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Ganz unverhofft

Das Kinderkriegen war abgeschlossen. Sie ertappte sich immer häufiger, dass sie die Spätgebärenden beneidete. Überhaupt strahlten die so eine aufgesetzte Glückseligkeit aus, fast schon penetrant. Geburtstagstechnisch hatte die "4“ im Zehnerstellenbereich auch bald ihre Schuldigkeit getan. Ab jetzt würde sich nur noch die Präposition ändern: Vor, während und nach - den Wechseljahren.

Irgendetwas stimmte mit der Heizung nicht. Deshalb hatte sie sich, ja sie konnte es wirklich nicht anders nennen, verkleidet. Nichts, was man hätte der Öffentlichkeit zumuten können. Eine ausgewaschene Leggings mit den obligatorischen Kniebeulen, ein Huddels-T-shirt aus einem anderen Leben, eine zum Stoffjäckchen klein gewaschene Wolljacke und Wollsocken mit dem ein oder anderen Löchelchen. Die Schwiegermutter hatte sie irgendwann mal handgestrickt. Da fiel es ihr eben schwer, mit dem Wegschmeißen. Und weil ihr immer noch nicht warm gewesen war, hatte sie sich den Bademantel übergezogen. So einen würde sie sich heute auch nicht mehr kaufen. Aber damals war der nicht gerade billig gewesen. Und es war nichts dran, warum sollte sie den hier einfach austauschen?

Gerade hatte sie mit ihrer Freundin telefoniert: Deren Dankbarkeit, dass ihr Mann sie verlassen hatte! Hätte sie doch sonst nie Helmut getroffen und mit ihm das wirklich große Glück!

"…Sie sitzt allein im Tanzlokal
Und der Ober zwinkert wie jedes Mal
Die Luft und nicht nur die ist dick
Wieder kommt irgendeiner mit Siegerblick an den Tisch
Greift sich lächelnd ans Doppelkinn
Sie will hoch, doch er meint ihre Nachbarin
Und sie zeigt, wie weh das tut…"

Im Radio lief Milva. Mein Gott, von der hatte sie lange nichts mehr gehört. Ob die überhaupt noch lebte? Das Lied war jedenfalls uralt. Sie stand am Wohnzimmerfenster und schaute in den Garten. Die Sonne hing schon recht tief. Kein Wunder, es war Mitte Oktober.
Das sei hoffentlich das letzte Mal in diesem Jahr, hatte er gestöhnt. Das sei doch noch gar nicht so lange her. Wie immer hatte sie gesagt, dass „noch gar nicht so lange her“ mindestens sechs Wochen her sei. Rituell hatte er widersprochen, als ob sie etwas dafür könne. Ihr eingespielter Satz hatte “Schade, dass wir nicht Plattenbau, neunte Etage wohnen, da hätten wir dieses Problem nicht“ das Stück beendet.
Jetzt widmete er sich seiner Aufgabe langsamen, kräftigen Schrittes.

"…Wieder mal ganz umsonst gehofft
Wieder nichts wie schon so oft
Wann wird sie aus Schaden klug?
Nichts als Selbstbetrug - Selbstbetrug
Wieder mal sich zurecht gemacht
Wieder mal hat es nichts gebracht
Wieder mal die Qual der Wahl
Aber nächstes Mal…"

Sie hatte sich gerade auf ihrer Terrasse gesonnt, als sie zum ersten Mal dieses Lied im Radio hörte. Das war jetzt aber auch schon wieder eine Ewigkeit her. Da waren sie und ihr Mann auch schon lange verheiratet. Damals hatte sie so an sich herunter geschaut, ihre schon etwas ausgeblichene Bikinihose registriert, die allzu nachlässig den Bauch verdeckte, der drei Schwangerschaften hinter sich hatte, die schon wieder recht langen Haarstoppeln auf den Beinen wahrgenommen und bemerkt, dass der Schamhaarbewuchs schon fast wieder die Kniekehle erreicht hatte.
Schlimm, was du für so eine Gelegenheit, die Milva gerade besang, alles an Vorbereitung treffen musst, wenn auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit der ersten intimen Kontaktaufnahme besteht, hatte sie damals gedacht.

"…Sie hatte ihn sofort gesehn
Sein Blick kommt ihr wie ein Lichtblick vor
Der Abend wird wohl doch noch schön
Und sie spürt im Geist seinen Kopf am Ohr
Damenwahl - und dann ist er es doch nicht ganz
Stellt sie fest
Tritt den Rückzug an nach dem Tanz
Und sie sitzt wieder am Tisch - Allein…"

Gerade hatte er zu ihr rüber gelächelt. Ihre Freundinnen liebten ihre Männer in Anzügen, sie liebte ihren im Grobripp-Unterhemd. Das Unterhemd hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Egal, wie sie sich auch bemühte, nach einer gewissen Zeit hatte jede weiße Unterhose und jedes weiße Unterhemd einen Grauschleier, wirkte alt. Seine Jeans hatte sie einfach abgeschnitten. Für den Garten reichte die allemal noch.

"…Wieder Mal ganz unverhofft
Wieder nichts wie schon so oft
Wann wird sie aus Schaden klug?
Nichts als Selbstbetrug - Selbstbetrug
Wieder mal sich zurecht gemacht
Wieder mal hat es nichts gebracht
Wieder mal die Qual der Wahl
Und das Warten auf nächstes Mal
Nächstes Mal…"

Sie fühlte sich mitunter umringt von lieben Soll`s-denn-das-schon-gewesen-sein-Menschen, die ständig Schmetterlinge im Bauch hatten, weil sie nun endlich den ultimativen Partner gefunden hatten, mit dem sie Extremsportarten unternahmen, von deren Existenz sie während der alten Partnerschaft noch nicht mal etwas ahnten; umringt von lieben Menschen, die nur Vorteile in der neuen Patchworkfamilie sahen und die der Neuanfang unbedingt ein Stück weit weitergebracht hatte, wenn auch nur möglich mit riesiger Kraftanstrengung und Disziplin.

Und genau diese Energie, diese Disziplin fehlten ihnen beiden offensichtlich. Seit vielen Jahren lebten sie miteinander und natürlich fragte sie sich schon manchmal in dem ganzen Schöner-neuer-besser-Rausch, ob sie ihn überhaupt noch liebte.
Er zog seine Bahnen, alte, bekannte Bahnen, mit neuer, frischer Energie. Mit Disziplin, denn er war vom langen Alltag schon ein bisschen lädiert und der Jüngste war er ja auch nicht mehr. Den Nacken würde sie ihm gleich noch ausrasieren. So konnte sich ihm ja auch keine Gelegenheit bieten!
Boten sich einem die „Gelegenheiten“ an oder suchte man sie? Das hatte sie sich oft gefragt, wenn mal wieder eine Beziehung zu Ende ging.

"…Wieder mal ganz umsonst gehofft
Wieder nichts wie schon so oft
Einsamkeit ist schlimm genug…"

Mit gleichmäßiger Anstrengung schob er den Rasenmäher über alte Pfade mit frischem Gras; kein neu gesätes Gras, aber immer wieder frisch nachgewachsenes. Er hatte noch ein Weilchen da draußen zu tun. Auch sie würde jetzt an ihren nicht mehr jungen Körper Hand anlegen müssen, enthaarungstechnisch! Und gab es da nicht einen sexy rosa Slip, der auf 30 Grad bestand, und deshalb seine Farbe immer wieder vor ihr verteidigte?

Ihr Geliebter winkte zu ihr rüber. Sie gab ihm einen Flugkuss. Doch! Auch noch nach 25 Jahren liebte sie ihn über alles! Schön, dass sie beide keine Gelegenheiten gehabt hatten. Es hatte sich wohl nie eine ergeben! Oder sie hatten sie immer verpassen wollen.

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Tag der Veröffentlichung: 01.10.2008

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