"Du hast von deinem Adventskalender ja noch gar kein Türchen aufgemacht." Ihre Stimme kommt aus der Küche.
Er sitzt im Wohnzimmer: "Hmmm" – zu leise.
Dann lauter: "Ja." Er blickt kurz auf, nach links oben an die Decke. "Keine Lust auf Schokolade heute."
"Ich meine, noch gar keins." Jetzt kommt ihre Stimme näher. Sie steckt den Kopf durch die Wohnzimmertür. "Noch gar keins."
"Ich weiß." Jetzt sieht er in die Fernsehzeitung. "Ich sollte ihn mit ins Büro nehmen", sein Blick wandert zu ihr. "Da meistens, nachmittags, da brauch' ich Schokolade." Er lächelt.
"Dann nimm ihn doch mit", wieder aus der Küche.
"Hmmm." Diesmal lauter.
Die Fernsehzeitung. Nur Quatsch heute abend. Aber irgendwas muss ja angemacht werden. Eine Serie? Was sieht sie gerne? Er überlegt – und es ist ihm tatsächlich peinlich, dass er es nicht weiß.
Natürlich, da ist diese eine Serie, die mag sie. Aber die läuft erst Mittwoch. Und sonst?
"Ich meine, ist ja schon der 18. Und die sind alle noch zu."
"Was?"
"Der Kalender."
Sie müssten Kinder haben, dann wäre das Problem gelöst. Hier, ihr könnt meinen haben, würde er sagen. Und die Kleinen würden sich freuen. Über jedes einzelne kleine Stück dieser Scheiß-Schokolade.
Nur noch eine Woche bis Weihnachten. Dieses intensive Datum. Dieses haltlose Zurückgeworfen werden auf die Menschen, die man liebt – oder lieben müsste.
"Kommst du?" Aus der Küche. Das Essen ist fertig.
Kopfdrehung zur Tür: "Sofort!"
Die Fernsehzeitschrift, da muss doch was sein. Aber da ist nichts. Nicht unter der Woche.
Er legt sie neben sich aufs Sofa und steht auf. Auf dem Weg zur Küche fällt sein Blick in den Spiegel. Noch volles Haar, aber bleiches Gesicht. Etwas zu viel Bauch, sonst noch gut in Schuss.
Die Küche. Seine Frau sitzt am Tisch.
"Kartoffeln?"
"Es läuft nichts. Ja, aber nur drei."
"Was läuft nicht?"
"Heute abend. In der Glotze – nichts. Typisch."
"Das läuft nicht", das hatte sie damals gesagt. Als er sie fragte, ob sie mit ihm ausgehen wollte.
Unbeholfen, unsicher, verliebt bis über beide Ohren hatte er sich getraut und hatte sie, die Unnahbare aus seinem Kurs gefragt.
"Es muss ja auch nichts laufen, wir können auch nur Essen gehen." Damals hatte er sich auf die Zunge gebissen. Als stünde auch nur irgendetwas etwas anderes im Entferntesten zur Debatte. Sie lachte. Sie hatte ihn durchschaut. Es war aber auch zu einfach. Er war zu einfach.
Der Versuch einer Korrektur: "Äh... ich meine ... wir gehen nur essen, mehr nicht. Ist doch klar." Das Blut schoss ihm ins Gesicht.
Jetzt lächelte sie und sagte: "Wo?"
Gab es noch mehr Blut? War das möglich, dass er noch roter wurde? Er spürte, wie ihm die Röte über die Wangen auf seinen Hals, seinen ganzen Körper zuwogte. Eine große Welle Peinlichkeit, die auf seiner Oberfläche, der Haut, nichts zu suchen hatte. Er konnte nicht mehr zurück, musste da durch. Was war ihre Frage gewesen? Wo. Nachdenken – verdammt nochmal, er hatte sich doch alles zurecht gelegt. Etwas zu lange musste er überlegen. Dann fiel es ihm ein: "Inder?" (Sicheres Terrain, gutes Essen, teuer, genau richtig.)
"Indisch?" Machte sie eine Pause? Er zerbrach sich in Sekundenbruchteilen den Kopf über Alternativen – was wäre die nächste Option?
"Okay." Sie lachte. "Indisch ist super."
Das war zu schnell für ihn. Er war noch bei den Ausweichrestaurants: "Oder Griechisch? Da können wir draußen sitzen." Noch während er das sagte, schallt er sich einen Narren. Was sollte das denn? Sie hatte doch schon ihr Okay gegeben.
Er war noch sehr jung und unerfahren – aber das war sie auch. Nur wusste er das damals noch nicht. Schweiß tropte ihm unbemerkt aus den Achselhöhlen den Arm herunter.
"Nein, indisch ist klasse. Gute Idee." Lob! Aus ihrem Mund. Noch roter? War das biologisch möglich? Seine heißen Wangen drohten zu platzen. Er grinste blöde.
"Sehr gut", sagte er, als wäre ihr "gut" ihm nicht gut genug. Aber das bermerkte er vor lauter Nervosität selbst nicht mehr.
"Morgen dann?"
"Morgen abend."
"Bis dann."
"Bis dann."
Er drehte sich um und ging ohne ein Wort. Ließ sie einfach stehen – und fühlte sich erlöst, glücklich, befreit und gut.
Am nächsten Tag im Büro, so gegen vier, verflucht er, dass er seinen Adventskalender nicht mitgenommen hatte. Was würde er jetzt für ein paar Stücke Schokolade geben?
Soll er zum Automaten gehen, der unten neben der Cafeteria steht? Oder einen Kaffee holen und rauchen? Aber es stinkt so im Raucherzimmer, und wer weiß, wer schon drinsitzt.
Es wäre aber auch zu lächerlich, wenn er – ein erwachsener Mann – mit einem Kinderkalender ins Büro käme. Unzufrieden arbeitet er weiter.
Irgendwann – wieviel Zeit ist vergangen? – klingelt das Telefon:
"Ja, heute noch." – Pause. – "Geht klar." Auflegen. "Scheiße." Inventur. Jetzt. Im Weihnachtsgeschäft. Denen fällt echt nichts besseres ein. Gerade jetzt.
Wieder Telefon. Nicht schon wieder. Genervt: "Ja?"
"Ich bin's."
Wütend überlegt er, wer 'ich' sein könnte. Warum sagen die Leute am Telefon nicht ihren Namen? Das ist so eine dumme Junge-Leute-Marotte. Was spricht gegen die gute alte korrekte Höflichkeit?
"Ha-llo?"
Es ist seine Frau- Ach so. "Hallo. Sorry, ich hab grad den Kopf voll."
"Klar. Ist schlecht gerade?"
"Geht schon." Sein Blick wandert durch das Büro. Keiner achtet auf ihn. Gut.
Wieder er: "Okay."
"Du, auch nur ganz kurz: Kannst du heute abend noch eben was mitbringen?"
"Ja, klar."
"Sorry, wenn ich gerade störe." Warum fing sie jetzt schon wieder davon an? Hatte sie das nicht gerade schon gesagt?
"Was denn?" Das "Was" kommt etwas zu laut.
"Wenn's nicht geht, geh ich schnell selber, ich dachte nur, weil du am Supermarkt vorbeifährst."
"Was denn?" So klingt es besser. Versöhnlicher. "Was soll ich mitbringen?"
"Nur Milch."
"Okay."
"Ach, und wenn sie das noch da haben, die hatten letzte Woche diese Adventkränze zum Stecken. Kuck doch mal, ob die noch da sind."
"Nur kucken, ob die noch da sind? Oder auch mitbringen?"
Kälter: "Ich wollte nicht stören. Dann geh ich schnell selbst"
"Nein! Ich fahr ja sowieso da vorbei. Wenn die noch da sind, bring ich die mit. Sonst noch?"
"Das war's."
"Okay." Er möchte auflegen, aber sie lässt ihn nicht: "Alles okay bei dir?"
Ein Angebot. Er möchte es annehmen. Aber wie?
Er wünscht sich Kaffee, Zigarette und Schokolade – Bingo. Das ist es:
"Ich wünschte, ich hätte deinen Adventskalender mitgenommen."
Ehrliche Verwunderung: "Warum?"
"Ich bin unterzuckert", das sollte ein Witz sein.
"Stimmt, der ist noch ganz zu. Du hast ihn nicht mal angerührt."
Das hatte sie gestern schon gesagt.
"Weil ich zu Hause keine Schokolade will."
"Aber im Büro?"
"Genau." Kurz, knapp. Das sollte reichen. Das muss er nicht vor Publikum ausbreiten. Mittlerweile gucken die Kollegen rüber zu ihm.
"Ich meine ja nur, ist schon komisch."
"Nein", jetzt musste er es am Telefon erklären, im Büro, vor allen Leuten.
Vor allen Leuten soll er ihr sagen, dass er diesen Adentskalender braucht.
"Der ist super. Ich hab mich total gefreut. Aber..." Aber was?
"Aber – " das war ihm jetzt zu blöd. "ist echt ein super Kalender. Punkt. Ich muss jetzt hier weitermachen. Milch und diesen Kranz. Okay?"
"Ja", jetzt war sie sauer.
Soll sie doch! Ist doch nicht meine Schuld. Ich muss jetzt arbeiten, damit ich der Familie essen auf den Tisch bringen kann.
Sie wieder: "Ich geh schon selber. Du brauchst das nicht zu holen."
Er: "Was denn jetzt? Ich hole die Sachen doch..."
Sie: "Nein, ich gehe."
Er: "Warum denn das jetzt?"
Sie: "Wenn du nicht willst..."
Er: "Aber ich gehe doch..."
Sie: "Nein."
Er (kopfschüttelnd): "Okay."
Sie: "Gut."
Er: "Ja... dann..? Ich muss jetzt auch wieder weitermachen. Inventur..."
Sie: "Tschüss!"
Er: "Tschüss"
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2008
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