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Vorwort

Auch wenn die Blätter vom Sturm abgerissen, die Äste abgeholzt und der Stamm vom Lebensbaum gefällt wurde, solange die Wurzeln noch in der Erde weilen, stirbt die Hoffnung nicht, dass frische Triebe im nächsten Frühling sprießen.

Prolog

Schwalben flogen in tiefen Kreisen über die grauen Dächer der Altstadt von Bastia. Vom Meer herkommend wehte eine leichte Brise und am blauen Horizont zogen einige Segelschiffe vorbei. Das Horn einer Fähre ertönte, die in der Hafenstadt im Nordosten Korsikas anlegte.
In dem Südteil der Altstadt, in der Kathedrale Santa Maria, füllten sich allmählich die Reihen. Eine Erinnerungsmesse für einen Untergrundkämpfer der korsischen Befreiungsfront, der bei einem Einsatz ums Leben gekommen war, fand statt.
Der hohe Kuppelbau war von gedämpftem Stimmengewirr der Anwesenden erfüllt, Verwandte und Bekannte des Verstorbenen begrüßten und unterhielten sich leise.
Einige Sänger der patriotischen Gruppe ›I Centauri‹ warteten im Halbkreis links neben dem Altar. Zwei der Sänger, die am hinteren Flügel der Kirche an einer Säule standen, beobachteten das rege Treiben und flüsterten miteinander.
»Was glaubst du, mein Freund, wird deine Fotografin heute wieder erscheinen?«
Der angesprochene junge Mann zuckte mit den Achseln.
»Bis jetzt war sie bei fast allen Konzerten mit dabei«, stellte der ältere Sänger fest.
»Ja, aber das ist kein Konzert, das ist eine Messe, die wir singen. Nicht der richtige Ort für eine Fotografin.«
»Warum bist du nur immer so pessimistisch? Du weißt doch, dass sie für dieses patriotische Wochenmagazin arbeitet.
Deshalb bin ich sicher, dass sie noch kommt. Sie erscheint immer dann, wenn du schon nicht mehr damit rechnest!«
Der junge Mann richtete seine hellblauen Augen ins Weite, atmete tief ein und lehnte den Kopf an die Marmorsäule.
»Komm schon, mein Freund, auch wenn wir heute an einem heiligen Ort singen, auf ein Wunder von da oben kannst du nicht hoffen. Wenn sie kommt, sprich sie einfach an, damit du endlich weißt, woran du bei ihr bist. Es ist wirklich nicht mehr schön mitanzusehen, wie du leidest.« Mitgefühl schwang in der Stimme des Sängers.
»Ich habe schon so oft versucht, sie auf mich aufmerksam zu machen. Natürlich ist mir aufgefallen, dass ihr meine Annäherungsversuche nicht verborgen geblieben sind. Aber nachdem sie ihre Arbeit beendet hatte, ist sie immer sofort verschwunden. Sie hat mir nie die Chance gelassen, sie einmal anzusprechen. Diese vielen Male, die Jahre über. Es hat mir einfach den Mut geraubt. Der Gedanke, sie ist vergeben, oder es ist für sie nur Sympathie und mehr nicht, ist schrecklich. Tony, ich kann nicht mehr.«
»Ja, das weiß ich. Trotzdem, du kannst diesen Zustand nur beenden, wenn du endlich einmal mit ihr redest. Wahrscheinlich wartet sie ja nur darauf! Mein Freund, so gern ich dir helfen möchte, aber diesen ersten Schritt kann ich dir nicht abnehmen.« Tony legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Und da ist noch etwas anderes.«
»Was denn?«
»Francé.«
»Francé, dein Freund, mit dem du zusammenwohnst? Er ist doch eigentlich ein Cousin von dir, nicht wahr? Du kannst ihm dankbar sein, er hat dich zur Gruppe gebracht. Was ist mit ihm? Ist er auch scharf auf sie? Oh, verzeih meine Ausdrucksweise.«
»Nein, er ist nicht an ihr interessiert, er hat überhaupt kein Interesse an Frauen.«
Tony warf seinem jungen Freund einen besorgten Blick zu und zog eine Augenbraue hoch. Dann beobachtete er, wie zwei der anderen Sänger sich in ihre Richtung wandten. Er erkannte Francé, der ihnen ein Handzeichen gab.
»Komm, mein Freund, wir sind an der Reihe.«
»Ja, Tony, wir sprechen später weiter«, antwortete der junge Mann leise.
Sie begaben sich zum Altar und nahmen hinter dem Priester Aufstellung, um ein Voceru, eine korsische traditionelle Totenklage, für ihren gefallenen Mitkämpfer zu singen.
In diesem Moment öffnete sich die rechte Mitteltür. Eine junge Frau betrat leise die Kirche. Sie begab sich in die vorderste Reihe und setzte sich. Dabei machte sie ihre Kamera aufnahmebereit. Dem jungen Sänger warf sie einen freundlichen Blick zu.
Als er sie entdeckt hatte, lächelte er selig. Er setzte kurz mit dem Singen aus und ergriff hinter seinem Rücken die Hand seines Freundes, der sie fest drückte.
Dann konzentrierte er sich wieder auf die Liturgie. Seine Augen schweiften dabei in die Ferne.
Francé und Felice standen am linken Altarrand. Sie beobachteten die Fotografin und den jungen Sänger, der jetzt mit strahlenden Augen in die Kamera schaute und nicht einmal beim Blitzen zusammenzuckte.
»Francé, was ist los mit dir, du starrst deinen Cousin und seine Angebetete so finster an, als würdest du ihnen ihr Glück nicht gönnen«, flüsterte Felice Francé zu.
»Halt dein loses Mundwerk, Felice und lass mich in Ruhe«, zischte ihm dieser wütend entgegen.
Felice grinste und fügte hinzu: »Hast du etwa Angst, ihn an sie zu verlieren?«
Francé antwortete nicht und starrte mit finsterer Miene auf den Altar.
Die anderen Sänger hatten ihren Vortrag beendet und traten vom Altar ab. Francés Cousin und Tony stellten sich auf die Seite, als der Priester vortrat und mit seiner Ansprache begann.
Die Fotografin hatte nun ihre Kamera beiseitegelegt und ihre Augen auf den jungen Sänger gerichtet. Auch er blickte sie an. Mit seinen Augen und seiner Mimik versuchte er, zu ihr zu sprechen.
Der Priester schaute in die Menge.
»Und wieder ist ein Jahr vergangen. Nun gedenken wir deines Todes. Unser Bruder, Freund und mutiger Kämpfer, der du dein Leben für die Freiheit unseres Volkes geopfert hast. Jeder von uns ist von Gottes Gnade abhängig. Der Moment, in dem er uns zu sich ruft, ist unvorhersehbar. Er ist ein Teil seiner Schöpfung, die unser Schicksal ist. Du aber hast in deinem kurzen Leben viel vollbracht. Du hast uns allen bewiesen, dass auch über deinen Tod hinaus deine Botschaft erhalten bleibt.
Auch wenn die Blätter am Baum des Lebens durch das Feuer des Angriffs schon verdorrt sind, auch wenn die Äste und der Stamm gefällt werden, die Wurzeln bleiben erhalten. Sie sind unsere Zukunft. Sie sind die Wurzeln der Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung unseres Volkes.«
Der Priester machte eine kurze Pause, in der ein Kyrie gesungen wurde. Dann hob er die Hände zum Gebet: »Stärke mich, Gott, durch den Heiligen Geist.«
Der junge Sänger schloss die Augen und flüsterte: »Stärke mich, Gott, durch den Heiligen Geist.«
»Gib uns Kraft, dass unsere Herzen stark und von allen unnützen Sorgen und Ängsten befreit werden.«
»Gib mir Kraft, dass mein Herz stark und von allen unnützen Sorgen und Ängsten befreit werde«, flüsterte er.
»Damit wir nicht durch mancherlei Ängste und Sorgen abgelenkt werden, sondern alles in seiner vollkommenen Schönheit sehen. Gib unseren Herzen Mut und Weisheit, damit wir lernen, dich mehr als alles andere zu suchen, zu finden und zu lieben.«
»Gib mir Mut, damit ich lerne, dich zu finden. Denn ich liebe dich schon so lange, so lange.« Er öffnete die Augen und schaut zu der jungen Fotografin hinüber.
Sie hielt seinem Blick stand. Leise flüsterte sie ihm zu: »Gib mir die Kraft und den Mut, dich zu finden und zu lieben.«
Ihre Nachbarin schaute sie tadelnd an.
Der Priester sprach einen letzten Segen, dann verließ er den Altar.
Die Sänger intonierten ein traditionelles Voceru auf den Tod Christi, in dem die reine, klare Stimme des jungen Sängers führte, gefolgt von einem weiteren Kyrie und traditionellen Madrigalen.
Die Fotografin schaute bewegt zu ihm auf, doch er richtete seinen Blick wieder in die Ferne, um sich nicht ablenken zu lassen.
Als sie geendet hatten, verließen die Sänger den Altar und die Kirchengänger erhoben sich.
Die junge Fotografin stand auf, packte ihre Kamera ein und ging auf die kleine Gruppe von Sängern zu, in der ihr Angebeteter stand. Sie lächelte ihn an und reichte ihm die Hand: »Bona Sera. Sie und Ihre Freunde haben diese profanen Gesänge wunderschön interpretiert. Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Er nahm ihre Hand, die sich warm wie die seine anfühlte, und drückte sie sanft.
»Bona Sera, Madamicella, sicher, was kann ich für sie tun?« Er war erstaunt über seine eigenen Worte.
»Ich hatte versucht, Sie über eine Kontaktadresse zu erreichen. Ich habe mindestens fünf Briefe geschrieben. Ich konnte nicht begreifen, dass Sie nicht einmal geantwortet haben. Ich wollte Sie nämlich fragen, ob Sie ein wenig Zeit hätten, um mir einige Fragen für ein Interview zu beantworten, das ich für mein patriotisches Wochenmagazin schreibe.« Sie hielt noch immer seine Hand.
Überrascht schaute er sie an. »Äh, ich habe keinen einzigen Brief bekommen – und ehrlich gesagt, im Moment habe ich sehr viel zu tun.« Er hatte bemerkt, dass Francé sie beobachtete.
»So? Das ist schade. Vielleicht ein wenig später.«
Er trat einen Schritt zurück, als Francé sich zu ihnen gesellte.
»Und – du hast wirklich nicht ein bisschen Zeit – für das Interview?«, hakte sie noch einmal nach. Sie schaute ihm tief in die Augen.
»Nein, Madamicella, er hat keine Zeit. Im Moment ist er sehr beschäftigt. Komm, wir brauchen dich, es gibt noch einiges zu besprechen.«
Sie blickte zu Francé und dann zu dem jungen Sänger. Mit Enttäuschung in der Stimme verabschiedete sie sich. »Na dann, bis zum nächsten Mal.« Sie drehte sich auf dem Absatz herum und schickte sich an, zu gehen.
»Warte!«, rief er ihr hinterher, »wir sehen uns sicher beim nächsten Konzert. Vielleicht habe ich dann Zeit, deine Fragen zu beantworten.«
Sie wandte sich ihm noch einmal zu und nickte. Dann verließ sie die Kirche.
Er schaute ihr einen Moment hinterher.
Francé, der hinter ihm stand, verschränkte die Arme vor der Brust – siegessicher lächelnd.

EINS Wer wagt es, mich zu stören?

EINS
Wer wagt es, mich zu stören?

EINS 1. Am Strand von Aleria

Der Abend senkte sich allmählich über die Insel. Ein leichter Wind brachte die Blätter der Sträucher und Büsche zum Rauschen, die an dem steilen Abhang, der zum Meer hinunterführte, dicht aneinandergeschmiegt wuchsen. Ihre Blüten verbreiteten einen würzigen, süßen Duft, der wie eine Wolke über der von der Sommersonne ausgetrockneten Sandpiste hing, die sich parallel zum Meer verlief. Auf der anderen Seite waren Weinberge, die sich so weit erstreckten, wie das Auge nur blicken konnte.
Hinter einer Kurve des steinigen Weges wirbelte Staub auf. Eine junge Frau fuhr auf ihrem Mountainbike über die Piste, die von großen Schlaglöchern und Querrinnen durchzogen war, sodass die Fahrerin den Lenker ständig verreißen musste, um den Unebenheiten auszuweichen.
Sie musterte mit zusammengekniffenen Augen den noch vor ihr liegenden Weg, ihre Lippen waren ein schmaler Strich. Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Eine feuchte Locke ihres in der Spätsommersonne fast orangerot schimmernden, schulterlangen Haares verklebte ihr fast die Augen.
Ihr Atem ging stoßweise, als sie sich jetzt über die steilste Stelle der Piste quälte. Sie trat heftig in die Pedale und wollte den Gang wechseln, doch die Kette übersprang sämtliche Zahnräder und blieb krachend irgendwo hängen. Die junge Frau musste abspringen und das letzte Stück ihres Weges schieben, wobei sie fluchte.
Ihre Züge entspannten sich ein wenig, als sie in der dichten, dunkelgrünen Macchia die Ruine des ehemaligen genuesischen Wachturms entdeckte.
Ah, ich bin endlich angekommen, dachte sie.
Sie lehnte ihr Rad an einen Strauch, nahm den Rucksack vom Gepäckträger und schaute hinunter zum Meer, dessen Rauschen bis herauf drang. Sie sog die salzige Luft ein. Dann schloss sie mit einem tiefen Seufzer die Augen. Einen Moment lang verharrte sie so.
Schließlich schüttelte sie den Kopf, als wollte sie Erinnerungsbilder vertreiben. Sie packte das Rad an seinem Rahmen, hob es mit einem kurzen, abgehackten Schrei hoch und warf es den Abhang hinunter. Es überschlug sich, als es in die Tiefe stürzte, und blieb an einer Stelle liegen, an der sich schon einiger Unrat angesammelt hatte.
»So, der Anfang ist getan!«, rief sie mit grimmiger Miene und rieb sich die Hände. Sie griff nach ihrem Rucksack und lief einen schmalen, steilen Sandweg hinauf zum Genuesenturm. Kurz vor der Ruine blieb sie stehen. Dann kletterte sie, geschickt wie eine Bergziege, auf den Mauerrand und setzte sich rittlings darauf.
Ihr Blick schweifte in die Ferne. In ihren Augen lagen Traurigkeit und Resignation.
Vor ihr breitete sich in einem weitläufigen Panorama der Diana-Hafen aus. Er war eine von den Römern als Kriegshafen angelegte Lagune, in der jetzt allerlei Meeresfrüchte gezüchtet wurden, die in den an der Küstenstraße liegenden Restaurants angeboten wurde. Auf den Bergen am Horizont hinterließ die untergehende Sonne einen violetten Schein. Die Stille wurde nur von dem gleichmäßigen Rauschen des Meeres und den zirpenden Grillen unterbrochen.
Die junge Frau senkte den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie holte tief Luft und stimmte eine traurige Melodie an. Ihre Stimme klang kräftig, ein wenig rau und melancholisch. Sie passte zu dem Lied, das sie intonierte. Sie sang es in der Sprache der Insel Korsika, auf der sie lebte und die sie liebte.
Sie unterbrach ihren Gesang und wischte sich wütend die Tränen aus den Augen. Ihre Züge wurden jetzt weicher. Der Anflug eines Lächelns umspielte ihren Mund. Doch es verschwand wieder.
Mit einem leisen Schluchzen zog sie die Beine an und senkte den Kopf auf die Knie. Durch ihre Knie hindurch blickte sie auf die Mole zwischen dem Meer und dem Hafen. Die Tränen liefen ihr jetzt über das Gesicht. In dem Schleier vor ihren Augen verschwamm das Bild und vermischte sich mit der Erinnerung.

EINS 2. Aliiiitsche!!!

»Alitsche, das Telefon klingelt, das kann nur für dich sein! Um diese Zeit ruft mich niemand mehr an, es ist bestimmt dein Chef mit einem weiteren Auftrag!«, rief Christine ihr hinterher.
Alicia drehte sich um. Sie war ungehalten und rief Christine, mit der sie das Apartment teilte, zu: »Erstens heiße ich Alicia und zweitens bin ich schon aus der Tür. Geh du ans Telefon und sage, dass ich schon weg bin, denn ich habe heute eine Verabredung mit meinem Schatz nach dem Konzert. Deshalb kann ich heute keinen anderen Auftrag mehr annehmen!«
Christine ging zum Telefon hinüber und nahm mit einem Kopfschütteln den Hörer ab.
Alicia konnte nicht überhören, was Christine absichtlich laut in den Hörer sprach: »Bonsoir, Monsieur Allegrini – ja Alitsch ist noch da – sicher, ich gebe sie Ihnen, einen Augenblick bitte! – Alischteee!«, schrie Christine und kam ihr entgegengelaufen.
Als sie Alicias wutverzerrtes Gesicht sah, entgegnete sie ihr mit scheinheiliger Miene: »Es tut mir leid, aber er sagte, es sei wichtig, und –«
»Du solltest dir angewöhnen, dich um deine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und nicht für mich irgendwelche Entscheidungen zu treffen!«, unterbrach Alicia sie abrupt.
Sie lief zum Telefon und hörte sich mit vor Wut glühenden Wangen an, was ihr Chef zu sagen hatte. Dann knallte sie den Hörer auf.
»Warum hast du das getan? Du hast mir alles verdorben, du dämliche Kuh! Es kommt nicht häufig vor, dass mein Schatz für mich Zeit hat. Und jetzt habe ich einen völlig neuen Auftrag bekommen! Das bedeutet, ich werde ihn heute nicht einmal mehr sehen! Und erreichen kann ich ihn auch nicht mehr. Er denkt dann wahrscheinlich, ich will ihn versetzen. Weißt du eigentlich, was du da angerichtet hast, Christine? Ich könnte dich wirklich –« Alicia ballte ihre Fäuste und wandte sich ab.
Christine war still geworden. Sie entgegnete kleinlaut: »Ich meine es doch nur gut mit dir. Dieser Typ ist nicht der richtige Mann für dich. Er ist doch nur an ein paar Nächten mit dir interessiert, weiter nichts. Für ihn sind Frauen nur Lustobjekte. Du bist so verknallt in ihn, dass du das nicht wahrnimmst. Er hat andere Frauen, denen er dasselbe verspricht wie dir!«
Alicia fuhr herum und schrie: »Hör auf mit diesen dummen Geschichten! Er liebt mich, aber durch seine Arbeit ist er natürlich nicht so frei, wie er sein möchte. Was du da redest, ist völliger Unsinn. Nicht alle Künstler oder Musiker sind so, wie sie das primitive Volk von der Gerüchteküche her kennt. Und er schon gar nicht!«
Christine schüttelte den Kopf. »Arme Alitsch, du bist dem Typen völlig hörig!«
»Und du bist doch nur eifersüchtig! Und außerdem bist du ekelhaft!«
Alicia stieß Christine unsanft beiseite. Sie warf sich die Fotoausrüstung über die Schulter und eilte aus der Wohnung des Apartmenthauses, das in einem kleinen Straßenort an der Westküste Korsikas gelegen war. Sie lief zu ihrem Wagen, warf die Ausrüstung auf die Rückbank und startete reifenquietschend in Richtung Süden.
Ihr Weg führte sie in die Hochbalagne, wo sie bei einem Konzert einer anderen korsischen Gruppe als jener ihres Freundes fotografieren musste. Mit hoher Geschwindigkeit raste sie über die Hauptstraße in Richtung Calvi, bis sie in Lumio in eine Bergstraße abbog.
Sie legte eine Kassette mit der Musik ihrer großen Liebe ein und stellte die Lieder so laut, dass sie ihre eigene Stimme, mit der sie die pompösen Klänge begleitete, kaum noch hören konnte. Der Fahrtwind wehte ihr durch das offene Fenster ins Gesicht, ihre Augen begannen zu tränen.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass sie noch immer auf der Ruine des Genuesenturms am Strand von Aleria saß. Doch ihre Gedanken schweiften wieder in die Vergangenheit.
Sie sollte die Zeitung, für die sie als Fotografin arbeitete, mit den aktuellsten Fotos der Topgruppe beliefern. Denn sie vermochte es, den Sänger in seiner ganzen Ausdrucksstärke auf den Film zu bannen. Durch ihre Arbeit hatte sie ihn kennen und lieben gelernt. Aber von Anfang an war es eine Liebe ohne Hoffnung gewesen, da er nur mit seiner einzigen Liebe lebte, seiner Musik. Denn von den Frauen holte er sich nur Inspirationen für seine sinnlichen, melancholischen Lieder.

EINS 3. Flashbacks

Alle hatten Alicia vor dem Sänger gewarnt. Sie aber war ihm fünf Jahre lang ergeben gefolgt. Sie wollte die Wirklichkeit nicht sehen. Deshalb traf es sie umso härter, als er ihr erklärte, dass es aus zwischen ihnen sei. Seine Familie hatte eine Frau für ihn ausgewählt, die nun von ihm schwanger war, und die er deswegen heiraten wollte. Bis dahin hatte er sich Alicia als Wochenendgeliebte zwischen den Konzerten und Publicity- Veranstaltungen gehalten. Und natürlich war sie seine persönliche Fotografin und seine Muse gewesen.
Alicia lief ein eiskalter Schauer durch den Körper, als sie sich an den Schmerz erinnerte, den sie damals empfunden hatte. Doch es war noch schlimmer gekommen.
Da er eine so gute Fotografin wie sie auch für die anderen Gruppen brauchte, hatte ihr Chef sie also an jenem Abend nach Miro abkommandiert. Denn auch die Leser ihres Blattes gehörten zu der Fangemeinde der Gruppe, die dort ihren Auftritt hatte. Sie wagte sie es nicht, sich ihrem Chef zu widersetzen, weil sie froh war, diesen Job bekommen zu haben. Viele junge Korsen hatten sich um diese Stelle beworben. Als die Auswahl auf sie gefallen war, hatte sie ein ungutes Gefühl gehabt, bei dem Gedanken, anderen die Chance genommen zu haben, Arbeit zu finden. Und sie hatte den Neid und den Rassismus der anderen gespürt und zu hören bekommen: »Die Festländer, die Ausländer kommen hier an und schnappen uns die besten Plätze weg!«
Bei diesen Erinnerungen spannten sich ihre Muskeln an.
Aber auch ich habe korsisches Blut in mir. Nein, ich habe nicht mehr das Recht, daran zu denken. Meine Großmutter ist Korsin gewesen. Nur die Liebe zu meinem Großvater hatte sie veranlasst, mit ihm in seine irische Heimat zu gehen. Meine Mutter war Korsin. Ich aber trage einen nichtkorsischen Namen. Weil mein Vater auf Irland geboren worden war genau wie ich und mein Bruder Chrissi. Doch in meinem Herzen und in meiner Seele bin ich Korsin. Mit all meinem Denken und Fühlen bin ich ein Kind dieser Insel. Sogar gezeugt wurde ich hier, als meine Eltern auf Hochzeitsreise waren. Ich spreche korsisch. Ich liebe dieses Land. Hätte ich mich selbst nur annähernd so geliebt, dann hätte ich vielleicht eine Chance gehabt, glücklich zu werden. Nein, ich habe nicht mehr das Recht, daran zu denken.
Sie schaute auf das Meer und ihre Gedanken wanderten wieder zu dem Abend des Konzerts in Miro. Ich erinnere mich noch ganz genau. Ich hatte mir vorgenommen, meine Arbeit so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, um vielleicht doch noch meinen Freund zu erreichen, der in Miomu am Cap Corse seinen Auftritt hatte. Ich rechnete mir aus, dass ich es gerade noch schaffen konnte, schnell die Bilder zu machen und dann eiligst nach Miomu zu rasen. Obwohl mir mein Chef den Auftrag gegeben hatte, diese Gruppe auf jeden Fall bei ihrem Schlussstück zu fotografieren. Das sangen sie nämlich immer zusammen mit dem Publikum. Aber ich kannte die Gruppe seit Langem und wusste, dass die Sänger nie länger als zwei Stunden auf der Bühne standen. Wogegen mein Freund viel länger auf der Bühne zu bleiben pflegte. Nachdem ich Miro erreicht hatte, stellte ich mit Erstaunen fest, dass die ›I Centauri Cyrnei‹, wie diese Gruppe hieß, schon angefangen hatten. Ich beeilte mich, meine Kamera aufnahmebereit zu machen und mir wurde bewusst, dass ich ihre Musik schon immer sehr gemocht hatte. Das erste Mal habe ich sie zusammen mit Mammona, Papa, Mama und meinem geliebten Bruder auf den ›Ghjurnate di Corti‹ gesehen, dem alljährlich stattfindenden internationalen Festival, an dem Volksgruppen der nationalistisch- autonomistischen Bewegung teilnahmen. Die ›Centauri‹ brachten mit ihren kämpferischen, patriotischen Liedern das Publikum in Wallung. Ich hatte so etwas noch nicht erlebt, auch nicht bei anderen korsischen Gruppen. Ich blickte mich in den Reihen um. Den Zurufen aus dem Publikum nach zu urteilen, scharten sich immer noch die Patrioten um sie. Diese Gruppe war noch einige der wenigen, die mit ihrer Musik appellierten, die in Frankreich inhaftierten politischen Gefangenen freizulassen. Diese hatten sich aktiv für die Freiheit und die Menschenrechte des korsischen Volkes eingesetzt. Sie waren gegen die Übernahme korsischer Unternehmen durch ausländische Spekulanten vorgegangen. Sie hatten sich zum Kampf gegen die Drogenmafia zusammengeschlossen. Dennoch wurden sie von der nationalen und internationalen Presse als »Terroristen« bezeichnet. Nur weil die Außenstehenden weder richtig informiert würden, noch das Interesse bestehe, sich richtig zu informieren, ja, sinnierte Alicia grimmig. Doch dann lockerten sich ihre Züge ein wenig. Sie nahmen einen weicheren, weiblichen Ausdruck an. Alicia dachte so intensiv an jemanden, dass sie ihn fast real vor ihrem inneren Auge sehen konnte. 

EINS 4. Flaschbacks Teil 2

Dann sah ich dich. Nein, ich bemerkte, dass du mich sahst, dass du mich beobachtetest, nachdem ich meine ersten Aufnahmen im Kasten hatte. Ich spürte deine Augen auf mir ruhen. Ich wurde neugierig und fixierte dich mit dem Teleobjektiv. Mir blieb fast das Herz stehen, als mich deine türkisblauen Augen trafen. Wie einen Blitz spürte ich die Bezauberung in mein Herz einschlagen. So stark, dass mir beinahe die Kamera aus der Hand fiel und ich mich abwenden musste, um erst einmal Luft zu schnappen. Doch meine Neugier war groß. Ich sah wieder vorsichtig in deine Richtung. Du standest ganz links außen neben den zehn anderen Sängern. Ich erschrak erneut, als ich nun mit dem süßesten Lächeln, das ich je bei einem männlichen Wesen gesehen hatte, angestrahlt wurde. Ich blieb ernst, obwohl mir auch nach lächeln zumute war. Ich bemerkte die Enttäuschung in deinen Augen und wandte mich ab, da ich mich wie benommen fühlte. Meine Knie zitterten, ich musste mich setzen. So etwas war mir noch nie passiert. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass er sich beim Singen zu mir drehte. Ich spürte seine Augen auf mir ruhen. Ich schaute demonstrativ hinter mich und schüttelte den Kopf, als ich hinter mir niemanden entdeckte. Ich legte die Kamera beiseite, kreuzte die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander und fixierte ihn nun ebenso eindringlich. Dabei fiel mir auf, dass er eine äußerst sympathische Erscheinung war. Er hatte dunkelblonde, kurze Haare, einen Dreitagebart, sehr markante Züge, eine typisch korsische Nase, eine hohe Stirn, ein Kinn mit Grübchen beim Lächeln und schöne, sinnliche Lippen. Er strahlte eine Mischung von Kindlichkeit und Ernst aus. Vor allen Dingen gefiel mir seine Stimme, eine schöne Tenorstimme, etwas rau, sinnlich, mit einem Hauch von Melancholie. Es war eine typisch korsische Stimme, die mir gleich bei dem Paghjella [traditioneller Chorgesang] aufgefallen war, das sie sangen, als ich gekommen war. Ein Gefühl der Vertrautheit stieg in mir auf, als ich sah, dass er ein wenig Ähnlichkeit mit mir aufwies, da auch er etwas zu viel um die Hüften herum hatte. Bei dieser Feststellung musste ich lächeln. Augenblicklich begann er zu strahlen. Das war ein so sonniger Anblick, dass mir das Herz vor Freude in der Brust bebte.
Aber ich beherrschte mich schnell und setzte demonstrativ mein ernstes Gesicht auf. Ich wollte keine Gefühle dieser Art zulassen, warf ihm einen kalten Blick zu und sah, wie er seinen Kopf nach hinten warf. Dann lagen seine ausdrucksvollen Augen wieder in einer fast übernatürlichen Ruhe auf mir. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können: Na, wenigstens ist sie aufmerksam auf mich geworden. Ich schaute ihm fest ins Gesicht. Seine Mundwinkel zuckten und seine Lippen formten sich wieder zu einem sonnigen Lächeln. Seine Haltung zeigte Stolz, was mich ein wenig ärgerte. Ich fing seine Augen mit den meinen ein und dachte: Du glaubst wohl, es ist dir gelungen, mich aus der Fassung zu bringen und es scheint dir auch noch Spaß zu machen.
Er hielt meinem Blick stand. Dann nickte er plötzlich, und mir stieg augenblicklich das Blut in den Kopf. Das darf doch nicht wahr sein, rätselte ich erregt. Wie war es möglich, dass dieser Typ da meine Gedanken lesen konnte? Das war bisher nur einem Menschen erlaubt gewesen – meinem geliebten Zwillingsbruder. Und du da, du hast nicht das Recht einfach so seinen Platz einzunehmen, sandte ich ihm zu. Daraufhin wandte er sich ab und konzentrierte sich auf das Lied, mit dem er nun an der Reihe war. Er bewegte sich in leicht gebeugter Haltung auf das Mikrofon in der Mitte der Bühne zu. Sein Blick richtete sich ins Weite über die Scheinwerfer hinweg, die ihn anstrahlten. Er begann nach der instrumentalen Einleitung durch drei Gitarren, sein Solostück zu singen. Als ich seine zauberhafte Stimme hörte und das Lied, dessen Text ein Voceru auf einen im Kampf um Gerechtigkeit gefallenen Bruder war, schossen mir die Tränen in die Augen. Ich verspürte einen mir so vertrauten Schmerz, der mir die Kehle zuschnürte. Unter Tränenschleiern blickte ich zu diesem Sänger hinauf, der wieder in meine Richtung schaute. Als er mich weinen sah, blieb sein Blick wieder an mir hängen. Ich wandte mein Gesicht ab und wischte mir die Tränen aus den Augen. Zum Glück endete sein Lied bald. Während des tosenden Beifalls betrachtete er mich besorgt. Dann begab er sich wieder an seinen Platz. Ich suchte meine Kamera in der Tasche und machte sie aufnahmebereit. Schließlich war ich nun einmal hier, um zu arbeiten. Während die Zuschauer zusammen mit den Sängern die korsische Nationalhymne ›Dio vi salve Regina‹ sangen, schoss ich einige Fotos. Dann warf ich dem jungen Sänger im Gehen noch einen letzten Blick zu. Er schien mich mit Blicken festhalten zu wollen, schüttelte leicht den Kopf, als ich mich in Richtung des Ausgangs bewegte. Ich ahmte seine Geste nach, schüttelte auch den Kopf, dann drehte ich ihm den Rücken zu. Im Gehen packte ich meine Kamera hastig ein. Draußen fing ich an zu rennen, völlig außer Atem erreichte ich meinen Wagen. Ich warf meine Ausrüstung hinein, stieg ein, legte den Kopf auf das Lenkrad und begann zu weinen und zu schluchzen. Aber ich brachte mich schnell wieder unter Kontrolle, als die ersten Konzertbesucher zu ihren Autos kamen. Dann startete ich und fuhr durch die Hochbalagne an die Küste nach Isola Rossa, um dort bei der Spätschicht unseres Magazins meine Filme abzugeben. Mit Entsetzen stellte ich dann fest, dass ich ganz vergessen hatte, noch zu meinem Freund nach Miomu zu fahren. Es war schon lange nach Mitternacht und ich rechnete mir aus, dass ich ihn nicht mehr antreffen würde. So beschloss ich, nach Hause zu fahren, da ich sehr müde und abgespannt war.
Als ich dann endlich in meinem Bett lag, dachte ich noch einmal über das Erlebte nach. Wahrscheinlich vertrieb sich dieser Sänger seine Langweile zwischen den Einsätzen mit dieser Art von Flirten. Oder ich erinnerte ihn an jemanden, den er kannte. Wie auch immer. Ich war sehr müde.

EINS 5. Hinauf, zurück zu den Sternen TRIGGERWARNUNG SUIZIDGEDANKEN, SELBSTMORDVERSUCH

Als Alicia ihre Augen wieder öffnete, blinzelte sie in die untergehende Sonne. Da begriff sie, dass sie immer noch auf der Ruine saß. Sie rieb sich die klamm gewordenen Hände und massierte ihren eingeschlafenen Fuß. Dann kletterte sie herunter, griff nach dem Rucksack und lief hinunter zum Strand.
Die Wellen schlugen an die Mole, welche die Lagune vom Meer abgrenzte. Am Horizont konnte sie ein kleines Licht entdecken. Eine Fähre, vermutete sie.
Die Sonne war nun hinter den Bergen untergegangen, vereinzelt wurden die ersten Sterne am dunkelblauen Firmament sichtbar. Die junge Frau blieb einen Moment stehen, um der Fähre zuzusehen, wie sie langsam am Horizont vorbeizog. Dann lief sie weiter und ließ sich nahe am Wasser in den feinen Sand fallen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Himmel.
Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Ich frage mich, ob man mich finden wird, und wann. Heute noch? Morgen erst? Oder gar nicht? Vielleicht fressen mich ja auch die Fische auf, aber das dauert. Denn Piranhas gibt’s nicht im Mittelmeer. Einige Katzenhaie, aber die haben bestimmt keine Lust, sich den Magen zu verderben.
»Ja, ja, meine geliebte Selbstironie, die einzige Liebe, die mir noch geblieben ist«, sprach sie jetzt laut.
Eine Sternschnuppe raste durch den Zenit.
»Oh, du schöne Göttin des Himmels, ich habe keine Wünsche mehr.«
Oder doch? Ja, ein wenig Frieden, Glück und Harmonie im nächsten Leben. Oder sollte ich dich lieber bitten, mich in das ewige Nirwana zu geleiten, in die absolute Auflösung?
Was, du meinst, jemand wie ich, der sich so davonstehlen möchte, erreicht es nicht? Dann gönnt mir wenigstens einige Milliarden Jahre tiefen, albtraumlosen Schlaf. Dann könnt ihr mich wieder auf das Folterrad des Schicksals spannen, das man Leben nennt. Sollte ich bis dahin noch nicht ausgeschlafen habe, lasse ich mir von nichts und niemanden vorschreiben, wie ich zu leben habe. Denn was ich nicht will, das will ich nicht. Keiner hat mehr Macht über mich, nicht mal mehr ich selber.
Sie begann plötzlich, schrill und ein wenig hysterisch zu lachen. Doch sie verstummte schnell wieder. Tränen liefen ihr in den Hals, vermischten sich mit der salzigen Luft, die sie tief einsog, und hinterließen einen bitteren Geschmack in ihrem Mund, sodass sie angewidert das Gesicht verzog.
Sie stieß einen lang gezogenen Schrei aus, der an den anliegenden Sandsteinfelsen unheimlich widerhallte.
»Du verfluchtes Leben, verfluchtes Schicksal, ihr Freunde, falsch und hinterhältig seid ihr! Ihr Vampire! Ihr habt mich in diesem Leben klein gekriegt. Aber ich schwöre euch, im nächsten Leben kehre ich gestärkt zurück, um mich an euch zu rächen!« Sie drehte sich auf den Bauch und schrie sich die Seele aus dem Leib. Ihr Gesicht lag im Sand, der zwischen ihren Zähnen knirschte. Sie schlug mit den Fäusten auf den Boden. Dann sprang sie auf, riss sich die Kleider vom Leib und stürzte sich ins Meer.
Still, wie leblos trieb sie im Wasser. Von der Bewegung der Wellen wurde sie hin und her geschaukelt. Dann schlug sie wie wild auf die Wellen ein, als ob sie ums Überleben kämpfte.
Als sie sich ausgetobt hatte, schwamm sie einige Runden und wusch sich den Sand aus dem Gesicht und den Haaren. Sie stieg aus dem Wasser, schüttelte sich und zog sich wieder das T-Shirt über und ließ sich wieder in den Sand fallen. Aus dem Rucksack kramte sie einige Dinge heraus, die sie um sich herum in den Sand legte.
Als nächstes zündete sie eine Kerze und ein Räucherstäbchen an, das kräftig nach Sandelholz roch. Dann nahm sie eine kleine Plastikmineralwasserflasche und eine Flasche korsischen Muskatweins zwischen die Knie. Sie öffnete die Wasserflasche und schüttete den Inhalt eines Tablettenröllchens hinein. Sorgfältig verschloss sie die Flasche wieder und schüttelte sie heftig. Dabei sang sie nach einer, selbst erfundenen, munteren Melodie:
»Senza di tè, ohne dich, ohne dich, habe ich keine Lust mehr. Ohne dich, zu leee-ee-ben! Aber ich werde es dir zeigen, denn ohne mich wirst du auch nicht mehr leben können, ich verfluche dich!«
Dabei schüttelte sie die Flasche. Sie begutachtete den Inhalt und stellte mit Zufriedenheit fest, dass sich die Tabletten vollständig aufgelöst hatten. Nun stellte sie die Flasche vor sich hin und rief: »Oh, du süßer Trank, welch himmlischen Schlaf wirst du mir bereiten! Ich werde dich mit Freude trinken!«
Ins warme Nass werde ich zurückkehren und werde auf ewig dahintreiben. So, wie ich schwamm, bevor ich in diese Welt hinausgestoßen wurde und meiner Mama Schmerzen bereitet habe, die ich ihr nicht bereiten wollte. Niemals wollte ich jemanden verletzen oder ihm Schmerzen zufügen. Aber ich habe es getan. Ich habe euch Schmerzen bereitet, euch, die mich immer nur geliebt haben. Dir Mama, dir Papa, dir, liebe Oma und dir, mein Bruderherz, und dir, mein armer kleiner Kater Xandulian. Oh, mein Bruderherz, ich komme jetzt gleich zu dir geschwommen. Lass uns wieder in Harmonie und Frieden zusammen sein, wie wir es in den ersten neun Monaten unseres Lebens getan haben.
»Nehmt mich wieder auf in euren Kreis, wenn ihr mir verzeiht! Ihr müsst mir verzeihen!«, forderte sie mit überschlagender Stimme. Nun öffnete sie die Flasche Muskatwein, setzte sie an den Mund und trank sie zügig bis zur Hälfte leer. »Ihr müsst mir verzeihen! Seit unserer Trennung habe ich nicht mehr richtig gelebt! Ich bin mit euch zugrunde gegangen! Ich habe nur noch meine langsam verwesende Hülle am Leben erhalten. Nur, um den Schmerz, den ich euch verursacht habe, am eigenen Leibe zu spüren.
Ja, ich habe gelitten. Mein Freund war der Henker meines Schicksals. Er hat mich öffentlich vor allen gedemütigt. Bis aufs Blut hat er mich gequält und mich dann eiskalt fallen lassen.
Ich muss ihm aber dafür dankbar sein, denn sonst hätte ich vielleicht nicht den Mut, das zu tun, was getan werden muss. Diese schöne Welt von einem Parasit wie mir zu befreien!
Ha, ha, und ich bin doch eine Heldin! Denn um diesen Schritt zu tun, braucht man eine Portion Mut! – Und Wahnsinn, aber davon habe ich ausreichend angesammelt in der letzten Zeit.
Nur eines stört mich. Du, der Sänger mit den türkisblauen Augen, ich denke zu oft an dich, sogar jetzt schleichst du dich in meinen Geist – als ob es noch ein Morgen gäbe!
Einen Augenblick lang lächelte sie selig. Dann leerte sie den schweren, süßen Muskatwein bis auf den letzten Tropfen. Die Flasche warf sie mit einem kurzen Schrei in die Brandung.
Erneut brach sie in hysterisches Gelächter aus: »Das verstärkt die Wirkung der Ta-blet-ten!«, lallte sie.
Sie nahm die Flasche mit dem Todestrank in die Hand und setzte sie an den Mund. Dabei starrte sie in den klaren Nachthimmel hinauf.

EINS 6. Des Schicksals Gesandter

Doch auf einmal blickte sie erschreckt auf. Sie stellte die Flasche vor sich in den Sand.
Von der rechten Seite des Strandes drangen Schreie und Motorengeräusche zu ihr. Da waren Lichter, die auf sie zukamen.
Ruckartig setzte sie sich auf und stieß dabei ungewollt die Flasche um, auch die Kerze fiel um und erlosch. »Himmel, noch mal, das darf doch nicht wahr sein. Wer wagt es, mich hier und jetzt zu stören?«, zischte sie zwischen den Zähnen hervor und versuchte zu erkennen, wer sich näherte.
Sie machte einige Personen aus, die rannten. Es sah so aus, als ob zwei Leute hinter jemandem her waren, sie richteten ihre Handscheinwerfer auf einen vor ihnen herlaufenden Menschen. Der Fliehende war von Kopf bis Fuß in schwarze Militärkleidung gehüllt. Er trug eine Strumpfmaske über dem Gesicht. Die anderen beiden identifizierte sie als Gendarmen, die jetzt auf den Flüchtigen anlegten.
»Bleiben Sie stehen oder wir schießen!« Doch der Schwarzgekleidete hastete weiter.
Er hatte sie inzwischen erreicht. Als wäre er gegen eine Mauer gerannt, stoppte er.
Die junge Frau erhob sich vorsichtig aus dem Sand. Sie war inzwischen schon ziemlich betrunken. Ehe sie einen Schritt tun konnte, warf er sich vor ihr auf den Boden, riss sie im Fallen mit sich und zog sie vor seinen Körper. Sie war erstarrt.
Die Gendarmen blieben stehen, als sie die Lage begriffen.
»Keinen Schritt weiter!«, schrie der Maskierte heftig atmend.
»Wie Sie sehen, habe ich eine Geisel! Ich breche ihr augenblicklich das Genick, wenn Sie mir nicht schnellstens Ihre Waffen vor die Füße werfen. Auch die Wagenschlüssel und die Lampen!«
Die Gendarmen blickten sich an.
»Los, ich bluffe nicht! Sie ist tot, wenn Sie nicht machen, was ich von Ihnen fordere!«, schrie er sichtlich nervös. Mit einer für seine harten Worte viel zu weichen Stimme, wie die junge Frau fand.
Ein Gendarm ließ die Pistole sinken und forderte seinen Kollegen auf: »Lassen wir ihn laufen, weit kommt er nicht.« Der andere nickte, dann warfen sie das Verlangte vor die Füße des Geiselnehmers.
Sie spürte, wie der Schwarzgekleidete erleichtert aufatmete. Sein Arm, den er um ihren Hals gelegt hatte, lockerte sich ein wenig. Obwohl er Handschuhe trug, fühlte sie seine Wärme an ihren Körper dringen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Der Mann griff mit einer Hand nach der Pistole, stand auf und zog sie zwangsläufig mit auf die Füße, da er immer noch seinen Arm um ihren Hals gelegt hatte. Dann warf er sie ins Meer, so weit hinaus, dass sie über die Kraft staunte, die er in den Armen hatte. Mit der zweiten verfuhr er genauso.
Sie fand, dass er sie damit hätte umbringen können, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Sich selbst umzubringen ist eine Sache, aber getötet zu werden auf diese Weise, das muss schrecklich sein. Was geht in einem Menschen vor, der einen anderen mit Absicht tötet? Dasselbe wie in mir, die ich aus Versehen getötet habe? Wohl kaum.
Noch ehe sie weiter denken konnte, schrie der Maskierte den Gendarmen zu: »Los, begeben Sie sich ans hintere Ende der Mole! Schnell!«
Sie sah, wie ihr Geiselnehmer zusammenzuckte und sich an seinen rechten Fuß fasste. »Sie sind verletzt?«, fragte sie leise. Er nickte, zuckte erneut zusammen und sank beinahe auf die Knie. Er lockerte ein wenig das Schuhband seines Stiefels, während er die beiden Gendarmen im Blick behielt, die im Licht des Scheinwerfers, mit dem er ihnen den Weg wies, zu dem Ende der Mole rannten. Er erhob sich mühevoll, steckte
den Autoschlüssel ein und nahm sie fest an der Hand.
So gut es ging, eilten sie den Weg hinauf zum Genuesenturm, wo das Polizeiauto stand. Er stützte sich eher auf sie, als dass er sie führte. Noch immer blickte er den Gendarmen nach, die inzwischen das Ende der Mole erreicht hatten. Er flüsterte ihr in einem fast flehenden Tonfall zu: »Du musst mir helfen, hier wegzukommen! Hier, nimm die Wagenschlüssel, du musst fahren!« Seine Stimme klang nicht unsympathisch.
Doch sie reagierte nicht. Halb schob er sie vor sich her auf dem steinigen Sandweg, halb hielt er sich an ihr fest, denn sein verletzter Fuß hinderte ihn erheblich beim Ansteigen des steilen Weges. An der beschwerlichsten Stelle musste sie ihm beide Hände reichen, und ihn über einen Felsblock nach oben auf den festen Weg neben dem Turm zu ziehen. Dann, in der Erinnerung, dass er etwas von ihr verlangt hatte, rief sie ihm zu: »Ich kann Ihnen nicht helfen, es tut mir leid, aber ich kann nicht in diese Welt zurück.«
Auf einmal stürmte alles auf sie ein. Sie begriff, was geschehen war, und schrie ihn an, noch ehe sie das Polizeiauto erreicht hatten: »Wissen Sie eigentlich, was Sie da angerichtet haben?«
Er überhörte ihre Anklage und fuhr sie an: »Sei still, wir haben keine Zeit!« Dabei zog er sie zu dem Polizeiauto. »Du brauchst nur Gas zu geben. Ich spüre meinen Fuß nicht mehr!«
»Ich kann nicht, ich kann nicht!«, schrie sie mit ansteigender Hysterie in der Stimme.
Der Maskierte tat, als bemerkte er ihren Widerstand nicht. Er zerrte sie in den Wagen, packte sie wieder fester am Arm, schüttelte sie leicht und raunte ihr zu: »Du wirst mir helfen! Oder bist du eine Frankreichtreue? Oder eine Gendarmenbraut – oder was ist mit dir los?«
Wütend schaute sie auf das maskierte Gesicht, wollte antworten, doch er kam ihr dazwischen: »Hilfst du mir oder nicht?«
»Ich sagte doch, ich kann nicht!« Sie begann leise zu schluchzen.
Er griff nach einem Paar Handschellen, das auf der Rückbank lag, und legte sie ihr an. Sie ließ es geschehen. Dann, in einem Anflug von Ärger und dem Gefühl der Machtlosigkeit ihrer Sturheit gegenüber, knallte er die Beifahrertür zu und ließ sich, ohne seinen verletzten Fuß zu belasten, in den Fahrersitz fallen. Er riss die Funkanlage heraus und warf sie auf den Rücksitz des Wagens.

EINS 7. Auf der Flucht

Gerade wollte er starten, als sie sich ihm zuwandte und monoton stammelte: »Bringen sie mich um. Auf der Stelle, hier und jetzt.« Leise, kaum hörbar fügte sie hinzu: »Dann habe ich es wenigstens hinter mir.«
Er wandte sich um. Seine Augen verharrten einen Moment auf ihr, dann startete er den Wagen und entgegnete kurz und knapp: »Ich bringe niemanden um und dich schon gar nicht.«
Sie schaute erstaunt zu ihm hinüber.
Trotz seiner Behinderung jagte er den Wagen über die Piste. Sie beobachtete den Mann im Zwielicht. Es blieb ihr nicht verborgen, dass ihn das Fahren sehr anstrengte. Sie hatte das Gefühl, dass er mit seiner Beherrschung kämpfte. Doch er raste weiter, bis Scheinwerfer eines Autos vor ihnen auftauchten. Er stoppte abrupt, als er erkannte, dass es sich nicht um ein Gendarmenauto handelte, riss die Tür auf und sprang hinaus. Dabei zog er sein rechtes Bein hinter sich her.
Er sprach kurz mit dem Fahrer des anderen Wagens, dann rief er ihr zu: »Komm, wir wechseln den Wagen, den freundlichen Angler muss man nicht lange um Hilfe bitten.«
Sie stieg aus. Er kam ihr entgegen, griff nach ihren Händen und schob sie in den anderen Wagen hinein.
Der Angler war in das Polizeiauto eingestiegen und wartete, bis die beiden mit seinem Wagen ihren Weg fortgesetzt hatten.
»So, jetzt sind wir einigermaßen sicher«, sagte er mit ruhiger Stimme und schaute zu ihr. Es schien ihr, als lächelte er ein wenig hinter seiner Maske.
Sie lehnte ihren Kopf auf ihre behandschellten Arme und klammerte sich am oberen Türgriff an. So fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie schloss die Augen und atmete sehr langsam.
Als er sah, dass sie sich nicht rührte, konzentrierte er sich wieder auf das Fahren. Wieder spürte er den Schmerz, der bis zum Knie hochkroch. Beim Durchfahren eines Schlagloches schlug er mit dem Fuß an die Verkleidung des Wagens und seufzte laut auf.
Sie fragte mit einem ärgerlichen Unterton in der Stimme:
»Wo bringen Sie mich hin?«
Aufgeschreckt schaute er sie an. »Das kann ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Miluna Tuani
Bildmaterialien: Werbeagentur meta-physik e.U. www.meta-physik.com Foto im Innenteil: Miluna Tuani
Cover: Hans-Peter Dehn/pixelio.de
Lektorat: Sirius Verlag, Wien
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6334-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für dich, denn du hast mir ein wenig mein Lachen wiedergegeben, das mir so fehlte, wie du mir jetzt fehlst.

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