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Alicia & Alissaya

Von Miluna Tuani

Leseprobe zu einem Ausschnitt meines Romans „Wurzeln der Hoffnung“ der bald im Sirius Verlag erscheinen wird...

...ich habe diese Naturkatastrophe am Fium-Altu-Fluss im Nord-Osten Korsikas Oktober 1993 live mit erlebt und mich in die Fluten gestürzt, um ein liebes Tier zu retten...




Alicia war mit ihrer Lektüre im Bett eingeschlafen.
In der Nacht wurde sie von einem grollenden Donnerschlag geweckt. Ein Unwetter tobte über den Bergen und die ganze Nacht goss es in Strömen. Auch die folgenden drei Tage regnete es ohne Unterbrechung. Es schien, als würde das Schütten kein Ende nehmen.

Es war inzwischen Ende Oktober. Am frühen Nachmittag, als es doch ein wenig aufgehört hatte zu regnen, beschloss Alicia, den Fluss zu überqueren, um einige ihrer selbst gemachten
Konfitüren auf dem alljährlich stattfindenden Dorffest, von dem sie erfahren hatte, zu verkaufen. Sie belud ihren Rucksack und bereitete alles für den Abstieg vor.Sie musste sehr aufpassen nicht auszugleiten, da die Wege
durch den starken Regen aufgeweicht und matschig waren. Mit Entsetzen stellte sie fest, dass der Fluss auf die doppelte Wassermenge angestiegen war und braun und schlammig dahinrauschte. Sie suchte ziemlich lange, bis sie eine Überquerungsmöglichkeit fand. Es gelang ihr, das Wasser über einen dicken, gefallenen Baumstamm balancierend zu überqueren, der sich verklemmt hatte.

Von Weitem sah sie schon, wie Lucrezia ihr mit winkenden Armen entgegengelaufen kam. »Alicia, was für ein Glück, dass du kommst! Wir haben eine Katastrophenwarnung von der Feuerwehr erhalten! Die Regenfälle sollen andauern und der Fluss kann immer mehr ansteigen! »Also dann schnell ins Warme, dieses Wetter ist wirklich widerlich.«
Lucrezia schob Alicia ins Haus und sie setzten sich vor den Kamin, um die kalten Hände aufzuwärmen. Dann bereitete Lucrezia heißen Tee. Auf einmal riss eine gewaltige Sturmbö die Haustür auf. Die beiden Frauen sprangen auf und eilten zur Tür. Mit Entsetzen sahen sie, wie die Wassermassen anstiegen waren und sich bereits einen Weg in Richtung der Ställe bahnten. Der Fluss war völlig über sein Ufer getreten, das schlammige, braune, schnell fließende Wasser überschwemmte das ganze Gelände. Dann wurden Laternenpfähle umgerissen. Ein Kurzschluss entstand, und die Beleuchtung vor und in dem Haus fiel komplett aus. »Wir müssen die zurückgebliebene Stute ihrer Tochter ins Haus holen, sonst wird sie in Panik geraten!« - »Ja Alicia, lass uns herausgehen!«
»Nein, lassen Sie mich das erledigen. Außer zu Serena hat die Stute nur zu mir Vertrauen! Wir würden sie nur unnötig ängstigen zu zweit.«
»Nun gut, aber sei vorsichtig, der Strom ist reißend und gefährlich.«
»Keine Angst, ich passe schon auf.«
»Hier zieh dir das Regencape über und nimm die Lampe mit.«
»Ja, bis gleich!«
»Pass auf dich auf, mein Kind«, rief ihr Lucrezia hinterher.
Dann ging sie ins Haus und suchte nach Streichhölzern, um Kerzen anzuzünden.

Alicia watete durch das strömende Wasser zu den
Stallungen. Sie entdeckte die Stute, die ängstlich wieherte und schnaubte, weil sie das Wasser rauschen hörte. Alicia näherte sich ihr vorsichtig und sprach sanft auf sie ein. Als die Stute sie erkannte, wieherte sie ihr freudig zu. Alicia tätschelte ihr beruhigend den Hals. »Komm, meine Hübsche, hab keine Angst, ich bringe dich in Sicherheit, du musst mir nur folgen, einverstanden?«
Das Pferd schaute die junge Frau mit seinen braunen, gutmütigen Augen an.
»Komm meine Schöne, folge mir ganz langsam, es wird alles gut.« Alicia zog die Stute vorsichtig nach draußen, wo der Strom jetzt noch mehr Fläche eingenommen hatte. »Alissaya,
wir müssen da durch, komm habe keine Angst, sei mutig, folge mir und dir wird nichts passieren.« Die Stute blähte angstvoll die Nüstern. Alicia musste sie ziehen, damit sie sich in Bewegung setzte. Sie wateten einige Schritte in Richtung Haus, als Alicia ein lautes Krachen hörte. In der Nähe war ein Nussbaum entwurzelt von den Wassermassen worden und umgestürzt. Das Pferd geriet in Panik, riss sich los und galoppierte davon. Das schlammig braune Wasser spritzte auf von seinen Hufen. Das durchgegangene Pferd näherte sich der Stelle, an welcher der Strom am reißendsten war. Lucrezia stand am hinteren Fenster und beobachtete mit Schrecken das Geschehen. Sie sah schemenhaft, wie Alicia dem Pferd hinterher stürzte und immer weiter in Richtung des tosenden, aus dem Bett geratenen Flusses rannte. Sie öffnete das Fenster und brüllte: »Alicia, komm zurück! Lass sie laufen! Es ist zu spät! Du kannst sie nicht 1 mehr einholen! Riskiere nicht dein Leben für ein Tier! Komm zurück, um Himmels willen, komm zurück!« Alicia watete immer tiefer in den Strom hinein. Er wurde immer reißender und sie schaffte es kaum noch, dagegen anzukommen. Sie rief der Stute beruhigende Worte zu, die zwar langsamer geworden war, aber noch nicht stehen blieb. Alicia spürte einen dumpfen Schmerz am Bein, als ob sie gegen einen Stein gestoßen war. Sie atmete heftig und spürte ihre Kräfte schwinden.
»Alissaya, komm zurück, bleib stehen! Ich kann nicht mehr.« rief sie verzweifelt. Das schlammige Wasser reichte ihr schon bis an die Brust und sie watete noch einige Schritte weiter.Dann schaute sie sich um. In der Dunkelheit und dem Dunst sah sie nicht einmal mehr, in welcher Richtung sich das Haus befand. Vor ihr, neben ihr und hinter ihr floss reißendes, ansteigendes, kaltes Wasser. Sie spürte Panik aufsteigen,zwang sich aber, ruhig zu überlegen, wie sie sich aus dieser Situation befreien könnte. Sie versuchte, an einem der entwurzelten Bäume Halt zu finden und schaffte es mit viel Mühe, sich an seiner knorrigen
Wurzel hinaufzuziehen, die etwa einen Meter aus dem Wasser ragte. Erschöpft und völlig außer Atem klammerte sie sich oben an, bis plötzlich ein Schnauben zu ihr drang. Sie sah, wie die Stute zu ihr herwatete. »Alissaya, komm mein liebes Mädchen! Wir müssen zusammen versuchen, das andere Ufer zu erreichen. Ich sehe den Elektrizitätspfeiler auf der anderen Seite. Wir sind so nah, also haben wir den Hauptstrom schon überquert! Wir müssen nur schaffen, dort
hochzukommen. Dann nehmen wir den Weg, der hinten herum zum Castellu di Mimosa führt. Alissaya, komm, wir haben es fast geschafft.« Sie kletterte von der riesigen Wurzel herunter und rutschte ins Wasser, das ihr fast bis zum Kinn reichte.Dann bemühte sie sich, festen Fuß in dem schlammigen Grund zu fassen. Sie spürte ihr verletztes Bein kaum noch, doch sie wusste, dass sie kämpfen musste, wenn sie überleben wollte. Sie biss die Zähne zusammen und zog die Stute in Richtung der vom Strom ausgewaschenen Uferböschung hinauf...

Miluna Tuani


Impressum

Texte: c Miluna TuaniAusschnitt aus meinem Roman"Wurzeln der Hoffnung"
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2010

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