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Licht am Fenster
Elsa lehnte an der Fensterbank. Es war das einzige Fenster in dem langen Korridor. Das nächste lag am anderen Ende des Flurs, auf der gegenüberliegenden Seite. Die Sonne müsste am Morgen dort herein scheinen, dachte Elsa. Ob sie dann aber noch hier wäre? Sie wusste es nicht. Elsa holte Luft, atmetet in den Bauch hinein, aber es half nichts.
Nur nicht weinen! Jetzt nicht! Bloß nicht wieder anfangen zu weinen! Sie musste sich ablenken, irgendwie mit irgendetwas ablenken. Sie könnte die Glasvasen zählen, die neben ihr in Zweierreihen am Fenster standen. Zehn altmodische Krankenhausvasen aus Hartplastik. Elsa schaute sich nach weiteren Zählmustern um. Rechts an der weißen Wand hingen drei Bilder, links vier. Fünf lange Neonröhren. Eine große, runde Uhr. Ein Transportwagen mit drei Behältern für Wäsche, schmutziges Essgeschirr und medizinischen Abfall. Vier Türen weiter stehen zwei schwarze Plastikstühle an der linken Wand, dazwischen ein ovaler Tisch. Türen zählen. Bei der siebten Tür kam ihr eine Besucherin mit einem Blumenstrauß in der Hand entgegen.
„Bitte, wissen Sie, wo das Zimmer 117 ist?“
“Wasser gibt’s drinnen im Krankenzimmer. Aber die hier werden zu klein für ihren Strauß sein.“ Elsa zeigte auf die Vasen neben ihr.
„Danke!“ Die Besucherin lächelte verlegen und kehrte um.
Zwölf weißgelackte Türen. Elsa begann die Karos des alten Klinkerbodens zu zählen. Vorerst nur von Tür zu Tür, Reihe für Reihe, erst die schwarzen, dann die weißen. Später würde sie vielleicht alle Karos bis zum Ende des Gangs zählen.

Nach wochenlangem Überlegen fuhr Elsa in den Ort ihrer Kindheit. Dorthin, wo sie als kleines Mädchen mit dünnen, blonden Zöpfen, bei ihren Großeltern gewohnt hatte. Sie waren schon lange tot. Auch stand ihr Haus nicht mehr unterhalb der Dorfkirche. Elsa war in den letzten fünfzehn Jahren nicht öfter als zwei Mal in Oberraban gewesen, und doch blieb das schweigsame Bergdorf, das in Getreidefelder und Almwiesen eingebettet war, immer ihre einzige Heimat. Sie blieb mit dem Dorf mehr verbunden, als mit der Kleinstadt, in die sie später mit ihren Eltern zog.
Nach fünf Stunden stieg Elsa in den Regionalzug um. Noch knapp eine Stunde. Sie sah aus dem Fenster und fand keine Worte für das Zerren und Ziehen ihres Herzens, das schmerzhafte Glücksgefühl im Bauch, die Kindertage, der Sommergeruch. Alles war ihr vertraut, die jungen Frauen in kurzärmeligen, weißen Blusen, die mit ihren Einkaufstaschen an der Bahnschranke standen, die Felder, die kleinen Häuschen, die Waldwege, die blauumrandeten Ortsschilder, die alten Männer und Frauen in dunklen Arbeitsschürzen, die spielenden Kinder vor den Höfen, die Bahnwärterhäuschen mit den weißen Bettlaken auf der Wäscheleine, die Gartenzwerge mit den roten Zipfelmützen. Vertrautes Land.

Als sie sich vor drei Wochen endlich entschloss ihn zu besuchen, war sie erleichtert und beunruhigt zugleich. Freude und Neugierde wechselten sich ab, am meisten aber quälten sie Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Was würde sie erwarten? Würde sie überhaupt ein Wort herausbringen? Wie sollte sie beginnen, was schon bald zu Ende sein wird? Wird sie alte Wunden öffnen? Sollte sie so tun, als ob nichts wäre? Wie wird es sein? „Hallo, ich bin’s, deine Schwester, ich will mal eben sehen, wie du aussiehst.“ Oder sollte sie die Wahrheit sagen? „Zufällig erfuhr ich von dir. Es schmerzt, dass wir uns erst nach 50 Jahren kennen lernen.“ Sie stellte sich vor, er würde gar nichts von ihr wissen wollen. Vielleicht würde er sagen, er wäre sein ganzes Leben lang gut ohne Familie zurechtgekommen. Jetzt brauche er keine mehr. Elsa wollte die Belastung loswerden. Sie möchte ihn kennen lernen. Sie will Gewissheit haben. Bestimmt möchte er mehr von seinen Wurzeln erfahren. Sie würde ihm alles erzählen. Vielleicht lösten sich dabei auch ihre Rätsel? Von einer entfernten Verwandten erfuhr sie, dass sie einen Halbbruder in der Nähe von Oberraban hatte, der wegen einer schweren Erkrankung im Krankenhaus der Bezirksstadt sei. „Wenn du ihn noch sehen willst, musst du bald kommen“, sagte sie.
Sie erzählte Elsa, dass er ein unerwünschtes Kriegskind war, der von seinen Großeltern groß gezogen wurde. Seine Mutter heiratete bald nach seiner Geburt einen Nazi, der den „Bastard“ nicht bei sich haben wollte. Die Mutter schickte ihm später eine Tafel Schokolade zum Geburtstag, mehr nicht. „Und dein Vater“, sagte sie verächtlich, „der zahlte monatlich. Blicken aber hat er sich nie gelassen.“ Elsa schämte sich. Warum erwähnte er nie ein einziges Wort? Wie ist das möglich? Als ihr Vater später erfuhr, dass sie IHN aufsuchte, machte er ihr Vorwürfe. „Du hast mein Vertrauen missbraucht! Wie kamst du auf diese Idee? Jetzt nach all den Jahren!“ Dann hielt er eine Hand auf sein Herz, mit der anderen zeigte er schreiend auf Elsa: „Ich darf mich nicht aufregen, das weißt du ganz genau!“
Als Elsa aufwachte, saß ihr eine alte Frau mit einem dunklen Kopftuch im Abteil gegenüber. Im ersten Moment dachte Elsa, es wäre ihre Großmutter, die sie mit besorgtem Blick ansah. „Großmama!“, wollte sie ausrufen. Die alte Frau sah sie unentwegt an. Elsa dachte kurz daran, ihr von den Erlebnissen der letzten Wochen zu erzählen und dass sie aufgewühlt von der Zugfahrt war, doch sie schwieg, wie sie es immer tat, wenn ihr das Leben zu nahe trat. Sie nahm ihren roten Koffer von der Ablage und ging zum Ende des Zugwagens. Eine Station noch.
Elsa hätte ein Taxi nehmen können, aber sie wollte zu Fuß gehen. Sie kannte den Weg. Sie ging über die Brücke der Drava, überquerte die Durchzugsstraße, nahm die Abkürzung durch die enge Häuserzeile und kam beim Dorfbrunnen heraus. Gegenüber der Post, einem alten Gasthof mit weinroter Fassade, mietete sie ein Zimmer für fünf Tage. Ganz gegen ihre Gewohnheit, stellte sie nur den Koffer ab, wusch ihre Hände und betrachtete sich dabei im Spiegel, dann ging sie zur Rezeption, um sich ein Taxi kommen zu lassen. Auf dem Weg zum Krankenhaus bat sie den Fahrer bei einer Blumenhandlung anzuhalten. Als Elsa die Zimmertür aufmachte, wusste sie, dass in dem Bett am Fenster ihr Bruder lag. Er hatte graue Haare, große, weiße Augen und er lächelte. „Ich hol‘ dir den Himmel herunter. Du bist meine Schwester“, sagte er dann jeden Tag. Dabei glänzten seine Augen wie Tautropfen auf einer Seerose. Sie erzählten sich alle Jahre ihres Lebens. Elsa musste ihm versichern, dass er dem Vater gleiche wie ein Ei dem anderen. Danach wurde er ruhig. Er drehte den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster. Es war so still, dass Elsa hören konnte, wie seine Tränen auf das Kopfkissen tropften. Am letzten Tag vor ihrer Heimreise sagte die Schwester, dass sich sein Zustand in der Nacht verschlechtert hatte. Später sah Elsa, dass das Licht am Fenster anders war als die Tage zuvor. „Wenn ich dich auch nicht mehr sehe“, sagte er. „so habe ich dich wenigstens einmal im Leben gesehen!“ „Ich kann auch erst morgen fahren.“ „Ja“, sagte er. Dann begann der Schüttelfrost. Er überkreuzte seine Arme auf der Brust und hielt sich an den Schultern fest, so als ob er sich niederdrücken wollte. Aber das Beben ließ sich nicht festhalten. Elsa wunderte sich über die Kraft, die seinen schweren Körper so mühelos auf und nieder warf.
„Es geht vorüber“, sagte sie, um irgendetwas zu sagen.
Er antwortete nicht. Er sah sie nur an. So stumme Blicke. So viele Schmerzen. So große Augen. Gebrochene Augen, dachte Elsa und hatte Angst, dass sie auslaufen könnten und sie in leere Höhlen blicken würde.
„Ihr Bruder friert nicht, er kämpft mit dem Tod“, hatte ihr die junge Ärztin draußen gesagt.
Elsa deckte ihn trotzdem zu.
„Ich hole die Ärztin“, sagte sie leise und legte beim Aufstehen ihre Hand auf seine heiße Wange.
Elsa zählte noch immer die schwarzen und weißen Karos. Es beruhigte sie. Als die Ärztin aus dem Zimmer kam, sagte sie, dass ihm das Morphium gegen die Schmerzen und die Angst helfen würde und dass sie jetzt wieder zu ihm hineingehen könnte, wenn sie möchte.
„Mehr kann ich für ihren Bruder nicht tun“, sagte sie noch und eilte dann den zwölf-Türen-links-und-drei-Bilder-rechts-Flur entlang.

Eine Stunde später schlief ihr Bruder ein. Seine Kinder waren bei ihm und seine Frau, die aus dem großen Blumenstrauß eine Rose herausnahm und ihm in die gefalteten Hände legte. Sie sangen für ihn sein Lieblingslied „Junga Tág“. Und Elsa meinte, er hätte auf seinem Totenbett gelächelt, auch weil sie, seine kleine Schwester, da war, der er jeden Tag den Himmel herunter holen wollte.

Später stand Elsa mit dem roten Koffer in der Hand auf der Brücke der Drava. Sie sah erstaunt dem Papierschiffchen nach, das sie faltete, ohne eigentlich zu wissen, wie man Schiffchen faltet. Früher, als ihre Kinder klein waren, bastelte sie ihnen Papierhüte und Flugzeuge und Himmel und Hölle, die konnte sie am besten. In allen Größen. Aber Schiffchen, Schiffchen faltete sie nie.

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Tag der Veröffentlichung: 15.08.2008

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