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Als ich Anfang Oktober 2009 Pécs erreiche, bin ich über die Wärme, die in Pécs herrscht vollkommen erstaunt! Den Pullover aus, das Sommerkleid an! Juppi, kein traurig-graues Herbstwetter!
Und von den vielfältigen Kulissen von Pécs bin ich benommen. Ich fühle mich gleich wohl hier, geborgen im ungarischen Süden.
Und eine gewisse Fremdspracheninkompetenz der Ungarn verblüft mich genauso wie der Frosch im Zsolnay-Brunnen.
Und dass wir, die Ungarn und ich, etwas Wichtiges gemeinsam haben, wirft mich um!
Und wer weiß, welche Überraschungen mich noch mit Ungarn verbinden werden!

Sieben Kirchen, die ehemalige Moschee mit Kuppel, ein kleines Minarett und eine wuchtige Synagoge, das sind die auffälligsten historischen Kulissen der ungarischen kleinen Stadt Pécs, auf Deutsch: Fünfkirchen. Diese Vielfalt ergänzen die wirklich eindrucksvollen Bauten im Jugendstil wie das Hotel Palatinus mit seiner prachtvollen Lobby, die für Filmszenen reif ist, und das außergewöhnliche Post-Gebäude: für den schnellen Postkarteneinwurf ein viel zu ehrwürdig imposanter Bau! Und die Jugendstil-Porzellanmanufaktur Zsolnay strebt wieder nach dem Ruhm, den sie einst in Europa hatte. Schnell begreife ich auch die Besonderheit dieser Fabrik für die ungarische Architektur; auch viele Dächer der Stadt, Fassaden und Brunnen sind mit diesen ungewöhnlich bunten Majolikafliesen oder glasierter Keramik ausgestattet. Wie der bekannte Zsolnay-Brunnen auf dem Széchenyi-Platz. Und schließlich hat auch die kommunistische Zeit in der Stadt eine gewagt-kuriose Architektur hinterlassen, die ungewohnt beeindruckende Rücksicht auf die Vergangenheit nimmt; sie verursacht keinen so großen optischen Schaden im Zentrum, wie man es aus anderen ehemaligen sozialistischen Städten kennt. Kein Wunder, dass aus Pécs der stilprägende Op-Art-Künstler Victor Vassarely kommt. Alle Stile und Epochen ergänzen sich hier erstaunlich geschmackvoll miteinander.
In diesem Pécs mischen sich die Kulturen und man spürt hier bis heute all die „kulturellen“ Eingriffe der Römer, Osmanen, Habsburger sowie der Kommunisten. Heute nennen wir es Kultur, früher waren es zunächst Krieger, die die Stadt besetzten und sich hier ansiedelten. Im 18. Jahrhundert, nach der Rückeroberung von den Osmanen, zieht es dank der Initiative Maria Theresias mehrere Nationen Europas in die Stadt, deren Antlitz zu dieser Zeit stärker als viele andere mitteleuropäische Städte vom Islam geprägt ist.
All diese Europäer aus „dem Westen“ nennen sie in Pésc bis heute „Donauschwaben“. Sie leben da, sind als Minderheit kulturell aktiv und sprechen Deutsch. Ich frage einen Ungarndeutschen warum - denn es waren nicht nur jene Süddeutschen, die sich hier niederließen (sie kamen aus dem heutigen Deutschland, aus der Schweiz, Luxemburg, Preußen, aus Österreich, Böhmen und Mähren). Er zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich weiß nicht, so ist halt der Begriff...“ Mir reicht die Antwort nicht. Ich finde dafür eine schelmische Erklärung - meinen die Péscer nicht vielleicht die Schwalben? So, wie viele westliche Einwanderer hier eintrafen, fliegen auch die Schwalben vom Westen in den Süden, wenn es im Westen (im Norden) kalt wird. Angenommen, auch damals flogen die „erkälteten“ Schwalben-Schwaben in den Süden Richtung Donau, weil da in der Tat ein viel wärmeres, ja mediterranes Klima und Flair herrscht.
Interessanterweise heißt die Schwalbe auf Lateinisch Pseudochelidoninae. Ja, an sich alles Pseudodeutsche, deswegen wurden alle da angesiedelten Minderheiten der Einfachheit halber unter dem Begriff „Donauschwaben“ zusammengefasst. Aus den Schwalben-Schwaben wurden Schwaben-Schwalben. Und ich komme auch als erkältete Schwalbe aus dem Westen und treffe im Herbst ein warmes Pécs an. Erstaunlich, der Wetterfrosch hält sein Versprechen: es herrscht viel Wärme, manchmal sogar Hitze!
Dank vielen kulturellen Besonderheiten wird die Kunst überall in der Stadt sichtbar. Neben dem römischen Lapidarium präsentiert das Pécser Kunstviertel lapidarisch verschiedene Museen für Künstler, die hier lebten oder von hier stammen. Unter solchen, die sich ein Museum verdienten: der verkannte Maler Csontváry, der anerkannte Op-Art Künstler Viktor Vasarely und der Keramik-Hersteller Vilmos Zsolnay. Dank dem Bauhaus Künstler László Moholy-Nagy, der auch aus der Umgebung von Pécs stammt, und des Tischlers und Walter-Gropius Schülers Marcel Breuer, dessen Stahlclubsessel Typ B3 ich als Remake besitze, werden hier Ausstellungen mit Bauhaus-Kontext dargeboten. Der Bauhaus-Kontext verdichtet sich geradezu in dieser Gegend? Interessant! Da kippe ich gleich glatt vom Stahlclubsessel B3! Zur Zeit meines Aufenthaltes sind alle Museen leider zu, im Zuge einer großen neueuropäischen Modernisierung. Fit machen die Pécser die (von westlichen Schwalben) vergessene Stadt für die europäische Kulturhauptstadt im Jahre 2010!

Was mich noch in Erstaunen versetzt?
Als Fremde fühle ich mich in der solitären Sprache ohne Verwandtschaft zu anderen Sprachen Europas (mit Ausnahme des Finnischen und Estnischen) verloren. Die Einheimischen können sich mit mir meistens nur auf Ungarisch verständigen! In Pécs stelle ich erstaunt fest, dass die Tschechen besser mit mehreren Fremdsprachen umgehen können als die Ungarn. - Erst in Ungarn habe ich mit dem Fremden mitgefühlt, der in einem Land nichts und niemanden versteht. Auch ich gehöre zu demjenigen kleinen Volk, dessen Sprache „Tschechisch“ keine übliche Weltsprache ist. Doch eine lyrische, schöne kleine Sprache mit einem großen prosaischen Vorteil, der für viele beneidenswert sein kann. Ich bedenke den einzig(artig)en Vorteil: ich kann mich mit den Tschechen an der Öffentlichkeit im Ausland über alles (Artiges), was mir einfällt unterhalten und keiner versteht mich. Ohne Hindernisse mit der kleinen Sprache durch die Welt! Das ist unsere Tugend in Not. Man wird in dieser kleinen Sprache zum Insulaner ganz ohne Meer!
Im Ungarischen, wenn man nichts von der Sprache weiß und kennt, gibt es da keine Entzifferungshilfen, etwa wie im Tschechischen für die Fremden: ich glaube, dort man kann mit etwas Mühe und Aufmerksamkeit einiges erfassen, weil es eine westslawische Sprache mit Germanismen u.a. ist. Doch ich höre Hello oder Hallo, so erwidere ich es. Ich erfahre noch von ein paar dem Deutschen ähnlichen Wörtern wie „klappol“, wenn etwas klappt, funktioniert, „stimmel“, wenn etwas stimmt, und wenn man den anderen einen Trottel nennen will, dann reicht auch nur „trotli“. Oft gehe ich schweigsam in die Stadt hinein, schweigsam gehe ich durch sie hindurch, der Mund muss nicht sprechen, auch wenn etwas „klappol“. Da kann man sich als Fremder das Sprechen fast abgewöhnen. Es hat etwas Kontemplatives - auch Erregendes. Diese Unkenntnis hat aber auch ihren Charme! Die Stille ist selbst eine Art der kreativen Wahrnehmung. Die Wortlosigkeit verfolgt mich in fast allen Nischen der Stadt. Ich spüre da ein geheimnisvolles Glücksgefühl, weil ich aus der Großstadt komme.
Im Glauben an die große Liebe und in der Hoffnung, dass sie sich lang bewährt, kaufe ich ein Schloss und hänge es verschlossen an die Palisaden. Auch hier (wie in vielen europäischen Städten) wird das märchenhafte Trio Glaube-Liebe-Hoffnung durch die wildwachsenden Schlösser-Skulpturen an den Zäunen symbolisiert. Hier jedoch weg mit dem Schlüssel in den Zsolnay-Brunnen! In dessen Wasser gehen nämlich Wünsche in Erfüllung. Keinen eitlen Wunsch aussprechen… „Hörst du auf dein Herz, Édeském, mein Süsschen…?“, könnte mich ein Frosch-Prinz fragen. Mein kleiner Wink „Ja“ und schon springt er in den Brunnen. Ich bin verblüfft!
Im Café Semiramis, nah meiner Residence, in das ich jeden Tag gehe, kreiert für mich der Besitzer, der nur Ungarisch spricht, ein Herz aus Milchschaum auf dem Cappucino! Wie herzlich! Auch so kann man wortlos Sympathie ausdrücken! Ein Lachen und ein Wink mit „kösönem“ ist unser netter Austausch.
Mit Freude nehme ich aufmerksam die Sprache mit vielen E und mit ihren langen Wörtern wahr. Die geheimnisvolle Sprache gefällt mir. Schließlich war ich beim Schreiben meiner ersten Erzählung vom den e im Namen „Ferenc“ inspiriert. Diese Erzählung heißt bis heute „Ferenc“.

Und schon wieder eine Überraschung! Ungeachtet der Nationalität, haben wir, die Ungarn und ich, etwas Wichtiges gemeinsam: Wir feiern am gleichen Tag unsere Geburt! Eine gemeinsame große Party findet jährlich am 15.3. statt! (Eine kurze historische Erklärung: am 15. März 1848 begann in Ungarn die Revolution gegen Österreich, und am 15. März 1867 erlangte es die Unabhängigkeit. Und am 15.3. 1975 bin ich geboren...)

So heiß, imaginär und wunderbar erschließt sich die kleine ungarische Stadt für mich! Ich schreibe an einer Liebesgeschichte. Wie ich diese außerordentlichen Momente liebe und lebe …! Der Wetterfrosch verwandelt sich in einen wahren Prinz und zeigt mir die aufregenden amourösen Pfade in der Stadt und Umgebung. Er küsst mich in (und an) jeder Ecke der wunderbaren Stadt... Welche Höhenausflüge und Liebeshöhen im Mecsekgebirge. Der mediterrane Wirbelwind (der Gefühle) weht tags und nachts über mich hin, als ich durch die Stadt spaziere. Unter dem Gebot der Stunde wird der erste Schritt in Richtung großer Liebe und Lebensfreude gemacht – der Schlüssel liegt schon im Brunnen! Liebe Sonne, lieber Frosch! Ich will den Frosch vom Brunnen erlösen… Wie überraschend kurz klingt das ungarische "Ich liebe dich" – „Szeretlek“. Das "ich" steckt im "k", das "du" im "l" und das Verb "lieben" ist szeret. Verliebt in Pécs, in alle erstaunlichen divertissements hongrois und ihre malerische Fremdheit! Ein schöner Monat in Pécs von delphischen Überraschungen und den Schwalben aus dem Westen beflügelt…

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Tag der Veröffentlichung: 31.07.2010

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