Der November ´89 in mir
Das große, dramatische Geschehen wie in einem Film. Das Gefühl der Spannung und die ersichtliche Leidenschaft für das Freie, mit jener Unschuld dem Unbekannten gegenüber, beherrscht alle vollkommen. Dieses Gefühl der Massenerhebung, des Widerstandes ist mir fremd. Stolz, mitfühlend und auch verwirrt empfinde ich die fremde Situation. Alle machen die gleichen Bewegungen, als ob sie Spiegel vor sich hätten und sich doch nicht sähen, sie wollen nicht gleich sein, aber sie sind jetzt alle gleich und einig darin: ihre Revolution steht bevor. Ich mache auch mit – die kraftvolle Einheit von Menschen zieht mich in ihren Bann. Wir sind alle zusammen an den Händen verbunden, alle gehen in der gleichen Richtung durch die Arkaden der Stadt und rufen: Freiheit, Wahrheit, Demokratie. Wo ich schon mitmache, bin ich neugierig darauf, es möglichst schnell zu begreifen, warum so eine starke Atmosphäre herrscht und warum gerade diese Worte solche Bedeutung haben, die wir hier wiederholen. Wir werden zur Freiheit aufgerufen? Waren wir nicht frei? Was ist die Demokratie? Ich muss die apokalyptischen und befreienden Worte verstehen. Was ist in unserem Land passiert?
Ich habe bis jetzt nichts, auch nicht den wahren Grund von dieser so beunruhigend plötzlichen Versammlung begriffen. Ich gebe es aber nicht laut zu. Bisher lebte ich in der Überzeugung, dass das Leben gut sei. Nur eines wurde von mir in Frage gestellt: Warum ich als Kind nicht mit meinen Eltern in den Westen mitfahren durfte. Ich bin 14 Jahre alt und erfahre erst jetzt was war und was kommen wird. Ich schäme mich dafür.
Die fragenden Gesichter der Männer, Frauen und der unschuldig ahnungslosen jungen Menschen blicken durch die Straßen, drängen sich aneinander. Eine demonstrierende Menschenlandschaft auf dem Hauptplatz. Die Stimmung ist geladen von Spannung, Freude und Erwartung und vor allem vom Glauben, dass hier etwas Wichtiges passiert.
Alles geschieht zu schnell. „Wir schwören, dass ihr alle an diese Tage zurückdenken werdet. Wir sind die Sieger, die Besiegten schauen uns nun so zitternd an, wie wir sie 40 Jahre anbeten sollten.“ Ich spüre, dass ich zu den Siegern gehöre, fühle mich aber wie eine neutrale neugierige Teilnehmerin, die auch immer noch Angst vor dem Unbekannten hat. Dem Kommunismus wird wirklich in ganz Europa ein Ende gesetzt? Werden wir nicht mehr in tiefer Dummheit gehalten? „Nun werden andere Werte hochgehalten.“ Die versammelte Menschenmenge genießt es jetzt laut zu sein. Ich auch. Einige tragen Transparente mit Sätzen: „Schluss mit Stalin. Schluss mit Lenin. Ende mit allen Kommunisten dieser Welt. Welche Schurken!“ Wir, die 14-Jährigen, wünschten uns eine schnelle Erklärung. Ehe etwas geschieht, das irgendwann erzählt werden muss, fragen wir lieber gleich nach.
Noch vor ein paar Stunden saß ich im Klassenzimmer, schaute den Genossen Lehrer nur halb anwesend an und freute mich auf die Pause. Jetzt sage ich zu meinem Klassenlehrer nicht mehr „Genosse“, sondern „Herr Lehrer“ oder „Frau Lehrerin.“ Wie seltsam es auch klingen mag, wir würden uns sicher schnell daran gewöhnen. Jetzt haben wir eine Pause, die wahrscheinlich mehrere Tage dauern wird. Was kommt danach? Das Gefühl der Unsicherheit herrscht überall unter den Leuten, die hier stehen und sich Freiheit und Demokratie wünschen.
Die Luft ist dicht von Menschenstimmen, und ich richte mich nach den anderen, ich atme tief und ahme tapfer den Demonstranten nach. Das Wagnis mitzumachen, löst immer noch Befürchtungen aus: Werde ich vielleicht später dafür bestraft, ins Gefängnis gesteckt? Ich habe Angst, da ich mir der Sätze bewusst bin wie: „Du darfst nicht öffentlich auffallen, du darfst dein Land nicht öffentlich kritisieren!“ Eine Frauenstimme ruft in Panik: „Ich brauche einen Beweis für die Gewissheit, dass keiner verhaftet wird, dass keiner stirbt, auch nicht im Frieden.“ Das Victory-Zeichen sei ein neues rituelles Zeichen für den Frieden und die neue Wahrheit, wird mir erklärt. Alle Anwesenden heben die Hand mit zwei V-Fingern. „Keinem passiert etwas! Nein, keine Russen, keine Panzer und Schüsse wie 68! Diesmal sind wir der Freiheit und Demokratie sehr nah. Solange für uns in der Hauptstadt gekämpft wird, werden wir den Helden unsere Unterstützung geben.“ Jetzt herrscht der Ton der Freude und Erlösung. Verschwunden ist unter den Leuten jede Scheu, den Staat zu kritisieren. So bin ich, die winzige Demonstrantin, auch ermutigt.
Die Studenten unter uns melden sich zu Wort und ich höre aufmerksam zu, auch wenn ich nicht alles verstehe. Welches 68? Warum die Russen? „Der Vertrauensverlust wiegt auch nach Jahren immer noch schwer. Die damaligen Gefühle der tiefen Enttäuschung rennen der älteren Generation durch die Köpfe. Damals gab es dann keinen Trost mehr, es blieb die Bitterkeit. Jetzt kehren nur die Erinnerungen zurück, aber nicht die Zeit.“ Wir nicken mit den Köpfen, wir die Spätgeborenen, die nichtsahnend in der Zeit der Gleichheit lebten und jetzt die Revolution von 1989 erleben und nichts von der Vergangenheit wissen. Klammern weg
Jeder bekommt eine Kerze und wenn alle Kerzen angezündet sind, sehen die Lichter wie die märchenhaften Funken der Hoffnung aus und der sanft-kühle Novemberabend verwandelt uns in ein anderes Wir – Wir erscheinen nun wie eine Familie, sind liebevoll zueinander, einige erzählen persönliche Geschichten der Vergangenheit, die sie nie erzählen durften. Wir singen friedlich Lieder, deren Worte ich nicht kenne. Ich verspreche mir, sie danach schnell zu lernen. Lieder der Revolution!?
Die angezündeten Kerzen bilden eine Atmosphäre der Besinnung und des großen Glücks. Viele weinen deswegen, glaube ich. Ich bin stolz darauf, dabei zu sein. Solch eine vertrauensvolle Stimmung voller Herzenswärme und Rücksicht aufeinander habe ich noch nie erlebt. Diese Momente werden meine Gesinnung über diese besondere Revolution prägen.
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2010
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