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"Pass auf, die Pfütze", rief Hanna und packte Britta am Arm. Es regnete. "Du musst hören, wenn ich was sage." Britta, sechs Jahre alt und unsicher, nickte. Dabei verzog sie ein Gesicht, als ob sie gleich heulen müsste. Aber sie heulte nicht. Sie war ein großes Mädchen.
Britta ging zur Schule und konnte schon lesen. Sie wusste, dass Jungen doof sind, und sie wusste, wie ein Auto funktioniert, denn das hatte ihr Papa mal erklärt. Wenn sie nicht mit Mama einkaufen musste oder in der Schule war, spielte Britta mit ihren Puppen Mutter-Vater-Kind. Die Mutterpuppe stand im Kaufladen und die Kindpuppe gab ihr alle bunten Packungen aus den kleinen Regalen der Puppenstube. Manchmal spielte sie auch Dornröschen. Dann musste der Prinz die Prinzessin befreien. Und hinterher durfte er die Prinzessin küssen. Das wusste Britta aus dem Fernsehen. In Wirklichkeit würde sie natürlich nie einen Jungen küssen. Erst viel später, wenn sie groß war, also richtig groß, so wie Mama und Papa, dann würde sie auch einen Prinzen heiraten.
Wenn sie es sich richtig überlegte, wollte sie nur heiraten, nicht küssen.
Britta sah auf zu ihrer Mama. Mama sah gut aus, fand sie. Das wusste Britta auch, weil Papa es immer sagte. Der fand Mamas Haare immer ganz toll und ihre Augen. Und manchmal, wenn Britta nachts, wenn sie Angst hatte, in das Bett von Mama und Papa schlüpfte, dann spürte sie, dass Mama und Papa sich lieb hatten. Sie waren eine Familie, und sie gehörten zusammen. Es ging ja auch gar nicht anders.
"Träum nicht", sagte Hanna als sie die Straße überqueren wollten. Sie warteten, bis die Autos vorbeigefahren waren. Dann gab Britta Mama die Hand, das war sicherer.

Es war schon dunkel, als sie im Wohnzimmer saßen und Papa kam.
Papa sagte zu Mama Hanna und Mama sagte zu Papa Bill. Eigentlich hieß Papa Wilhelm, aber das hörte er nicht so gerne. Papa arbeitete in einem Büro, wo er Autos verkaufte. Er musste immer schicke Anzüge anziehen, wenn er aus dem Haus ging.
"Hast du getankt?" fragte er beim Reinkommen und gab Hanna einen flüchtigen Kuss. "Wieso? Musst du noch weg?" Er zog sich die Schuhe aus, sie waren klamm. "Du weißt doch", er machte eine Pause, weil das Schuhband verknotet war. "Mist. Alles nass." Er blickte hoch. "Du weißt doch, dass ich heute abend noch mal weg muss." Wieder der Knoten. Endlich auf. "Wie war's in der Schule, Schatz?" Er besah seine Socken. Sie waren nass.
"Gut?", sagte Britta. „Na, prima“, sagte Bill.
Dann ging er ins Bad und zog die Tür hinter sich zu.
"Sag mal, kann Zahnpasta eigentlich schlecht werden?" Keine Antwort.
Mit Schaum vor dem Mund zog Bill die Tür auf: „Ob Zahnpasta eigentlich schlecht werden kann...“
„Ich weiß nicht“. Hanna lachte in der Küche. „Wieso?“ rief sie.
„Die hier riecht schon so komisch. Und es steht auch gar kein Datum drauf.“
„Da gab’s bestimmt mal eins. Das haben wir nur eingewickelt.“ Britta lief ins Bad. „Hier, Papa.“ Sie wickelte die aufgerollte Tube auseinander. „Da, ganz unten, manchmal.“ Britta suchte, fand aber kein Datum, nur einen Strichcode. Bill lächelte und streichelte seiner Tochter über den Kopf. „Sollen wir neue holen?“ fragte Britta. „Nein, die ist bestimmt noch gut“, sagte Bill, blickte in den Spiegel und putzte weiter.
In der Küche angekommen sah er, dass sie mit dem Abendessen auf ihn gewartet hatten. „Oh Mann, das tut mir leid!“ Bill schlug sich mit der Hand vor den Kopf. „Aber ich muss doch gleich wieder los.“ Britta fragte enttäuscht: „Bist du wieder da, wenn ich ins Bett muss?“
„Ich glaube nicht, Schatz.“ Bill nahm seine Tochter in den Arm. „Bis später, muss jetzt los...“


An einer Tankstelle hielt er an. Es regnete immer noch, und ein Ölfilm verwischte die Lichter, die sich auf dem nassen Boden spiegelten. Er fühlte sich schmierig. In einer Woche war Hannas Geburtstag, und er war auf dem Weg zu Maria.
Nicht daran denken. Tanken. Zahlen. Fahren.
Die Tropfen klatschten frontal gegen die Windschutzscheibe. Die Wischer taten sich schwer, den ständigen Ansturm von immer neuem Wasser abzuwehren.
Maria: seine Kundin einst, geschieden. Probefahrt mit einem Wagen aus seinem Autohaus. Bill auf dem Beifahrersitz, Maria unsicher. Sein Arm auf ihrem Arm. So fing es an. Und so ging es weiter:
Er rief sie an. Anrufbeantworter. Bill sagte ein paar Worte. Maria rief zurück. Hanna ging ran. Bill sagte damals: "Nur eine Kundin." Hanna genügte das, sie vergaß. Bill vergaß nicht. Die Telefonate wurden heimlicher. Bill rief vom Büro aus bei ihr an, konnte danach nicht weiter arbeiten. Dann tauchte er eines Tages bei ihr auf. Sie ließ ihn herein und sie redeten, und irgendwie -- er konnte nicht erklären, was es war, er wusste nur noch, dass es geschah, und dass irgendwo im Hintergrund, an diesem Abend, etwas zerbrach wie Glas, wie Eis, das zerschellte -- küsste er sie beim Abschied in der offenen Tür.
Es wurde kein Abschied. Bill blieb die erste Nacht bei Maria.
Maria hatte kurze schwarze Haare, sie war zierlich und auf den ersten Blick vielleicht sogar unscheinbar. Ihr Kopf schien ein bisschen zu groß für den kleinen Körper.
Übertrieben laut knallte Bill die Wagentür zu. Der einzige Parkplatz, den er fand, war weit von Marias Wohnung entfernt, so dass er eine Weile durch den Regen laufen musste. Eine große Pfütze: „Mist“. Er rannte weiter.
Endlich: Ihr Name auf einem von 24 Namensschildern. Regen tropfte von seinem Finger, als er fest die Klingel drückte.
Maria sagte nichts, als sie ihn hereinließ. Wortlos fanden seine Lippen ihre. Noch auf der Schwelle streifte er sich seine Schuhe ab. Er machte sich nicht die Mühe, die Knoten zu öffnen. Ihre Hände fanden seinen Gürtel, seine Hände zogen an ihrem T-Shirt. Es ging sehr schnell.

Danach ging Maria ins Bad. Das war eine ihrer Eigenarten, die Bill nicht mochte.
Genausowenig, wie wenn sie über Hanna sprach, denn Maria schien seine Frau zu mögen, obwohl die beiden sich nie kennengelernt hatten.
Er lag in Marias Bett, nahm sich eine Zigarette und hörte durch die offene Tür, wie Maria die Dusche anstellte.
Warum fiel es ihm so schwer, Hanna die Wahrheit zu sagen? Vielleicht, weil sie diese Wahrheit nicht verdient hatte? Hanna, da war er sich sicher, war die beste Frau, die er haben könnte. Und sie war seine Frau. Seit über fünf Jahren. Sie waren glücklich. So glücklich, wie man eben sein kann mit ein paar Schulden und einer nicht geplanten, aber schließlich doch gewollten Tochter. Nur die Liebe war weg.
Er liebte Maria. Aber konnte sie je seine Frau werden? Mit allem was dazu gehörte? "Verdammt", er hatte sich an der Zigarette die Finger verbrannt. Hastig suchte er nach einem Aschenbecher. Aber da war keiner.
Noch immer hörte er das Wasser aus dem Bad rauschen. Bill stand auf, die Kippe in der Hand, ging ins Badezimmer und fand Maria unter der Dusche vor. Er zog den Vorhang beiseite.
"Ich finde keinen Aschenbecher", sagte er und hielt die Zigarette hoch. Maria, nackt, nass, sah ihn an. "Nimm das Klo", sagte sie.
Er reagierte nicht, sah sie an, saugte sich an dem Bild fest, das sie ihm bot. Dabei fühlte er sich wie ein kleiner Junge, der zum ersten mal etwas Verbotenes tut, der heimlich durch ein Loch in die Mädchenumkleidekabine schielt und dabei erwischt wird.
"Das Klo", wiederholte sie und nickte mit dem Kopf in Richtung Toilette. Bill klappte den Deckel hoch, warf die Zigarette hinein und zog ab.
"Jetzt komm schon", lachte sie und berührte seinen Arm.
Als er zu ihr in die Dusche stieg, achtete er darauf, dass er nicht ausrutschte.


Der Regen weckte Britta. Es war sieben Uhr morgens, und ein neuer Tag. Die langen Bindfäden-Regentropfen warfen lange Schatten durch das Fenster in ihr Kinderzimmer. Sie hatte letzte Nacht nicht aufgeräumt. Ihre Puppen lagen wild verstreut auf dem Fußboden.
"Mama, Papa", rief sie laut und stürzte sich auf das Bett der beiden. Bill öffnete die Augen. "Meine Kleine", grunzte er schlaftrunken und nahm sie in den Arm. Hanna rollte sich, noch halb im Schlaf, zu Bill. Ihre Arme umschlossen liebevoll seinen Hals. Bill, nun von Britta und Hanna umarmt, wand sich sanft, so sanft er es konnte, aus der Umklammerung.
"Heute kommen Opa und Oma, und Mama kriegt Geschenke!" Britta war laut, und Hanna lächelte, die Augen noch geschlossen. Bill wälzte sich aus dem Bett. "Alles Gute zum Geburtstag, Schatz", murmelte er. "Mmmh", antwortete sie, die Augen immer noch geschlossen. Britta war schon in der Küche und begann, den Tisch zu decken. Um Hannas Teller legte sie eine kleine Girlande aus buntem Papier; die hatte sie selbst gebastelt. Bill war gerührt, als er die armselige Dekoration sah, die zwischen Brot, Cornflakes, Wurst und Marmelade unterging. "Wunderschön hast du das gemacht", lobte er pflichtschuldig und streichelte seiner Tochter über den Kopf. "Mama wird sich freuen." Dann setzte er sich, nahm ein Messer und schnitt das Brot an. "Wir müssen doch auf Mama warten", tadelte ihn Britta. Ertappt. Bill legte reuevoll das Brot zurück. Dann kam Hanna.
Ihr Haar, sonst schwarz und glatt, hing ihr wirr ins Gesicht. Der Schlaf stand ihr in den Augen, und sie trug Bills Hemd, ihr viel zu groß, das sie noch im Bett angehabt hatte. Es war verknittert, wie ihr Gesicht. "Morgen", grüßte sie in die Küche und hielt sich die Hand an den Kopf. "Hast du Kopfschmerzen?" fragte Britta. Hanna nickte mit sparsamen Bewegungen. "Dann mach ich mal Kaffee." Bill stand auf. Etwas zu schnell, wie er fand. Er drehte den beiden den Rücken zu, holte Filtertüten, die mit Aufklebern übersäte Kaffeedose, Wasser, Knopfdruck.
"Wann bist du gestern eigentlich gekommen?" Hanna fand die Girlande. "Danke, Liebling. Du hast ja wirklich an alles gedacht." Britta war stolz.
"Gestern abend, meine ich."
Bill holte die Milch aus dem Kühlschrank. "Britta, magst du Kakao?" Er drehte sich um. Britta schüttelte den Kopf, sah ihn dabei aber nicht an, sie hatte einen Krümel gefunden, den sie wegschnippen wollte. "Wo warst du gestern Nacht?" Hanna blickte ihm in die Augen.
"Du hast doch heute Geburtstag, und da ...", Bill machte eine Pause, überlegte, was er weiter sagen sollte. Doch Hanna kam ihm zuvor: "Ach so, verrat nichts." Sie lächelte.
"Ooh, Geschenk", Brittas Stimme hob sich beim 'Ooh'.
Danke, Britta, dachte Bill, aber er sagte es nicht. "Natürlich", sagte er erleichtert. Seine Gedanken fuhren Karussell. Er hatte es vergessen.

"Standardmodell, drehende Platte, verschiedene Hitzeinstellungen, eingebaute Uhr, auftauen, garen, kochen ohne Vitaminverlust ... ", der Verkäufer ratterte die lange Liste der Vorzüge des Modells ab, die er auswendig gelernt hatte. Bill hörte nicht richtig zu. "... drei Jahre Garantie." Das überzeugte ihn. Der Verkäufer, in billigem Anzug mit Krawatte, genau wie Bill, tippte gelangweilt in die Kasse.
Es war das alte Ritual, seit Jahrtausenden von Männern durchgespielt. Die Beute erlegen und sie nach Hause tragen. Das Prinzip blieb das gleiche. Die Jagd fand woanders statt, was blieb war das Geld, Faustpfand für die Beute, die heute eingeschweißt im Supermarkt für ihn bereit lag.
Bill verscheuchte den Gedanken, dass sich Hanna über das Geschenk vielleicht nicht freuen könnte.
Die Mikrowelle, gepanzert in ihrem Karton, schaukelte gefährlich auf dem Rücksitz, als könnte sie jeden Moment hochgehen. Bill wünschte sich, sie würde explodieren, um ihn zu erlösen. Doch er wusste, dass er sie von nun an täglich sehen würde.


Es war ruhig im Haus, als Hanna mit den Vorbereitungen begann. Sie schnitt Baguettes in kleine Scheiben und legte sie in einen dürftig dekorierten Brotkorb. Zu einer Käseplatte stellte sie ein Glas mit Oliven und einen Bund Trauben. Nudeln lagen im Sieb um zu erkalten. Hanna nahm sich einen Apfel. Sie schälte ihn, schnitt einige braune Stellen heraus, zerteilte ihn und ließ die Stücke in eine Plastikschüssel fallen. Sie wiederholte die Handgriffe mit Birne, Banane, Orange und Kiwi. Dann träufelte sie Zitrone darüber, fertig.
Britta kam aus ihrem Zimmer. "Kann ich helfen, Mama?"
"Ja, Schatz. Du kannst schon mal die Gläser ins Wohnzimmer bringen." Etwas unsicher nahm Britta das Tablett, brachte aber die Gläser unbeschadet zum Tisch, der ausgezogen und mit einer Tischdecke belegt im Zimmer nebenan stand.
Als sie zurück in die Küche kam, fragte sie: "Darf ich schon was von dem Obstsalat haben?" Hanna blickte in die Schüssel, die nur halb voll schien. "Nimm dir lieber noch einen Apfel."
"Okay."
Umständlich stellte Britta das Wasser an und schrubbte den Apfel. Dabei blickte sie ernst. "Das reicht", lächelte Hanna, als sie sah, wie ihre Tochter sich abmühte. Britta nahm sich ein Küchentuch und trocknete den Apfel sorgfältig ab. Dann beobachtete sie kauend ihre Mutter dabei, wie sie die Nudeln unter kaltem Wasser schwenkte.
Ein Klicken an der Tür. "Das ist Papa", rief Britta und rannte aus der Küche.
"Hallo, Schätzchen", flüsterte Bill verschwörerisch in der Haustür. Er kam nicht herein. Stattdessen winkte er Britta zu sich. "Wo ist Mama? In der Küche?" Britta nickte und blickte mit großen Augen auf das Paket, das Bill neben der Tür versteckt hatte. "Dann geh doch mal zur Mama und pass auf, dass sie nicht guckt, wenn ich das hier reinbringe."
"Okay", Britta rannte zurück zu Hanna. "Du sollst nicht gucken, wenn Papa reinkommt. Der hat nämlich ein Geheimnis für dich." Wieder biss sie in den Apfel.
Hanna blickte auf die Uhr. In einer Stunde würden Bills Eltern kommen.
Sie musste noch den zweiten Salat machen und sich dann umziehen. "Dann warten wir doch, bis Papa alles gut versteckt hat." Beide hörten, wie Bill die Tür zum Schlafzimmer öffnete und keine Minute später wieder herauskam.
"So, das hätten wir", Bill grinste schelmisch, als er hereinkam. "Hast du auch nichts verraten, mein Engelchen?" Britta schüttelte hastig den Kopf. Dann gab Bill Hanna einen Kuss. "Später, wenn die anderen da sind."
"Kannst du den Salat fertig machen? Ich zieh mich noch schnell um." Bill öffnete den Kühlschrank, und es wurde ein bisschen heller. "Klar", sagte er und nahm sich ein Bier.


Bills Vater räkelte sich im Fernsehsessel, Esther, seine neue, junge Frau hockte auf der Lehne zu seiner linken, während Hanna, Bill und Britta sich um den Tisch gruppierten. Die Männer hielten sich an Bierflaschen fest, für Esther hatte Hanna Wein besorgt.
Bill stand auf. "Dann will ich mal eben was holen." Er zwinkerte Hanna zu und ging ins Schlafzimmer.
"Ich will aufmachen", rief Britta und lief ihm hinterher.
"Da bin ich ja mal gespannt, was das ist." Esther lächelte verkrampft. Es war ihr erster großer Auftritt auf dem Familienparkett. Bill trug die Maschine, eingepackt in Geschenkpapier, ins Zimmer. Hanna wusste, dass sie jetzt lächeln musste. Was für ein Monstrum, dachte sie. Britta rief: "Ich pack aus! Ich pack aus!" Ihre kleinen Hände griffen nach dem bunten Papier und rissen daran.
"Mach's auf", sagte Hanna zu ihr. Sie lehnte sich zurück, um Britta mehr Platz zum Auspacken zu geben. Bills Vater beugte sich im Sessel vor, setzte sich seine Brille auf und stierte auf das Paket. Esther nahm einen schnellen Schluck Wein, als sie sah, dass Hanna die letzten Papierfetzen zur Seite zog.
"Mann", Hanna wusste nicht, was sie sagen sollte. "Das ist ja ein Riesengerät."
"Total praktisch", erklärte Esther hastig. Aber zu früh, denn die Mikrowelle musste erst noch aus der Verpackung genommen werden. Britta war schnell gelangweilt. Noch während Bill den schweren Kasten mit der Styroporverkleidung aus der Pappe hob, ging sie zurück zu ihrem Platz. Das war jetzt wieder Erwachsenensache.
Das weiße widerspenstige Styropor hinterließ überall kleine Kügelchen auf dem Tisch, die sich zwischen zerfetztem Geschenkpapier, Plastikfolie und Pappkarton festsetzten.
Irgendjemand stellte die Frage: "Und was kann man alles damit machen?" Alle Augen richteten sich auf Bill. Nervös dachte er an die Worte des Verkäufers heute Vormittag. Doch er konnte sich nur noch an die drehende Scheibe erinnern.
"Wenn man Negerküsse reintut, dann platzen die voll lustig auf", wusste Britta. Liebe wallte in Bills Brust auf, als er die Worte seiner Tochter hörte. "Und kein Metall in die Mikrowelle", fügte Esther hinzu. Sie kannte sich aus. "Kochen, garen, auftauen, heißmachen. Für Tiefgekühltes und Kuchen.“
"Können wir's jetzt mal ausprobieren?" fragte Britta.
"Morgen, Schätzchen", versprach Hanna.
"Ich kann sie schnell in der Küche anschließen", bot Bill an. "Geht ganz einfach, nur den Stecker rein."
"Bitte, Bill. Morgen." Hanna versuchte, einzelne Styroporkügelchen von ihrer Hose zu wischen, doch die Biester blieben wie kleine Magneten an dem Stoff hängen.
"Mama, ich will das aber mal sehen."
"Komm schon, Hanna. Die Sache ist in einer Minute gegessen." Bills Vater stand auf. "Komm mit, Britta, wir gucken uns das jetzt mal an." Er winkte Bill, mit in die Küche zu kommen.
"Na gut", fügte sich Hanna. "Sehen wir's uns mal an."
Bill räumte auf der Arbeitsplatte in der Küche eine Stelle frei, die ihm geeignet schien. Er schob die Kaffeemaschine zur Seite, um Platz zu schaffen. "Stell sie doch lieber oben ins Regal", bat Hanna. "Da steht sie nicht so im Weg."
"Ist ja nur für heute abend", beschwichtigte Bill und stellte den Apparat auf die Platte. "Hier ist die Steckdose. Da brauch ich kein Verlängerungskabel."
Das Telefon klingelte. "Ich geh schon, ist bestimmt sowieso für mich." Hanna ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie das Telefon neben den Fernseher gestellt hatte. "Hallo?" Klick.
Sie legte auf und ging zurück. "Wer war's denn?" wollte Bill wissen, der gebeugt über der Mikrowelle stand. "Keiner, aufgelegt."
Esther verschwand hinter den Küchentisch. Der Raum war nicht groß genug, um alle an dem Schauspiel teilhaben zu lassen. Britta durfte ganz vorne stehen.
"Was tun wir denn rein?" fragte sie. Bills Vater hatte eine Idee: "Wie wär's mit Glühwein?"
Hanna dachte kurz nach. "Ich glaube, wir haben noch welchen im Wohnzimmer."
Bill, der die Mikrowelle mittlerweile angeschlossen hatte, ging nachsehen. Im Schrank fand er nur Rum. "Der geht auch", dachte er und griff die Flasche.
Wieder Telefon. "Ich geh schon", rief er den anderen zu. Dann leiser: "Hallo?"
"Bill?"
"Ja."
"Ich bin's. Nur ganz kurz, ich weiß, dass es ungünstig ist. Ich bin drüber."
"Das geht jetzt nicht." Bill wollte es nicht hören. Nicht heute.
"Hör zu. Es ist nicht sicher. Ich wollte es dir gestern nicht sagen, aber es ist jetzt fast eine Woche."
"Morgen im Büro."
"Ich wollt's dir nur sagen."
"Also, bis morgen dann." Er legte auf. Lauter als nötig rief er: "Die Werkstatt. Die haben im Büro keinen mehr erreicht." Seine Hand, die die Flasche Rum umschloss, war schweißnass. Wurde ihm übel?
Er ging in die Küche. "Zum Grog machen." Er hielt die Flasche wie einen Schutzschild hoch. "Kalt genug ist es ja draußen." Sein Vater übernahm die Flasche. "Was wollten sie denn?"
Ja, ihm wurde übel, das spürte er jetzt ganz deutlich. Etwas ätzte sich seinen Weg durch die Kehle nach oben. Bill schluckte. "Ist was nicht in Ordnung?" Die Stimme seines Vaters.
"Nein, mir geht's gut."
"Das glaube ich. Ich meine in der Werkstatt. Was wollten sie denn?"
"Ach so. Nichts. Morgen im Büro." Das hatte er schon mal gesagt. Hatte er sich verraten? "Probiert sie schon mal aus", lächelte er die Familie an. "Ich muss mal eben aufs Klo."
Er zog sich zurück, machte die Toilettentür hinter sich zu und sah sich im Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Säure stieg in ihm auf wie Quecksilber in einem Thermometer, das an eine Lampe gehalten wird. Sein Gesicht verschwand aus der Blickfläche des Spiegels, runter zur Kloschüssel. Er musste kotzen und hoffte, dass die anderen ihn nicht hörten.


Hanna nahm eine Tasse aus dem Schrank. "Vielleicht sollten wir es erst mal mit Wasser probieren", schlug sie vor. Esther wusste es besser: "Hast du nicht was im Kühlschrank, was du auftauen kannst? Spinat oder Fleisch?" Das Telefon klingelte wieder.
"Ich will aber nichts auftauen", gab Hanna gereizt zurück. Esther hob die Hände. "Schon gut, schon gut." Hannas Kopfschmerzen kamen wieder, schlimmer noch als am Morgen. Es klingelte weiter, niemand ging ran.
"Jetzt lass sie mal machen, Liebes", beruhigte Bills Vater seine neue Frau.
Esther wollte nett sein: "Nimm doch einfach irgendwas, Hanna. Ist doch egal. Herrgott, will denn keiner ans Telefon gehen?"
"Ja, Mama", Britta schlug einen weinerlichen Ton an. "Irgendwas. Ich will nur gucken, wie's funktioniert." Es klingelte weiter.
Hanna gab auf. "Macht das alleine. Macht was ihr wollt. Ich seh's mir morgen an." Sie ging ins Wohnzimmer, ließ das Telefon klingeln.
"Bist du verrückt?" Bills Vater sah seine Frau an.
Esther: "Wieso ich? Du hast doch damit angefangen. Du hast der Kleinen versprochen, ihr diese ver ... ihr diese Mikrowelle zu zeigen." Britta fing an zu heulen. "Ihr seid doof", rief sie unter Tränen und rannte zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Esthers Zetern in der Küche brach ab und das Telefonklingeln erstarb.
Für einen kurzen Moment herrschte Ruhe, nur unterbrochen durch Brittas zarte Schluchzer. Hanna konnte die Regentropfen auf der Fensterbank hören.
Der Schöpflöffel aus dem Nudelsalat lag auf der Tischdecke. Dicke Fettflecken durchzogen den Stoff. Brotkrümel lagen herum, und Hanna entdeckte Lippenstift auf Esthers Weinglas. Die Styroporkügelchen hatten auf Brittas Pullover übergegriffen.
Sie nahm ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und wischte Britta durch das Gesicht. "Schon gut, Schatz. Jetzt probieren wir Mamas Geschenk mal so richtig aus."
Stille herrschte in der Küche, als Hanna mit Britta an der Hand zurückkam. Wortlos füllte sie eine Tasse mit Wasser und stellte sie auf den Glasteller in der Mikrowelle. Sie blickte zu den anderen. "Und jetzt?"
Das war Esthers Stichwort: "Probier drei Minuten." Hanna fasste den Knopf, auf dem halbrund Zahlen von Null bis zehn, dann in kleineren Abständen 20, 30 und 40 geschrieben standen. Sie drehte ihn, bis die 3 an einem Markierungsstrich erschien.
"Jetzt den Knopf da unten", deutete Esther mit lackierten Fingernägeln. Es schien ganz einfach.
"Ich will", rief Britta und drückte den Knopf.
Wie wenn man den Kühlschrank aufmachte, ging ein Licht in der Mikrowelle an. Nur ein leises Summen war zu hören, als die Tasse begann, sich fast gleichmäßig zu drehen. Hanna hatte sie nicht genau in der Mitte plaziert, so dass sie eine elliptische Bahn zog, wie Planeten, die um die Sonne kreisen. Wie Planeten, die auf ihrer Jahrtausende alten Bahn, sich langsam näher kommen, sich gegenseitig anziehen und wieder auseinander driften, so dass wir Menschen am Himmel Sterne sehen, die sich scheinbar berühren, hell erstrahlen, um sich dann wieder zu trennen. Fachleute sprechen von einer Konjunktion. Der ewige Kreislauf des Universums.
"Pling." Das Licht ging aus, das Summen hörte auf.
"Ist es schon vorbei, Mama?"
"Wollen wir doch mal sehen." Hanna drückte einen weiteren Knopf. Sachte sprang ihr die Tür entgegen. Hanna griff hinein, berührte die Tasse und zuckte zurück. "Mist", fluchte sie. "Heiß", und zog ihre Hand zurück.
Esther warf sich in Pose. "Siehst du, funktioniert!"


Durch die Tür hört Bill das 'Pling'. Seine Zeit war gekommen. Jetzt musste er erwachsen werden.
Verantwortungsvoll, wie ein Mann, der tut, was er sagt, wie die Kerle im Film, in den Western, mit dem Rücken zur Wand, nur noch eine Kugel im Magazin. Bill war Hauptdarsteller in seinem eigenem Leben geworden
Er hörte Hanna: "Ich seh' mal nach Bill", sagte sie. Ihre Stimme klang dumpf durch die Tür. "Bill? Alles in Ordnung?" Die Klinke! Hatte er abgeschlossen? Dieser kleine Luftschutzbunker seiner Feigheit; war er dicht?
"Bill, was ist los?" Säfte fanden sich wie Ameisen, tummelnd, wimmelnd in seinem Magen. Sein Körper zuckte. Es musste alles raus. Sein Mageninhalt, die Wahrheit. Es war an der Zeit: Er musste auf die Bühne, das Publikum wartete. Er öffnete die Tür und das gnädige Dämmerlicht auf der Toilette verwandelte sich in gleißende Scheinwerfer. Hanna blickte ihn besorgt an.
Sein Auftritt: "Mir geht's gut, danke, Schatz." Das war ein anderes Stück, nicht sein Text. "Hab wohl was falsches gegessen. Aber jetzt ist es raus."
"Soll ich dir einen Tee machen?" Hanna musste lächeln bei dem Gedanken: "Ich habe in der Küche gerade heißes Wasser."
Jetzt musste auch Bill lächeln. "Sie funktioniert also. Gut."
Sie gingen zurück in die Küche. Britta war die erste, die Bills bleiches Gesicht bemerkte. "Was hast du, Papa?"
"Ist schon in Ordnung, mir war nur ein bisschen schlecht. Schon vorbei."
Esther schaltete sich ein: "Der Salat kann's nicht gewesen sein. Dein Vater hat ihn auch gegessen. Und ihm geht's gut."
"Nein, der Salat war gut." Sie waren sich einig. Freispruch.

Irgendwann in der Nacht hatte es aufgehört zu regnen. Fahles Morgenlicht fand seinen Weg durch die Gardinen ins Schlafzimmer von Hanna und Bill. Es war gestern nicht spät geworden, die Schwiegereltern waren früh gegangen. Trotzdem fühlte sich Hanna wie erschlagen als sie aufwachte.
Britta schlief noch, was ungewöhnlich war. Aber sie hatte gestern länger aufbleiben dürfen, um mit den Erwachsenen zu feiern.
Hanna ging ins Kinderzimmer. "Guten Morgen, mein Schatz." Sie küsste Britta, die sich verschlafen räkelte. "Zeit fürs Frühstück." Britta verzog das Gesicht und rieb sich die Augen. "Manno, ich bin noch so müde". Widerwillig stand sie auf, setzte ihre kleinen Füße auf den Teppich. Britta sagte: „Ich will einen Ken."
"Einen was?" Hanna wusste, wer Ken war, aber sie hätte nie damit gerechnet, dass ihre Tochter mal so etwas haben wollte.
"Einen Ken, das ist der Mann von Barbie. Alle haben einen. Sabine und Ivonne und Katja hat sogar einen mit Haus und Schaukel und Küche."
"Na, dann komm mal her." Hanna nahm Britta in den Arm. "Du hast ja bald Geburtstag, dann wollen wir doch mal abwarten. Und jetzt weck Papa, der verschläft sonst noch." Brittas Gesicht hellte sich auf. "Ich kriege einen Ken! Ich kriege einen Ken!" Sie rannte durch den Flur ins Schafzimmer und warf sich auf Bill. "Papa, ist es noch lange bis mein Geburtstag ist?" Bill war sofort wach. "Was?"
"Mama hat gesagt, ich kriege einen Ken, das ist der Mann von Barbie, dann kann ich richtig spielen."
"Du kriegst was?" Für eine Sekunde war er verwirrt, dann fiel ihm Maria ein. Sie kriegte ein Kind von ihm. Vielleicht.
Um sich und Britta abzulenken, blickte er auf die Uhr. "So, jetzt aber raus. Wir müssen gleich los." Britta lief in die Küche. Bill schlurfte hinterher, langsam, als müsste er Zeit gewinnen. Das Frühstück musste er noch hinter sich bringen, dann hatte er ein paar Minuten zum Nachdenken auf dem Weg zur Arbeit.
"Hast du ihr so'ne Barbiepuppe versprochen?" fragte er Hanna.
"Die anderen Mädchen haben auch welche", erklärte Hanna. Sie stand vor der offenen Kühlschranktür. "Na gut", murmelte Bill und wandte sich um zur Kaffeemaschine.
Da stand sie. Die Mikrowelle. Größer als er sie seit gestern Nacht in Erinnerung hatte.
"Willst du gar nichts essen?"
"Später, im Büro." Auch das erinnerte ihn schmerzlich an gestern abend.
Er hatte den vielleicht schwersten Tag seines Lebens vor sich. Keiner konnte ihm die Entscheidung abnehmen.

Später im Wagen fragte er sich, ob er sich überhaupt entscheiden müsse. Er versuchte, die Möglichkeiten durchzuspielen, doch schon bei dem Gedanken, Maria darum zu bitten, es wegzumachen, würde ihm wieder übel. Er konnte nicht denken. Musste sich auf die Straße konzentrieren. Rot. Anhalten. Grün. Weiterfahren.
In diesem Labyrinth, in das sich sein Leben verwandelt hatte, fand er sich nicht mehr zurecht. Es gab keinen Ausweg, das wusste er. Es gab kein Zurück, keinen roten Faden, der ihn nach Hause bringen könnte. Nach Hause. Rot.
Die Auffahrt zur Firma. Die Reifen knirschten im nassen Kies, er schlug die Autotür etwas zu laut zu, ging grußlos in sein Büro und starrte auf das Telefon, das ihn minutenlang hämisch anschwieg.
Rief sie nicht an? War es falscher Alarm? Warum meldete sie sich nicht? Er musste es selber tun, er musste sie anrufen.
Blaue Adern zeichneten sich auf seiner Hand ab, als er zum Hörer griff, seine Hand war nass. Seine Finger berührten den Hörer.
Bill zuckte zurück: Es klingelte. Jetzt, da es soweit war, konnte er es kaum glauben. Es klingelte erneut. Tief durchatmen. Augen zu. Hörer abnehmen. Augen wieder auf: "Hallo?"
"Hallo Bill, ich bin's." Sein Herz raste, überschlug sich, als er die vertraute Stimme hörte.
"Ich hab's heute morgen vergessen zu sagen. Kannst du heute abend Britta vom Turnen abholen?" Sein Herzschlag war lauter als Hannas Stimme. Sie musste ihn durchs Telefon hören können, da war er ganz sicher. "Das dauert immer so bis gegen sieben, du weißt doch, wie letzte Woche."
Seine Stimme war viel zu hoch: "Ja", mehr traute er sich nicht zu sagen, sie würde ihn sofort durchschauen. "Geht's dir wieder besser? Du hast heute morgen auch nicht gut ausgesehen."
"Viel Arbeit", mehr fiel ihm spontan nicht ein.
"Übertreib’s nicht. Bis heute abend", er hörte, wie sie lächelte. Das versuchte er auch, aber es gelang ihm nicht: "Ja."
"Bis dann."
Hanna legte auf und begann damit, das Wohnzimmer wieder herzurichten. Die Teller und Schüsseln hatte sie gestern abend schon abgespült, aber die Tischdecke musste noch gewaschen und der Boden gesaugt werden. Etwas Sonne fiel durch die Fenster, als sie den Staubsauger anstellte und den Teppich von den letzten Geburtstagskrümeln reinigte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.09.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Gleich chemischen Verbindungen geben Ehen bei ihrer Auflösung kleine Mengen Energie frei, die zuvor gebunden war." John Updike

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