Vor einigen Jahren starteten wir zu unseren alljährlichen Sommerwanderungen ins Inselinnere.
Ich hatte diese Tradition auch in meiner kleinen Familie beibehalten. Meine beiden Jungs waren schon gut an die Berge gewöhnt, liefen und kletterten ohne zu straucheln; mein Töchterchen wurde teils von mir teils von ihrem Vater auf dem Rückenkindersitz getragen oder im faltbaren Buggy hinter uns her gezogen - sofern es der Weg zuließ. Unser treuer Familienhund Charissi (eine Mischung aus Jagdhund und belgischem Schäferhund) folgte uns brav und passte auf, dass uns niemand zu nahe kam. Jeder hatte seinen Rucksack mit Proviant und allem Notwendigen ausstaffiert und so marschierten wir jedes Jahr ca. eine Woche durch die Berge. In diesem Jahr hatten wir uns vorgenommen, das verlassene Hirtendorf bei Ghisoni zu besuchen. Der Weg führt an dem verlassenen Minendorf nahe der Mine Finosa vorbei in die Höhen des wunderschönen Gebietes zu Füßen des Kyrie Eleison. Zirka drei Kilometer vor dem Dorf Ghisoni muss man eine Brücke über den Fiumorbufluss überqueren. Der Sommer 2003 war ein extrem heißer Sommer, so dass ständig von allen Seiten Blindschleichen von enormer Größe aus der Maquis krochen. Panisch überquerten sie den Weg oder fielen von den Bäumen, da viele badefreundliche Besucher dieses Ortes die Ufer des Flusses belagerten und mit ihrem Lärm und Bewegungen die armen Tierchen in ihrer Ruhe störten. Ab und zu hörte man einen grellen Schrei vom Ufer her, da schien mal wieder eine unwissende Person zu glauben, einer Schlange begegnet zu sein. Doch bekanntlich haben Blindschleichen keine Beiß- oder Giftzähne, nur einen verzahnten Gaumen, wie Eidechsen oder Schildkröten, aber die Großen sind wahrlich erschreckend! Wir hatten schon ein halbes Stündchen ansteigenden Weg hinter uns, als wir an eine Biegung kamen und die Kinder anhalten wollten, um riesige Brombeeren zu sammeln. Die waren hier so süß und saftig, und groß wie Haselnüsse. Also hielten wir im Schatten eines Kastanienbaums an und sammelten eifrig die leckeren, wilden Früchte. Dabei folgten wir einem kleinen Pfad, der uns an einigen verfallenen Häuser Ruinen vorbeiführte, bis zu einem überwucherten Platz in dessen Mitte eine Platane stand. Auf der rechten Seite entdeckten wir einen alten Holzsteinofen, darüber hinaus ragten dunkel die Ruinen der einstmals hohen Steinhäuser auf. Das war ein Ruinendorf, aber nicht das Hirtendorf, welches wir besuchen wollten. Wir schauten uns um, die Jungs kletterten mit ihrem Vater überall rum und ich setzte mich mit meinem Töchterchen unter die Platane. Auf einmal fühlte ich mich eigenartig, mir lief ein Schauder über den Rücken und das bei der Hitze! Ich hörte Geflüster um mich herum, wie Stimmen die von weitem kamen. Ich rief nach den meinen. Sie antworteten, sie seien im oberen Teil und schauten sich noch ein wenig um, Charissi sei mit ihnen. Irgendwie spürte ich Unwohlsein, ein weiterer Schauer lief durch meinen Körper. Ich hatte den Eindruck hinter mir stände jemand. Ich schaute mich um, sah aber nichts und niemanden. Ich sah eine Gänsehaut an meinen Armen hoch und runter laufen und fühlte dann ein eigenartiges Stechen im Kopf. Ich atmete tief durch, nahm mein Töchterchen auf den Arm und rief nach meiner Truppe. Sie antworteten, dass sie bis zur Miene gehen wollten, dessen Eingang sie schon von weiten sahen. Mir wurde immer mulmiger und auf einmal sah ich ein waberndes Flimmern vor meinen Augen - am Eingang der Hausruine mir direkt gegenüber. Mein Töchterchen schlief in meinen Armen, also wollte ich sie nicht durch irgendeine panische Bewegung wecken. Ich blieb wie erstarrt sitzen und schaute auf die Erscheinung. Es war eher eine Lichtform, als eine Gestalt, doch ich vernahm Geräusche und wieder Stimmen in meinem Geist: „Nimm Papier und Feder und schreib, was ich dir eingebe“, hörte ich die Stimme sagen. Ich rieb mir die eiskalte Stirn und den Kopf, doch dann nahm ich meinen Block zur Hand, meinen Kugelschreiber und begann zu schreiben. Das war ja nicht das erste Mal, dass ich eine Eingebung hatte, aber diesmal war es irgendwie unheimlich. Ich schrieb und schrieb und schrieb, dann auf einmal fielen mir der Stift und der Block aus der Hand und ich verfiel in einen wirren traumartigen Zustand. Ich sah Bilder, ich sah dieses Dorf, Männer, Frauen, Kinder, die es belebten. Es schien später Nachmittag zu sein. Auf einmal ertönte ein Riesengeschrei. Berittene und Bewaffnete stürmten mit Lanzen und Feuerwerfern den Dorfplatz, griffen die fliehenden Dorfbewohner an, stachen alle und alles nieder was lebte, metzelten Kinder, Frauen und Tiere ab, dann steckten sie alles in Brand. Die noch Lebenden verbrannten bei lebendigem Leib und ihre Schreie hallten in den beiden Bergen hinter dem Dorf grausig wieder. Anscheinend wachte ich durch meinen eigenen Schrei auf. Ich zitterte, schwitzte und mir war schwindlig, da sah ich meine Drei vom Seitenpfad herüberkommen. «Was ist mit dir, du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen!» rief der Vater meiner Kinder. «Ich glaube, d-das habe ich auch. Ich möchte hier weg, hier ist irgendetwas Fürchterliches geschehen. Lasst uns aufbrechen, hier gibt es Seelen in Unfrieden, ich spüre es, sie haben versucht mich zu kontaktieren und es war überhaupt nicht angenehm. Also wir brechen auf!» - «Und was ist mit unserer Wanderung zum Hirtendorf?» «Wir müssen hier weg, kommt, ich spüre, dass hier Gefahr lauert.» Alle drei schauten mich bedenklich und ungläubig an, aber akzeptierten meine Warnung. So machten wir uns auf den Rückweg, als wir mit Entsetzen feststellten, dass Charissi fehlte. Wir riefen ihn, wir suchten ihn, doch nichts und nirgendwo eine Spur von ihm - mir stieg Panik auf, wir konnten ihn doch hier nicht zurücklassen? Also warteten wir noch ein wenig und suchten weiter. Nach einigen Stunden wurde es dunkel, so beschlossen wir runter zum Auto zu wandern und dort zu übernachten. Morgen wäre er sicher zurückgekommen. Scheinbar hatte er eine Spur von einem Wildschwein, oder einer wilden Katze oder sogar einem Mufflon gewittert, der er gefolgt war. Meine Lieben wollten mich damit beruhigen, aber mir war sehr unwohl, da er das noch nie gemacht hatte. Dann wieder am Auto bereiteten wir eine kleine Mahlzeit vor und als die Kinder schliefen, ging ich im Schein der Taschenlampe meinen Text durch, den ich wie in Trance dort oben geschrieben hatte. Ich glaubte meinen müden Augen nicht, da lag vor mir ein komplettes Exposé, sagen wir mal, einer Fantasy Si-Fi Story in drei Teilen. Ich war mehr als erstaunt ... legte das aber beiseite, da ich mich so sehr um meinen Charissi sorgte und kein Auge zu tun konnte. Ich beobachtete aus dem Fenster heraus den schwarzen klaren Sternenhimmel und mein Auge fiel auf ein flimmerndes Sternchen gen Südosten, das auf einmal in einem Ring zu explodieren schien. Hatte ich da etwa gerade eine Supernova gesehen? Wie ich später aus astronomischen Zeitschriften erfuhr, hatte sich wirklich eine in diesem Bereich ereignet und es war mehr als selten, dass ich sie mit bloßem Auge beobachtet hatte. Meine erste und einzige Supernova Ich schlief dann scheinbar doch noch ein, wachte aber am frühen Morgen schweißgebadet von weiteren Alpträume auf. Nach einem kurzen Frühstück wollten wir uns gerade aufmachen Charissi zu suchen, da kam er uns entgegen gelaufen. Ich erkannte ihn fast nicht wieder. Er wirkte völlig ausgelaugt, abgemagert, wie leer, mit verwirrten ins Leere starrenden Augen, die Zunge lang heraushängend, hechelnd und speichelnd. Er erreichte mich und ehe ich ihn noch in die Arme schließen konnte, fiel er leblos auf die Seite, atmete noch einige mal schwer seufzend und hauchte dann sein Leben in meine Armen aus. Ich war vor Schmerzen wie gelähmt und stand unter Schock. Ich glaubte einfach nicht, was da eben passiert war. Tausende Gedanken surrten mir ihm Kopf herum, dann sagte ich wie in Trance: „Die haben ihn geholt, um eine ihrer irrenden Seelen zu befreien.“ Man starrte mich aus acht Augenpaaren bedenklich an. Die Kinder weinten, ich auch, dann beschlossen wir, ihn dort oben im Dorf zu bestatten, in einem der Häuser gab es so eine Art Außenkellerverschlag. Man brauchte ihn nur zumauern mit Steinen und er hätte ein Grab wie das eines Pharaonen, auf Ewigkeit, das er redlich verdient hatte. Ich ließ es die Jungs mit ihrem Vater erledigen; ich wusste, dass keine Gefahr mehr da oben lauerte ... fühlte mich aber nicht in der Lage, daran teilzunehmen. Erst fünf Jahre später bin ich das erste Mal an diesen Ort zurückgekehrt und habe das erste Mal Charissis Grab gesehen. Ein buschartiger Baum war davor gewachsen, seine letzte Ruhestätte schien unberührt zu sein und der Ort war still und friedlich. Ich spürte keinerlei negative Vibrationen mehr ... doch der Schmerz meinen geliebten Charissi dort verloren zu haben, saß noch immer tief. Wir setzten dann unseren Weg zum verlassenen Hirtendorf fort: Dort oben war es idyllisch, ich spürte keine verirrten Geister und wir verbrachten dort auch die Nacht. Aber es begann so zu gießen, das wir in den Zelten schwimmen konnten, also irgendwie blieb diese Gegend unangenehm, unzugänglich, abweisend... scheinbar, weil dort zu viel unschuldiges Blut vergossen wurde. Das ist eine wahre Geschichte, wer es nun glauben mag oder nicht. Ich war schon immer medial veranlagt, habe mit braven Seelen kommuniziert, aber eine solch verirrte, verwirrte und zerstörerische Seele ist mir nur einmal begegnet und ehrlich gesagt, möchte ich so einer nie wieder begegnen. Im selben Jahr lernte ich eine Person kennen, (sie war auch medial veranlagt) und wir kamen auf diesen Ort zu sprechen. Noch bevor ich ihr erzählte, was ich dort erlebt hatte, berichtete sie mir, dass an diesem Ort viele Personen außergewöhnliche Wahrnehmung gehabt hatten und kurz darauf jemand aus ihrem nahen Familien- oder Bekanntenkreis verstorben war. Sie erklärte mir, dass dies die irrenden Seelen der damaligen Dorfbewohner seien, die von der Armee des damaligen Lehnsherrn im Namen der Kirche und seinen Lakaien abgemetzelt und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, da sie angeblich gesuchte Ketzer in ihrem Dorf versteckt hielten. Charissi war eben mein und unser Schutzgeist gewesen. Er hatte sich geopfert, um uns zu bewahren, das hatte ich jetzt endlich verstanden. Später arbeitete ich dann das Exposé meiner neuen Trilogie aus, das also auf historischen Fakten basiert, dann aber ins Fantasy-Si-Fi Genre umschlägt. Bis heute ist es mir nicht gelungen, die Trilogie vollständig zu überarbeiten. Das Urskript liegt immer noch da und die gesamte Fassung ist in meinem Kopf, irgendwo in meinen grauen Zellen untergebracht. Muss ich erst dort wieder hoch, um sie endgültig aufzuschreiben? Bei diesem Gedanken läuft es mir trotzt allem immer noch eiskalt den Rücken hinunter.
Diese Geschichte existiert in italienischer Version (übersetzt von unserer lieben Korsikafreundin Evelyne Speafico) und ist HIER zu lesen.
CHARISSI
Die Mönchssekte der Ghjuvannali wurde im Jahre 1384 in Carbini (Alta Rocca), im Süden der Insel gegründet. Sie wurde u.a. von dem Franziskanermönch Ghjuvanni Martini geleitet. Zu jener Zeit war die Insel von Hungersnot, Elend und Krankheit heimgesucht, von Ausbeutern und Ausgebeuteten.Die Mönchssekte machte sich schnell Feinde, da sie sich weigerte Steuern zu zahlen, um den Prunk der reichen Herrscher zu untertreiben. Die Ghjuvannali hielten sich vor allem im Süden der Insel versteckt, hatten aber auch eine Hochburg im Norden der Insel, in der Alisgiani-Gegend. Von dort aus verbreiteten sie ihre Thesen: Ihre soziale und religiöse Doktrin basierte auf der Armut und der Schenkung. Das bedeutete für sie, dass sie keine Güter besitzen durften und alles Erstandene mit den anderen teilen mussten. Sie legten sich Bußfertigkeiten auf und praktizierten die Selbstkasteiung, lobpreisten Selbsterniedrigung, Einfachheit sowie Gewaltlosigkeit und verzichteten auf das Sakrament der Heirat. Wichtige Regeln der Ghjuvannali waren beispielsweise das Verbot Menschen, vierbeinige Tiere und Vögel zu töten sowie zu fluchen. Außerdem mussten sie sich der Arbeit verpflichten. Sie lehnten es ab sich von Tierfleisch, Fetten und Milchprodukten zu ernähren, da sie daran glaubten, dass sich in den Tierkörpern die Seelen verstorbener Menschen aufhielten. Wer ein Tier tötete, um sich damit zu ernähren, begab sich also in der Gefahr, einen Mord an einer Engelsseele zu begehen, die in einem Tierkörper Zuflucht gesucht hatte. Auch war es ihnen verboten gegorene Getränke (z. B. Wein) zu trinken.Nach der These von Alexandre Grassi im Jahre 1866, waren die Ghjuvannali oder Giovannali korsische Katharer, die sich von den Franziskanern und den Fraticelli abgespalten hatten. Der Begriff Katharer steht für die Anhänger einer christlichen Glaubensbewegung die sich ab dem 12. Jahrhundert bis zum 14. Jahrhundert vornehmlich im Süden Frankreichs, aber auch in Italien, Spanien und Deutschland verbreitete. Aus diesem Grund wurden die theologischen Standpunkte der Ghjuvannali als absurd und sogar als diabolisch von den Oberhäuptern der Kirche betrachtet. Für die römisch-katholische Kirche stellten sie eine gefährliche und völlig neue Bedrohung dar, da sie erstmals in Europa den Versuch gemacht hatten, eine Gegenkirche zu etablieren und es ihnen regional auch gelungen war. In den Augen der Päpste galt die kathartische Bewegung als Häresie. (Dies ist eine Lehre, die im Widerspruch zur Lehre einer christlichen Großkirche steht und beansprucht, selbst die Wahrheit richtiger zum Ausdruck zu bringen) Deswegen ließ der damalige Papst die Ghjuvannali (fast 20 000 bis 30 000 Menschen) mit einer Armee bewaffneter Soldaten auf der Insel verfolgen und ausmerzen. Der Benediktiner Urban V. erhielt die Exkommunikation aufrecht und sendete einen Legaten nach Korsika. Dieser bischöfliche Kommissar, der von den örtlichen Feudalherren geschützt und unterstützt wurde, organisierte einen heiligen militärischen Kreuzzug in der Gegend von Carbini und an der Ostküste. Im Namen der Kirche wurden von 1363 bis 1364 in Carbini, Alisgiani, Ghisoni und in anderen Dörfern zahlreicher Ghjuvannali massakriert, Frauen, Kinder, Greise und andere Unbewaffnete eingeschlossenen. Manche ließen sich ohne Widerstand abstechen, um zu beweisen, dass ihr Glaube sie stark und mutig machte und sie niemals darauf verzichten würden. Die letzten Ghjuvannali starben auf grausame Weise als Märtyrer bei Ghisoni, am Fuße der Berge Kyrie Eleison und Christe Eleison: Die letzten sechs Ghjuvannali wurden bei lebendigem Leibe dort verbrannt, nachdem die Armee der Ketzerjäger alle Bewohner des Dorfes (das Geisterruinendorf aus meiner Anekdote! Das Geisterdorf der Ghjuvannali) in dem sie sich versteckt hielten, niedergemetzelt hatte. Der Legende nach sollen sie in ihrer Agonie ihren Gott angerufen und die Worte Christi und Kyrie Eleison in den Himmel geschrien haben. Ihre Schreie hallten gespenstig als Echo von den beiden dahinter liegenden Bergen wieder. So hat man diese Berge Christi und Kyrie Eleison genannt. Man erzählt auch, dass aus den Scheiten und den Flammen die die Körper verschlangen, je sechs weiße Tauben aufstiegen und in Richtung der Berge flogen. Dies war eine der dunkelsten Seiten der Geschichte Korsikas. Dies ist auch die Geschichte, die mich zum Schreiben meiner Astreyah Triologie anregte, Astreyah BAND I: "Die gestrandeten Töchter Eleysions" Vorgeschichte, basierend auf diesen historischen Hintergründen. Zur Geschichte: Eine Gruppe von Bewohnerinnen des Planeten Eleysion strandet mit seinem Raumschiff auf dem Planeten Terra - im Mittelmeer - auf einem Hochplateau - im Herzen der Insel Korsika, ungefähr siebenhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung. Die korsische Kultgruppe Canta U Populu Corsu hat ein Lied zum Thema der Ghjuvannali geschrieben Dies iræ, dies illa …), welches sie in ihrem Album „Rinvivisce" veröffentlicht hat.
Texte: Miluna Tuani
Bildmaterialien: Miluna Tuani
Cover: Miluna Tuani
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
allen Korsikafans und denen die es noch werden möchten