Paula arbeitet in einem dieser Konzerne, von denen du nicht weißt, ob der Sitz der Geschäftsleitung noch in Frankreich oder schon in England ist. Vielleicht hält aber auch mittlerweile ein Unternehmen aus USA die Aktienmehrheit. Möglich auch, dass der Konkurs kurz bevor steht. Paula weiß es nicht, und es interessiert sie auch nicht wirklich. Dieser gigantische Gebäudekomplex aufs platte Feld gepflanzt. Eine abgeschlossene Welt für sich, wenn du nicht zum Schlafen nach Hause gehen müsstest.
"Mensch, Heike, war das wieder ein geiles Wochenende, und jetzt ist schon wieder Montagmorgen!" "Du stopfst dir auch einfach immer zu viel rein. Dein Tag hat auch nur 24 Stunden. Sag mal, ist der Automat schon wieder kaputt? Wo bleibt eigentlich Christine? Die wollte doch heute von ihrem Neuen erzählen."
Um 7:00 Uhr kannst du schon in der Cafeteria einen Latte trinken und später auch, eigentlich immer. Da nimmst du dir eine kurze Auszeit, plauderst mit der Arbeitskollegin mal nicht nur über die Arbeit. Die ist immer recht gut besucht - sieht Paula jedes Mal, wenn sie dran vorbei kommt. Komisch, das könnte sie nicht. Sie weiß nicht, wie die anderen das schaffen. Immer steckte sie bis zum Hals in der Arbeit. Die Ruhe hätte sie gar nicht.
"Tritt doch mal dagegen. Ging gestern auch nicht anders. Wie beim Kopierer oben, der kennt`s auch nur so. Hast ja Recht mit dem Reinstopfen. Aber lieber das, als am Wochenende einsam in der Bude rumhängen."
Mit wem sollte sie sich aber da auch hinsetzen? Anders: Wer sollte sich mit ihr in die Cafeteria setzen wollen? Sie hatte ja nichts zu erzählen. Schwer genug, den Anschluss nicht zu verpassen. Seit Jahren ging sie immer mit Franz, Atze, Manni und Irmgard zum Mittagessen. Immer zur gleichen Zeit, immer um halb zwölf, wenn es keine Besprechungen gab. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass es keinem auffallen würde, wenn sie nicht dabei wäre. Einmal war sie noch kurz vorher auf die Toilette gegangen, und als sie ins Großraumbüro zurückkam, waren die anderen schon weg. Angeblich ging Irmgard davon aus, dass Paula vom Klo direkt zur Kantine käme.
"Hat jemand schon auf den Plan geschaut, was es gibt?" "Hab ich, aber ich sag`s dir nicht. Du guckst ja nicht drauf, um dich überraschen zu lassen. Dann lass dich überraschen." "Lass dich nicht provozieren, Atze. Es gibt Kartoffelgratin und Kaiserschmarrn und für Manni, wie immer, Fleisch mit Pommes." "Ja, red du nur, und in ein paar Jahren stellt sich heraus, dass Pommes viel gesünder sind als Wurzelgemüse. Na, Paula, du nimmst wieder Süppchen und Salätchen? Pass nur auf, dass du nicht mal dermaßen aus dem Leim gehst, bei den Mengen, die du dir rein schiebst." "Lass Paula in Ruhe. Es müssen ja nicht alle so viel verdrücken wie du."
Schnappen, Reißen, kurzes Zermalmen, Runterschlingen: Ekelhaft, wie Manni fraß. Irgendwann hatte sie sich mit seiner Essensverwertung abgefunden, abfinden müssen. Es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Entweder sie saß alleine am Tisch oder mit den Kollegen. Anfangs war es noch schlimmer gewesen. Da hatte sie ihm gegenüber gesessen und das ein oder andere Mal gegen Übelkeit angekämpft. Lange hatte sie das mitgemacht, bis die Kantine auf ihrem Speiseplan außer Schnitzel auch Currywurst anbot: Manni hatte sofort zugeschlagen und sich ordentlich mit Senf eingedeckt. Dann hatte er mit seinen schon leicht verfetteten Fingern nach der Wurst gegrabscht, sie in den Senf gepresst, das Loch unter seiner Nase hatte sich geöffnet und die Wurst war verschwunden. Dabei hatte er geredet und geredet, mit dem Handrücken war er sich über den Mund gefahren, die Finger hatte er schmatzend abgeschleckt. Sie hatte sich so geekelt, wusste sie doch, dass Manni sich nach dem Essen nicht die Hände wusch und sie manchmal in die Wange kniff. Danach hatte sie unter dem Vorwand "öfter mal was Neues" einen allgemeinen Sitzplatzwechsel vorgeschlagen. Es war das erste Mal gewesen, dass Paula auch nur irgendetwas vorschlug, und genau so hatten die anderen sie angesehen. Nach einem kurzen, verdutzten Innehalten hatte ihr Vorschlag Zuspruch gefunden. Seitdem saß Paula nicht mehr ihm gegenüber, sondern neben ihm. Dafür hatte sie jetzt manchmal das Gefühl, ihm schmatz-technisch näher zu sein. Vielleicht steigerte sie sich da aber auch ein wenig hinein. Egal, eine Verbesserung war es allemal. Auch hatte Manni davon Abstand genommen, sie montags "Na, Paula-Mädchen, welche Sau hast du denn am Wochenende raus gelassen?" in die Wange zu kneifen. Vor lauter Schreck hatte sie ihm einmal dabei die Kaffeetasse aus der Hand geschlagen - aus Versehen natürlich. Wie ärgerlich aber auch!
"Eh, Atze, siehst du das, was ich sehe? Unser graues Paula-Mäuschen sitzt in der Cafeteria und schäkert mit dem Neuen aus der Schadens-Abteilung.
Manni hatte richtig gesehen! Paula hat zwar nicht gehört, was Manni zu Atze gesagt hat, aber denken konnte sie es sich allemal. Paula winkt ihnen von weitem zu, um sich dann wieder ihrem Gegenüber zu widmen. Paula war verliebt, und was das Beste war, er schien sich auch in sie verliebt zu haben! Was bei ihm den Ausschlag gegeben hatte, wusste sie nicht. Sie hingegen konnte Ort und Zeit genau benennen: die Würstchenbude auf dem Sommerfest. Am Würstchenstand war sie ihm verfallen. Ab und an hatte auch sie Lust auf eine Currywurst. Das musste dann einfach sein. Da bot sich das jährliche Sommerfest an. Jochen - er hieß Jochen! - hatte gerade seine Wurst in Empfang genommen und sich an den nächsten Stehtisch gestellt, während Paula noch auf ihr Würstchen wartete.
Er hatte sich keinen Senfberg auf den Pappteller geschaufelt, aber durchaus genug, um im Senf zu schwelgen. Und das tat er denn auch. Voller Vorfreude bettet er die Wurst ins Brötchen, nicht ohne darauf zu achten, noch ein großes Ende hervorlugen zu lassen. Das taucht er jetzt in die scharfe Versuchung. Ach, was heißt hier scharfe Versuchung? Für extra scharf hatte er sich entschieden. Jochen wusste zwar, dass es mittlerweile hundert verschiedene Senfsorten gab, von Honig- über Maronen- bis zum Feigensenf. Das mochte ja alles schön und gut sein. Für ihn aber ging nichts über den ganz normalen extra scharfen Senf. Obwohl, einmal hatte er Bärlauch-Senf probiert. Hatte eigentlich gar nicht so schlecht geschmeckt.
Unverschämt wohl geformte Finger tunken das Objekt der Begierde zart in die ockerfarbene Verheißung. Eine gekonnt leichte Drehbewegung aus dem Handgelenk und das Wurstbraun ist rund herum vollständig überpinselt. Die rechte Hand begibt sich auf den Weg zum Mund. Er kommt ihr auf halbem Weg entgegen. Er, das ist nicht irgendein gewöhnlicher Mund: Das sind zwei leicht geöffnete Lippen, die sich rechts und links in kleinen, niedlichen Grübchen treffen und irgendwann beschlossen haben, immer ein klein wenig zu lächeln. Und als sich nun besagte Lippen vollständig öffnen, um das Würstchen zu empfangen, schließt er die Augen….
"Fräuleinchen, was ist jetzt mit der Wurst? Haben Sie noch Bedarf oder soll ich sie dem Kollegen hinter Ihnen geben?", hörte Paula die Stimme hinter dem Tresen.
Manni traute seinen Augen nicht. Unsere kleine graue Maus. Wie hatte sie sich gemausert: Richtig sexy sah sie aus. Neuerdings trug Paula farbenprächtige Röcke, die ihre Hüften schwungvoll umflossen. Die Oberteile verheimlichten nicht länger die Form ihrer Brüste, und die Füße stolzierten jetzt nackt-frech in schicken Pumps.
Paula war Manni direkt dankbar für sein Gefresse. Hatte er ihr doch so ungewollt das Auswahlkriterium für die große Liebe geliefert.
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2008
Alle Rechte vorbehalten