Prolog
Tropf…
Tropf…
Tropf…
Ich saß an dem Fenster und schaute in die Dunkelheit. Das finstere Zimmer hinter mir spendete kein Licht um die Regentropfen, die an das Fenster schlugen, zu beleuchten. Einzig das stete monotone Geräusch der Tropfen, die an die Fensterscheibe prasselten und das leise statische Rauschen im Hintergrund ließen ihn erahnen.
Tropf…
Tropf…
Tropf…
Ich hatte keine Ahnung, wie es soweit kommen konnte. Hatte keine Ahnung, wie ich die Entwicklungen der Ereignisse hatte übersehen können. Dabei war ich mir so sicher gewesen, hatte es mit jeder Faser meines Seins gespürt. So sehr hatte ich mich auf diesen Tag gefreut. Hatte ihm seit Jahren, seit meiner Geburt, der Entstehung meiner Existenz entgegengefiebert. Es hatte der Glücklichste meines Lebens werden sollen und jetzt das. Alles hatte sich ins Gegenteil verkehrt.
Tropf…
Tropf…
Tropf…
Wütend auf mich selbst, auf die Geschehnisse, auf meine Familie, auf Gott und die Welt senkte ich meinen Kopf auf die Knie und vergrub die Hände schmerzhaft in meinen Haaren. Zog an ihnen bis ich das Gefühl hatte, das sich meine Kopfhaut samt Haaren von ihm lösen würde. Innerlich schreiend vor Hoffnungslosigkeit, heulend vor Verzweiflung saß ich doch vollkommen bewegungslos, äußerlich emotionslos, auf der Fensterbank.
Tropf…
Tropf…
Tropf…
Und wenn dieses Geräusch doch bloß aufhören würde. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich sollte mich freuen. Freuen. Wenn es schon nicht ich selbst war, der erwählt worden war, dann eben ein anderes Mitglied aus meinem Clan. Das erklärte alles. Ich hatte mich getäuscht, hatte die enge Verbindung zwischen ihnen und mir nicht mit in Betracht gezogen. Aber dennoch. Ich hatte das Gefühl, dass ich beraubt worden war. Vom Schicksal betrogen. An diesem Tag hatte ich alles verloren. Wirklich alles.
Alles…
Tropf…
Tropf…
Tropf…
Nichts änderte sich durch diese Tatsache. Durch das Wissen. Gar Nichts. Der Schmerz blieb der Gleiche. Der Verlust blieb der Gleiche. Auch wenn es eigentlich keiner war. Immerhin war es meine eigene Schuld. Meine maßlose Arroganz. Wie hatte ich auch nur einen Moment glauben können, dass dies MEIN Schicksal sein könnte. Es war zu viel. Zu viel, um mir hätte zugedacht sein können. Nicht, wenn Andere doch so viel mehr als ich waren. Ich hatte mich getäuscht. Ich hatte mich getäuscht…getäuscht…
Tropf…
Tropf…
Tropf…
Im gleichen Rhythmus des Regens rannen mir die Tränen von den Wangen…
Imbolc
Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar
Still saß ich auf meinen Fersen. Meine Atmung eben und gleichmäßig. Kein Zug zu viel oder zu wenig. Immer wieder füllten sich meine Lungen mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff, ermöglichten es meinem Körper noch etwas länger zu existieren. Die Hände hatte ich entspannt auf meinen Knien liegen, den Rücken gerade durchgestreckt, den Kopf gesenkt haltend.
Der beißende Winterwind riss an meinem nackten Körper, wie Nadeln stach er mir in die verletzliche Haut. Meine Haare peitschten um meinen Kopf, wurden mir immer wieder schmerzhaft in die Augen geweht. Die vereisten Steine unter mir gruben sich in meine empfindlichen Unterschenkel, bis das Blut langsam aus den feinen Wunden sickerte. Die kalte Temperatur und die stürmischen Wetterverhältnisse ließen mir die Vergänglichkeit und Verletzlichkeit meines Körpers nur allzu bewusst werden; zugleich betäubend und belebend, beängstigend und beruhigend.
Noch ein tiefer Atemzug. Mein Brustkorb hob und fiel langsam wieder in sich zusammen. Obwohl die frostige Luft sich bei jedem Zug in meine empfindliche Nase fraß und meine Lunge scheinbar erstarren ließ, half sie dennoch dem kleinen Wärmeball in meinem Magen sich durch meinen Körper zu verteilen. Die dürftigen rituellen Speisen, die ich früher am Tage zu mir genommen hatte, spendeten mir jetzt noch Energie und wärmten mich von innen, setzten Stück für Stück die seit Generationen gebräuchlichen Kräuter frei, um Geist und Fleisch gleichermaßen zu reinigen. Der zweite Teil des alljährlichen Rituals neigte sich dem Ende zu. Stetig näherte ich mich dem Dritten.
Meine Gedanken kamen allmählich zur Ruhe. Das ununterbrochene Denken ausnahmsweise abgestellt, versuchte ich den Ruhepol in mir zu finden. All der störenden lauten Geräusche der Zivilisation beraubt, musste ich mir in dieser Umgebung selbst genügen. Das laute Rauschen der Wasserfälle um mich herum, verstärkt durch die fast senkrecht aufragenden Felswände, betäubte jeden Gedanken schon in seinem Entstehen, ließen mich in einen tranceähnlichen Zustand fallen.
Laut hallte das stete Pochen der zeremoniellen Trommeln noch immer durch meinen Körper, verstärkte das Gefühl des Losgelöst seins, des Frei seins. Gleichmäßig dröhnte der schwere Puls in mir, wurde zu meinem Leidfaden, zu meinem Lebensrhythmus. Der zeitlose Takt der Trommeln gab den Schlag meines Herzen wider, kreiste zusammen mit meinem Blut durch meine Bahnen. Verbanden mich seit ihrem ersten Erklingen über jegliche Distanz hinweg mit ihnen und dadurch auch mit all den anderen Druiden, die an diesem Ritus teilnahmen. Gemeinsam wurden wir zu einem Teil der Natur. Verübten das letzte große Fest im keltischen Kalender vor dem dann stattfindenden Jahreswechsel im Mai.
Imbolc…
Das erste keltische Fest nach dem Kalender der Christen, das Letzte im Jahr der Druiden. Ein Fest der Reinigung und des Neubeginns. Der Abschied von dem langen entbehrlichen Winter und das erste vorsichtige Begrüßen des heißen ertragreichen Sommers. Das Einläuten des Endes der Regentschaft des Schneekönigs und der erste Tag, an dem der Sonnenkönig wieder unter den Menschen wandeln konnte. Der Anbruch des Frühlings, eine Zeit in der der Blumenkönig die größte Macht erlangte, wenn auch nicht die Krone.
Der Beginn der lichten Jahreszeit.
Ein Fest der Freude.
Und eines der vier großen Feste, an denen es uns gestattet war Kontakt mit der anderen Welt und deren Bewohner aufzunehmen, wenn wir denn in der Lage waren diesen mysteriösen Bereich zu betreten. Jedes Jahr zum Sonnenuntergang am einunddreißigsten Januar versammelten sich die Druiden in ihren jeweiligen heiligen Stätten und bereiteten sich auf den ersten Februar, Imbolc, vor. Sie entzündeten ein reinigendes Feuer und nahmen das traditionelle Essen, bestehend aus Käse und Bannockbrot, zu sich. Die Speisen sollten es uns ermöglichen, unsere eigenen Talente für den Rahmen dieser einen Nacht zu stärken und zu fördern. Nach diesem ersten gemeinsam begangenen Abschnitt des Rituales, zerstreuten wir uns und folgten unserem inneren Drang, ließen uns ausschließlich von unseren Instinkten leiten.
Für manche Druiden bedeutete dies, dass sie sich unter die Menschen begaben und für sie heilende oder schützende Talismane für das nächste Jahr erstellten, andere wiederum begaben sich unter die Tiere und segneten die Herden der Bauern oder die freilebenden Tiere. Wieder Andere, sowie ich, suchten die absolute Einsamkeit in der Natur, begaben sich an nur ihnen bekannte Plätze und vertrauten sich ihr vollkommen an, folgten ihrem Schicksal. Und begangen den Übergang auf den ersten Februar, nach unserem Kalender, der Frühlingsbeginn, allein.
Mein Bruder Eric, mein Zwilling, folgte ihrem Ruf gleichermaßen wie ich, allerdings an einem anderen Ort. Einer, der mir so unbekannt war, wie ihm dieser. Der einzige Teil, den wir nicht miteinander teilten, der ausschließlich uns selbst gehörte und nicht einmal in unseren nächtlichen Endlosgesprächen Zutritt fand. Wir wären nicht einmal auf die Idee gekommen, dieses Wissen mit dem jeweils Anderen zu teilen. Respektieren wir Beide doch zu sehr die überlieferten Bräuche unserer Kultur.
Schon von je her war es ein ungeschriebenes Gesetz zwischen uns, dass wir diesen Weg allein beschritten, ohne die Hilfe und Unterstützung des Anderen. Ein Bereich, den wir nicht nur nicht zu teilen bereit waren, sondern auch einen, den wir mit Händen und Füßen verteidigten. Auch unserem Zwilling gegenüber.
Aber abgesehen davon, benötigten wir Beide in dieser Nacht auch absolute Stille und Ruhe.
Er, um sich in der Gegenwart zu verlieren, all die Dinge, die in dieser Nacht geschahen, zu erfassen und daraus einen möglichen Kurs für die Zukunft zu bestimmen. Ich, um den Schleicher zu betreten und einen Blick in die Zukunft zu werfen, wenn er mir denn gewährt wurde. Der einzige Zeitraum, indem ich mich ungestraft in dem Schleier der Zeit aufhalten durfte. In dem es sogar erwünscht war, dass ich für ein paar Augenblicke die Zukunft, die vor uns lag, entschlüsselte und Kontakt zu den Anderen aufnahm.
Ein lautes Aufheulen des Windes riss mich aus meinen abstreifenden Gedanken und erinnerte mich wieder daran, weshalb ich hier war. Mein Körper hatte währenddessen keines solchen Zeichens bedurft. Selbstständig, losgelöst von meinem Verstand, hatte er sich erhoben. In dem Zustand, indem ich mich nun befand, musste ich mich nicht mehr auf solch triviale Dinge wie Zeitabläufe oder gedankliches Handeln konzentrieren, alles in mir war auf das anhaltende Ritual geprägt.
Still und von allen Menschen verlassen näherte ich mich dem eisigen Flussbett. Einzig der starke Storm des Wasserfalls unterband, dass der kleine Teich, in dem sich die gewaltigen Wassermassen sammelten, zufror. Verhinderte jedoch nicht, dass vereinzelte Schollen auf dem klaren dunklen Wasser flossen.
Einen Fuß vor den anderen setzend tauchte ich langsam in die kalten Tiefen des Wassers. Jede Welle an meiner ausgekühlten Haut stach erneut wie spitze Nadeln zu, mit jeder Woge brach meine regelmäßige Atmung etwas mehr in sich zusammen. Und dennoch fühlte ich mich als könnte ich schweben. Das eiskalte Nass umschmeichelte meinen Körper, stahl ihm seine restliche Wärme und trug ihn doch auf seinen sanften Händen. Bald schon verlor ich den Boden unter den Füßen und streckte meine zitternden Arme aus um gegen den eisigen Strom anzuschwimmen, immer auf den Wasserfall zuhaltend.
Ein leichtes Summen kam instinktiv über meine Lippen, griff die alte überlieferte Melodie auf, ein stimmlicher Nachhall der zeremoniellen Trommeln. Mir unbekannte Laute perlten von meinen Lippen, erzählten vom Loslassen alter Lasten und dem ungetrübten Blick auf die Zukunft. Ein Lied zur Reinigung des Geistes und des Befreiens der Seele.
Während mein Geist immer klarer wurde und sich immer mehr vor den mich umgebenden Dingen verschloss, wurde mein Körper immer schwächer. Die erbarmungslose Kälte, die karge Nahrung und die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut. Der Wasserfall begann langsam aber sicher vor meinen Augen zu verschwimmen, meine Arme wurden immer müder und ich spürte, wie mir stetig die Kraft ausging.
Meine Bewegungen wurden immer fahriger. Hier war eine Armbewegung zu träge, da ein Fußtritt zu schwach. Immer häufiger durchbrach ich die Wasseroberfläche, kam nur unter extremer Anstrengung hustend und Teichwasser spuckend wieder an die rettende Luft. Schließlich sackte ich vollends unter Wasser, sofort schlugen die eisigen Massen über meinem Kopf zusammen. Der heftige Sog des Wasserfalls zerrte mich wie eine Puppe durch die düsteren Tiefen und trennte mich jetzt vollkommen von dem lebensspendenden Sauerstoff, doch die instinktive Panik blieb aus.
Schwer wie ein Stein ließ ich mich einfach sinken, beobachtete verwundert, wie die dunkle Kühle sich über meinem Kopf schloss, meinen Weg zur Oberfläche vollends trennte. Ergeben schloss ich meine Augen und wartete.
Als ich meine Augen das nächste Mal öffnete, stand ich auf einer Lichtung. Nichts Besonderes. Vier Wege, die in die vier Himmelsrichtungen zeigten. Norden, Osten, Süden und Westen. Ich wusste nicht, was ich hier sollte, aber immer wieder zog es mich hierhin, ob ich es wollte oder nicht.
Zum ersten Mal hatte ich von diesem Ort geträumt, als ich fünf Jahre alt gewesen war. Als ich meinen Ausbildern am nächsten Tag von diesem seltsamen Traum erzählte, sahen sie mich zuerst merkwürdig still und dann ehrfurchtsvoll an. Sie sagten, dass es äußerst selten vorkam, dass es einem Menschen gestattet war, diesen Ort zu betreten. Und dass es in keinem der alten Geschichten einem Jungen erlaubt gewesen wäre. Dass ich der Erste wäre. Der Einzige.
Sie sagten, dass es Bestimmung sein müsste.
Dass ich ein Schicksal hätte.
Was relativ bedeutungslos für mich war, teilten sie mir doch im nächsten Augenblick mit, dass es mir nicht mehr gestattet sei diesen Ort aufzusuchen. Außer zu Imbolc, wenn die Mauern zwischen den Welten ausdünnten und ich sehen, verstehen und wissen durfte. Auch wenn ich all die Bräuche meiner Kultur respektierte und fast allen Regeln akribisch folgte, in diesem Fall gehorchte ich ihnen nicht. Konnte es nicht. In der sicheren Umgebung meiner Träume kehrte ich jedes Mal zu diesem Ort zurück. Nicht um die Schleier zu bitten sich für mich zu lüften, sondern…
Ich wusste es nicht. Nur, dass dieser Ort eine magische Anziehungskraft auf mich ausübte, dass es schwerer schien ihm fern zu bleiben, als die Strafen meines Clans und meiner Ausbilder zu riskieren.
Aber in all der Zeit, in der ich nun schon heimlich hierherkam, hatte sich nichts verändert. Zu meiner Frustration blieb alles identisch, kaum eine Veränderung, und wenn, war sie zu erwarten. Immer noch waren die vier Wege weiß, führten an Verbotene, geheime, mir unbekannte Orte. Immer noch wurden diese von dem diffusen grauen Nebel, der hier alles umgibt, völlig verborgen.
Ich wusste, wenn ich meinen Kopf senkte, würde ich keinen Boden erblicken, ich würde in der Luft schweben. Ich wusste, wenn ich meinen Kopf hob, würde ich keinen Himmel sehen, sondern Nichts. Keine Farbe, kein Schwarz, kein Weiß. Einfach nichts. Ich wusste, dass ich an diesem Ort nicht atmete, und doch existierte ich. Ich wusste, dass ich hier nur einen Sinn hatte und doch war ich hier mehr, als ich dort jemals gewesen war. Ich hörte nicht, ich roch nicht, ich schmeckte nicht, ich fühlte nicht und doch…wusste ich alles.
Ich sah.
Und dadurch fügte sich an diesem Ort alles zusammen.
Komisch, wenn ich hier war und an meinen Körper in der realen Welt dachte, wurde ich mir jedes Mal aufs Neue bewusst, dass - obwohl dort im Vollbesitz meiner Sinne – ich doch vollkommen blind war.
Hier erklärte es sich von selbst, wenn auch auf anderer Ebene und häufig, um genau zu sein meistens, ließ ich die Erkenntnis, welche ich erlangte, auch wieder hier. Als müsste das Wissen in dieser Welt zurückbleiben.
Geschätzte fünf Meter weit konnte ich sehen, dann begann der Schleier, dahinter nur formlose Figuren. Manche bewegten sich, andere standen einfach nur still in der Gegend. Immer. In manchen Bereichen häufiger in anderen weniger.
Ich vermutete, dass die Meisten einfach nur Landschaftsmarkierungen waren. Bäume, Steine, Büsche. So sehr unterschied sich dieser Ort dann wohl doch nicht von unserer Welt. Abgesehen natürlich davon, dass hier anscheinend keine physikalischen Gesetze herrschten. Aber ändern konnte ich dies nicht.
Um mich zu vergewissern, dass sich wirklich nichts Grundlegendes gewandelt hatte, drehte ich mich einmal im Kreis und betrachtete die grauen Pfade, die im Nebel der Zeit verschwanden. Nur soweit konnte ich sie erkennen. Nein, es hatte sich wirklich nichts verändert. Alles war gleich. Erleichterung machte sich in mir breit. Auch wenn ich nicht genau den Finger darauf legen konnte, warum ich erleichtert sein sollte.
Im Norden begonnen, endete dort meine erste Überprüfung auch wieder. Nichts, keine Möglichkeit, die einzelnen Straßen zu unterscheiden und dennoch wusste ich, dass der hier nach Norden wies. Merkwürdig, aber so war es schon immer.
Ich hatte es aufgeben an diesem Ort nach Erklärungen zu suchen. Genauso viel worüber ich mir hier klar wurde, welches Wissen ich erlangte und welche Erkenntnis mich hier befiel, genauso viele Fragen und Rätsel warf dieser Ort auf. Eine Antwort, eine neue Frage – eine weitere Antwort, eine weitere Frage. Es war ein dauerndes hin und her. Hier war meine einzige Aufgabe zu beobachten, nicht zu handeln. Abwarten, welches Wissen diesmal mit mir geteilt wurde. Und doch…
Mein Blick wanderte wieder gen Norden. Und der Drang diesen Weg zu beschreiten war fast unbezähmbar. Etwas zog mich an…ER zog mich an. Mein Herzschlag beschleunigte sich bei diesem Gedanken automatisch, meine Augen versuchten instinktiv die Nebel zu teilen und einen klaren Blick zu erhaschen. Meine Füße wollten sich unweigerlich in Bewegung setzten. Jetzt wo ich hier war, konnte ich mich wieder wage an IHN erinnern, wusste was oder besser wer mich immer wieder an diesen Ort lockte, wo ich nur warten, nur beobachten konnte. Jetzt wo ich wieder hier war, sehnte sich mein Herz nach IHM. Mein verräterisches menschliches Herz…
Seufzend zwang ich mich meine Augen von dieser Versuchung abzuwenden. Meine Lehrer warnten mich jedes Jahr zu Imbolc erneut diese Kreuzung bloß nicht zu verlassen. Nur hier war ich sicher, wenn ich mich einmal für einen Weg entschieden hätte, gäbe es kein Zurück mehr. Weder zu diesem Punkt, noch zu meinem ursprünglich menschlichem Leben. Aber keiner der anderen Pfade lockte mich, nur der Eine…
Plötzlich erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Die undurchdringlichen Nebelwände zu meiner Rechten begannen in Aufruhr zu geraten. Wirbelten auf und verwoben sich zu milchigen Schwaden, beinahe wie Rauch gefangen in einer Glaskugel.
An manchen Stellen hatte man den Eindruck, dass sie fast durchsichtig erschienen, nichts vor dem Auge verbargen, doch wenn man versuchte die dahinterliegenden Gegenstände zu erfassen, war man dazu nicht in der Lage. Entweder lenkten einen die kunstvoll wirbelnden Rauchschwaden ab oder man erkannte, dass der erste Eindruck täuschte, nichts vollkommen klar war, für einen komplett zu fassen. Mit Glück erkannte man einen Teil, aber niemals das Ganze. Und gerade in dem Moment, indem man dachte, alle Zusammenhänge erfasst zu haben, wurde einem klar, dass sich dahinter noch mehr verbarg. Oder das sich das Spiel des Rauches verändert hatte und alles, was man glaubte, dessen man sich sicher gewesen war zu wissen, nichts als eine Täuschung der eigenen Vorstellungskraft und des allgegenwärtigen Rauches gewesen war. Kaum mehr als eine Illusion, ein kindliches Spiel.
Aber keiner der vier Pfade folgte diesem Motto so genau, wie der Östliche. Immer in Aufruhr, immer in Bewegung, immer verspielt und jung. Ein sicheres Zeichen.
Es begann…
Kaum eine der dunklen Formen war in all der Zeit, an der in nun schon diesen Ort besuchte, im Osten unverändert geblieben, die einzige Ausnahme von der allgemeinen Regel, und dadurch gleichzeitig auch wieder innerhalb der Regel. Immer herrschte in diesem Bereich Veränderung. Manche Formen wuchsen in die Höhe, andere in die Breite und wieder Andere zogen ihre Kreise im Nebel. Es gab Tage, an denen ich ihrem verspielten Wechsel stundenlang zusehen konnte, häufig erschienen sie mir, wie das unschuldige Zusammentreffen von Kindern. Zwanglos tanzten oder balgten sie miteinander, streckten sich einander entgegen oder folgten einer anderen Form. Und schenkten mir damit einen seltsamen Frieden. Bei dem Gedanken daran, dass nichts gleich blieb, es sich früher oder später wandeln würde, musste ich ein jedes Mal erleichtert aufatmen.
Aber heute war etwas grundlegend anders.
Die Spiele der Schwaden hervorgerufen durch ihre geheimnisvollen Bewohner hielten normalerweise immer einen respektvollen Abstand zu mir und meinem Posten in der Mitte der Kreuzung. Nie, nicht ein einziges Mal, hatten sie sich den Ausläufern des Schleiers genähert, oder versucht dessen Grenze zu erkunden oder gar zu überschreiten. Heute aber löste sich einer der Schatten aus der Reihe der Anderen und kam in einer hüpfenden Bewegung auf mich zugelaufen. Näherte sich in gleichbleibendem Tempo der ungleichmäßigen Linie, die mich von ihnen abgrenzte, mich vor ihnen schütze. Und durchbrach letztlich, entgegen all dessen was ich zu wissen glaubte, die wabernde Mauer.
Als ich einen deutlichen Blick auf die Person werfen konnte, musste ich mir schmunzelnd eingestehen, dass ich mit meinen Vermutungen nicht so weit von der Wahrheit entfernt gelegen hatte. Kaum zwei Meter von mir entfernt blieb der kleine Bewohner des östlichen Bereiches vor mir stehen und warf mir ein strahlendes verschmitztes Lächeln aus einem hellen Gesicht entgegen. Die seltsam blauen Augen, in denen sich die Farbe um sich selbst zu winden und so typisch für diese Rasse zu sein schien, das blondgelockte Haar, und das pausbäckige Gesicht erinnerten mich an einen etwas älteren Putten. Es fehlten nur noch die kleinen weißen Flügel am Rücken.
Freundlich sah er mich an. Schaute mich aus diesem kindlichen jungen Gesicht mit gegensätzlich alten weisen Augen an, die noch nicht ganz zu wissen wussten, was sie mit mir anfangen sollten. Ruhig und unbedrohlich wendete ich mich ihm zu, wartete geduldig bis der Junge seine Entscheidung gefällt hatte.
Zeit spielte hier wahrlich keine Rolle.
Nur die Möglichkeiten der Zukunft.
Gerade hatte ich den Satz zu Ende gedacht, als der Junge in ein glucksendes Kichern verfiel. Lächelnd blickte ich auf ihn nieder und konnte mir eben noch verkneifen nicht mit einzufallen, so ansteckend war es. Die seltsamen Augen funkelten mich lebenslustig an, voller Schalk und zu lauter Schandtaten bereit.
Aber plötzlich verdunkelte sich das Gesicht des scheinbaren Kindes. Das Glucksen verstummte, endete so schnell wie es begonnen hatte. In einer ruckhaften Bewegung richtete sich der Junge jäh auf und blickte mir tief in die Augen, ihr Ausdruck wurde alarmiert und traurig. Ein tiefes Seufzen erschütterte den kleinen Körper, kopfschüttelnd senkte er seinen Kopf und als er mir wieder in die Augen schaute, fuhr mir der ernsthafte zeitlose Blick in alle Knochen.
Mir wurde klar, dass sein augenscheinliches Alter nur eine Illusion war. Das kindliche Gebaren eine nun klar erkennbare Lüge. Ein Spiel des Rauches. Die Stimme, die durch meinen Verstand geisterte, war jedoch absolut alterslos. Weder jung noch alt. Die Worte kaum mehr als ein Flüstern.
Örlögin verða ekki umflúin...
Á eftir vetrinum kemur vorið...
Fuglarnir tísta og tíminn mjakast áfram...
Bei den Worten liefen mir eiskalte Schauer über den Rücken.
Und nicht nur das. Die ganze Situation hatte etwas Surreales. Noch nie war mir ein Bewohner dieses Ortes über den Weg gelaufen, zumindest keiner außer IHM, und selbst er hatte nicht ein einziges Mal ein Wort zu mir gesprochen. Geschweige denn, dass jemals jemand Anderes mit mir gesprochen hätte.
In der Regel lichtete sich der Schleicher in jedem der Bereiche nur für kurze Zeit und offenbarte mir bestimmte Ereignisse, die sich dann in meiner Welt im Verlauf des kommenden Jahres wiederholen würden. Meine einzige Aufgabe bestand darin, die Geschehnisse zu beobachten und weiterzugeben. Nicht ein einziges Mal hatte ich auch nur andeutungsweise so etwas Ähnliches wie diese kryptische Aussage erlebt.
In all der Zeit musste ich nicht einmal die mir dargestellten Bilder enträtseln oder nach verborgenen Symbolen suchen, sondern sie wirklich einfach nur ansehen. Es erforderte nicht mehr Aufmerksamkeit als einem Spielfilm zu folgen. Aber nun sollte ich mir nicht nur diese Aussage einprägen, sondern sie auch verstehen und dann korrekt an meine Clanmitglieder weitergeben?
Bei dem Gedanken überflutete mich eine leichte Panik. Ich verstand ja nicht einmal diese Sprache, zwar schwebten mir ein paar Bilder vor den Augen, doch waren sie nicht einmal ansatzweise klar und deutlich genug um daraus Rückschlüsse auf eine mögliche Zukunft ziehen zu können. Es war fast, als ob sie einfach an mir vorbei ziehen würden, als wäre ich nicht mehr als eine Leitung, die die Bilder und zukünftigen Geschehnisse direkt an eine andere Stelle übertragen würde. Wobei die Bilder in einer solchen Geschwindigkeit an mir vorbeirasten, dass mein Verstand nicht in der Lage war sie zu fassen, oder überhaupt verstehen zu können.
Aber mir blieb keine Zeit den merkwürdigen Jungen zu bitten, seine Worte zu wiederholen, oder noch besser ihn zu fragen, sie mir zu erklären. Im Süden begann sich der Nebel zu lichten und ich ahnte eine Wiederholung des gerade Erlebten. Ängstlich drehte ich mich in diese Richtung und betrachtete misstrauisch den südlichen Bereich dieses Ortes.
Wo der Osten ständige und andauernde Veränderung war, war der Süden Stagnation. Zwar befanden sich in ihm größere und massigere Figuren als in allen drei anderen Bereichen zusammen, doch änderten sie sich niemals. Nur die Kontraste der Schatten und Lichtverhältnisse schienen sich dort jemals zu verändern. Stark hoben sie sich voneinander ab, fast konnte man die Kontraste schon als Schwarz und Weiß bezeichnen. Klare Grenzen, die dem Süden trotz der verzerrenden Neben Tiefe und Räumlichkeit gaben.
Schon löste sich eine der Figuren aus dem Schatten einer Anderen. Sie wäre mir ohne die zielstrebige abrupte Bewegung vollkommen entgangen, hatte ich diese Form doch bei meiner ersten Erkundung nicht einmal ansatzweise bemerkt. Zielstrebig schritt sie auf mich zu, erinnerte mich durch die starren abgehakten Bewegungen an einen Militärschritt. Alles schien auf Effizienz und Pragmatismus ausgelegt zu sein. Verunsichert trat ich zwei Schritte zurück, intuitiv der gesichtslosen Form ausweichend, instinktiv nach einem Ausweg aus dieser mich überfordernden Situation suchend, aber nicht die kleinste Fluchtmöglichkeit findend.
Ein großer stämmiger Mann erschien aus dem verschleiernden Dunst, anscheinend nur aus harten Kanten und unnachgiebigen Muskeln bestehend. Aber trotz der enormen Körpergröße ging etwas sehr charismatisches von ihm aus. Versuchte mich zu ihm zu locken. Die weichen weißblonden Haare umwehten ein wunderschönes Gesicht. Als er mich erblickte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinen vollen Lippen aus und eine rote Zunge tauchte in seinem rechten Mundwinkel auf. Fuhr langsam und verführerisch über die perfekt geschwungene Oberlippe. Und mir wurde plötzlich heiß.
Bevor ich mich fassen konnte, war ich die zwei Schritte, die ich zuvor zurückgewichen war, auch schon wieder auf ihn zugegangen. Gebannt blieb mein Blick auf sein Gesicht gerichtet und fuhr die markante Züge nach, den hohen Wangenschwung, die ausgeprägte Nase, und schließlich die strahlenden in sich wirbelnden grasgrünen Augen.
Emotionslose kalte Augen. Erstarrt blieb ich stehen. An diesem Mann, oder besser an diesem Wesen, war nichts, was es schien zu sein. Alles war eine einzige Fassade, um die Dummen und Naiven zu ihm zu locken. Sein Aussehen eine geschickte Falle um seine Opfer zu blenden. Meinen Mut zusammennehmend schaute ich erneut auf. Die harten Augen blickten auf mich nieder, bannten mich an Ort und Stelle. Dasselbe seltsame stürmische Spiel wie in denen des Jungen wiedeholte sich in ihnen, verdeutlichten mir mehr als alles andere, dass auch er ein Bewohner dieser Region war. Ein Elf, eine Fee, ein Mitglied des kleinen Volkes, ein Bewohner der Anderswelt, oder wie auch immer man diese Rasse auch bezeichnen wollte.
Selbstsicher ging er nochmals auf mich zu, blieb vielleicht vier Schritte von mir entfernt stehen und sah mich die ganze Zeit über abschätzig an. Einer seiner Mundwinkel zog sich nun spöttisch, ablehnend, hoch, machte mir ohne Worte klar, dass ich in seinen Augen nicht das Mindeste wert war und dass, wenn es nach ihm ging, ich mein Verhalten früher oder später noch bereuen würde.
Seine Stimme klang trotz allem volltönend und gelangweilt, als sie in meinem Kopf erscholl. Wenn ich ihr überhaupt eine Emotion zuschreiben konnte, dann wohl eine gewisse Gereiztheit über die in seinen Augen unwichtige Störung; und meine Ablehnung.
Ást við fyrstu sýn…
Rósirnar blómstra og tíminn mjakast áfram...
Sólin gengur til viðar...
Obwohl die Stimme mehr als unfreundlich und ablehnend klang und der Mann mir mittlerweile unsympathisch war, hatten die Worte einen beruhigenden Effekt auf mich. Ein tiefer entspannter Seufzer löste sich aus meiner Brust, ein totaler Kontrast zu meiner vorherigen Stimmung. Meine Nervosität und Furcht wandelte sich in Aufregung, gemischt mit einer merkwürdigen melancholischen Sehnsucht.
Unsicher blickte ich zu den Jungen zurück und zu meiner Verwunderung stellte fest, dass er verschwunden war. Nichts deutete darauf hin, dass er jemals dort gestanden hatte. Irritiert drehte ich mich zu dem blonden Mann hin, aber auch er war anscheinend schon wieder im Schleier verschwunden. Ohne ein Geräusch, ohne eine Bewegung, die ihn verraten hätte. Die Ausläufer des Nebels machte es mir außerdem unmöglich zu erkennen, ob Fußspuren oder andere Zeichen von den Beiden zurückgelassen worden waren, waberten sie doch selbst hier noch auf dem Boden.
Leise regte sich etwas in meinem Verstand. Osten, Süden, Westen und Norden. Osten und Süden hatten mir bereits eine Nachricht zukommen lassen, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen folgte?
Es brauchte kein Genie um dieses Muster zu erkennen. Und danach, wisperte es durch meinen Kopf, würde sich der Norden zeigen. Schnell huschten meine Augen in den nördlichen Bereich und erneut spürte ich das mir nur allzu bekannte Ziehen in meiner Brust. Die Sehnsucht nach IHM.
Aber zuerst musste ich mich mit dem Westen und seiner kryptischen Botschaft befassen. Plötzlich konnte es mir nicht mehr schnell genug gehen. Nachdem ich diese Aussage gehört hatte, würde ich höchstwahrscheinlich wieder IHM gegenüber stehen. Ich konnte es kaum erwarten. Blitzschnell fuhr ich zu dem westlichen Bereich um und hielt mitten in der Bewegung inne.
Ein alter Mann, vielleicht um die hundert Jahre sah mich geduldig lächelnd an, die vielen Falten in seinem Gesicht verzogen sich durch die Bewegung zu einer gutmütigen Miene. Seine dunkelbraunen mit weißen Strähnen durchzogenen Haare standen kreuz und quer von seinem Kopf ab, teilweise blitzen kahle Stellen in dem trüben Licht des Nebels auf. Schwer stütze er sich auf eine Krücke und ich fragte mich unweigerlich, welche Fassade er mir wohl vorspielte. Die braunen Wirbel in seinen Augen zeigten mir, dass auch er ohne Zweifel ein Angehöriger dieses Ortes war.
Aber im Gegensatz zu den Vertretern des Ostens und des Südens, schien er sich nicht mit solchen Spielereien aufzuhalten. Sein Auftreten, sein Gebaren hatten etwas erhabenes, als hätte er trotz seinem Alter, oder gerade wegen seiner Jahre, kein solches Verhalten nötig. Eine unglaubliche Ruhe ging von ihm aus, strahlte förmlich auf mich ab. Während ich in seine braunen wissenden Augen blickte, kam ich auch ich zur Ruhe. Allerdings hatte ich das Gefühl vor ihm entblößt zu sein, es war, als würde er direkt auf den Grund meiner Seele schauen. Immer noch lächelnd nickte er mir zu und dann vernahm ich auch seine Stimme in meinem Kopf. Sie klang rau, ganz so, als hätte er sie seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt.
Rósirnar fölna og tíminn er að renna út...
Verknaður framinn í örvæntingu…
Snjór fellur af himmni og tíminn er útrunninn...
Die Worte wurden mit sanfter, besänftigender, Stimme gesprochen und doch stockte mir der Atem. Panik befiel mich. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit aus ihrer Achse gehoben wurde. Alles um mich herum schien still zu stehen, nichts rührte sich mehr, weder Wind noch Erde. Selbst der Rauch schien in seinem verwirrenden Spiel inne zu halten, ganz so, als ob selbst er es nicht wagen würde mit diesen Worten zu spaßen, sie zu verzerren.
Stocksteif und panisch hechelnd sah ich zu dem Greis hinüber. Mein Gesicht musste zu einer panischen Fratze verzogen sein. Ich konnte förmlich sehen, wie ich ihn mit weit aufgerissen Augen und wildem Ausdruck anstarrte. Ihn anflehte, dass eben Gesagte zu annullieren. Doch nichts dergleichen geschah.
Der alte Mann warf mir einfach nur noch einen letzten mitfühlenden Blick zu und begann dann mit dem Nebel um ihn herum zu verschmelzen, einfach so. In einem Moment war er noch eine feste solide Figur und im nächsten eine wirbelnde Rauchwolke, die sich mit den Schwaden des Bodens vermengte. Noch bevor ich erfasste, was da vor sich ging, rannte ich ihm auch schon blindlings entgegen, versuchte ihn in meiner Verzweiflung irgendwie aufzuhalten. Selbst wenn es zwangsläufig zur Folge hätte, dass ich mich an diesem Ort verlor.
Aber noch bevor ich die Grenze erreichen oder überschreiten konnte, war nicht einmal mehr erkennbar, dass vor zwei Sekunden noch jemand an dieser Stelle gestanden hatte. Und mit dem Mann schwand auch jeglicher Kampfgeist in mir. In dem Moment, indem ich keinen Ansprechpartner mehr hatte, schlugen die Wellen meiner Trostlosigkeit über mir zusammen, begruben sich unter ihrer schweren Last; nahmen mir, wie die Wellen des Stroms meine Lebensgrundlage. Ich fühlte mich vollkommen leer. Wollte mich einfach nur noch auf dem Boden zusammenrollen und meinen Tränen freien Lauf lassen.
Stattdessen starrte ich nur völlig apathisch auf den leeren Fleck. Zu keiner Reaktion, zu keinem Gedanken fähig. Schließlich schloss ich verzweifelt um Fassung ringend die Augen. Ein Teil meiner Selbst wusste, dass dies noch nicht alles gewesen war, dass mir noch eine Begegnung bevor stand. Aber wo ich ihr zwei Minuten früher freudig, ja sogar euphorisch entgegen gesehen hatte, umklammerte jetzt eine eisige Faust mein Herz.
Meine Fingernägel bohrten sich vor Qual schmerzhaft in meine Handflächen, hinterließen blutige halbmondförmige Kreise auf deren Innenseiten. Starr, jeden Muskel im Leib vor Anstrengung angespannt, starrte ich blicklos in die verschleierte Ferne. Bis ich letztlich entkräftet in mich zusammensackte und nur noch fühlte, wie anscheinend jegliches Leben aus mir herausgesaugt wurde.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so abwesend in der Gegen herumgestanden hatte, doch ein andauerndes Kribbeln in meinem Rücken ließ mich schließlich wieder zu mir kommen. Ich konnte zuerst nicht genau festmachen, woran es lag, aber ich hatte das sichere Gefühl beobachtet zu werden. Ich konnte die Augen, die mich fixierten förmlich auf meinem Körper spüren. Unsicher blieb ich auf der Stelle stehen, wie ein Kaninchen, dass von einem Räuber ins Visier genommen wird. Und mit einer maßlosen Angst, was ich hinter mich vorfinden würde.
Mich auf das Schlimmste wappnend und auf das Beste hoffend, kratze ich die Reste meiner Courage zusammen und drehte mich langsam aber sicher Richtung Norden. Jedes Grad der Drehung betend, dass ich diesmal IHM gegenübertreten würde.
Verlassen lag der nördliche Bereich vor mir. Ausschließlich aus kargen kleinen vereinzelten Schatten bestehend. Heller als die drei restlichen Bereiche schien er vor mir zu liegen und meine Hoffnung mit seiner Leblosigkeit zu verspotten. Ich wollte mich schon schicksalsergebend und enttäuscht abwenden, als eine Bewegung in der Ferne meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Einer der kleinen Schatten löste sich von den Anderen, wuchs mit jeder vergehenden Sekunde und kam auf mich zu. Mein Herz fing vor Aufregung wild an zu schlagen. Es konnte doch nicht sein, oder?
Automatisch wollte ich ihr in meiner Hast zu erfahren, ob ER es war, entgegeneilen, wollte auf dem Weg entlang rennen, der mich von der ersten Sekunde an gefesselt hatte. Bevor ich mich fangen konnte, mich auf die nachdrücklichen Warnungen meiner Lehrer besinnen konnte, war ich schon ein paar Schritte auf die formlose Gestalt zugegangen. Mein Körper hatte sich von selbst bewegt. Ohne mein zu tun.
Immer weiter näherte sich mir der Schatten und mein Nervosität wurde immer größer, das Bangen immer schwerer zu ertragen. Obwohl ich dieser Person schon unzählige Male an diesem Ort begegnet war, konnte ich mich doch nie an ihr Aussehen erinnern. Da war immer nur das für mich ungreifbare Wissen, dass ER es war. Aber dies würde sich jetzt ändern.
Wer, wusste ich nicht.
Was uns verband, wusste ich nicht.
Warum ich mich so zu ihm hingezogen fühlte, wusste ich nicht.
Das Einzige, was ich mit absoluter Sicherheit wusste, war, dass mein Schicksal untrennbar mit seinem verbunden war.
Und dass ich unendlich dankbar dafür war.
Meine Augen fest auf die andere Person gerichtet, beobachtete ich, wie sich ein Mann langsam aus dem Nebel löste - groß, athletisch, muskulös. Mehr die Statur eines Schwimmers als die eines Bodybuilders. Mit weit ausgreifenden Schritten hielt er auf die Lichtung zu, ruhig, raubtierhaft, unerschütterlich. Mit jedem seiner Schritte wurde er immer klarer für mich. Und mit jedem seiner Schritte schien mein Herz etwas schneller in meiner Brust zu schlagen. Noch bevor er mich erreicht hatte, hatte ich das Gefühl, dass es mir aus der Brust springen würde. Am liebsten hätte ich ihm entgegen geschrien sich zu beeilen, mich endlich in seine Arme zu schließen.
Angespannt hielt ich meinen Atem an, meinen Blick gebannt auf diese Person gerichtet. Ich konnte es kaum erwarten dieses mir so vertraut unvertraute Gesicht wiederzusehen. Als er noch ungefähr zehn Schritte von mir entfern war, erkannte ich dunkle halblange Haare, die ein auffallend helles Gesicht umspielten. Elegant schlenderte er weiter auf mich zu, als hätte er alle Zeit der Welt. Ein stolzes Lächeln im Gesicht, das von sündhaften Dingen erzählte.
In meinem Magen begann ein Flattern, das sich auf meinen ganzen Körper auszubreiten schien. Ich war kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig, von einem Moment zum Anderen drehte sich meine ganze Welt ausschließlich um diesen Mann. Immer weiter schritt er auf mich zu.
Markante maskuline Züge prägten sein Gesicht, gaben ihm einen harten Zug, die vollen Lippen dagegen wirkten einladend und weich. Ein dunkler Bartschatten lag auf seinen hohen Wangen, gaben ihn einen leicht verwegenen Hauch. Die dunklen Augen, die mir aus dem hellem Gesicht entgegen strahlten, waren wunderschön. Braune und schwarze Wirbel, die sich in ihnen zu stürmischen Böen vermischten und mich regelrecht in sie zu saugen schienen. Bodenlos, abgrundtief erschienen sie mir. Und alt. Uralt. Ein kalter Schauer rann über meine Haut. So fremd und doch so vertraut.
Diese Augen.
Dieser Mann machte mir dennoch Angst. Die Macht strahlte geradezu von ihm aus, ließ ihn größer erscheinen, als er tatsächlich war. Als ob seine Persönlichkeit mehr Platz einnehmen würde, als die seiner Mitmenschen. Doch trotz allem, jetzt wo ich hier stand, wo ich mich an ihn erinnerte, war ich glücklich. Wie lange hatte ich auf ihn gewartet?
Lebte ich nicht eigentlich nur für diese Momente?
Diese gestohlenen heimlichen Augenblicke, in denen ich ein Blick auf ihn werfen konnte?
Diese wenigen Atemzüge, in denen ich wusste, dass er existierte?
Dass ich nicht alleine war?
Meine Lippen formten wie von selbst ein Lächeln, luden ihn ein Näher zu kommen. Meine Augen schlossen sich, um den Gedanken, das Wissen, um IHN in mir zu verankern. Es dieses eine Mal endlich festzuhalten, das Wissen nicht schon wieder zurückzulassen. Es in die reale Welt mitzunehmen.
Die absolute Sicherheit, dass er wirklich existierte, kein Traumgespinst war, dass sich mein ruheloser Verstand ausgedacht hatte. Wie oft hatte ich schon im Laufe der Zeit an genau dieser Stelle gestanden und versucht genau diesen Gedanken festzuhalten?
Ich wusste es nicht. Nur das es unzählige Male waren.
Seufzend öffnete ich meine Augen, blickte ihn traurig an. Ich hatte Angst, dass ich es erneut vergaß, ihn vergaß. Ihn mit meinem eingeschränkten menschlichen Verstand verriet. Mich verriet. Mich um diese Geborgenheit betrog. Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel, als mir bewusst wurde, dass ich unzulänglich war. Sterblich. Menschlich.
Nicht genug für ihn.
Niemals genug für ihn.
Während ich mich in meinen niederschmetternden Gedanken verloren hatte, war er auf Armeslänge an mich herangetreten, stand nun geduldig wartend am Ende des Weges der nach Norden zeigte. Die Ausläufer des Nebels züngelten um seine Knöchel. Und ich musste mich auch bewegt haben, stand ich doch nun nicht mehr in der Mitte der Lichtung, sondern direkt am nördlichsten Rand. Ich müsste nur meine Hand ausstrecken und dann könnte ich ihn berühren. Seine Haut an meiner spüren. Zweifelnd blickte ich zu ihm auf.
Und wenn es doch nur ein Traum war?
Aufmuntert blickte er mich an. Schenkte mir einen Blick voller Wärme und Zuneigung. Doch ich stand nur gelähmt vor ihm, gefangen zwischen Angst, Sehnsucht und Verlangen.
Schließlich schloss er den letzten Meter, der uns trennte und seine großen Hände umschlossen meine schmaleren. Gaben mir mit dieser kleinen Geste Halt und Sicherheit. Eine angenehme Kühle ging von seinen Handflächen aus und beruhigte mich. Diese erste unschuldige Berührung löste ein ganzes Beben in mir aus. Hilflos begann ich zu zittern, aber die Erleichterung, die von mir abfiel brauchte einfach ein körperliches Ventil. Schaudern schloss ich die Augen, krallte meine Hände in seine, damit er mich nicht losließ. Mich bloß nicht losließ.
Eine weitere Träne löste sich aus meinen Augenwinkel, diesmal vor Glück ihn endlich wieder bei mir zu haben. Ihn endlich wieder sehen zu können. Ihn berühren zu können.
Als ich spürte, wie er seine Hände von meinen entfernte, entrang sich mir ein Schluchzen und ich riss verängstigt die Augen auf. Er wollte mich doch nicht schon wieder verlassen, oder?
Aber stattdessen sah ich gerade noch, wie sich eine breite Brust vor meine Augen schob und fühlte, wie sich zwei starke kühle Arme um mich legten. Ein frischer Atem hauchte über meine Wange und ein weiches Lippenpaar küsste sich ihren Weg von meinem Kinn zu meinem Augenwinkel, dabei jede einzelne Träne sanft wegwischend. Über meine Stirn wanderte er weiter zu meinem linken Auge und dann wieder an meiner Wange hinab. Vorsichtig, wie um meine Reaktion zu testen, näherte er sich meinem Mundwinkel.
Mein Atem beschleunigte sich automatisch und ich hob meinen Kopf intuitiv an, öffnete meine Lippen instinktiv. Gespannt wartete ich auf das weiche Lippenpaar. Zögerlich kamen sie meinem Mund immer näher. Erreichten schließlich den Mundwinkel und suchten sich ihren Weg mit neckenden Bissen an meiner Unterlippe entlang zur Mitte hin. Nur leicht lagen sie auf, aber sie fühlte sich intimer auf meinem Mund an, als alles was ich bisher erlebt hatte. Mit jedem Einatmen sog ich seinen ein; mit jedem Ausatmen sog er den meinen ein.
Schließlich lösten sich seine Lippen wieder von meinen und er zog meinen Kopf an seinen Hals. Erleichtert und glücklich seufzte ich auf, klammerte meine Hände in sein weiches Hemd und kuschelte mich an die breite Geborgenheit spendende Brust.
Meine Nase vergrub ich direkt in der Kuhle unter seinem Kinn. Saugte tief seinen Geruch in mich ein, versuchte ihn für die Zukunft abzuspeichern, um ihn mir jederzeit wieder in Erinnerung rufen zu können, Halt in ihm finden zu können. Von seinem frischen Geruch umgeben, seinen starken Armen gehalten und mit seinem Kinn auf meinem Kopf abgelegt, spürte ich, wie auch die letzte Anspannung von mir abfiel und ich mich endlich vollkommen entspannte.
So standen wir unzählige Minuten da, verloren in dem jeweils Anderem. Einfach nur die Gegenwart unseres Gegenübers genießend. Meine Hände ertasteten durch seine Kleindung hindurch die samtene Nachgiebigkeit seiner Haut, die verborgene Kraft seiner Muskeln und die unnachgiebige Härte seiner Knochen. Im Gegenzug fühlte ich seine Finger über meinen Körper gleiten. Mit den weichen Haaren in meinem Nacken spielend, die Spur meiner Wirbelsäule nachfahrend und über den Ansatz meines Hinterns streifen. Tief und ebenmäßig ging unser beider Atmung. Still hielten wir uns in dem um uns wandelten Nebel. Uns gegenseitig Hoffnung und Vertrauen schenkend.
Viel zu früh erklang ein tiefes Seufzen aus seinem Mund und er löste sich ein Stückchen von mir. Seine Hände, mittlerweile auf meinem unteren Rücken ruhend, glitten zu meiner Taille, sein Kopf hob sich langsam von meinem und er hauchte mir abbittend einen kühlen Kuss auf die Stirn. Seine unendlich tiefen Augen blickten bedauernd in meine, drückten aus, dass auch er lieber in der vorherigen Position verharrt hätte, das Folgende vermieden hätte.
Seinen Blick weiterhin fest auf mich gerichtet, fast, als wollte er meine Reaktion auf seine Worte einschätzen und noch einmal seinen Mut sammeln, atmete er tief ein, öffnete schließlich seinen Mund und ich lauschte zum ersten Mal seiner Stimme. Schon bei den ersten Lauten breitete sich eine Gänsehaut auf meiner Haut aus und ich schloss genießerisch meine Augen. Volltönend, aber kratzig, zärtlich, aber etwas beißend umschmeichelte sie mich. Ein starker Kontrast zu ihrem tiefen Klang, rau, dunkel, kalt.
Veturinn er genginn í garð...
Örlögin verða ekki umflúin...
Dieser Stimme könnte ich stundenlang lauschen. Ich fühlte schon, wie diese Stimme Worte direkt an meiner Haut sprach. dDer Klang meine Sinne verdunkelnd, während die weichen Lippen sich an meiner Haut entlang küssten und der kühle Atem über meine erhitze Haut strich. Die Bedeutung der Worte flutete an mir vorbei, alles was ich wahrnahm war das Gefühl der Geborgenheit, welches sie auslösten. Ein Gefühl des Heimkehrens.
Mein ganzer Körper prickelte einzig und allein auf Grund dieser Stimme und ich wollte endgültig an diesem Ort verweilen. Gemeinsam mit diesem Mann in den nördlichen Bereich zurückkehren und dort bleiben. Ohne ein einziges Mal auf mein altes Leben zurückzublicken. Dort würde ich alles finden, wonach ich mich jemals gesehnt hatte. Voller Vorfreude auf dieses neue Leben öffnete ich meine Augen, erwartete den gleichen seligen Ausdruck in seinen wiedergespiegelt zu sehen. Doch stattdessen schauten mich vor Angst verdunkelte Augen an.
Parallel dazu wurde ich mir bewusst, wie sich seine Finger schmerzhaft in meine Oberarme krallten, sicherlich rote und blaue Abdrücke hinterließen. Seine Atmung ging flach und stockhaft, während sich sein Mund lautlos öffnete und schloss. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was war plötzlich los?
Was hatte ihn in eine solche Panik versetzt?
Beunruhigt wollte ich meinen Kopf heben und nachsehen, was ihn in solche Aufruhr versetzte, als ich auch schon grob an seine massige Brust gezogen wurde. Links und rechts von mir schlangen sich kräftige Arme um meine schmale Mitte, nahmen mir vollkommen die Sicht auf die uns umgebende rauchige Landschaft.
Das Kribbeln in meinem Körper verstärkte sich derweilen, stieg parallel zu meiner Nervosität. Ich hatte schon ein zwanghaftes Bedürfnis ihn zu besänftigen, ihm zu versichern, dass sich alles wieder einrenken würde, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Gleichzeitig schwollen meine eigenen Ängste. Wenn dieses Etwas schon ihn so beängstigte, was sollte ich ihm dann entgegen stellen?
Währenddessen nahm das Prickeln in meinem Körper weiter zu. Fühlte sich mittlerweile so an, als ob Ameisen unter meiner Haut kriechen würden, nicht schmerzhaft, aber ein andauerndes Kitzeln, dessen ich mir immer bewusster wurde, dass immer mehr Raum in meinen Gedanken forderte und sich einfach nicht aus meinem Bewusstsein vertreiben ließ. Und sich schließlich in einen Sog wandelte.
Etwas versuchte mich wieder zurück in meinem Körper zu drängen. Verblüfft forschte ich mit meinem Geist, versuchte herauszufinden, was mit meinem Körper in der realen Welt los war. Aber ich stieß auf eine Mauer, ich konnte keine Verbindung zu ihm aufnehmen. Äußerst merkwürdig.
Wie konnte ich etwas spüren, dass mich in meinen Körper zog und gleichzeitig nicht in der Lage sein selbst in ihn einzudringen?
Es war fast, als hätte ich ihn verloren. Als wäre dieser Sog kaum mehr als ein Phantomschmerz. Eine Illusion meines eigenen Gehirns. Nichts weiter als ein Trugbild.
Bei dem Gedanken überfiel mich nun auch die Panik. Hatte ich mich zu weit vor gewagt?
War es das, wovon meine Lehrer in ihren Warnungen gesprochen hatten?
So sehr ich auch bereit gewesen war, in dieser Welt, bei IHM zu bleiben, so sehr wollte ich nun in meinen eigenen Leib zurück. Ich wusste nicht einmal, ob ich hier überhaupt in dieser Form überleben könnte. Ob ich ohne einen sterblichen Körper in der realen Welt hier eigentlich existierte. Wäre es nicht denkbar, dass ich mich mit dem Vergehen der Zeit nicht einfach auflösen würde, ein Teil des Nebels werden würde?
Und selbst wenn es ginge, wäre ich bereit meinen Clan, meine Familie und besonders Eric aufzugeben?
Der Gedanke an meinen Zwilling zerriss mich innerlich, ich würde es nicht verkraften können ihn nie wieder zu sehen. Ohne irgendeine Möglichkeit zu sein mich von ihm zu verabschieden. Ihm nicht berichten zu können, dass es mir gut ging und das sich alles fügen würde. Das sich einfach nur unsere Wege in unterschiedliche Richtungen entwickelt hatten. Und wie würde es ihm ergehen?
Mit absoluter Sicherheit genauso. Ohne die Gewissheit, dass es mir gut ging, dass ich ihn verlassen hatte, um mit IHM zusammen zu sein und mein Glück zu finden, könnte er diese Tatsache, meine Abwesenheit, nicht ertragen. Er würde an der inneren Zerrissenheit und der plötzlichen Trennung zu Grunde gehen. Sich immer fragen, was aus mir geworden war, ob ich vielleicht noch lebte oder ob er meinen Tod akzeptieren musste.
Wir beide brauchten einander wie die Luft zu atmen, wir waren ein Teil eines Ganzen. Seit dem Mutterleib miteinander verbunden, nie mehr als einen Tag voneinander getrennt gewesen, ergänzten wir uns perfekt. Hatten es schon immer getan.
Selbst jetzt, nach zwanzig Jahren, teilten wir uns immer noch eine Wohnung. Jeder hatte zwar prinzipiell sein eigenes Zimmer, doch wir lebten gemeinsam in ihnen. Abends, wenn wir nach Hause kamen, berichteten wir uns als erstes gegenseitig von unserem Tag. Es kam sogar regelmäßig vor, dass wir gemeinsam in einem Bett schliefen, eng aneinander gekuschelt, die vertraute Wärme des Anderen spürend. Uns gegenseitig Halt in einer Welt bietend, in der wir nur zur Hälfte existierten, immer von unseren Talenten in eine andere Richtung gezogen.
Ég er veturinn...
Die Worte mit dieser dunklen süchtig machenden Stimme rissen mich aus meiner Panikattacke und ließen mir wieder bewusst werden, dass ich mich immer noch in SEINEN Armen befand. Und die ernsthaften aufrichtigen Worte gaben mir Selbstvertrauen. Ließen mich erleichtert ausatmen. Alles würde sich fügen.
Allerdings glaubte ich dies nur solange bis sich der kitzelnde Sog in ein heftiges Ziehen verwandelte. Ich fühlte mich, als ob ich gleichzeitig in tausend unterschiedliche Richtungen gezogen würde, und zwar jedes einzelne Molekül von mir. Unsicher schaute ich an mir herab und meine Furcht war schlagartig wieder zurück. Mein Körper begann sich aufzulösen.
Genauso wie der Greis ein paar Minuten zuvor, begann sich meine hier angenommene Form mit dem Nebel zu vermischen. Solide Haut, kompakte Muskeln und feste Knochen wurden zuerst milchig, begannen dann aber an den Rändern auszufransen und sich mit in kleinen Rauchsäulen mit dem Schleier zu verbinden. Zwar nicht so schnell, auf keinen Fall mit derselben Geschwindigkeit, wie der alte Mann, doch unaufhörlich und stetig verschwanden die einzelnen Gliedmaße meines Körpers.
Vor Bestürzung gelähmt blickte ich zu IHM auf, hoffte, dass er eine Lösung für das Problem parat hatte, doch in seinen Augen spiegelte sich weiterhin mein eigener angsterfüllter Ausdruck. Und während ich ihn noch mit meinen Augen anflehte, mir um Hilfe bettelnde Laute von den Lippen fielen, fuhr der Prozess an meinen Beinen fort und verschlang meine Arme, meine Brust und schließlich auch meinen Kopf.
Erstickend fiel ich in Finsternis, begleitet von weiteren Worten der rauen Stimme.
Hver ert þú?
Hustend und spuckend kam ich wieder zu mir. Nach Atem ringend rollte ich mich auf die Seite versuchte unter krampfartigen Schmerzen gleichzeitig Luft zu holen und das Wasser, das sich in meinen Atemwegen angesammelt hatte, auszuspucken. Heftige Krämpfe schüttelten meinen Leib, mein ganzes Denken richtete sich ausschließlich darauf, den nächsten schmerzhaften Zug in meine gemarterte Lunge zu ziehen, noch einen Moment länger am Leben zu bleiben, wenn auch unter höllischen Schmerzen.
„Daniel…bei den Göttern…Daniel…atmen, du musst atmen…ganz ruhig…lass es einfach über dich hinweg rollen…Ja, genau so…“
Die vertraute Stimme leitete mich durch das Brennen. Die sanfte Hand, die massierend über meinen Rücken und meinen Kopf fuhr, bildete einen starken Kontrast zu dem felsigen kantigen Boden, half mir aber gerade deshalb dabei die andauernden Schüttelattacken zu erdulden. Langsam aber sicher beruhigte sich mein Körper wieder und nachdem die Krampfanfälle schließlich zu einem stetigen Zittern abgeschwächt waren, öffnete ich meine verklebten Augen.
Oder versuchte es zumindest. Schwer fühlten sie sich an, ich benötigte nahezu meine ganze Konzentration für diese kleine Aufgabe. Schwarze Zoppeln, die mir in die Augen hingen, verdunkelten meinen Blick, ließen mich kaum etwas um mich herum erkennen. Blinzelnd und tränend, strich ich mir fahrig unter andauerndem Bibbern die nassen Haare aus dem Gesicht bis ich wenigstens in der Lage war eine schemenhafte über mich gebeugte Figur in einem kleinen höhlenartigen Raum zu erfassen. Selbst das schwache Licht, dass ein paar Kerzen im Hintergrund erzeugten, stach mir in den Augen. Gequält gab ich mich geschlagen, schloss sie wieder und versuchte stattdessen meine aufeinanderschlagenden Zähne in den Griff zu kriegen.
Außerdem war es schweinekalt. Wo mir früher am Abend die Kälte noch nicht wirklich zugesetzt hatte, oder ich sie wegen meiner Trance mehr oder weniger ausgeblendet hatte, schlug sie nun richtig zu. Mein ganzer Körper brannte von den eisigen Temperaturen. Eine extreme Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper, die feinen Haare auf Armen und Beinen hatten sich aufgestellt. Versuchten mir wenigstens etwas Wärme zu spenden, genauso wie meine unkontrolliert zuckenden Muskeln. Angestrengt zog ich meine frierenden Gliedmaßen an meine Körpermitte zusammen, versuchte der Kälte so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.
Jede Stelle meines Körpers schmerzte, ich fühlte mich, wie durch den Fleischwolf gedreht.
Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, jetzt schon etwas einfacher, sah mich mein Gegenüber mit einem besorgten Blick in dem Gesicht entsetzt an. Feuchte Tränenspuren zogen sich von den dunkelblauen Augen zu dem spitzen Kinn hinunter. Das ganze Gesicht war vor Sorge und vergossenen Tränen gerötet, dunkle Augenringe zogen sich durch das ansonsten junge hübsche Gesicht. Nasse schwarze Haare klebten unvorteilhaft an seinem Kopf und vereinzelte Wassertropfen fielen von den Haarspitzen gleichermaßen auf mich und den Boden.
Obwohl mir das Gesicht so vertraut war, dass ich die einzelnen Linien im Schlaf hätte nachzeichnen können, konnte ich ihm momentan keinen Namen zuordnen. Träge wühlte ich die einzelnen Fragmente meiner Erinnerung nach ihm durch. Bis mich die Erkenntnis wie ein Blitz traf. Sein Gesicht war mein Gesicht. Mein Bruder. Mein Zwilling. Eric.
Ich war bei ihm. Oder besser er bei mir.
Dieser Gedanke löste eine ganze Kettenreaktion aus. Einzelne Wörter und Bilder begannen durch meinen Verstand zu geistern.
Imbolc…Zurückgezogenheit…Wasserfall…Schleier…Warnungen…ungutes Gefühl…ER…
„Daniel? Geht es dir gut? Fuck, ich weiß eine Scheißfrage, aber…“
Die Frage riss mich abrupt aus meinen Gedanken heraus und ich wendete mich meinem Bruder zu. Prüfend wanderte sein Blick über mich, betrachtete jeden Zentimeter meiner Haut, suchte vermutlich nach Prellungen, Abschürfungen und anderen Schrammen. Als er seine Musterung anscheinend zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen hatte, wandelte sich sein Ausdruck von drängender Sorge zu vorsichtigen Erleichterung.
„Okay, du scheinst in Ordnung zu sein. Zumindest bis auf ein paar Kratzer. Und das mit der Kälte kriegen wir auch noch in den Griff. Wollen ja nicht das deine Eier abfrieren.“
Ein leichtes Glucksen über seinen eigenen Scherz folgte und ich spürte, wie sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln verziehen wollten. Ich hatte das Gefühl seit Ewigkeiten nicht mehr gelächelt, geschweige denn gelacht zu haben. Und in diesem Moment wir mir klar, wie sehr ich meinen Bruder wirklich vermisst hatte. Ein Kloß begann sich in meinem Hals zu formen und ich musste angestrengt schlucken, damit ich nicht erneut in Tränen ausbrach.
Dennoch konnte Eric meinen Stimmungsumbruch erkennen. Abrupt legte er sich hinter mich. Schmiegte seinen Körper direkt an meinen, Brust an Rücken. Eine weiche warme Decke legte sich über unsere Körper und seine schmalen Arme schlagen sich tröstend um meinen dünnen Leib, seine Beine kuschelten sich an meine und ein warmer Kuss wurde in meinen Nacken gehaucht. Seufzend genoss ich die Wärme, die von seinem Körper auf meinen abstrahlte. In diesem Augenblick glaubte ich noch nie etwas Schöneres als diese kuschlige Hitze gespürt zu haben.
„Hey, das wird schon wieder. Du wirst schon sehen“, ein weiterer Kuss, ein festes Drücken: „Du hast mir wirklich ein Heidenangst eingejagt. Ich…Scheiße…Daniel…tu so etwas nie wieder. Okay? Versprich es mir!“
Wie um seine Worte zu verdeutlichen schlangen sich seine Arme noch fester um mich, machten es mir schwer überhaupt noch Luft in meine geschändeten Lungen zu saugen. Heiß und wütend flüsterte er mir ins Ohr.
„Weißt du überhaupt, wie ich mich gefühlt habe? Ich habe in vollkommener Abgeschiedenheit gesessen und plötzlich gesehen wie du ohne ersichtlichen Grund in das eisige Wasser gewatet bist. Warum hast du das bloß gemacht? Wie blöd muss man sein, um mitten im Winter in einen beschissenen Teich zu waten? Und das nach dem Tag? Du hättest dir doch denken können, das du absaufen wirst!“
Schmerzhaft gruben sich seine Fingernägel in meine Unterarme und ließen bei ihrer unbewussten mich strafenden Aufwärtsbewegung blutige Schrammen in meinem Fleisch zurück. Gequält schloss ich meine Augen und versuchte den Schmerz einfach über mich hinweg waschen zu lassen. Ich konnte mich in diesem Moment einfach nicht dazu aufraffen gegen die unsanfte Behandlung zu protestieren.
Ja, das hätte ich mir wirklich denken können, wenn ich denn überhaupt noch rationell gedacht hätte.
„Ich schwöre dir bei allen Göttern, wenn du nochmal so einen Mist veranstaltest, dann bringe ich dich eigenhändig um, hast du mich verstanden? Du gehörst mir. Mir allein.“
Energisch wurde ich in den Nacken gebissen, bis ich glaubte, dass Eric mir mit seinen Zähnen ein Stück Fleisch aus dem Körper reißen würde. Vorsichtig, aus Angst, dass sich meine Befürchtung bewahrheiten würde, rang ich mir ein kurzes Nicken ab, um ihm zu zeigen, dass ich versuchte seinen Forderungen zu entsprechen. Anscheinend genügte ihm das. Die schmerzhafte Griffe in meinem Nacken und meinen Armen lockerte sich und der angespannte Atem in meinem Rücken strich wieder gleichmäßig und ruhig über meinen Nacken.
„Es tut mir leid, aber du weißt doch, dass ich den Gedanken dich zu verlieren nicht ertragen kann. Und es macht mich einfach stinksauer, wenn ich sehe, wie leichtsinnig du mit deinem Leben umgehst. Das verstehst du doch, nicht wahr?“
Wieder ein Nicken meinerseits.
„Gut. Ich wollte dir nicht weh tun, also nochmal Entschuldigung. Okay? Ist jetzt alles wieder in Ordnung mit uns?“
Erneutes Nicken. Diesmal spürte ich, wie die Anspannung aus seinem Körper sackte. Er sich befriedigt an mich kuschelte und einen besänftigenden Kuss an meinen Hals drückte.
„So…und was ist jetzt passiert?“
Die Frage hallte in mir wieder und ich durchlebte den Abend erneut. Spürte die Verbundenheit der Gemeinschaft des früheren Abends, die Taubheit als ich in die Wellen schritt, die Verwirrung als sich das gewohnte Ritual in ein außergewöhnliches Erlebnis verwandelte. Und die Sehnsucht nach IHM.
Aufgeregt begann mein Herz bei diesem Gedanken zu rasen. Ich konnte mich wieder erinnern. Konnte noch seine kühlen Berührungen spüren, seine Gesicht vor meinem inneren Auge sehen, seinen Geruch in meiner Nase riechen, seine Haut unter meinen Lippen schmecken und seine Stimme in meinen Gedanken flüstern hören.
Zusammen mit denen der anderen Bewohnern des anderen Ortes. Und diesmal konnte ich sie verstehen.
Schaudernd wisperten sie durch meinen Verstand.
Das Schicksal nimmt seinen Lauf...
Nach dem Winter kommt der Frühling...
Die Vögel zwitschern und die Zeit vergeht...
Liebe auf den ersten Blick...
Die Rosen blühen und die Zeit schleicht dahin...
Die Sonne geht unter...
Die Rosen verblühen und die Zeit drängt...
Ein Akt der Verzweiflung...
Schnee fällt vom Himmel und die Zeit ist abgelaufen...
Der Winter ist da...
Das Schicksal nimmt seinen Lauf...
Ich bin der Winter...
Wer bist du?
Eine eisige Faust griff nach meinem Herzen.
Ich zweifelte keinen Moment daran, dass die Worte eine Zukunft voraussagten, die alles an was ich glaubte auf den Kopf stellen würde.
Ich zweifelte keinen Moment daran, dass ich etwas verlieren würde, dass mir unheimlich wichtig war.
Und ich zweifelte keinen Moment daran, dass es nichts gab, um noch etwas an dem Verlauf der Dinge zu ändern.
Ende des ersten Teils
Texte: Mine
Bildmaterialien: Mine, Google, rgbstock
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen Lesern des Adentskalenders gewidmet. Ich sage auf diesem Weg nochmal Danke für die amüsante Vorweihnachtszeit^^