab Rick preis.
Nun richtete Aileen erstmals ihre Aufmerksamkeit auf den Gesprächspartner ihres Kumpels und sah ihn misstrauisch an. „Hi.“, sagte sie nur und versuchte dann Rick zu ihrer Gruppe zu ziehen, die in einigem Abstand alles beobachtete. Doch der schwarzhaarige wehrte sich. „Willst du nich mit uns mitkommen? Wir wollen ins Dragon.“, wurde  Manuel gefragt.
Als Aileen Ricks Worte vernahm zog sie heftiger an ihm herum, doch dieser ließ sich davon nicht beeindrucken und tat, was er immer tat wenn Aileen an ihm herumzerrte. Er schmiss sie sich über die Schuler.
„Maaan Rick. Du hast gesagt du machst das nicht mehr! Leeeeeeeeeeeute helft mir doch.“, schrie sie um Hilfe, vernahm jedoch nur Gelächter von allen Seiten. Immer wieder schlug sie Rick auf den wohlgeformten hintern, hoffte ihn würde das irgendwann nerven und er würde sie herunterlassen, damit sie weiter an ihm herumzerren konnte.
Doch da vernahm Aileen schon die unheilverkündenden Worte. Manuel hatte zugesagt. Er müsse nur noch kurz seiner Freundin Bescheid geben. Rick ließ das Mädchen mit den türkisenen Haaren wieder hinunter und sah sie strafend an, während sie sich den schmerzenden Bauch hielt.
„Du wartest hier, bis Manuel Bescheid gesagt hat. Keine Widerrede! Und ich gehe die anderen begrüßen.“. Das war das dumme an Rick. Er hatte eine nervende Art an sich sie erziehen zu wollen. Warum durfte sie eigentlich nie Kind sein?
Aileen wollte nicht immer ernst und verantwortungsvoll sein. Das musste sie doch schon zuhause, wieso auch am Wochenende?
Doch sie konnte den anderen eigentlich keine Vorwürfe machen, sie wussten nichts über ihr zuhause, ahnten nichts. Und Aileen hasste sich dafür, dass sie ihre Freunde immer wieder anlügen musste.
Seufzend betrachtete sie Manuel, der auf seinem Handy herumtippte. Warum musste dieser süße Typ die Wege ihres Lebens kreuzen? Er würde nur wieder irgendwelche Gerüchte herumerzählen, die jeder glauben würde. Und wie das so war würden sie von Mal zu Mal schlimmer werden, bis es irgendwann hieß, sie würde sich Drogen spritzen oder so. Ach nein, sie meinte schon einmal ein Gerücht in die Richtung gehört zu haben. Würde er sich wohl etwas Neues ausdenken müssen.

Manuel schickte die SMS grinsend ab, richtete seine Aufmerksamkeit anschließend wieder auf Aileen. Er hatte sie erst erkannt, als Manuel sie wieder hinuntergelassen hatte, hatte er sie doch mit schwarzen Haaren in Erinnerung. Ihre Türkisenen Strähnchen schienen Aileen nicht mehr gereicht zu haben, denn nun strahlte ihre ganze Haarpracht in hellem Türkis.
„Neue Haarfarbe?“, fragte er grinsend, wurde jedoch von seinem Handy abgelenkt.
„Gefällt´s dir etwa nicht?“, fragte Aileen gelangweilt nach, deutete an Tränen zu vergießen, doch Manuel bemerkte das Spektakel nicht.
Während er die SMS von Hannes öffnete antwortete er ihr charmant. „Ich habe nie behauptet, dass es mir nicht gefällt. Steht dir gut. Du hattest die Haare doch schon mal so, oder?“, meinte er sich zu erinnern.
Du kannst mich doch jetzt nicht hängen lassen Alter. Ich sag Erwin Bescheid, dass er die Mädels nach Hause bringt, warte auf mich!
„Jup.“, war ihre einzige Antwort. Einige Minuten schauten beide durch die Gegend. Dabei vielen Manuel die schwarzen High-Heels auf die Aileen trug. Antonia hatte schon Mühe mit wenigen Zentimetern Absatz zu laufen, doch Aileen war zuvor mit diesen Mörderschuhen auf sie zu gerannt und ihm waren kein Veränderter Gang aufgefallen. Respekt.
Zudem sah sie an diesem Abend absolut heiß aus. Die schwarze Röhrenjeans betonte die schlanken Beine, die durch die hohen Schuhe noch betont wurden und das weiße Top mit schwarzem Aufdruck ließ auch keine Vermutungen über den Bau ihres Oberkörpers offen. Noch dazu verbarg der schwarze Aufdruck nicht das Durschimmern des dunkelroten BHs.  
„Worauf warten wir eigentlich?“, fragte Aileen dann genervt nach. Sie wollte endlich ins „Dragon“ um sich betrinken zu können.
„Hannes kommt auch mit, er muss sich noch kurz darum kümmern, dass die Mädels nach Hause kommen.“, berichtete er und Aileen verzog genervt das Gesicht, was ihn amüsiert grinsen ließ.
„Kann ich ne Zigarette haben?“, bat sie denn überraschten Manuel.
Doch warum überraschte es ihn? Es kursierten doch ganz andere Gerüchte, da war es noch harmlos wenn sie rauchte. Dennoch ein wenig Verwunderung blieb, als er seine Packung und das Feuerzeug herauskramte. Er hatte wohl immer noch innerlich die Vorstellung vertreten, dass Aileen ein liebes Mädchen wäre und die Gerüchte alle Lügen waren. Aber weshalb eigentlich?
„Ich wusste gar nicht, dass du rauchst.“, begann Manuel vorsichtig.
„Kannst ja auch nicht alles wissen.“, erwiderte sie bissig und zauberte Manuel wiederholt ein Grinsen auf die Lippen. „Ich mein ja nur. Hab dich noch nie in der Schule gesehen.“, eine weitere Frage, getarnt als Feststellung.
Genervt atmete Aileen den Rauch aus. „Ist ja schon gut, du nervst mich so lange bis ich tot umfalle, ist es das was du willst? Ich rauche nur am Wochenende manchmal und habe nicht die Absicht süchtig zu werden. Könnte ich mir gar nicht leisten. Aber wenn ich schon wegen dir hier warten muss kann ich dir auch ne Zigarette abschwatzen.“
Manuel zog eine Augenbraue hoch. Sie konnte sich das Rauchen nicht leisten? Ging das Geld für die härteren Sachen drauf? Oder stimmte das auch nicht und sie brauchte das Geld für ihre Kinder?
„Nimmst du…“, wollte Manuel sie gerade nach Drogen fragen, als Hannes neben ihm auftauchte.
„Also ich wär dann so weit.“, verkündete dieser gut gelaunt, sah neugierig Aileen an.
„Warte, du bist doch Aileen, die Schulschwänzerin.“, brachte er verwundert hervor und streckte ihr eine Hand hin, ehe er seinen Namen verriet. „Ja, die Schulschwänzerin.“, bestätigte Aileen mit kühlem Blick, ließ den Blick über Hannes gleiten. Das war also Hannes, der Typ der mit Manuel eine geraucht hatte.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte Aileen sich um und ging wieder zu ihrer Gruppe. Sie erntete einen bösen Blick von Rick, als dieser ihre Zigarette erblickte. Auch Paul versuchte sie mit bösen Blicken zu bekehren, doch es war ihr egal. Die beiden durften sie belehren wenn sie Kettenraucherin wurde; doch nicht wenn sie eine Zigarette in der Woche rauchte.

Seufzend ließ sie sich zurückfallen, war mit einem Mal wieder nüchtern. Aus ihrer Tasche griff sie sich die Energydrink Flasche, die mit Wodka vermengt war und nahm ein paar große schlucke. Sie hatte letztes Wochenende nicht feiern gehen können und hatte einiges aufzuholen.
Aileen hatte es doch auch verdient mal abschalten zu dürfen, nach den letzten zwei Wochen, oder? Warum musste ausgerechnet nun Manuel mit seinem dummen Kumpel auftauchen? Ihr blieb einfach nie etwas erspart.
Seufzend setzte sie die Flasche wieder an, ließ die brennende Mischung ihre Kehle hinunterrinnen. „Darf ich auch mal?“, kam die Frage von der Seite und sie erblickte Manuel, der seine Hand nach der Flasche ausgestreckt hatte. Seufzend gab Aileen nach, nahm den letzten Zug ihrer Zigarette und schmiss sie auf den Boden um sie mit dem Schuh auszudrücken.
Skeptisch betrachtete sie ihren schwarzen High-Heel. Das einzige Paar das sie besaß -dafür in erschreckender Höhe. Aileen hatte lange gebraucht, ehe sie darin hatte laufen können. Dazu trug sie eine schwarze Röhrenjeans, die einige Risse aufwies und ein weißes Top mit schwarz-weißem Aufdruck. Sie sah gut aus, das wusste sie, doch sie hatte nicht die Absicht einen Typen aufzureißen. Aileen hatte nie einen Freund gehabt, hatte nie Zeit für einen gehabt.
Sie hatte nie einen Jungen nahe genug an sich heranlassen können. Aileen hatte noch nie einen Jungen richtig geküsst, geschweige denn mit einem geschlafen. Sie stellte sich oft vor einfach mal mit einem Jungen, mit denen sie oft tanzte zu knutschen, verwarf den Gedanken dann aber immer recht schnell wieder, denn sie fand das niveaulos. Man sollte nur jemanden küssen, den man wirklich mochte.
Aileen wollte nicht enden wie ihre Mutter, die sich schon dafür verkauft hatte um Drogen zu bekommen. Niemals wollte sie so werden.
Manuel reichte ihr die halbleere Flasche wieder zurück und Aileen sah ihn böse an. Super, das würde nicht reichen um sich die Birne wegzuschießen. Und sie hatte fast kein Geld mehr, musste erst wieder zur Bank.
Aileen war sowieso froh, dass ihre Mutter nicht alles Geld verprassen konnte. Nachdem Aileen alt genug gewesen war hatte sie Xander, ihren und Tabeas Vater dazu bringen können den Unterhalt auf ihr Konto zu überweisen. Auch das Kindergeld bekam sie durch einen Trick auf ihr Konto. Das schlechte Gewissen gegenüber ihrer Mutter hatte sich verflüchtigt, als diese zum ersten Mal zugeschlagen hatte.
Aileen nahm einige kräftige Schlucke aus der Flasche, spürte, wie sie langsam wieder bedöselt wurde und sich ein Lächeln auf ihr Gesicht schlich.
 „Nimmst du harte Drogen?“, kam die Frage neben ihr und Aileen seufzte nur genervt auf. „Kann schon sein.“, gab sie unbestimmt zurück. Warum konnte dieser Kerl nicht einfach verschwinden und zusammen mit seinem Kumpel Rick nerven?
 Betreten schwieg Manuel einige Sekunden, konnte sich aber nicht vorstellen, dass sie das tat, was er Aileen auch sagte.
„Mir doch egal.“, sagte sie kurz angebunden, trank dann den Rest der Flasche aus und verstaute sie wieder in der Tasche.
Aileen legte einen Schritt zu um als erste den Türsteher des Clubs zu erreichen, der ihr schon entgegengrinste.
Frederick war ein großer, kräftiger Mann um die 25 Jahre, den Aileen sehr gerne hatte. Seit das „Dragon“ eröffnet hatte ging ihre Clique dort hin und genauso lange arbeitete Freddy schon dort.
Aileen streckte ihm ihre Arme entgegen und der große Mann beugte sich zu ihr hinunter und hob sie kurz hoch, ehe er die anderen ebenfalls durch die Eingangstür ließ.
Seit einem Jahr mussten sie schon keinen Eintritt mehr bezahlen. Das war eine tolle Regel im „Dragon“. Stammkunden mussten nach einem Jahr keinen  Eintritt mehr berappen. Nur Hannes und Manuel mussten bezahlen, während die anderen sich schon in den Clubbereich begaben.
Aileen stürzte sich auf die Tanzfläche, bekam schnell Gesellschaft von Rick, der sie allerdings bald wieder verließ um eine Tusse aufzureißen. Einige Zeit später tanzte Paul ein wenig mit ihr, legte eine heiße Show mit ihr aufs Parkett, doch auch er machte bald wieder schlapp.
Hände legten sich auf ihre Hüften und Aileen wollte sich schon wehren, als sie Manuel in ihr Ohr flüstern hörte. „Du tanzt wirklich gut.“ Ihr erster Instinkt war ihn abzuwehren, doch es fühlte sich gut an ihn bei sich zu haben und niemand würde etwas hineininterpretieren, wenn sie mit ihm tanzte, also ließ sie sich für einige Zeit fallen.

Samstagmorgen, halb vier in der Frühe. Aileen saß mit Manuel zusammen vor dem „Dragon“, lehnte sich an dessen Schulter, da sie kaum mehr gerade sitzen konnte.
Aileen hatte festgestellt, dass dieser sie entweder flachlegen wollte oder Geld übrig hatte, denn er hatte ihr die ganze Nacht lang Getränke spendiert, so dass Aileen nun doch betrunken war.
Manuel selbst schien sehr viel vertragen zu können, denn dieser zeigte keine Anzeichen des Alkohols, denn er getrunken hatte. Beide waren nach draußen gegangen um etwas frische Luft zu schnappen, saßen nun auf dem Bürgersteig und schwiegen.
Aileen hatte festgestellt, das Manuel ein toller Tänzer war und vielleicht auch nicht ganz so übel von der Person her wie sie gedacht hatte –oder sich einreden wollte. Eigentlich war er ganz süß, musste sie feststellen. „Oh, danke, du auch.“, grinste Manuel sie an. Hatte sie das etwa laut gesagt? „Jup und das eben auch.“, erklärte Manuel.
„Schade dasch du eine Freundin hasch.“, die Worte waren Aileen entwichen ehe sie es verhindern konnte. Okay, jetzt war alles vorbei.
„Ich glaube ich werde sie nicht mehr lange haben.“, vertraute er Aileen an und steckte sich eine Zigarette an. „Wiescho? Hascht du dosch was mit einer ihrer Freundinnen?“, fragte Aileen nun verwundert nach. „Warum sollte ich etwas mit einer von denen haben?“, fragte der dunkelhaarige verwirrt.
„Naaaa die denkt desch und hat mit gesacht dasch ich nasch dir gugen soll.“, verriet Aileen mit verschwörerischem Blick. Dann wurde ihr bewusst, was sie da verraten hatte und rappelte sich schnell auf. „Öhhm, isch muss heim.“, lallte sie und machte sich mit wackeligen Beinen auf den Weg nach Hause. Naja, eigentlich kam sie nur drei Schritte ehe Manuel sie eingeholt und gebremst hatte. Aileen schien schlagartig wieder nüchtern zu sein, als sie Manuel in die Augen sah.
„Was soll das heißen?“, fragte dieser ernst nach und Aileen musste zu Boden schauen. Jetzt konnte sie es auch verraten, war ja sowieso egal. „Antonia hat mich angerufen und so lange genervt bis ich gesagt habe, dass isch ein Auge auf dich habe. Sie denkt ihre Freundinnen könnten was mit dir anfangen.“, gab sie mit wackeliger Stimme zu. Aileen schämte sich, obwohl sie doch eigentlich nichts getan hatte.
Manuel sah sie sanft an, dann nahm er jedoch sein Handy aus der Tasche und schrieb Antonia eine SMS in der er mit ihr Schluss machte. Das war der berühmte Tropfen der das Fass zum Überlaufen brachte. Egal wie gemein es war per SMS Schluss zu machen, er wollte sie keine Sekunde länger seine Freundin nennen. Außerdem konnte er so besser vor sich selbst rechtfertigen was er nun vor hatte.
„Wo wohnst du? Ich bring dich hin.“, fragte Manuel nach, legte Aileen einen Arm um die Taille. Zu verwundert um sich zu wehren ließ diese sich mitziehen.

Ratlos stand Manuel mit Aileen auf den Armen vor ihrer Wohnungstür. Aileen hatte ihm den Weg gezeigt und auch die untere Tür aufgeschlossen, doch die Treppen hätte sie kaum mehr geschafft, weshalb Manuel sie kurzerhand auf die Arme genommen hatte.
 Seufzend stellte er sie wieder auf die Beine und suchte mit einer Hand nach dem Schlüssel, während er sie mir der anderen stützte. Kaum waren sie in der Wohnung wartete schon das nächste Rätsel auf ihn: Welches war ihr Zimmer. Leicht rüttelte Manuel Aileens Schulter, die daraufhin auch aufwachte und ohne ein weiteres Wort in ein Zimmer verschwand. Manuel folgte ihr, um zu sehen ob sie auch richtig war. Gebannt sah er auf den schlanken Körper Aileens, der nur noch in dunkelroter Unterwäsche vor ihr stand. Sie sah wirklich gut aus, stellte er wederholt fest.
Nachdem Aileen sich einfach ins Bett fallen lassen hatte suchte Manuel eine Decke und deckte sie zu. Eine Hand ergriff seinen Arm. „Schlaf bei mir.“ Kurz danach erfolgte ein Ruck und der überraschte Manuel fiel neben sie ins Bett. Sofort kuschelte Aileen sich an ihn, schlang einen Arm um seinen Bauch. Nun hatte er wohl kaum eine Wahl, oder?
 Und wenn sie ihn aufgefordert hatte, konnte er auch bleiben, auch wenn er es am nächsten Morgen wahrscheinlich bereuen würde. Doch das war egal, dachte er sich während, er Aileen ein wenig näher an sich zog, denn es fühlte sich einfach zu schön an, neben diesem interessanten Mädchen zu liegen. Manuel hatte ein flatterndes Gefühl im Bauch, dass ihm bestätigte, was er schon den ganzen Abend vermutet hatte. Er hatte sich in das hübsche Mädchen verliebt.
Und er würde sie dazu bringen sich auch in ihn zu verlieben, war sein letzter Gedanke, ehe er einschlief.

Als Aileen am nächsten Morgen erwachte, plagten sie schlimme Kopfschmerzen. Doch viel interessanter war der warme Körper, an den sie sich vertrauensvoll schmiegte. Obwohl, wollte sie es wirklich wissen? Unter großer Kraftanstrengung erhob sie ihren Oberkörper und sah in das schlummernde Gesicht von Manuel.
Warum? Warum passierte immer ihr so etwas? Fieberhaft überlegte Aileen was am Vorabend geschehen war. Und sie konnte sich an alles erinnern. Scheiße.
Vorsichtig löste sie sich von dem Schlafenden, stieg über ihn hinweg.
Aileen war gerade wieder auf dem Weg in ihr Zimmer. Ihr Kopfschmerz hatte sich gelegt und sie hatte Aspirin für Manuel dabei um diesen möglichst schnell wieder loswerden zu können.
 Es war erst kurz nach halb eins am Mittag und  ihre Hoffnung, dass Manuel  schnell wieder verschwinden würde war gering, denn er würde wohl noch ein wenig Schlaf benötigen.
Kaum hatte Aileen sich ein Sommerkleid übergezogen, vernahm sie ein Klopfen an der Wohnungstür. Ein Nachbar? Schnell schloss sie ihre Zimmertür um Manuel nicht zu wecken und öffnete die Tür. Sie hätte wohl lieber durch den Türspion gesehen, doch es war zu spät.
Ihre Mutter stürzte betrunken in die Wohnung, riss alles Mögliche zu Boden in dem Versuch sich festzuhalten. Ehe Aileen ihr zu Hilfe eilte schloss sie schnell mit einem kurzen Geistesblitz ihre Zimmertüre mit einem Schlüssel ab. Nicht das ihre Mutter und Manuel sich begegneten. Entschlossen dirigierte sie ihre Mutter ins Wohnzimmer, in dem sie die Schlafcouch für ihre Mutter auszog. Die dunkelrote Couch war der normale Schlafplatz ihrer Mutter. Diese bemerkte in ihrem Suff meist gar nicht die daraus resultierenden Rückenschmerzen.
Traurig betrachtete Aileen den abgemagerten Körper ihrer Mutter. Die dunkelbraunen Haare, die Aileen von ihrer Mutter geerbt hatte hingen verfilzt und ungepflegt bis zu den Oberarmen hinunter.
Die Wangen der 45-jährigen  waren eingefallen und bleich, die Kleidung dreckig und zerrissen. Es war zum davon laufen und Aileen schämte sich in Grund und Boden.
Glücklicherweise ließ ihre Mutter sich widerstandslos auf die Couch fallen und schlief schnell ein, ohne noch mehr Krach zu machen. Kaum hatte Aileen ihre Mutter zugedeckt vernahm sie auch den Lärm, der wohl aus der verschlossenen Tür resultierte. Der Teenager beeilte sich die Tür wieder zu öffnen, stand einem verschlafenen Manuel gegenüber.
 „Du musst gehen.“ Die Worte hörten sich abweisender als beabsichtigt an, doch Aileen konnte es nicht mehr ändern.
„Aber…“  Manuel verstand die Welt nicht mehr. Zuerst die verschlossene Tür, dann wurde er rausgeschmissen?
Aileen konnte sich nicht erweichen lassen. Würde Manuel das Erblicken, dass von ihrer Mutter übrig geblieben war, würde er unwillkürlich Fragen stellen. Fragen, die Aileen nicht beantworten konnte. „Du dumme Hure! Was fällt dir eigentlich ein?“,  ließ in diesem Moment Aileens Mutter von sich verlauten.
„Bitte stell jetzt keine Fragen. Am Montag, vielleicht, aber jetzt nicht. Geh.“ Kaum hatte Aileen die Worte ausgesprochen, stand Manuel auch schon vor der verschlossenen Wohnungstür.
WAS? Sie würde am Montag vielleicht mit ihm reden? Keine Chance. Manuel war wirklich süß, das musste sie zugeben, aber sie hatte sich doch vorgenommen ihm nach dieser einen Nacht die kalte Schulter zu zeigen. Nach dieser einen Nacht? Oh Gott, dass hörte sich ja so an, als hätten sie miteinander geschlafen. Aileen fasste sich stöhnend an die Stirn.
„Komm sofort her du dreckige Schlampe!“ Sie hatte jetzt keine Zeit sich mit ihren verwirrenden Gefühlen zu befassen, musste sich um ihre Mutter kümmern. Kaum im Wohnzimmer angekommen schlug ihre Mutter sie nieder, ohne dass Aileen es hätte kommen sehen. „Wo ist mein Geld? Ich weiß genau, dass du es mir gestohlen hast.“
Erst jetzt viel ihr die Unordnung auf. Ihre Mutter hatte auf der Suche nach Geld alle Schranktüren und Schubladen geöffnet und den Inhalt nach draußen befördert. Wie hatte ihr der Lärm entgehen können?
 Aileen war sehr froh, dass die Nachbarwohnung zurzeit nicht besetzt war, denn es reichte schon wenn das Rentnerehepaar unter ihnen sich immer über Kleinigkeiten beschwerte. Die Wände waren dünn wie Papier und die Eheleute hatten schon oft versucht sie hinauszuekeln.
Es war Aileen unverständlich, wie man sich so über Babygeschrei aufregen konnte. Die Rentner hatten selbst zwei inzwischen erwachsene Kinder. Außerdem sollten sie sich lieber über Dinge aufregen, bei denen es sich auch lohnte, zum Beispiel Vergewaltiger, die Erderwärmung oder ihre laute Schlagermusik, die nicht mehr zum Aushalten war.
Immer wenn Tabea anfing zu schreien stellten sie ihre Musik an um den –wie sie Tabeas weinen nannten- „krach“ zu übertönen. Es war wirklich zum kotzen, doch in diesem Moment hatte Aileen schlimmere Probleme. Sie musste ihre Mutter verschwinden lassen, denn bald würden ihre Geschwister wieder nach Hause gebracht werden.
Aileen rappelte sich wieder vom Boden auf. Sie kannte das Spielchen inzwischen. Aus dem Wäschekorb reichte sie ihrer Mutter saubere Anziehsachen.
Dann holte sie aus dem ständig wechselnden Versteck Geld, das dort extra für einen solchen Fall deponiert war. 70€ waren das Maximum, dass Aileen ihnen in diesem Monat vom Munde hatte absparen können. Lieber gab sie ihrer Mutter das Geld, ehe diese noch die ganze Wohnung zerlegte. Außerdem würde Irene so schnell wieder verschwinden. Zu retten versuchte Aileen sie schon nicht mehr.
Seufzend überlegte Aileen, das sie wohl das teure Handy, das sie von Xander bekommen hatte würde verkaufen müssen. Irgendwoher musste das Geld schließlich kommen und sie würde auch mit einem billigen Teil auskommen.
Irene war inzwischen umgezogen als Aileen ihrer Mutter das Geld in die Hand drückte. Wie immer prasselten Schläge auf sie ein. „Du undankbares Stück! Ich hab so viel für dich getan und du gibst mir nur 70€. Schämen solltest du dich.“
Irene hörte erst auf, ihre am Boden liegende Tochter zu treten, als das Telefon ertönte. Doch sie ging nicht ran, wofür Aileen sehr dankbar war, sondern schmiss die Wohnungstür laut hinter sich zu.
Erschöpft rappelte Aileen sich auf und ging ans Telefon. Es waren die unteren Nachbar, die damit drohten die Polizei zu rufen, sollte der Krach weiterhin andauern. Aileen versuchte die Frau zu besänftigen, legte dann aber auf, als diese nicht mit sich reden lassen wollte.
Die Wahrheit über diese Welt, die sie in diesem Augenblick erneut bis ins Mark traf, nämlich, dass sie kalt und grausam war stimmte Aileen tief traurig. Erst Recht, als sie ihr Gesicht erblickte. Die Haut an ihrem Wangenknochen begann sich schon langsam bläulich zu färben. Ihre Unterlippe war aufgerissen und ein Rinnsal Blut sickerte daraus hervor. Sie sah aus, als sei sie überfallen worden. Aber war sie das nicht auch? Seufzend wandte sie sich ab und begann die Wohnung wieder in Ordnung zu bringen.

„Aileen.“ Aileen ahnte, wem diese Stimme gehörte, doch sie ging einfach weiter den Gang entlang Richtung Klassenzimmer. Nach der großen Pause würde sie zwei Stunden Geschichte bei Herrn Weber haben. Er war der schlechteste Lehrer der ganzen Schule und dennoch der Sympathischste. Herr Weber erzählte immer Stundenlang von vergangenen Zeiten und verlor sich dann immer darin, ohne ihnen wirklich den Unterrichtsstoff näher zu bringen. Es war schrecklich, denn auch wenn er putzig war, so wünschte man sich doch einen anderen Lehrer, um in Geschichte nicht völlig zu versagen.
Sie wurde an der Schulter gefasst und als der Schmerz aufflackerte entriss sie sich der starken Hand und drehte sich wütend um, bereit zuzuschlagen. „Aileen.“ Manuel sagte ihren Namen in einem so sanften und süßen Ton, dass sie sofort ihre Wut vergaß. Der Schmerz blieb allerdings. Vorsichtig rieb sie sich über die Schulter, versuchte somit den Schmerz zu verringern, sah dabei Manuel an. „Was ist?“ Manuel druckste ein wenig herum. „Kannst du vielleicht erst mal diese dumme Sonnenbrille abnehmen? Draußen regnet es.“ Nein, das konnte sie nicht.
Die große Sonnenbrille verbarg glücklicherweise alle blauen Flecke in ihrem Gesicht, der große Pullover und die Röhrenjeans alle anderen. Ihre Aufgeplatzte Lippe hatte sie leider nicht verstecken können, doch es hatte sie glücklicherweise noch niemand danach gefragt.
Nachdem Aileen keine Reaktion gezeigt hatte wollte Manuel ihr die Sonnenbrille einfach abnehmen. Er hasste es seinem Gegenüber nicht in die Augen sehen zu können. Doch kaum hatte er seine Hand in die Nähe ihres Gesichtes gebracht schlug sie sie weg. „Was willst du eigentlich?“ fuhr sie ihn ungehalten an. Manuel war verwirrt, hatte er eine solche Reaktion doch nicht erwartet.
 „Ich wollte mit dir sprechen. Wegen…“ Aileen hielt ihm den Mund zu. Ihr war nur zu gut bewusst, dass viele Augen auf ihnen lagen und dass die Meisten Schüler im Flur ihrem Gespräch lauschten. Und sie hatte absolut keinen Bedarf an noch mehr Gerüchten. Sie würde es auf der Schule schließlich noch zwei Jahre aushalten müssen.
Doch sie sah ein, dass Manuel sie irgendwann erwischen würde. „Wann hast du aus?“ Nachdem Aileen glücklicherweise festgestellt hatte, das Manuel zur sechsten Stunde frei hätte verabredete sie sich mit ihm auf dem Schülerparkplatz ehe sie mit gesenktem Kopf weiterging.

Verwirrt blickte Manuel Aileen hinterher. Was war bloß mit diesem Mädchen los? Er nahm sich fest vor bei ihrem verabredeten Treffen nach der Schule herauszufinden was sie zu verheimlichen versuchte. Und würde sie noch immer nicht mit der Sprache herausrücken würde er wohl bei einigen Freunden Informationen einholen. Irgendwer musste ihm doch etwas über dieses Mädchen erzählen können. Etwas das zur Abwechslung mal wahr war.

„Ich hab nicht viel Zeit. Ich muss die nächste S-Bahn erwischen. Also was willst du.“ Aileen kam abgehetzt am Parkplatz an, sah Manuel schon von weitem an seinem BMW stehen. Sie hatte sich beeilen müssen, um nicht der Lehrerin für den Nachmittagsunterricht über den Weg zu laufen, da sie schwänzen musste. Wie immer.
„Jetzt nehm doch endlich die dumme Brille ab. Und dann erklär mir warum du mich so plötzlich aus der Wohnung geschmissen hast und wer dich beleidigt hat.“ Aileen beschloss einfach die Aufforderung zu ignorieren. „Erstens, ich habe plötzlich Besuch bekommen, der dich nicht sehen sollte und zweitens, so reden wir immer miteinander. Ist ganz normal. Alles nur Spaß. Außerdem geht dich das alles nichts an.“ Aus dem Augenwinkel erkannte Aileen die abfahrende S-Bahn. Jetzt würde sie zu spät zur KITA kommen. Scheiße.
 Zu spät sah Aileen die Hand, die nach der Brille griff und sie ihr abnahm. Reflexartig wandte sie ihr Gesicht ab, doch Manuel schien schon erahnt zu haben was sie verbarg und griff Aileens Kinn um ihr Gesicht anzuheben. Schockiert sah sich Manuel das blaue Auge und den blauen Fleck auf Aileens Wange an. Nun fiel ihm auch erst die aufgerissene Lippe richtig auf. „Wer war das?“ Manuel konnte seine Wut kaum verbergen. Wer auch immer das gewesen war würde leiden müssen. Niemand tat seiner Aileen etwas an! Niemand.
„Niemand. Ich hab einen Ball ins Gesicht bekommen. Nichts Schlimmes. Nur peinlich.“ Manuel glaubte ihr kein Wort. „Hör zu, ich mag dich wirklich gern und ich will mit dir zusammen sein, aber das geht nicht wenn du mir ins Gesicht lügst. Und auch nicht wenn du alles vor mir verheimlichst. Also sag mir jetzt wer das war, damit ich ihn verprügeln kann.“ Manuel wurde mit jedem Wort ungehaltener, doch Aileen war wenig begeistert von seinen Worten. Nicht, weil es sie nicht gefreut hätte, sondern weil es ihr nun noch schwerer fiel ihn abweisen zu müssen. So etwas hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Nie hatte sie jemand wirklich beschützen wollen.
„Du magst mich also? Dann willst du doch bestimmt, dass ich glücklich bin, oder?“ Während Aileen auf Manuels Zustimmung wartete nahm sie ihm ihre Brille wieder weg. „Dann lass mich bitte in Ruhe. So ist es besser für uns beide. Ich führe ein mehr als verkorkstes Leben und du hast noch alles vor dir. Belaste dich nicht mit etwas wie mir und bleibe weiter mit der hohlen Nuss zusammen.“ Aileen hatte mehr gesagt als sie hatte sagen wollen. Viel mehr. „Ich bin nicht mehr mit Antonia zusammen. Hab in unserer Nacht Schluss gemacht.“ Aileen sah ihn traurig an. „Warum nennst du sie unsere Nacht?“ Manuel musste lächeln. „Weil sie einer der schönsten Nächte meines Lebens mit einem der wundervollsten Mädchen die ich je kennengelernt habe ist.“ Aileen war kurz davor Tränen zu vergießen. Sie konnte nicht anders als Manuel einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Nur einmal. „Du bist so kitschig.“ Mit diesem Worten drehte sie sich um und rannte zur S-Bahnhaltestelle um die S-Bahn die gerade einfuhr noch zu bekommen, Manuels Geschmack noch auf den Lippen.

Wie erstarrt blieb Manuel bei seinem Auto stehen. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu seinen Lippen, während er Aileen hinterher sah, die gerade noch so in die S-Bahn hechtete. Sie hatte ihn geküsst. Es fühlte sich beinahe so an als wäre es sein erster Kuss gewesen. So keusch und dennoch hatten ihre Lippen etwas mit ihm angestellt, das er so noch nie erlebt hatte. Die wildesten Küsse mit seinen Ex-Freundinnen und auch der beste Sex den er gehabt hatte. Es fühlte sich auf einmal so an als hätte etwas ganz bestimmtes gefehlt. Diese tausend Volt, die immer noch durch seinen Körper rasten und jeden Zentimeter Haut prickeln ließen…
Was hatte er bisher verpasst, wenn sich ein Kuss so anfühlen konnte! War das Liebe?
Er hatte immer gedacht es würde lange brauchen, ehe man jemanden lieben konnte. Für ihn hatte es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick nie gegeben. Doch Manuel war sich ganz sicher: Wenn es keine Liebe war, die er für Aileen empfand, was sollte sich noch besser anfühlen?
Er wollte alles von ihr wissen, sie beschützen und jeden Morgen mit ihr in den Armen aufwachen.
Er musste unbedingt mit ihr reden, denn nun war er sich sicher, dass auch Aileen ihn nicht unattraktiv fand. Er würde gleich am Abend zu ihr Fahren. Es kostete ihn viel Disziplin das Bedürfnis zu verdrängte sofort zu ihrer Wohnung zu fahren und er fuhr zu seinem Elternhaus. Er würde unbedingt für die Klausur des nächsten Tages lernen müssen, denn seine Eltern legten viel Wert darauf, dass er gute Noten mit nach Hause brachte. Zumindest den guten Willen würde er ihnen zeigen müssen um nicht ewig mit Vorträgen über Verantwortung genervt zu werden.

Als Aileen abends ihre kleine Schwester durch die Wohnung trug, damit diese aufhörte zu weinen, spürte sie noch immer Manuels Lippen auf ihren. Ihr erster Kuss.
Der erste Kuss, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte. Nicht nur Freundschaft, sondern die Einsicht, dass auch sie etwas für Manuel empfand; dass er ihr wichtig war. Nie hatte sich etwas so gut angefühlt, nicht einmal das glückliche Lachen ihrer beiden Geschwister. Und dennoch konnte sie Manuel nicht in ihr Leben lassen.
Würde er das Jugendamt informieren, wenn er über ihre Situation Bescheid wüsste? Aileen wusste die Antwort. Manuel war gebildet, er würde denken das Jugendamt würde ihnen helfen, aber dann würde Tabea zu ihrem Vater und ihr kleiner Bruder zu Xander kommen, während sie selbst Tabea  nie wieder würde sehen können, weil sie von ihr ferngehalten werden würde. Auch Xander würde den Kontakt mit Tabeas Vater nicht aufrechterhalten und Marlon würde seine kleine Schwester nicht wieder sehen.
Niemals würde Aileen das riskieren. Sie würde ihre Geschwister nie jemand anderem vollkommen anvertrauen, lieber würde sie sterben als zu wissen, dass die Beiden getrennt werden und in verschiedene Familien gebracht werden würden. Sie würde alles dafür geben, dass die Beiden wenigstens sich gegenseitig hatten, auch wenn sie dafür auf der Strecke bleiben würde. Aileen war egal.
Und wenn es Marlon vielleicht auch nicht schaden würde zu Xander zu kommen und Tabea bei ihrem Vater gut aufgehoben wäre…
Aileen würde niemals mit dem Gefühl klar kommen versagt zu haben. Das einzig Gute in ihrem Leben waren ihre Geschwister und wenn sie sich nicht mehr um sie kümmern konnte, sie im Stich gelassen hätte, würde es für Aileen nichts mehr geben, weshalb sie Leben sollte.
Gerade war Tabea eingeschlafen, als es gegen sieben klingelte und die Kleine natürlich gleich wieder aufwachte. Seufzend ging Aileen zur Gegensprechanlange, hörte aber wegen Tabeas Geschrei kaum etwas. Undeutlich vernahm sie Manuels Namen, doch ehe sie sich aus ihrer Starre gelöst hatte, hatte Tabeas Hand schon den Summer getroffen. Scheiße. Verzweifelt sah sie ihre kleine Schwester an, die sie nun stumm ansah. Aileen konnte ihr einfach nicht böse sein, als die kleinen Händchen ihre Hand umklammerten.
Aileen vernahm die Schritte im Treppenhaus und nun würde sie wohl nicht mehr darum herum kommen und öffnete die Wohnungstür, sah zusammen mit ihrer Schwester und auch Marlon, der inzwischen neugierig herbeigerannt gekommen war, Manuel entgegen, der die letzte Treppe erklomm und sie breit angrinste.
„Hey. Ich wusste gar nicht das du Geschwister hast.“ Mit Herzklopfen sah Aileen zu wie Manuel sich zu Marlon hinunterkniete und ihm seine Hand entgegenhielt. Dieser ergriff sie ohne Scheu. „Ich bin Marlon. Bist du Aileens Freund?“ Aileen schickte einen bösen Blick zu ihrem Bruder, der diesen aber gar nicht wahrnahm. Manuel schaute kurz zu Aileen, wandte sich dann aber wieder zu Marlon. „Wenn es nach mir ginge ja, aber sie ist sehr stur.“ Nun musste Marlon lachen und es wärmte Aileen das Herz. „Ich weiß, sie ist immer so.“ Plötzlich veränderte sich Marlons Gesichtsausdruck und er wurde ernst. Mit dem Zeigefinger wedelte er vor Manuels Gesicht herum. „Wenn du ihr wehtust, dann wirst du es bereuen.“ Aileen musste Lächeln, als sie diese Worte vernahm, denn Manuel sah sie kurz irritiert an. „Keine Angst ich werde sie behandeln als wäre sie meine Prinzessin.“  Marlon schien es ihm abzunehmen, denn er zog Manuel mit sich in die Wohnung um ihm seine Spielsachen zu zeigen. Aileen folgte lächelnd. Trotz der Risiken die Manuel barg, konnte sie dieses Gefühl dennoch nicht vertreiben. Dieses Gefühl, dass er zu ihr gehörte.
Aileen nutze die Gelegenheit als Marlon Manuel ablenkte und brachte ihre Schwester ins Bettchen. Sanft betrachtete sie Tabea, die ihr mit großen Augen entgegensah, als sie ihr leise ein Schlaflied vorsang.
Es war halb acht und Aileen hatte noch kurz das Wohnzimmer in Ordnung gebracht, als sie zu Manuel und Marlon stieß. Die beiden besahen sich Marlons Schulaufgaben und schienen eben fertig geworden zu sein.
Ehe Marlon die Hefte einpacken konnte schaltete Aileen sich ein. „Hast du auch alles gemacht?“ Marlon sah sie grinsend an und nickte fröhlich. „Manu hat mir geholfen. Er ist fast so schlau wie du.“ Bei diesen Worten musste Aileen lächeln und sah dann Manuel an, der ebenfalls lächelnd neben Marlon saß. „Und hat Manuel auch deine anderen Aufgaben kontrolliert?“ Streng zog Aileen eine Augenbraue nach oben, doch Marlon ließ sich davon nicht beeindrucken und schob ihr nur die Hefte zu.
„Geh schon mal Zähneputzen und noch mal auf die Toilette.“ Ohne Widerworte befolgte der kleine Engel Aileens Aufforderung, während diese sich den Heften zuwandte. „Ich werde mich gleich um dich kümmern aber zuerst bringe ich meinen Bruder ins Bett.“ Diese Worte waren an Manuel gewandt, der sie genau musterte, jedoch schwieg.
Aileen besah sich die Aufgaben, ließ Marlon noch zwei Matheaufgaben verbessern, ehe sie ihn seine Sachen einpacken ließ.
Brav legte Marlon sich in sein Bett, wartete darauf dass seine Schwester ihn zudeckte und ihm eine Geschichte vorlas. Zurzeit waren sie bei Räuber Hotzenplotz, eine Geschichte die Marlon sehr mochte. Aileen hatte sich vorgenommen Marlon all die berühmten Kinderbücher vorzulesen, die sie nie gekannt hatte.
 Ihre Mutter war zwar erst zwei Jahre zuvor Tablettensüchtig geworden, doch das hieß lange nicht, dass sie davor eine gute Mutter gewesen war.
Aileen wollte das Marlon eine erfüllte Kindheit hatte und wenn sie ihm schon nicht alle Wünsche erfüllen konnte würde sie wenigstens alles tun was in ihrer Macht stand.
„Kann Manu mir vorlesen?“ Aileen sah Marlon in die Augen, räumte dann zögerlich ihren Platz neben Marlon und drückte Manuel das Buch in die Hand.
Der braunhaarige ließ sich neben Marlon nieder und schien sich besondere Mühe zu geben die Geschichte aufregend vorzulesen. Ein Kapitel später konnte Marlon sein Gähnen nicht mehr unterdrücken und Aileen gab zu bedenken, dass es Zeit wäre ins Bett zu gehen.
Manuel wünschte ihrem Bruder eine gute Nacht und verließ das Zimmer, während Aileen sich noch an das Bett ihres Bruders setzte. „Ich hab dich lieb mein Kleiner. Schlaf schön.“
„Ich dich auch.“ Marlons müde Worte ließe sie lächeln. Das Mädchen mit den türkisenen Haaren drückte ihrem kleinen Bruder einen Kuss auf die Stirn, ehe sie das Licht löschte und Marlons Zimmertür anlehnte.
Manuel wartete in der Küche auf sie, doch Aileen wusste nicht was sie sagen sollte, also bot sie ihm etwas zu essen an, was dieser allerdings ablehnte. Aileen nahm sich ein Brot aus dem Schrank und biss herzhaft hinein um endlich ihren knurrenden Magen still zu legen.
Auf Manuel Stirnrunzeln ging sie nicht ein, goss ihm stattdessen ein Glas Wasser ein und drückte es ihm in die Hand.
Aileen musste schon jetzt sparsam mit den Lebensmitteln umgehen, denn sie hatte noch immer keinen Job gefunden. Für Marlon hatte sie all die Dinge im Kühlschrank die dieser mochte, doch sie selbst beherrschte sich. Brot reichte für sie vollkommen.
Nun stand sie gegenüber von Manuel, sah diesen erwartungsvoll an. Einige Minuten sahen sich beide nur an, dann trat Manuel einen Schritt auf Aileen zu. Noch einen. Und noch einen. Sie standen sich eng gegenüber, beinahe berührten sich ihre Nasen.
„Ich habe dich vermisst.“ Vollkommen ernst waren Manuel Worte und sie wärmten Aileen das Herz, ob sie wollte oder nicht. Sie wich ein wenig zurück, doch Manuel holte den Abstand sofort wieder auf. Nun saß sie in der Falle.
„Hmm.“, murmelte sie unbestimmt, da Manuel auf eine Antwort zu warten schien. „Dein Kuss…“ Aileens Wangen wurden rot. Sie wusste sie würde es bereuen. Hatte es schon vor dem intensiven Erlebnis gewusst. Und dennoch. Sie konnte sich dennoch nicht wünschen es wäre nie passiert.
„Ich würde dich gern noch einmal Küssen. Noch viele Male. Sehr viele Male.“
Manuels Lippen berührten sanft ihre Wange, hauchten langsam Küsse bis zu ihrem Mundwinkel. „Willst du mich auch noch einmal Küssen?“ Aileen war wie hypnotisiert, nickte unwillkürlich. Manuel ließ sich das nicht zweimal sagen, legte sanft seine Lippen auf die ihren, beließ es bei einem keuschen Kuss. „Alles okay?“ sanft gemurmelte Worte, nur ein warmer Hauch an Aileens erhitzter Haut.
Wieder konnte sie nur nicken. Diesmal fuhr Manuel sanft mit seiner Zunge an Aileens Unterlippe entlang, wartete bis diese ihm zögerlich Einlass gewährte.
Aileen erster Zungenkuss. Warum hatte sie erst Manuel begegnen müssen um solche Gefühle erleben zu können? Unwillkürlich legte Aileen ihre Arme um Manuels Hals, während dieser kurz darauf ihre Hüften fasste.
„Wow.“ Gemurmelte Worte Aileens, die dennoch die Gefühle beider ausdrückten. Manuel traute sich kaum Aileen intensiver zu küssen, hatte Angst sie würde zurückschrecken oder gar zerbrechen.
Wie paralysiert betrachtete  Aileen die attraktiven Gesichtszüge Manuels während sie beide nach Luft schnappten. Sanft fuhren ihre Finger in sein dunkles Haar, sein Duft kitzelte sie in der Nase. Nach kaltem Rauch und Aftershave.
Keiner der Beiden sagte ein Wort, immer wieder legten sie ihre Lippen aufeinander, tauschten beinahe keusche Küsse aus, als hätten sie Angst jede Veränderung könnte diesen Moment zerstören.
Und doch musste es so kommen. Tabeas schreien riss Aileen wieder zurück in die Gegenwart. Kurz musste sie sich orientieren, schob dann aber Manuel beiseite um in Tabeas Zimmer zu hechten, damit diese Marlon nicht aufwecken würde.
 Es dauerte kaum fünf Minuten, bis die kleine wieder eingeschlafen war. Warum musste sie gerade an diesem Abend so schnell einschlafen?
Leise schlich Aileen wieder aus dem Zimmer, hoffte fast Manuel wäre wieder verschwunden. Doch das waren Wunschträume, denn er stand wartend in der Küche, hatte sich kein Stück bewegt. Seine Augen schienen sie fast anzuflehen wieder zu ihm zu kommen, doch Aileen musste sich beherrschen. Manuels Arme würden ihr Verderben werden. Er würde sie und ihre Geschwister ins Unglück stürzen. Und das würde Aileen nicht überleben.
„Ich ähm…tut mir Leid…aber ich denke es ist besser du gehst.“ Aileen trat nervös von einem Fuß auf den anderen, konnte Manuel nicht ansehen, würde sonst wieder schwach werden.
 „Ich werde nirgendwo hingehen, ehe du mir nicht gesagt hast, dass wir jetzt ein Paar sind.“ Sanft umfasste Manuel Aileens Kinn, zwang sie ihm in die Augen zu sehen. „Ich hab mich in dich verliebt und egal wie sehr du dich dagegen wehrst, ich werde dich früher oder später überzeugen.“
Aileen schaute ihm wie erstarrt in die Augen, konnte den Blick nicht abwenden. „Okay.“ Erst als sie Manuels glitzernde Augen sah, wurde Aileen sich ihrer Worte bewusst, doch so sehr sie sich selbst auch zwingen wollte, sie konnte die Worte nicht widerrufen. Sie konnte es einfach nicht.
Während Aileen eng an eng mit anderen Teenagern im Bus stand, musste sie unwillkürlich an den vorigen Abend zurück denken. Nachdem Manuel mit ihren Worten zufrieden gewesen schien, hatten er ihr noch einen leidenschaftlichen Kuss aufgedrückt, ehe er mit einem „Wir sehen uns Morgen.“ verschwunden war.
Aileen hatte bis weit nach Mitternacht nicht schlafen können, immer wieder hatte sie sich selbst davon überzeugen müssen, dass Manuel keine Option war. Immer wieder hatte sie schwach werden wollen und Aileen musste sich zu ihrer Schande eingestehen, dass sie wohl bei seinem Anblick wieder  zu einem dummen, willenlosen Stück Fleisch werden würde, egal was sie sich vornahm.

Polternd kam Aileen in ihr Klassenzimmer, besah sich verwirrt die fremde Lehrerin und nach einigen Sekunden fiel ihr die ebenso fremde, tuschelnde Klasse auf. Verwirrt sah sie auf ihren Stundenplan, den sie auf ihren Ordner geklebt hatte. Chemie. Scheiße.
Eine Entschuldigung murmelnd war Aileen aus der Tür, rannte die Treppen zweier Stockwerke nach unten, rempelte einen jüngeren Schüler an und blieb keuchend vor der Tür des Chemiesaales stehen. Aileen hasste Chemie, musste aber dennoch so oft es ging daran teilnehmen, da sie sonst eine sechs kassieren würde und somit wiederholen müsste.
Seufzend folgte Aileen dem Unterricht vom Fensterplatz der letzten Reihe, füllte das Arbeitsblatt nach Angaben des Lehrers aus.
Nicht nur das die Lehrerin schlecht war, sondern auch die Tatsache, dass zwei Mädchen vor ihr über Manuel schwärmten und über die angebliche Trennung von ihm und Antonia spekulierten, trugen dazu bei, das ihre Laune sekündlich sank.
Interessiert betrachtete Aileen die wenigen Schüler die draußen an der komplett verglasten Wand  des Raumes vorbeitrotteten. Dann blieben ihre Augen allerdings an Manuel kleben, der in lässigem Gang und mit einer Zigarette in der Hand vorbeischlenderte, keinen Blick an den Raum verschenkte.
Kurz hinter ihm trottete Hannes, sein untersetzter Kumpel. Dieser schenkte dem Innenraum des Chemieraumes allerdings mehr Aufmerksamkeit und sein Blick blieb förmlich an ihr kleben. Trotzdem  ging er weiter seines Weges, außer Sichtweite.
Was hatten die Beiden denn in dieser Richtung getrieben? Dort war die Bushaltestelle und beide kamen üblicherweise mit ihren Autos, wie Aileen sie einschätzte. Der Eingang war ebenfalls in einer anderen Richtung… doch was ging es sie an?
Als das Mädchen mit den türkisenen Haaren jedoch wieder aufsah, liefen die Beiden erneut an der Fensterfront vorbei, diesmal hatte Manuel seine blauen Augen direkt auf sie gerichtet. Sekunden später waren sie wieder verschwunden.
Beim nächsten Aufsehen liefen die beiden mit krummem Rücken und taten so als müssten sie mit einem Stock gehen und schon waren sie wieder weg.
Aileen musste Auflachen, als die beiden wieder kamen, Manuel lief auf seinen Händen und Hannes trottete hinter ihm her und grinste sie an. Doch als die Lehrerin zu Aileen schaute, waren beide wieder verschwunden.
Als Manuel und Hannes das nächste Mal mit Schubkarre, wobei Hannes den Schiebenden-Teil und Manuel den Kriechenden-Teil übernahm, vorbei kamen, musste selbst der letzte Idiot aus der Klasse lachen, doch Manuels Blicke galten allein ihr.
Einige Male ging das Ganze noch so hin und her, bis die Lehrerin auch endlich bemerkte, wer ihre Klasse in Unruhe versetzte.
Den Blick, den sie Manuel und Hannes zuwarf konnte man nur als „Gefahr im Verzug“ deuten und die Beiden machten sich lachend davon, doch nicht ohne das Manuel Aileen noch einmal intensiv gemustert hatte.

Manuel klopfte Hannes grinsend auf die Schulter. Diese Aktion war immer wieder witzig, wie oft hatten die Lehrer sie schon deshalb mit Strafen bedacht. Und doch war das alles noch viel schöner wenn er damit Aileen zum Lachen bringen konnte.
Sie hatte so traurig ausgesehen, wie sie allein in der letzten Reihe gesessen hatte.
Hätte Hannes ihn nicht auf sie aufmerksam gemacht wäre es wohl nie dazu gekommen. Sein bester Freund war der erste und einzige gewesen, dem er von den Geschehnissen berichtet hatte, doch dieser hatte das Ganze nur grinsend zu Kenntnis genommen.
Er konnte noch immer kaum glauben, dass der vorige Abend wirklich geschehen war, doch er durfte Aileen nicht zu viel Zeit geben es sich anders zu überlegen, denn er war sich sicher, dass sie wegen seiner etwas unfairen Überzeugungsarbeit, noch Widerspruch einlegen würde.
Doch Manuel wusste nun wie man sie aus der Fassung bringen konnte und die geheime Zutat hieß: Manuel Feuchter.
Kaum kam er ihr Nahe, schien sie ihre Mauer und die abweisende Art abzulegen. Wenn auch unfreiwillig, und genau das war er Punkt, der seiner Meinung nach ihr größtes Problem war. Das Aileen nichts dagegen tun konnte, dass sie etwas für ihn fühlte. Und das würde noch mächtig „Überzeugungsarbeit“ benötigen, denn Aileen  war kein Mädchen das so etwas einfach auf sich sitzen ließ.

Als Aileen in der großen Pause den Weg zu ihrem Klassenzimmer beging wurde sie auf dem Schulhof plötzlich von zwei Armen umfasst und an eine Brust gezogen. Gedankenverloren wie sie war verfluchte sie sich selbst für ihre Dummheit. Es war ja klar gewesen das Manuel auf dem Hof eine rauchte.
Alle sahen sie an, doch Manuel wollte sie nicht aus seinen Armen entlassen, warf seine Zigarette beiseite und umfasste sie nur noch stärker, während er ihre Haare beiseite strich und ihren Nacken küsste.
Sie musste wirklich schnellstens weg, konnte es nicht riskieren vor all den Schülern schwach zu werden.
Grinsend stand Hannes vor ihr, machte jedoch keine Anstalten ihrem Hilfe suchenden Blick Folge zu leisten steckte sich lieber eine weitere Zigarette an.
Aileen schloss kurz die Augen, erlaubte sich einen Moment Manuels Zärtlichkeiten zu genießen, ehe sie tief durchatmete und sich ihre Beherrschung wieder zurückholte. „Lass mich bitte los.“, leise, eindringliche Worte. Aileen spürte Manuels warmen Atem an ihrem Ohr. „Warum sollte ich?“ Aileen überlegte kurz wie sie ihn am schnellsten los werden könnte. „Ich mag es nicht wenn alle mich anstarren. Willst du das ich unglücklich bin?“ Leise lachte Manuel auf. „Du wirst dich schon noch daran gewöhnen.“  Nun hatte Aileen die Schnauze voll.
Er konnte sie zwar aus der Spur bringen, aber sie ließ sich von ihm nicht alles gefallen. Er konnte nicht machen was er wollte nur weil sie ihn mochte. Sie hatte es auf die sanfte Tour versucht, dann musste sie halt nun härter durchgreifen.
Hannes schien etwas in ihren Augen gesehen zu haben, denn er trat einen Schritt zurück, grinste dennoch schadenfroh weiter.
Aileen trat Manuel kräftig auf den Fuß, nutzte seine Überraschung um sich aus seinen Armen zu befreien und ging ohne noch einmal zurück zu blicken weiter ihres Weges. Das hatte er davon. Aileen hatte etwas gegen Gewalt, doch dieser Typ brachte sie dazu all ihre Prinzipien über Bord zu
schmeißen. Scheiße.
Es war viertel nach fünf als es an der Wohnungstür klingelte. Bevor Aileen zur Anlage hechten konnte war Marlon schon dort und hatte den Summer gedrückt ohne das Aileen hatte hören können wer unten stand.
„Wer ist es denn?“ Aileen hörte die Antwort nicht mehr, denn Tabea beschwerte sich laut stark darüber, dass sie noch immer Hunger hatte. Und Aileen machte sich auf zu ihrer Schwester um diese zu beruhigen.
„Na meine Süße?“ Aileen zuckte zusammen, als sie Manuels starke Arme um sich spürte.
Déjà-vu.
Sanft setzte sie Tabea auf dem Teppich ab, wo diese munter zu ihren Spielsachen krabbelte. Marlon tauchte vor ihr auf, setzte sich an den Küchentisch und nahm seinen Farbstift wieder in die Hand. „Ich hab Manu reingelassen. Er hat gesagt es soll eine Überraschung sein.“ Ja, eine Überraschung war es tatsächlich.
Kurz schloss Aileen ihre Augen. Sie musste dieses ganze Desaster beenden, ehe sich auch noch Marlon an Manuel gewöhnte.
„Kannst du auf Tabea aufpassen? Ich muss kurz mit Manuel reden mein Schatz.“ Marlon stürmte strahlend zu seiner Schwester auf den Teppich um mit dieser zu spielen.  Es wärmte Aileen das Herz die beiden glücklich zu sehen.
Entschlossen löste Aileen sich aus der Umarmung und ging in ihr Zimmer, spürte Manuel hinter sich.
Dieser schien die ernste Stimmung nicht ganz zu begreifen, oder ignorierte sie einfach, denn er kam gleich wieder zu Aileen um sie zu küssen. Zu ihrer Schande musste sie zugeben, dass sie den Kuss erwiderte. Lange.
Ihre Entschlossenheit kam jedoch zurück und Aileen löste sich von Manuel, brachte einige Schritte zwischen sie. „Du kannst hier nicht immer auftauchen wann du willst und mich auch nicht in aller Öffentlichkeit ab schlabbern. Wir führen keine Beziehung und werden es auch nie tun.“ Stur sah Aileen ihrem Gegenüber in die Augen.
 Manuels Mimik wechselte von amüsiert zu besorgt und dann wurde auch er stur. Wer würde wohl mehr Durchsetzungsvermögen beweisen? Aileen ahnte es bereits. Und sie hasste sich schon in diesem Augenblick für ihre Schwäche.
„Und ob wir eine Beziehung führen. Jetzt und noch eine lange Zeit.“, Manuels Gesicht wurde einen Moment weicher. „Wenn es dich so sehr stört, dass ich hier her komme, dann treffen wir uns eben nicht hier. Mir macht das nichts aus. Hauptsache ich kann dich treffen. Und das mit der Schule…Naja, es war dir doch bis jetzt auch egal was die anderen gesagt haben. Schämst du dich so sehr für mich?“
Aileen zerriss es fast das Herz. Für ihn schämen?
„Wahrscheinlich sollte ich dir die Frage stellen. Ich bin es ja wohl eher, für die man sich schämen müsste.“ Aileen senkte den Blick zu Boden. Doch nur einen Herzschlag später spürte sie einen Finger unter dem Kinn, der sie dazu bewegte Manuel wieder in die Augen zu sehen. „Es ist mir egal was die anderen sagen. Für mich bist du perfekt, genauso wie du bist. Sollen die doch reden.“
Aileens Herz schmolz bei diesen Worten und sie drückte ihre Lippen stürmisch auf die von Manuel. Dieser erwiderte den Kuss genauso verlangend. Augenblicke später taumelten sie ineinander verschlungen aufs Bett und Manuel stützte sich über seiner angebeteten mit den Armen ab.
Sanft strich er mit seinen Fingern über ihr Gesicht, ehe sie beide sich wieder in einem Leidenschaftlichen Kuss verloren. „Ich liebe dich.“, keuchte Manuel nach einigen Minuten wie in Trance. Aileen vernahm die Worte wie im Traum, erwiderte sie unwillkürlich, wurde sich derer erst bewusst, als Manuels Augen sie zu durchbohren schienen. Doch Manuel hielt sich damit nicht lange auf, hatte wohl Angst sie würde ihre Worte abstreiten.
Er presste seine Lippen wieder auf ihre, schickte nun auch seine Hände auf Wanderschaft, sodass eine freche Hand unter Aileens T-Shirt verschwand. Doch sie konnte sich wohl schlecht darüber entsetzen, da eine ihrer Hände ebenfalls unter Manuels T-Shirt lag, die andere auf seinem knackigen Hintern.
Und doch war die intime Situation nur Sekunden später vorbei, denn die Tür wurde aufgestoßen und hinter Tabea krabbelte Marlon herein, der in diesem Augenblick aufstand und ebenfalls aufs Bett hüpfte. „Ich will auch mit kuscheln.“, beschwerte er sich über die offensichtliche Ungerechtigkeit ihm gegenüber und brachte somit die Teenager zum Lachen.
Seufzend rollte sich Manuel von seiner Freundin, lag keuchend neben ihr auf dem Bett, quer auf sie kletterte der blonde Engel, der sein Recht einfordern wollte.
Aileen konnte es kaum glauben. Sie stand auf dem Schulhof, die Arme um ihren Freund geschlungen und diskutierte wild mit dessen besten Freund, während Manuel grinsend rauchte.
Zwei Wochen. Zwei Wochen, hatte die Beziehung zwischen Manuel und ihr nun schon funktioniert. Er hielt sich daran, tauchte nicht mehr in der Wohnung auf, auch wenn Marlon oft nach ihm fragte.
Sie trafen sich immer in der großen Pause, manchmal auch in den kleinen Pause, doch unter der Woche hatte Aileen als oberste Priorität ihre Geschwister gesetzt und Manuel nur am Wochenende in ihrer Freizeit getroffen. Sie hatte die Nachmittage miteinander in der Stadt verbracht und waren abends mit Aileens Freunden weg gegangen. Alle hatten Manuel und auch Hannes willkommen geheißen, niemand hatte sie unfreundlich behandelt, wofür Aileen sehr dankbar war.
Und dennoch Aileens Zweifel mehrten sich, denn es konnte nicht so sein. In ihrem Leben konnte nichts so gut laufen. Es musste einfach schief gehen. Da war sie sich sicher, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ.

Manuel zog Aileen näher an sich, genoss das warme Gefühl, dass sie in ihm auslöste. Auch wenn es ihm schwer fiel, er hatte Aileen nicht mehr nach den mysteriösen Ereignissen gefragt, doch in ihm war dieses unruhige Gefühl, das ihn fragte weshalb er seine Freundin nichts fragen konnte, dass ihn wirklich beschäftigte. Klar war es schön mit ihr, sie brachte ihn zum Lachen und die  Küsse die sie ausgetauscht hatten waren überwältigend gewesen. Mehr war nicht gelaufen. Sie hatten sich immer an öffentlichen Plätzen getroffen, er gab sich mühe ihrer Bitte zu folgen. Ob sie wohl dachte er hätte einen schlechten Einfluss auf Marlon?
Und dann waren da noch diese Fragen die ihn quälten: Was war mit Aileens Eltern? Sie hatte nie einen der beiden erwähnt, wenn er gefragt hatte nur vage geantwortet. Schmiss Aileen den Haushalt alleine? Sie hatte unter der Woche keine Zeit für ihn, wenn sie sich am Wochenende getroffen hatten waren sie immer Einkaufen gegangen. Schulsachen, Lebensmittel, Kleidung. Und dennoch drehte Aileen jeden Cent zweimal um.
Irgendwann würden all diese Dinge aus ihm herausplatzen, denn so wollte er seine Beziehung nicht führen. Er wollte geklärte Fronten, auch wenn er alles für Aileen tun würde.

Am Abend kam unangekündigter Besuch. Es war Donnerstag, Aileen hatte Xander also nicht erwartet, doch Marlon freute sich dennoch riesig. Aileen erkannte jedoch das etwas nicht stimmte. Sie setzte Marlon an seine Hausaufgaben, Tabea schlief und ging dann mit Xander in ihr Zimmer, schloss die Tür.
„Was ist los?“, Aileen musterte ihren Gegenüber genau. Xander ließ sich aufs Bett plumpsen, beachtete das ächzende Geräusch des Gestells nicht. „Ich muss umziehen.“ Ohne Umschweife ließ er die Bombe platzen.
„Wohin?“, Aileen musste erst einige Augenblicke die Nachricht verdauen, fasste sich dann aber, setzte sich neben Xander.
„Österreich. Sieben Stunden Fahrt.“ Eine bittere Information. Sehr bitter.
„Warum?“, der Schock saß tief. Nicht nur Marlon würde seinen Vater kaum mehr sehen. Auch Aileen würde den Mann vermissen, der ihr wie ein Vater gewesen war.
„Die Firma versetzt mich. Sie hätten mich auch feuern können und ich hätte vielleicht keinen Job mehr bekommen, also hab ich eigentlich Glück gehabt.“ Xander schien gefasst, doch Aileen sah in seinen Augen Tränen glitzern. Und auch ihre Augen wurden feucht, als sie die Verzweiflung Xanders wahrnahm.
Aileen legte sich aufs Bett, kuschelte ihren Kopf in Xanders Schoß und ließ sich von ihm übers Haar streicheln. Ließ sich von ihm trösten.
„Sei nicht traurig meine Kleine. Ich werde euch jedes Wochenende besuchen kommen.“ Seine Stimme klang nicht überzeugend, versuchte er vielleicht auch noch sich selbst zu überzeugen. So verblieben die Beiden lange in ihrer Position, genossen die Nähe und Vertrautheit des anderen, fanden darin ein wenig Trost.
Tatsächlich war der Umzug schon zwei Wochen später vollbracht. Als Xanders Wagen um die Ecke gebogen war, musste Aileen lange um ihre Fassung kämpfen, denn das Marlon weinte, machte ihre Gefühlswelt auch nicht stabiler.
Auch Tabea schien bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte, denn sie weinte mit Marlon um die Wette, was Aileens Nerven zusätzlich strapazierte.
In ihrem Leben kam ein Hammer selten allein, das wusste sie, dennoch hatte sie nicht mit einem solchen Hammer gerechnet. Einem solch zerstörerischen.
Manuel stand Freitagabends vor der Tür, doch Aileen hatte ihm eigentlich abgesagt, da Xander an diesem Wochenende nicht kam, er hatte noch viel zu organisieren.
„Ich weiß, ich hab gesagt ich komm nicht mehr her. Aber ich muss mit dir Reden. Jetzt.“ Aileen dachte zuerst, Manuel würde Schluss machen. Doch es kam anders. Leider.
„Was ist denn?“ Aileen ließ Manuel in die Wohnung. Dort wurde der dunkelhaarige freudig von Marlon überrannt.
„Also was ist los?“ Aileen hatte ihre Zimmertür geschlossen. Leise drangen die Stimmen aus dem Fernseher an ihre Ohren. Marlons Gelächter. „Ich will reinen Wein. Ich will wissen was bei dir los ist. Was ist mit deiner Mum? Warum bist du immer allein mit deinen Geschwistern? Weshalb schwänzt du immer die Schule? Wir sind jetzt über einen Monat zusammen und ich weiß kaum etwas über dich.“ Aileens Mimik wurde in Sekundenschnelle verschlossen. Kein Durchkommen.
„Bei uns ist alles in Ordnung.“ Manuel kam zu ihr, fasste sie sanft an der Taille. „Und warum hattest du dann letzte Woche blaue Flecken? Schon wieder?“ Trotzig löste Aileen sich von ihm, doch Manuel kam ihr einfach nach. „Ich bin tollpatschig, das hab ich dir schon erklärt.“ Aileen wurde immer wütender.
„Ich glaube dir kein Wort. Wie soll ich dir vertrauen wenn du mir nichts als Lügen erzählst?“ In diesem Moment schlug jemand gegen die Wohnungstür. Hektisch spurtete Aileen nach einer Schrecksekudne ins Wohnzimmer, schnappte sich ihren Bruder und setzte ihn in seinem Zimmer ab, auch Manuel zerrte sie in den kleinen Raum. „Ihr zwei bleibt hier drin. Manuel wenn ich draußen bin schließt du die Tür von innen ab. Ich vertraue dir meinen Bruder an. Bitte enttäusch mich  nicht. Pass auf ihn auf und öffne bloß nicht die verdammte Tür!“ Aileen ließ keine Zeit für Widerworte, küsste ihren Bruder auf die Stirn, Manuel auf den Mund und schloss die Tür hinter sich. Sie wartete, bis die Tür abgeschlossen war, dann öffnete sie ihrer betrunkenen Mutter die Tür, die diese sonst eingeschlagen hätte.
Über eine Stunde dauerte es, bis Aileens Mutter nicht mehr in der Wohnung wütete und sie wieder gegangen war. Und ein verwüstetes Wohnzimmer und einen verwüsteten Flur hinterließ.
Schnell stellte Aileen die Kommode wieder auf, wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
„Ihr könnt aufmachen. Es ist alles in Ordnung.“ Fast sofort öffnete sich die Tür und Marlon und auch Manuel stürzten sich in ihre Arme.
Doch dann war der Moment vorbei und Manuel löste sich von ihr. Wütend sah er sie an. „Das war also deine Mutter? Und bei euch soll alles in Ordnung sein?“ Das war der Moment in dem Aileens Abwehr in sich zusammen brach. Sie gab Marlon einen letzten Kuss und schickte ihn malen, ehe sie mit Manuel in ihrem Zimmer verschwand. Und ihm alles erzählte. Alles.
Ein Tag war vergangen, Manuel war einige Zeit nach Aileens Zusammenbruch gegangen und Aileen hatte ihn überreden können, das er nicht das Jugendamt informierte.
Dennoch stand genau in diesem Moment ein Mitarbeiter der Behörde vor ihr, musterte sie kritisch, registrierte sehr wohl die blauen Flecken und die aufgerissene Augenbraue.
Der erste Besuch verging ohne Konsequenzen. Der zweite Nicht.
Am Abend stand derselbe Arbeiter wieder vor der Tür. Mit zwei Polizisten. Aileen hatte ihn am Morgen davon überzeugen können das alles gut lief. Es schien nicht mehr zu wirken.
Aileen hatte Manuel Minuten nach dem Gespräch verlassen. Natürlich mit dessen Prostest, doch er hatte sich nicht her getraut.
Aileens Mutter war verhaftet worden. Drogenbesitz, Körperverletzung, Diebstahl und noch eine Menge anderer Delikte. Sie würde ins Gefängnis kommen.
Und Aileen und ihre zwei Geschwister mussten mitkommen.
Eine Woche verging, ehe alles abgeklärt war. Aileen wich keinen Zentimeter von der Seite ihrer Geschwister. Bis sie endgültig getrennt wurden.
Xander hatte sich gleich ins Auto gesetzt. Tabeas Vater brauchte nicht lange, nahm seine Tochter augenblicklich mit, verfluchte Aileen. „Du wirst meine Tochter nicht wieder sehen. Was ihr alles hätte passieren können. Trau dich nie wieder dich sehen zu lassen.“
Es zerriss Aileen das Herz. Nicht einmal Tschüss hatte sie ihrer Schwester richtig sagen können und nun wurde sie schreiend von ihrem Vater weggetragen. Weg aus ihrem Leben. Vielleicht für immer. Xander wollte außer Marlon auch Aileen aufnehmen, doch das Jugendamt wollte das aus irgendeinem Grund nicht. Wahrscheinlich hatten sie Angst sie wäre wie ihre Mutter. Aileen musste also auch ihren Bruder ziehen sehen, konnte kaum die Fassung behalten, als er mit Tränennassem Gesicht ins Auto stieg und ihr zu winkte.
Aileen wurde in einer Wohngemeinschaft untergebracht. Nein sie durfte nicht mit zu ihrem Bruder…sie musste in eine Wohngemeinschaft. Und sie würde die Beiden vielleicht nie wieder sehen.
Oder war es vielleicht sogar besser für sie wenn Aileen sie nicht mehr beeinflusste? Waren die Beiden womöglich gerettet worden? Gerettet vor ihr?
Doch Aileens Herz ließ diese Gedanken kaum zu.
Am Wochenende saß Aileen im Bett herum, telefonierte am Abend lange mit ihrem Bruder. Xander nahm es ihr seltsamerweise nicht übel. Er hatte nur gesagt er sei froh, dass nun alles rausgekommen sei. Das alles gut werden würde. Doch Aileen wusste es besser.

Als Aileen montags zur ersten Stunde das Klassenzimmer betrat trafen sie ungläubige Blick ihrer Klassenkameraden. Auch die Lehrerin schien ihren Augen kaum zu trauen, doch keiner wagte etwas zu sagen, Aileens Blick sprach Bände.
Aileen hatte schon fast geahnt, das Manuel das Klassenzimmer in der großen Pause betreten würde. Hannes blieb in der Tür stehen, schaute ihr schüchtern entgegen.
„Aileen.“ Manuel wollte sie umarmen, doch sie trat nach ihm, entzog sich fast panisch seinen Armen. Seiner Berührung.
Nur ihre Schwäche war schuld. Sie war schuld. Und es ekelte sie an.
„Es tut mir so leid. Ich wollte dir doch nur helfen. Haben sie etwas bemerkt?“ Kalt sah Aileen ihm entgegen. Alle Augenpaare in der Klasse waren auf sie gerichtet, doch keiner war so nah, das er ihre leisen Worte hätte verstehen können.
„Nein. Aber dann ist meine Mutter verhaftet worden.“ In Manuels Gesicht zeichnete sich Bedauern ab, aber es war ihr egal. Aileen hatte ihre Bedürfnisse über die ihrer Geschwister gestellt. Ein Fehler, denn sie nicht noch einmal tun würde.
„Aber das geht dich alles nichts an. Wir sind kein Paar mehr und werden es auch nie wieder sein. Hab ein schönes Leben Manuel und jetzt geh bitte.“ Perplex sah Manuel Aileen hinter her, als diese sich auf den Schulhof verzog um eine zu rauchen. Trinken konnte sie nicht. Das würde sie am Abend machen.
Aileen wusste nicht wie, aber in der Schule verbreite sich ihre Situation wie ein Lauffeuer. Jemand hatte die Story mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter mitbekommen und nun wusste es die ganze Schule.
Na wenigstens wussten sie nun etwas Wahres über sie, dachte Aileen bitter. Ende der Mittagschule wartete Manuel auf sie. „Ich wollte nicht dass das passiert. Wirklich nicht! Bitte. Ich liebe dich doch. Verzeih mir!“ Aileen drehte sich um. Kalt sahen ihre Augen Manuels entgegen. „Ich habe dir nicht zu verzeihen. Ja, du hast das Jugendamt gerufen, aber das war nur menschlich von dir. Du kannst gar nicht dafür. Ich liebe dich auch, aber ich werde trotzdem keine Zeit mehr mit dir verbringen.“ Sie ließ Manuel stehen, machte sich auf direktem Wege zu Wohngemeinschaf, legte dort ihre Tasche ab und fuhr zum Park.
Einige ihrer Gruppe waren versammelt. Paul war da, Luisa, Ricci und Robin ebenso. Selbst Rick konnte Aileen ausmachen. Luisa kam nicht wie gewöhnlich auf sie zugespurtet, alle sahen sie traurig an. „Warum hast du uns nichts gesagt? Wir hätten dir geholfen.“
Es hatte lange gedauert, ehe die anderen ihre Vorwürfe fallen gelassen hatten. Beinahe wäre Aileen wieder gegangen, denn sie hatte wirklich besseres zu tun als sich Vorwürfe machen zu lassen.
Doch Rick war es, der dem Fass den Boden ausschlug. Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, die anderen hatten alle auf sie eingeredet, sie solle mit Manuel reden, als dieser persönlich vor ihr stand. „Jetzt vertragt euch endlich. Manuel bereut was er getan hat und du weißt das die Festnahme deiner Mutter unvermeidbar gewesen ist.“ Belehrend blickte er auf Aileen hinunter, versuchte ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, während sie wie erstarrt vor Manuel stand.
Jetzt reichte es aber wirklich!
„Fällt dir eigentlich nichts Besseres ein? Du bist einer meiner besten Freunde, ich habe dir vertraut, auch wenn ich dir nichts von meiner Hurenmutter erzählt habe. Und du…Du versuchst immer mich zu einem besseren Menschen zu machen, schaust mit deinem elterlichen Blick auf mich hinunter. Als wüsste ich nicht selbst wie verkorkst ich bin! Meine Eltern waren nie richtige Eltern und meine Kindheit war ebenfalls nicht die Schönste. Und immer wenn ich ein wenig Kind sein wollte hast du mich mit deinen Blicken dazu gebracht mich zu schämen. Ich schämte mich jedes verfluchte Mal dafür, dass ich diese Seite an mir wohl nie abstellen kann. Dass ich mich eigentlich unter Kontrolle haben müsste. Das ich Verantwortung hatte. Und jetzt habe ich doch verloren. Ich bin schwach und du hast recht damit dass Manuel keine Schuld trägt. Das weiß ich. Und ich habe es auch nie behauptet. Nie.  Und ich bin ihm nicht sauer. Gar nicht. Ich liebe ihn. Aber das alles ist eine Sache zwischen mir und ihm und du solltest dich nicht einmischen. Du bist nicht mein Vater. Auch nicht mein Bruder. Du bist einer meiner besten Freunde. Obwohl ich mir wünschte du seist mein Vater oder mein Bruder gewesen, denn du hättest mein Leben gerettet, weil du bist ein toller Kerl. Ihr alle hier seid toll. Jeder von euch.“ Aileen hatte nicht geschrien. Nein. Ihre Augen schwammen in Tränen und ihre Stimme hatte vor Traurigkeit nur so geweint. Keiner ihrer Freunde war dem Schock entronnen als Aileen sich umdrehte und aus ihrem Leben verschwand. Ohne einen Blick zurück.

 

Epilog

Manuel wartete ungeduldig im Wartezimmer der Kinderarztpraxis. Sein dreijähriger Neffe quengelte herum, wollte nicht länger warten. Eigentlich hätten sie schon längst fertig sein sollen und er hätte Benjamin bei seinem Spielkameraden abgeben sollen. Er selbst hatte noch einen wichtigen Termin, musste er sich doch mit dem Steuerprüfer seiner Baufirma treffen. Schöne Scheiße. Endlich wurde er aufgerufen. Die Schwester führte ihn in ein Zimmer und vertröstete sie noch ein wenig. Einen wütenden Anruf der Steuerprüfers und zehn Minuten später stand endlich die Ärztin im Raum. Manuel glaubte fast vom Stuhl zu fallen, er wurde blass und seine Hände zitterten. Als er das Namensschildchen las war er sich sicher. Dr. med. Aileen Vogel. Scheiße. So oft hatte er geglaubt sie an einer Straßenecke gesehen zu haben. So oft hatte er gedacht endlich seine Aileen wieder zu haben. Und jedes Mal war sie es nicht gewesen. Es hatte fast zehn Jahre dauern müssen, ehe sie wieder vor ihm stand. Und noch viel schöner als zuvor. Auch wenn ihn die braunen Haare etwas verwirrten. Damals war sie einfach verschwunden. Niemand wusste wohin. Niemand. Und nun arbeitete sie wieder in dieser Stadt? Wohnte sie auch wieder hier?

All die Gefühle die Aileen so lange verborgen hatte kamen wieder in ihr hoch. Tatsächlich. Manuel Feucht saß dort auf dem Stuhl. Sie hatte gewusst, dass diese Fabienne Feucht ihm ähnlich sah. Sie hatte gewusst, dass Manuel noch immer in derselben Stadt lebte, ein erfolgreiches Bauunternehmen führte. Und dennoch war sie zurückgekehrt. Trotz ihres Versprechens. Und auch nach all der Zeit, nach all ihrer Erfahrung hatte Manuel noch immer dieselbe Wirkung auf sie. Würde es wohl immer haben. Aileen ließ sich nicht anmerken, dass sie Manuel erkannt hatte, obwohl auch dieser unverkennbar ihre Identität zu kennen schien. Routiniert und freundlich zog Aileen die Untersuchung durch, siezte Manuel höflich und verabschiedete sich hektisch. Denn genau dieser Zeitpunkt schien es gewesen zu sein, in dem Manuel aus seiner Starre erwacht war. Wenn sie Glück hatte würde sie ihn nicht wieder sehen. Nie wieder. Gegen Eins holte Aileen Tabea von der Schule ab. Sie war noch in dem Alter in dem sie gerne abgeholt wurde. Marlon fand das schon lange peinlich, wollte lieber noch mit Freunden chillen und selbst mit dem Bus fahren. Glücklich musterte Aileen Tabea. Das braunhaarige Mädchen war so süß wie Zucker und konnte jeden um ihren Finger wickeln. Das Marlon sehr anfällig dafür war, hatten auch ihre Trennung und die Pubertät nicht geändert. Aileen hatte während ihres Studiums Tabea bei sich aufgenommen. Ihr Vater war am Zucker gestorben und dessen Frau hatte sie nicht aufnehmen wollen. Aileen war überglücklich gewesen, hatte sie ihre Schwester doch lange nicht gesehen. Marlon wohnte erst drei Jahre wieder bei ihnen. Xander war bei einem Autounfall ums Leben gekommen und Aileen hatte sich nur zu gern bereit erklärt den Teenager aufzunehmen. Sie hatten mehrere Jahre kaum Kontakt gehabt, doch dann war Aileen in Xanders Nähe gezogen und es war als wären sie nie getrennt gewesen. Inzwischen waren Marlon und auch sie weitestgehend über Xanders Tod hinweg. Sie redeten oft, denn Aileen hatte gelernt, dass das sehr wichtig war. Es war eben doch anders als früher gewesen. Fröhlich quasselnd berichtete die 10-jährige noch immer detailliert von ihrem Tag als Aileen mit ihr zu ihrer Wohnung lief. Zusammen aßen sie, dann ging Tabea zu ihrer Nachbarin, die sich während des Nachmittags um die Kleine kümmerte, damit Aileen arbeiten konnte. Die Seniorin freute sich immer über Tabeas Gesellschaft. Es war Abend als Aileen wieder nach Hause kam. Tabea malte in ihrem Zimmer und Marlon schien einen seiner Kumpels bei sich zu haben, denn aus dem Wohnzimmer erklangen zwei männliche Stimmen. Doch die Fremde brachte Aileen zum Erschaudern. Diese hatte sie an diesem Tag schon einmal gehört.„Was machst du hier? Marlon ich hab dir doch gesagt…“ Marlon unterbrach seine Schwester genervt. „Er ist nicht fremd. Das ist dein alter Macker. Ich erinnere mich an ihn. Kurz bevor wir getrennt wurden.“ Gelangweilt sah Marlon in die Runde. „Ich geh raus. Kann ich bisschen Geld haben?“ Irritiert sah Aileen ihren kleinen Bruder an. “Was ist mit deinem Taschengeld?“ „Ist für das neue Spiel draufgegangen.“ Kein Anzeichen für Reue. Und dennoch brachte Aileen dieser Dackelblick dazu ihre Geldbörse zu greifen. „Pass auf dich auf mein Kleiner.“ Sie umarmte ihn kurz, ehe Marlon verschwand. „Wir hatten eine Abmachung. Du tauchst nicht mehr in meiner Wohnung auf.“ Aileen vernahm ein warmes Lachen hinter sich. Arme schlangen sich um ihren Körper, sie wurde an eine harte Brust gepresst. „Ich dachte ich sterbe als ich dich heute gesehen habe. Jeden Tag hab ich auf eine Nachricht von dir gewartet. Jeden Tag hab ich mich gefragt ob du überhaupt noch lebst. Und jetzt wo du wieder hier bist werde ich dich nie wieder gehen lassen. Diesmal wirklich.“ Sanfte, verführerische Worte. „Aber zuerst erklärst du mir warum du mich und alle deine Freunde verlassen hast.“ Manuel war zurückgetreten und hatte die Aileen zu sich gedreht. Einige Zeit sahen sie sich nur in die Augen und Aileen fand, das sie ihm die Erklärung schuldete. „Du warst meine Schwäche. Ich musste stark sein und mich um meine Geschwister kümmern aber du hast mich dazu gebracht egoistisch zu werden, meinen Wunsch mit dir zusammen zu sein in den Vordergrund zu stellen. Ich wusste wenn ich dich nicht verlasse, nicht so weit wie möglich von dir weg gehe, werde ich es mir nie verzeihen. Ich hab mir nämlich geschworen nie wieder einen Mann über meine beiden Schätze zu stellen. Nie wieder, jetzt wo ich sie wieder habe.“ Aileens Blick war feurig. Der Blick einer Löwin die alles tun würde um ihre Jungen zu beschützen. Alles. „Aber jetzt hast du sie wieder und niemand wird sie dir mehr wegnehmen. Und ich werde dich auch nicht in Ruhe lassen.“ Manuels Lippen waren kaum einen Zentimeter von Aileens entfernt. „Jede Frau hab ich mit dir verglichen. Keine war mir gut genug. Niemand. Nur du. Ich hatte immer nur dich im Kopf. Und die Liebe zu dir.“

Impressum

Texte: alle Rechte bei mir
Bildmaterialien: google
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Jeder, der weiß wie übel es auf der Welt zugehen kann hat jemanden verdient der ihn auffängt.

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