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Prolog: 1. Sarkanda




Der kleine Junge mit den nackten Füßen rannte und rannte. Rannte immer weiter, obwohl seine Lungen bereits brannten wie Feuer und er fast keine Luft mehr bekam. Längst hatte er die Orientierung verloren in dem Gewirr der Straßen und Plätze, die er niemals zuvor betreten hatte und immer wieder musste er Menschen, Tieren und Gefährten aller Art ausweichen, die ihm den Weg verstellten. Angst schnürte ihm die Kehle zu und ließ sein Herz so heftig schlagen, dass er das Gefühl hatte, es würde jeden Moment in tausend Stücke zerspringen.

Der Junge hätte nicht sagen können, wohin er lief, er wusste nur, dass er weg wollte. Weit weg von diesem Ort, den er bis dahin sein Zuhause genannt hatte und der alles umfasst hatte, was er kannte.Noch niemals zuvor hatte er die Straßen der Stadt, die sich um das Haus erstreckte betreten, niemals zuvor andere Menschen gesehen als die, welche in dem Haus lebten und arbeiteten. Da waren Alys, sein Kindermädchen und Define, die Köchin, die immer ein Stück Kuchen oder eine andere Leckerei für ihn bereithielt, wenn er sie in der gemütlichen Küche des weitläufigen Hauses besuchte.

Diese zwei mochte er am liebsten, aber er hatte auch Loisis, seinen Diener, der ihm beim Waschen und Anziehen half gern und Meister Wendlin, der einige Zeit jeden Tag gekommen war, um ihm Lesen und Schreiben und andere Dinge beizubringen. Es gab noch andere Menschen in dem Haus, die sauber machten und in der Küche halfen, Wäsche wuschen oder den Garten pflegten und es gab Männer mit Lanzen und Schwertern, die das Grundstück bewachten und die Räume, in denen die Mutter des Jungen wohnte.

Bis vor kurzem hatte der Junge geglaubt, Alys sei seine Mutter, denn sie war es, die ihn seit dem er denken konnte in den Schlaf gewiegt und getröstet, umsorgt und gepflegt hatte.Die Frau, die manchmal sein Spielzimmer betreten und ihn aufmerksam beobachtet, aber nie das Wort an ihn gerichtet hatte, war nur eine bedeutungslose Fremde für ihn. Doch vor einigen Tagen hatte Alys ihn darüber aufgeklärt, dass eben diese Fremde seine Mutter sei und dass er von nun an mehr Zeit bei ihr verbringen würde. Das Kindermädchen hatte geweint dabei und der kleine Junge hatte ihre Hand gestreichelt und versucht, sie zu trösten.

„Wenn die Frau, die meine Mutter ist, will, dass ich bei ihr bin, dann werde ich das tun.“ hatte er ernsthaft erklärt. „Aber ich komme dann immer wieder zurück zu dir, Alys, das verspreche ich.“ Alys hatte noch ein bisschen mehr geweint und ihm dann mit einem Lächeln über die blonden Haare gestrichen. „Ich weiß, mein kleiner Schatz, ich weiß, du wirst mich nicht vergessen. Aber du musst von jetzt an alles machen, was deine Mutter dir sagt, mach mir keine Schande und sei ein braver Junge, dann wird alles gut werden.“

Am nächsten Morgen hatte Alys ihm sein bestes Gewandt angezogen und ihn in einen weit von seinem Zimmer entfernten Flügel des Hauses zu seiner Mutter gebracht. Schon bald hatte er für sich beschlossen, dass er diese Frau nicht leiden konnte. Sie war sehr schön, schöner noch als Alys, aber nicht mal annähernd so freundlich wie diese, außerdem war es schrecklich langweilig bei ihr. Er durfte nicht mehr spielen oder lesen und schreiben üben, sondern musste den ganzen Tag auf einem Stuhl sitzen, während die Frau in dicken Büchern und Schriftrollen las und manchmal Verse daraus laut vorlas, die der Junge nicht verstand.

Auf Tischen und Regalen blubberten in den unterschiedlichsten Glasgefäßen ungesund aussehende Flüssigkeiten vor sich hin und jeden Tag stach die Frau zuerst mit einer langen Nadel in seinen Arm und nahm etwas von seinem Blut, um es in einem der Gefäße aufzubewahren und zu untersuchen. Sehr oft kamen Besucher, die auch alle Bücher und Schriftrollen mitbrachten, die sie seiner Mutter gaben und sie sprachen über ihn, als wäre er gar nicht anwesend. Der Junge verstand kaum etwas von dem, was geredet wurde, aber er hatte das Gefühl, dass die fremden Erwachsenen etwas von ihm erwarteten, dass er nicht erfüllen konnte.

Einmal, als wieder sehr viele Fremde zu Besuch waren, die ihn alle mit diesem missbilligenden, abschätzigen Blick, den er nun schon so gut kannte, anstarrten, fing er an zu weinen.
„Seht nur, jetzt heult er auch noch wie ein Wickelkind.“ sagte einer der Männer spöttisch. „Meine Teuerste, manchmal kann ich kaum glauben, dass er überhaupt etwas von meinem Blut haben soll, geschweige denn, das Blut des ANDEREN. Ich fürchte fast, wir werden das Experiment als gescheitert ansehen müssen.“

Beifälliges Gemurmel erhob sich, nur die Frau, welche seine Mutter war, schüttelte den Kopf. „Nein!“ stieß sie scharf hervor. „So schnell gebe ich nicht auf. Gebt mir noch ein paar Tage, wenn es bis dahin nicht funktioniert hat, gut, dann kannst du dem Rat mitteilen, dass das ganze Unternehmen gescheitert ist, aber bis dahin werde ich noch etwas ausprobieren.“

Den Rest des Tages waren keine Besucher mehr gekommen und der Junge blieb still auf seinem Stuhl sitzen, um die Frau nicht noch mehr zu verärgern, die sich wieder in ihre Bücher vertieft hatte und nur ab und an den Blick hob, um ihn gedankenverloren anzustarren. „Sag mir eines. Junge, “ hatte sie am Abend zu ihm gesagt, kurz bevor sie nach dem Diener läutete, der ihn in sein Zimmer zurückbringen sollte. „Gibt es etwas, an das dein Herz besonders hängt? Eine Person in diesem Haus oder vielleicht ein Gegenstand?“ Der Junge hatte nicht lange nachdenken müssen. „Ich mag Alys, das ist mein Kindermädchen, weißt du“ erklärte er ernsthaft. „Und hast du das Mädchen, diese Alys, sehr gern?“ Er hatte schüchtern genickt. „Sehr, sehr gern?“ Wieder ein Nicken.

Die Frau, die seine Mutter war, hatte zum ersten Mal an diesem Tag gelächelt. „Nun, das ist doch erfreulich. Und jetzt geh, wir sehen uns morgen früh wieder und dann werden wir viel zu tun haben.“ „Ja. Mutter.“ „Ach, und sag Alys, dass sie dich morgen begleiten darf, hörst du? Sie vermisst dich doch bestimmt schon ganz schrecklich, seitdem du soviel Zeit hier verbringst“ Der Junge hatte sich so sehr gefreut, dass er der Frau einen Kuss auf die Wange gab. „Danke, Mutter, und Gute Nacht.“ „Ja, mein Sohn, das wünsche ich dir auch. Und jetzt geh rasch, ich habe noch zu arbeiten.“

Und so hatte Alys ihn an diesem Morgen zum Studierzimmer seiner Mutter begleitet, obwohl sie längst nicht so erfreut war, wie der Junge gedacht hatte. „Weißt du, warum die Dame möchte, dass ich heute mit dir komme?“ hatte sie besorgt gefragt und der Junge hatte den Kopf geschüttelt. „Nein, aber es ist doch schön, dass du bei mir bleiben kannst, dann ist es endlich nicht mehr so langweilig, wenn meine Mutter liest und ich nicht mit ihr sprechen darf.“ Und so hatten sie den Wohntrakt zusammen verlassen, der kleine Junge fröhlich vor sich hin singend und hüpfend, während sein Kindermädchen ihm ganz langsam und mit resigniertem, fast hoffnungslosem Gesichtsausdruck zu den Gemächern der Herrin folgte, aber das bemerkte ihr Schützling gar nicht.

Im Studierzimmer angekommen hatte er sich wie gewohnt auf seinen Stuhl gesetzt, aber seine Mutter hatte ihn angefahren und ihm befohlen, in eine Ecke des Zimmers zu gehen und dort stehen zu bleiben und dann hatte sie plötzlich etwas ganz Schreckliches getan. Gemurmelt hatte die Frau und ihre Arme erhoben und etwas, dass wie eine Schlange aus Licht aussah, war aus ihren Fingerspitzen gekommen, hatte sich um die vor Angst erstarrte Alys gewunden und sie so bewegungsunfähig gemacht.

„Nein, Mutter, lass sie los, du tust Ihr doch weh“ hatte er geschrien und war losgestürzt, um Alys zu helfen, aber da hatte seine Mutter wieder die Hände erhoben und die Lichtschlangen waren in seine Richtung gezuckt und hatten ihn zurückgehalten.

„ Bleib stehen, Junge und rühr dich nicht, sonst werde ich dir auch weh tun müssen. Es gibt nur eine Möglichkeit, deiner kleinen Freundin zu helfen, “ sagte die Dame und ihre Stimmer klang dabei sehr leise und doch bedrohlich. „Aber was soll ich denn tun? Ich weiß nicht, was Ihr von mir erwartet, “ hatte er geantwortet und vor Hilflosigkeit und Angst zu Weinen angefangen „Doch, du weißt es, Junge. Es ist tief in dir, du musst es nur finden, denn sonst werde ich dieses Mädchen töten müssen.“

„Nein“, jammerte der Junge voller Entsetzen. „Bitte, ich werde tun, was Ihr von mir verlangt, aber tötet sie nicht.“ „Dann streng dich an. Lass die Wut und die Angst in dir wachsen und dann hol ES hervor, ich weiß, dass ES nur darauf wartet, an die Oberfläche zu kommen.“ Und während sie weiter auf ihn einsprach, von dem ES und der Macht, die dieses ES ihm und ihr eines Tages verleihen würde, spürte er tatsächlich, wie Zorn und Hass allmählich in ihm wuchsen und alles andere verdrängten. Irgendetwas in seinem Inneren schien sich von diesen Gefühlen zu nähren und zu etwas Fremdartigem, Eigenständigem zu verdichten und sich immer mehr auszubreiten, plötzlich durchzuckte ihn ein irrsinniger Schmerz und er brüllte laut auf und stürzte zu Boden. Eine Weile war es schwarz um ihn herum und als er die Augen wieder öffnete, fühlte er sich sehr seltsam. Er gewahrte, dass seine Mutter über ihm stand und dass ihre Augen vor irrsinniger Freude glänzten.

„Es ist gelungen“, flüsterte sie. „Sieh nur, mein Junge, es ist gelungen.“ Und als er sah, was geschehen war, versuchte er zu schreien, aber es kam nur ein schrilles, unmenschliches Geheul aus seiner Kehle. „Du bist etwas ganz Besonderes, mein Sohn und der Erste einer neuen Spezies“, sagte seine Mutter voller Zärtlichkeit.

„ Nun werden sie nicht mehr über uns lachen, oh, nein, mit Furcht und Respekt werden sie uns begegnen und unsere Macht wird wachsen, von Tag zu Tag. Es ist nur bedauerlich, dass wir dieses Mädchen nicht einfach gehen lassen können, denn was heute in diesem Raum geschehen ist, darf noch nicht an die Außenwelt dringen, das verstehst du doch sicher.“ Und damit hatte sie ihre Hände erhoben und einige komplizierte Bewegungen durchgeführt, die zur Folge hatten, dass die Lichtschlangen, die immer noch die völlig entsetzte, vor sich hin weinende Alys hielten, sich nun um deren Hals wandten und langsam das Leben aus ihr herauspressten. Der Junge wollte um Gnade für sie betteln, aber er konnte nur dieses unheimliche Geheul von sich geben und dann war es auch schon vorbei, die Lichtschlangen verschwanden und Alys Leichnam schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Steinfußboden auf.

Der Junge wusste nicht mehr, wie lange er nur dagelegen und geheult hatte, aber irgendwann hatte er sich in einem langen, schmerzhaften Prozess in seinen normalen Körper zurückverwandelt. Während er noch benommen auf den kalten Steinfliesen lag und versuchte, seine schmerzenden Glieder dazu zu bringen, ihm wieder zu gehorchen, hatte seine Mutter sich über ihn gebeugt und ihm die Nadel in den Arm gerammt, die sie gewöhnlich benutzte, um sein Blut zu nehmen, doch diesmal hatte sie ihm etwas gegeben und eine farblose Flüssigkeit in seine Adern gespritzt, die bewirkte, dass er sich fast augenblicklich von seiner Schwäche erholte. Und dann war er aufgestanden und einfach losgerannt, die Rufe, der Mutter ignorierend, die ihm befahl, zurückzukommen, die endlosen Flure entlang und durch das Eingangsportal, vorbei an den verdutzten Wachmännern, die dort posierten und dann die Straße hinunter.

Und er lief immer noch, versuchte dem zu entkommen, was eben passiert war, aber das war nicht möglich, denn es war alles in seinem Kopf und dieses ES, es war immer noch ihn ihm drin, schlief jetzt wieder.Aber er war sich sicher, es würde wiederkommen, denn das war es, was seine Mutter von ihm wollte, und jetzt, da sie einen Weg gefunden hatte, ES herauszulocken, würde sie ihn nie gehen lassen.

Schwer atmend und nach Luft ringend blieb der kleine Junge stehen. Immer wieder hatte er die Richtung gewechselt, weil die Straßen und Gassen, die er entlang lief, plötzlich vor einer hohen, unüberwindlichen Mauer endeten, doch die breite Straße, der er zuletzt gefolgt war, führte direkt auf ein großes, durch ein Fallgitter versperrtes Tor zu, vor dem mehrere Soldaten Wache hielten. Sie musterten ihn aufmerksam, als sie seiner Gewahr wurden und schließlich trat einer der Männer vor und beugte sich zu ihm herunter. „Na komm Kleiner, der Ausflug ist zu Ende“, sagte er freundlich. „Deine Mutter macht sich doch schon Sorgen um dich, was hast du dir nur dabei gedacht, einfach weg zu laufen? Alle Soldaten der Stadt suchen nach dir.“

„Aber ich will nicht mehr nach Hause zurück“, sagte der Junge und sah kläglich zu dem Wachmann auf. „Was redest du da? Schäm dich. So schlimm wird es schon nicht sein, was du ausgefressen hast, und jede noch so gemeine Bestrafung, die sich deine Mama ausdenken kann, geht einmal vorüber, glaub mir“ schmunzelte der Soldat und nahm in an der Hand, um ihn zurück in das Haus seiner Mutter zu bringen. „Nein, das ist nicht wahr“ sagte der Junge, mehr zu sich selbst und ein Schauer überlief ihn „Ich glaube, diese Strafe wird nie vorüber gehen.“ Der Soldat schüttelte nur verwundert den Kopf und dann packte er die kleine Hand des Jungen fester, damit dieser nicht noch einmal entweichen konnte.

Der Weg hinaus




An einem Tag des frühen Sommers, die ersten Anzeichen der kommenden Hitze zogen bereits über das Land, saß Sollthana in ihrem kleinen, mit Büchern und Pergamentrollen vollgestopften Studierzimmer hoch oben im Ostturm der Burg Aradoj und blickte sehnsüchtig über die Wipfel der Bäume in die Ferne.

Von diesem Fenster aus war der Blick atemberaubend schön und durchaus dazu geeignet, auch gewissenhaftere Schüler als Sollthana von ihren Aufgaben abzuhalten: Wie ein grünes, wogendes Meer erstreckte sich der dichte Wald von Wolfar bis zum Horizont, nur unterbrochen vom schimmernden Band des Leek, dessen Quelle nur wenige Meilen weiter nördlich lag und der sich von hier aus viele hundert Meilen bis zum Meer schlängelte.

Schon zu oft hatte sie sich nur zu gerne davon abhalten lassen, sich auf ihre Bücher zu konzentrieren und war lieber in Tagträumereien verfallen. Doch an diesem Tag fiel es dem Mädchen besonders schwer, ihre Aufmerksamkeit auf die Abhandlung -ein besonders langweiliger Text über das Mischen von verschiedenen Kräutersorten- vor ihr zu richten, denn 2 Tage zuvor hatte sie bei ihrer Meisterin, der Dame Eletha, die Prüfungen in Heilkunde abgelegt und nun schweiften ihre Gedanken immer wieder ab und drehten sich um die hoffentlich baldige Verkündung ihres Bestehens oder Scheiterns.

Die Dame war eine ehrwürdige, alte Heilerin von strenger und bestimmter Art und Disziplin ging ihr über alles, so dass es Sollthana nicht verwundert hatte, dass sie auch nach Ablegen der Prüfungen zurück an die Bücher geschickt worden war. Natürlich, es hatte ihr zutiefst missfallen, nach all dem Prüfungsstress einfach wieder in die alte Routine zurückkehren zu müssen, aber sie hatte Eletha nicht widersprochen und wahrscheinlich hätte sie auch einen Monat verstreichen lassen, ohne die Meisterin nach den Ergebnissen zu bedrängen, so groß wahr ihr Respekt vor der alten Dame, nur in ihrem Innersten sah es ganz anders aus und sie hatte das Gefühl, vor Ungeduld fast zerspringen zu müssen. Wenn sie doch nur bestanden hatte!

Sollthana wagte nicht, sich genauer auszumalen, was sein würde, wenn sie gescheitert sein sollte. Die Dame hatte diese Möglichkeit nie ausgeschlossen, aber sie hatte auch nicht gesagt, was in diesem Fall geschehen würde. Zum hundersten Mal sah Sollthana vor ihrem geistigen Auge vor sich, wie sie niedergeschlagen und mit ungewissem Ziel Aradoj verließ, gescheitert und von Dame Elethas Verachtung gestraft - Alles, die ganzen mühseligen Jahre, würden umsonst gewesen sein und sie würde zurückkehren in ein Leben voller Armut und einer ungewissen Zukunft entgegensehen müssen. Oder würde sie noch länger bleiben und noch mehr lernen müssen? Wie man es auch drehte und wendete, die Zukunft sah nicht sehr rosig aus.

Sollthana seufzte und versuchte einen Satz aus dem Schriftstück, in welchem es um Kräuterkunde ging und das seit geraumer Zeit an der gleichen Seite aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch lag, zu lesen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Mekhana, eine der beiden Helferinnen der Dame den Raum betrat. Ihr Atem ging keuchend, als sei sie die steile Wendeltreppe zum Turm hinaufgerannt, dabei war sie nicht mehr die Jüngste und bewegte sich normalerweise nur sehr langsam und würdevoll und auch das nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, dass sie ihren Lehnstuhl verließ.
„Ich komme gleich,“ murmelte Sollthana abwesend, in der Annahme, Mekhana wolle sie zum Mittagessen rufen, aber Mekhana war bereits zu ihr getreten, hatte einen Arm um das Mädchen gelegt und drückte sie nun kräftig an sich. „Du sollst zu ihr kommen, Kindchen“, verkündete sie aufgeregt und drückte noch ein bisschen kräftiger, so dass Sollthana fast die Luft wegblieb.

„Was? Wieso?“ Sollthana musste sich erst wieder in der Realität zurechtfinden. „Nun lass mich schon los, was ist denn nur?“ Endlich hatte sie sich aus Mekhanas Umklammerung befreit und sah stirnrunzelnd zu der freudestrahlenden, älteren Frau auf. „Na, was denkst du denn. Die Dame Eletha erwartet dich in ihrem Studierzimmer. Und was meinst du, was sie dir mitzuteilen hat?“

„Oh, nein, “ stöhnte Sollthana. „Die Ergebnisse....“ Obwohl sie die ganze Zeit diesem Moment entgegengefiebert hatte, schien ihr der Moment der Wahrheit nun plötzlich viel zu früh gekommen zu sein. Mekhana musste ihren verzweifelten Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn sie gab dem Mädchen noch einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und flüsterte ihr verschwörerisch ins Oh: „Nun geh schon, meine Kleine, und keine Angst...Sie hat es uns gesagt, Maghira und mir, du hast die Prüfungen bestanden und sie ist sehr zufrieden mit dir. Und wir, wir sind so stolz auf dich...“

Ihre Augen schimmerten verdächtig und sie suchte umständlich nach einem Taschentuch. In den vergangenen 4 Jahren war das junge Mädchen der alten Dame und ihrer ebenso betagten Schwester sehr ans Herz gewachsen und Sollthana hatte diese Zuneigung durchaus genossen, waren ihr doch Freundlichkeit und Wärme aus ihrem früheren Leben fast völlig fremd gewesen und die Fürsorge der beiden Schwestern hatten sie für manch anderen Aspekt ihres Lebens auf Aradoj entschädigt. Dankbar strich sie ihrer älteren Freundin über die Wange, dann entzog sie sich sanft Mekhanas Armen und dem beginnenden Tränenstrom und machte sich auf den Weg zu Dame Elethas Studierzimmer.

„Im Licht der Sonne sucht du mich
Bin Yslons Stamm, gar fahl und bleich
Doch zieht empor die düstre Nacht
Erstrahl ich hier in deinem Reich.“
aus dem Kräuterhandbuch des Meister Mogs
„Du bist nun frei.“
Dame Eltha sprach diese einfachen Worte mit besonderer Feierlichkeit, dem Ernst und der Würde dieser Stunde angemessen, aber sie lächelte dabei und das versetzte Sollthana mehr in Erstaunen als alles andere. Vier Jahre lang war Eletha ihre Meisterin gewesen und sie hatten ungezählte Stunden zusammen verbracht, aber nie hatte die alte Dame ihre Strenge abgelegt und Sollthana hatte sich oft gefragt, ob überhaupt jemals in ihrem Leben ein Lachen über diese Lippen gekommen war. Ja, ihre Meister/Lehrling Beziehung war sicher von Respekt und Achtung, auch von ein wenig Furcht, aber nie von wirklicher Freundschaftlichkeit durchdrungen gewesen


„Du bist nun frei“, wiederholte Eletha, während Sollthana vor Erleichterung und Freude noch ganz betäubt war. Sie hatte tatsächlich bestanden! Und die Ergebnisse waren durchaus zufriedenstellend gewesen, nun ja, in Kräuterkunde hätte sie besser abschneiden können, wenn ihr nur der andere Name für das Lovantinische Dresselkraut eingefallen wäre, aber sie grämte sich nicht allzu sehr, Kräuterkunde war nicht das wichtigste.

„Frei, deine eigenen Entscheidungen zu treffen, frei zu wählen, wohin du dich wendest und wie du dein Wissen anwenden und erweitern willst“, fuhr die Dame fort. „Ich habe dich alles gelehrt, was ich weiß und du bist mir eine gelehrige Schülerin gewesen, doch wie du das Gelernte nutzen willst, liegt von jetzt an ganz allein bei dir. Bestimmt bist du der Meinung, das nach diesen Jahren des Studiums alles leichter sein wird und das Gröbste überstanden ist, aber sei gewiss, die Jahre der Wanderschaft werden ebenfalls hart und entbehrungsreich sein und es gibt noch viel, was du lernen musst. Du hast dein Ziel noch lange nicht erreicht.“

Sollthana nickte und seufzte in sich hinein. Sie wusste sehr wohl, dass die Jahre der Wanderschaft, die sich an das 4jährige, theoretische Studium anschlossen, 7 zählen mussten, um einem das Recht zu geben, sich Heiler nennen zu dürfen, aber im Augenblick hatte sie nicht vor, sich mit der erschreckend langen Dimension von 7 Jahren und dem, was sie vielleicht durchstehen musste, auseinander zu setzen. Sollthana konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als erst einmal einfach loszuwandern.

4 lange Jahre, angefüllt mit Lernen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang lagen hinter ihr. Den halben Tag hatte sie Unterricht bei Dame Eletha oder ihren Gehilfinnen gehabt, gefolgt von der Studienzeit, die sich Dank der enormen Aufgaben und Lesemengen, die Eletha ihr aufgebürdet hatte, oft bis in die Nacht hinzogen, mit roten Augen und schmerzendem Schädel hatte sie bei Kerzenschein die alten Bücher und Schriftrollen studiert, bis sie der Schlaf irgendwann übermannte. Die Grundlagen der Sprache, Lesen und Schreiben, etwas Historie, Mathematik, Anatomie, Alchemie, die Lehre von den Krankheiten, Kräuterheilkunde und Geburtshilfe, Wundversorgung und die Theorie der Knochenbrüche, die Behandlung von Geistesverwirrungen und Trunksucht, Heilsprüche und die Lehre von den Seuchen...Sollthana hatte das Gefühl gehabt, nie all das in ihren Kopf hineinzubekommen, was Eletha ihr da an Wissen unterbreitete.

Und zwischen alldem hatte sie oft genug die Gelegenheit erhalten, sich in der Praxis zu üben, wenn die Bewohner der umliegenden Dörfer und Gehöfte vorstellig wurden, um ihre Beschwerden kurieren zu lassen und häufig hatte sie auch die Dame begleitet, wenn diese zu Geburten oder schwerkrank daniederliegenden Patienten gerufen wurde. Es war eine harte Zeit für Sollthana gewesen und oft genug hatte sie sich in den Schlaf geweint, fest davon überzeugt, dieses Leben keinen Tag länger ertragen zu können. Immer, wenn sie sich besonders schlecht fühlte, hatte sie sich selbst vor Augen gehalten, wie dumm und undankbar sie war und welche Chance ihr das Schicksal gegeben hatte, als es sie vor 4 Jahren an die Tore von Aradoj klopfen ließ.

Denn bis dorthin schien ihre Zukunft viel Schlimmeres als eine anstrengende Lehre und eine gestrenge Meisterin zu verheißen. Geboren wurde Sollthana in einem Fischerdorf an der Ostküste, wo sie in Armut und absoluter Unwissenheit unter einem Dutzend Geschwister aufwuchs, mit 11 Jahren schickten ihre Eltern sie in die Fremde, damit sie dort ihren Lebensunterhalt verdiene, denn in ihrem Dorf Binnhall herrschten Hunger und Mangel an allem zu dieser Zeit.

Doch auch in Mazzar, der Hauptstadt des Reiches Magazeniens, in die sie es verschlug, war ihr kein Glück beschert gewesen, nur noch größeres Elend hatte sie erwartet, eine Anstellung als Dienstmagd oder Küchengehilfin, wie sie sich erhofft hatte, war nicht zu finden, zu viele gab es wie sie, die vor der Armut auf dem Lande geflohen waren und nun darauf hofften, in der Stadt ein besseres Leben zu finden. Mit Bettelei und kleinen Diebstählen hatte sie sich eine Zeitlang mehr recht als schlecht durchgeschlagen, bis in der überfüllten, dreckigen Stadt zum wiederholten Mal die Farenza ausbrach, eine Seuche, die vielen Menschen das Leben kostete. Auch Sollthana erkrankte an dem schweren Fieber, und lange Tage verbrachte sie, mal wachend mal schlafend, meist von Albträumen geplagt, auf einem Dachboden, als Gesellschaft nur die Ratten, gegen deren Angriffe sie sich in ihrem geschwächten Zustand kaum erwehren konnte.

Sie hatte überlebt, nur um gleich darauf wieder vom Hungertod bedroht zu sein, denn so viele waren gestorben, dass die Lebensmittelversorgung in der Stadt zusammengebrochen war und schreckliche Szenen spielten sich ab, als die wenigen Überlebenden sich für ein Stück Brot oder ein paar Kohlblätter gegenseitig abschlachteten.

Sollthana hatte die Stadt, die ihr eine bessere Zukunft hatte bringen sollen verlassen, um das nackte Leben zu retten und wand sich gen Osten, fort von den Seuchengebieten. Viele Wochen und Monate war sie unterwegs in den dichten Wäldern Maldeviens und ernährte sich von dem, was die Natur ihr bot, nahe an die bewohnten Gehöfte traute sie sich bald nicht mehr, denn es gab viele, die heimatlos und hungrig waren und einige, die jeden Skrupel verloren hatten und die einsamen, abgelegenen Höfe überfielen, um sich zu nehmen, was sie brauchten. Als Reaktion darauf waren die Bauern sehr misstrauisch geworden und ließen keinen Fremden mehr auf ihr Grundstück, die wenigen Male, die Sollthana versucht hatte, nach Essen zu betteln, behielt sie in schlechter Erinnerung, sie wurde mit Stöcken und Steinen vertrieben und einmal hetzte man die Hunde auf sie, nur mit knapper Not war sie den gefährlichen Reißzähnen der ebenfalls ausgehungerten Biester entkommen.

Es dauerte eine Weile, bis die Angst und Verzweiflung, die sie zu Anfang besonders in der Nacht überfielen und die Sehnsucht nach anderen Menschen etwas nachließen. Immer war sie auf engstem Raum mit anderen Menschen zusammengewesen, so war es zuhause in Binhall gewesen, wo 14 Personen in einem Raum geschlafen hatten, die Wärme, der Mief, die vertrauten Geräusche, und auch in Mazzar hatte sie ihr Nachtlager meist mit anderen Straßenkindern geteilt, so dass sie sich nun unendlich verlassen vorkam, auch fürchtete sie sich vor den unheimlichen Geräuschen des Waldes und manchmal schlich sie in der Dunkelheit doch in die Nähe eines Hofes, nur um das Licht in den Fenstern zu sehen und sich den menschlichen Bewohnern nahe zu fühlen.

Aber sie war noch zu sehr ein Kind, um lange mit ihrer neuen Situation zu hadern, die Erinnerungen an Mazzar und ihre Familie in Binhall verblassten von Tag zu Tag mehr und mit einmal wurde ihr bewusst, welch ungewohnte Freiheit sie gewonnen hatte. Entronnen war sie dem harten, oft von Schlägen begleiteten Arbeitstag auf den Feldern, Vergangenheit war die Bettelei, das Stehlen, die Angst davor, erwischt und in den Kerker geworfen zu werden.

Es gab niemanden, der Vorschriften oder Gebote aussprach, Schläge androhte oder zu ungeliebten Arbeiten antrieb, keine vorgeschriebene Zeit zum Aufstehen und Schlafengehen, kein Schimpfen und Schelten. Stattdessen streifte sie nun durch den Wald, kletterte in die höchsten Wipfel, baute sich Laubhütten, spielte selbsterfundene Spiele. In den Flüssen und Seen badete sie oder lag nur einfach am Ufer, sah den Libellen und Schmetterlingen nach und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Es gab keinen Mangel an essbaren Beeren, Wurzeln und Pilzen und mit der Zeit wurde sie mutiger und fing kleinere Nagetiere in einer selbstgebauten Falle, doch sie musste sie roh verzehren, da sie kein Feuer machen konnte.

Frühjahr und Sommer vergingen so, wie ein kleines, scheues Tier lebte Sollthana in den Ostwalden und sie hätte weiter so leben mögen, wenn nicht der Herbst mit seinen Stürmen begonnen hätte, ungemütlich kalt und nass war es nun geworden und auch Nahrung ließ sich immer schwerer finden.
Sollthana musste sich mit dem Gedanken anfreunden, noch vor dem Winter einen Unterschlupf zu finden, wenn sie überleben wollte und so zog sie weiter nach Westen, bis sie an die Grenze nach Prahatien und in das Gebiets des Waldes von Wolfar kam. War es nun reiner Zufall oder Schicksal, welches sie schließlich nach Aradoj lenkte, ausgerechnet zu jener abgelegenen Burg, in der die Dame Eletha sie nur zu erwarten schien?

„Zuerst ist blütenweiß,
des Rindes Sud, bitter wie Gevatter Tod,
wird blau erst, braust du ihn heiß
dann leuchtet wie Rubin so rot“
aus dem Kräuterhandbuch des Meister Mog

„ Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wohin du dich zuerst wenden willst?“ unterbrach die Dame Sollthanas Gedanken. Das Mädchen fuhr schuldbewusst zusammen und schüttelte den Kopf, aber Eletha schenkte ihr nur ein weiteres warmes Lächeln und fuhr fort: „Es stehen dir viele Möglichkeiten offen, aber mein Rat ist, dein bereits erworbenes Wissen zu nutzen und deine praktischen Fähigkeiten zu üben.
Folge den Heerscharen des Krieges, Schwert und Lanze sind nur allzu freigiebig darin, einer Heilerin Arbeit zu verschaffen und von den Wundheilern kannst du viel lernen. Geh in die Städte, dort wo das Volk arm ist und auf engstem Raum zusammen lebt, gedeiht Krankheit reichlich, aber das hast du ja am eigenen Leibe erfahren. Doch was auch immer du tust, ich hoffe, dass du immer an dem Schwur, den du getan hast festhalten und nie den einen, geraden Weg verlassen wirst.“

Eletha sah ihre Schülerin durchdringend an und Sollthana nickte einmal wieder und senkte dann die Augen, denn selbst wenn sie wohlwollend gestimmt war, hatten Elethas eisblaue Augen diese Wirkung auf sie, sie konnte diesem Blick einfach nichts entgegensetzen. Langsam wurde sie nun auch ungeduldig, sie wollte nur noch raus aus Elethas Arbeitszimmer und die frohe Kunde in die Welt hinausschreien. Aber ihre Meisterin war noch nicht fertig. „Ich bin froh, mich für dich als meine Schülerin entschieden zu haben. Du hast dich würdig erwiesen, die alten Wissenschaften zu erlangen und die Kraft und das Wissen in di Welt hinauszutragen. Manches Mal mag ich dir sicher zu streng erschienen sein, aber glaube mir, die Geduld, Enthaltsamkeit und Disziplin, die du hier erlernt hast, werden dir auf deinem weiteren Weg von großem Nutzen sein.“ „Oh, ja, Dame Elethas, „ pflichtete ihr Sollthana hastig bei. „Gewiss.“

Ein prüfender Blick aus den strengen Augen traf sie, die Dame seufzte: „Mein Kind, ich zweifle nicht an deiner gegenwärtigen Entschlossenheit und an deinem guten Willen, aber schon viele andere vor dir sind den Verlockungen der macht erlegen und wurden de Schwur untreu. Möge deine Stärke nie erschüttert werden. Doch nun ist es genug mit meinem Gerede, es soll ein Tag der Freude für dich sein und nicht ein Tag der Unkenrufe. Auch wenn du so bescheiden den Kopf gesenkt hältst, deine Ungeduld merke ich dir wohl an. Die Straße wartet auf dich, auf mich ein Studierzimmer voller Arbeit und die Ankunft eines neuen Schülers- nur eines will ich dir noch mit auf den Weg geben.“

Die Meisterin erhob sich aus ihrem Lehnstuhl und trat an ein Tischchen, welches sich bereits unter der Last von Büchern und Schriftrollen bog, sie griff nach einem in Leder eingeschlagenen Buch, welches ganz zuoberst lag und überreichte es ihrer Schülerin. „Du weißt, was ich dir über Zauberei und magische Fertigkeiten gesagt habe und ich glaube, du hast verstanden, dass es gefährlich ist, sich damit abzugeben, dennoch will ich dir die Sprüche der Frau Adailoe schenken, ich habe bemerkt, dass du gerne daraus gelesen hast und bin mir sicher, du wirst vernünftig mit diesem Geschenk umgehen. Es soll dich ein bisschen an deine alte Meisterin erinnern.“

Sollthana nahm die kostbare Gabe ehrfürchtig entgegen. Das Buch war sicher 500 Jahre alt, in kostbares Leder gebunden und mit detailgetreuen, wunderschönen Illustrationen versehen. Immer, wenn sie etwas Zeit erübrigen konnte, hatte sie sich das Buch ausgeliehen und war in den uralten Überlieferungen und geheimnisvollen Formeln und Sprüchen der berühmten Magierin Adailoe versunken. Natürlich, heutzutage war Magie verboten und Eletha hatte ihr immer wieder eingeschärft, dass sie auch auf ihrem späteren Weg nur den Lehren der Heilkunst treu bleiben sollte, aber spannend war es trotzdem über diese Dinge zu lesen. „Ich danke Euch, ich danke euch für alles, Dame Elethas“, stammelte sie unbeholfen. Vorsichtig ergriff sie die schlanke, blasse Hand der Dame und küsste sie.

„Nun geh, kleine Sollthana. Du weißt, es wird hier immer einen Platz für dich geben, auch wenn noch so viele Jahre bis zu einem Wiedersehen vergehen. Lebewohl und gib gut auf dich acht.“

Als sich die schwere Eichentür des Studierzimmers hinter Sollthana geschlossen hatte und sie draußen auf dem düsteren Korridor stand, atmete sie erst mal tief aus. Sie hatte es tatsächlich geschafft! Am liebsten hätte sie laut aufgejauchzt vor Freude und Erleichterung.

Rasch stieg Sollthana die schmale Wendeltreppe zu ihrer Schlafkammer hinauf und stieß die Tür auf. Ihre wenigen Habseligkeiten waren schnell gepackt, sie hatte nicht vor, auch nur noch eine Nacht in dem stickigen Kämmerchen zu verbringen. Heute Nacht würde sie unter einem Baldachin von grünbelaubten Wipfeln ruhen und sich am Morgen vom Gesang der Vögel wecken lassen. Vielleicht würde sie aber auch einfach schlafen, bis die Sonne hoch am Himmel stehen würde und niemand würde sie noch vor dem Morgengrauen aus dem Bett scheuchen und hinter die Bücher zwingen.

Das Mädchen hatte ihr Bündel gepackt und warf nun einen letzten Blick in die Runde, bevor sie die Tür hinter sich ins Schloss warf und immer 2 Stufen auf einmal nehmend die steile stiege hinuntersprang und atemlos in der großen Halle im Erdgeschoss ankam. Die hohen, buntglasigen Fenster standen weit offen und der Geruch des Sommers war bis in die ehrwürdigen Gemäuer von Aradoj gedrungen. Mekhana und Maghira, die beiden Gehilfinnen der Meisterin, saßen in einem sonnenbeschienenen Winkel und unterhielten sich leise, als Sollthana neben sie trat, sahen sie erschrocken auf.

„Mädchen, du hast ja schon Reisekleidung und Stiefel an“, rief Mekhana aus. Willst du denn heute schon aufbrechen?“ Ihr gutmütiges, rotes Gesicht legte sich in kummervolle Falten. „Heute?“ lachte Sollthana „Was heißt hier heute? Jetzt gleich will ich fort. Ich habe wahrhaft lange genug auf diesen Augenblick gewartet und jetzt können mich keine 1000 Teufel noch länger hier halten.“ Ach, mein liebes Kind,“ sagte Mekhana traurig und ergriff ihre Hand, „so sprichst du nun, berauscht von deiner wiedergewonnenen Freiheit, aber die Jahre der Wanderschaft bergen viele Entbehrungen und Gefahren und es wird früh genug der Tag kommen, an dem du dich nach der Sicherheit und Geborgenheit von Aradoj zurücksehnst. So bleib doch noch diese eine Nacht, ich bitte dich, davonlaufen wird dir gewiss nichts, mein Schäfchen. Wenigstens ein letztes festliches Mahl wollte ich dir bereiten lassen, bevor du uns verlässt.“

„ So lass ihr doch ihren Willen, “ mischte sich nun ihre ältere Schwester, die hagere Maghira ein. „Wie können wir es ihr verdenken? Hast du nun schon zu lange die Bequemlichkeit von warmen Betten und vollen Töpfen genossen, um dich an unsere eigene Wanderschaft zu erinnern? Ich sage dir, an jenem Tag, als Eletha uns den Abschied sprach, waren wir schneller verschwunden als der Blitz.“ Mekhana funkelte ihre Schwester erbost an und Sollthana konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Es war aber auch nicht einfach, sich die beiden betagten, auf den Beinen nicht mehr ganz sicheren Damen in blitzartiger Geschwindigkeit vorzustellen.

Aber Maghira ließ sich nicht beirren. „Wir zwei, “ verkündete sie würdevoll, auf ihre schmollende Schwester deutend, „wir zwei fühlten genau wie du. Wir waren jung und voller Tatendrang und Abenteuerlust.“ Wehmütig blickte sie auf ihre zitternden, von Altersflecken übersehen Hände. „Auch wenn Mekhana sich nicht mehr daran erinnern kann – oder will. Es ist wahr, fast ein Menschenalter ist seit dieser Zeit vergangen und in den vielen Jahren, die wir nun wieder auf Aradoj leben, ist unser Dasein ruhiger geworden, aber die Erinnerung an unsere Wanderschaft ist immer in mir lebendig geblieben.“

Mekhana, die bis dahin trotzig geschwiegen hatte, schnaubte bloß: „Pah, altes Weib, was nützen dir die schönsten Erinnerungen, wenn du kaum mehr die Stiegen zu deinem Schlafgemach erklimmen und nicht einmal mehr ein gutes Stück Braten kauen kannst?“ Sollthana lachte aus vollem Hals, aber sie spürte plötzlich auch einen Anflug von Wehmut. Trotz allem war ihr Aradoj in den vergangenen 4 Jahren zur Heimat geworden und sie würde vor allem die beiden alten Schwestern, die sich immer rührend um sie gekümmert hatten, sehr vermissen. Doch sie kam nicht dazu, weiter zu grübeln, denn Maghira war aufgestanden und hatte ihre Hand ergriffen.

„Ich hab mir ja schon gedacht, dass du uns heute schon verlässt, also habe ich bereits einige Dinge für dich vorbereitet.“ Sie wies auf eine Packtasche auf dem Tisch neben sich-„ ein paar Vorräte, ein Wasserschlauch, ein Messer, eine Zunderbüchse, eine Schlafdecke und natürlich auch eine Auswahl an Heilmitteln und Behandlungsutensilien, die Eletha selbst zusammengestellt hat.“ „Ich danke Euch, das ist wirklich lieb von Euch“, sagte Sollthana gerührt. Maghira hob abwehrend die Hände.“ Ich bitte dich, das ist doch nichts. Wir haben aber auch noch ein richtiges Geschenk für dich.“ Sie warf Mekhana einen verschwörerischen Blick zu und zauberte ein weiteres Bündel hinter ihrem Rücken hervor. Darin befand sich ein Dolch in einer hübschverzierten, ledernen Scheide, gerade richtig, ihn am Gürtel zu befestigen.

„Mekhana! Maghira!“ rief das Mädchen, halb belustigt, halb empört aus und schwenkte ungeschickt die Waffe einmal durch die Luft. „Was habt ihr euch denn dabei gedacht? Ich habe nur vor, eine gute Heilerin zu werden – keine Kriegerin. Ich will keine Wunden verursachen, ich will sie versorgen, zum Donner. Außerdem weiß ich mit dem Ding ja noch nicht einmal umzugehen, wahrscheinlich werde ich mich nur selber damit verletzen.“ „Wenn irgendein Strolch deiner Ehre etwas anhaben will, wirst du schon wissen, was du damit zu tun hast, “ versetzte Maghira im Brustton der Überzeugung.

„Nun gut, hübsch anzusehen ist er ja und er ist ein Geschenk von euch, also werde ich ihn immer in Ehren halten, es sei denn, ich gerate einmal in solche Geldnöte, dass ich ihn versetzen muss,“ fügte Sollthana schelmisch hinzu und beeilte sich dann weiterzusprechen. „Ich danke euch jedenfalls vielmals für das Geschenk und für alles, was ihr für mich getan habt, für eure Güte und Freundlichkeit. Ich werde euch nie vergessen und passt nur auf, die 7 Jahre sind vorbei wie im Flug und wenn wir uns dann wiedersehen, werden wir das Festmahl nachholen und nächtelang am Kaminfeuer sitzen und unsere Abenteuer austauschen.“

Sie umarmte erst Mekhana, dann Maghira und versuchte zu ignorieren, dass beide schon feuchte Augen hatten, dann unternahm sie noch einen letzten Rundgang durchs Haus, um sich auch noch von dem Hausdiener und der Köchin zu verabschieden, und dann gab es wirklich keinen Grund mehr, noch länger zu verweilen. Die beiden alten Schwestern begleiteten Sollthana noch bis ans Tor, um ihr Lebewohl zu winken, aber nachdem sie einmal die Schwelle übertreten hatte, drehte sie sich nicht mehr um, sie hatte Angst, dann vielleicht doch noch weinen zu müssen und das ziemte sich für eine Heilerin auf Wanderschaft nun wirklich nicht.

„Nun Yslons Sud ist frisch bereitet,
drum nimm die wehe Stelle her
streich ein damit, ein bisschen mehr,
dafür das Bein nun wieder schreitet“

aus dem Kräuterhandbuch des Meister Mog

Starroff




Die erste Zeit ihrer wiedergewonnenen Freiheit verbrachte Sollthana in einem wahren Taumel der Glückseligkeit. Sie konnte sich später beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie viele Tage sie einfach nur durch den Wald und die weiten, üppigen Wiesen, die Aradoj umgaben gestreift war.
Der Sommer leuchtete in den buntesten Farben und es war warm genug, um einfach irgendwo das Nachtlager aufzuschlagen und unter den Sternen zu schlafen. Sollthana badete in den Flüssen und Seen, lag stundenlang in der warmen Sonne und stopfte sich mit den köstlichen, süßen Beeren voll, die überall reiften.

Das alles erinnerte sie so sehr an die Zeit vor 4 Jahren, als sie schon einmal so lange Zeit im Wald verbracht hatte und doch betrachtete sie ihr damaliges ich aus der Distanz der älter gewordenen. Wie jung sie doch damals gewesen war, keine 12 Jahre alt, als sie an einem Nachmittag den Wald entgültig hinter sich gelassen hatte und an das schwere Holztor von Aradoj geklopft hatte, auf ihrer suche nach einer Bleibe für den Winter.

Es war Mekhana, die ihr geöffnet hatte und Sollthana erinnerte sich belustigt daran, wie entsetzt der Blick der Frau gewesen war, als sie ihrer ansichtig wurde und wie sie nach Arbeit hatte fragen wollen, einer Anstellung als Küchengehilfin oder Stubenmädchen, aber nur ein Krächzen herausbekam, solange hatte sie nicht mehr mit einer anderen Menschenseele gesprochen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Sollthana sich auch schon sehr lange Zeit nicht mehr in einem Spiegel betrachtet und sie erschrak selber, als Mekhana sie durch die Eingangshalle führte und sie im Vorbeilaufen in dem lebensgroßen, goldgerahmten Spiegel dieses verwilderte Geschöpf mit dem struppigen, verfilzten Haaren und den spärlichen Lumpen auf dem abgemagerten, vor Schmutz starrendem Leib sah.

Zu ihrer unsäglichen Verwunderung hatte man sie jedoch trotz dieses Aussehens nicht fortgejagt, ihr aber auch keine Arbeit gegeben, stattdessen hatte sie in ihren ersten Wochen auf Aradoj den Status einer Patientin. Mekhana und Maghira hatten sie unter viel Getue in ein Bett gesteckt, aus dem sie sich nicht ohne Erlaubnis herausrühren durfte, obwohl Sollthana den Beiden immer wieder versicherte, dass es ihr doch an nichts fehlte, sie wurde mit den wohlschmeckendsten Speisen gefüttert, bis sie wieder ein bisschen Fleisch angesetzt hatte und bedient von vorne bis hinten, so dass sie sich vorkam wie eine verwöhnte Prinzessin.

Eines Morgens dann, mit entfilzten Haaren und neuen Kleidern versehen, wurde sie erstmals der Dame Eletha vorgeführt. Bis zu diesem Moment war sie der Meinung gewesen, die beiden Schwestern seien die Herrinnen der Burg und die respekteinflössende Eletha jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. Sollthana bekam kein Wort heraus, dabei hatte sie sich doch für die ihr erwiesene Freundlichkeit bedanken wollen und um Arbeit bitten, aber die Dame schien das nicht zu interessieren, sie musterte sie nur aufmerksam mit ihren eisigen Augen, die das Mädchen an einen Raubvogel erinnerten und nach dieser eingehenden Begutachtung wurde sie wieder fortgeschickt.

Am folgenden Tag wurde sie wieder zu Eletha gerufen und in ruhigen, aber sehr bestimmten Ton wurde ihr erklärt, dass sie ab diesem Tage eine Schülerin der Heilkunst sei und damit rechnen solle, etwa 4 Jahre auf der Festung Aradoj zu verbringen. Ob Sollthana irgendwelche familienangehörigen habe, die sie vorher benachrichtigen wolle?

Sie war so verduzt gewesen, dass sie überhaupt keinen Widerstand geleistet hatte und dann war es auch schon zu spät gewesen. Sehr viel später hatte ihr Maghira einmal erzählt, dass alle Schüler, die Dame Eltha ausgebildet hatte, auf ähnliche Art und Weise zu ihrer Ausbildung gekommen waren. Sie waren nach Aradoj gekommen mit irgendeinem Anliegen oder Begehr und sie waren geblieben.

Andersrum hatte niemals jemand, der aus freien Stücken gekommen und nach einer Lehrstelle gefragt hatte, Elethas Ansprüchen genügt. So war es gekommen, dass ehe sie es sich versah, aus der kleinen Waldbewohnerin und Streunerin eine Gefangene der Bücher geworden war.

Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie sich durch die schwere Kunst des Lesens und Schreibens hatte kämpfen müssen, um überhaupt erst mal mit dem eigentlichen Lehrstoff beginnen zu können. Wenn sie geahnt hätte, was sie noch alles erwarten würde, hätte sie sicher schon dort die Flucht ergriffen. Doch war es das nicht alles wert gewesen? 7 Jahre lagen vor ihr, in denen sie das Privileg genoss zu reisen und dank ihrer Kunst überall willkommen zu sein und danach würde sie vielleicht eine ebenso berühmte Heilerin wie Dame Eltha sein und in einer Burg wie Aradoj residieren.....

So unbeschwert Sollthana auch anfangs ihre Freiheit genoss, irgendwann begann sich doch ihr Gewissen zu melden. Langsam war es an der Zeit, sich wieder auf ihre Aufgabe zu besinnen, vom Träumen allein würde sie ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Sie hatte beschlossen, zuerst nach Starroff, der nächstgelegenen, größeren Stadt zu reisen und dort über weiteres Vorgehen zu entscheiden und so wanderte sie gemächlich immer Richtung Süden, bis der Wald sich allmählich lichtete und in Felder und Viehweiden überging.

Nun begegnete sie auch Bauern und Feldarbeitern der umliegenden Gehöfte und Weiler, von denen ihr viele von ihren Patientenbesuchen mit Eletha bekannt waren. Lork, ein Bauer der zum Markttag nach Starroff unterwegs war, nahm sie das letzte Stück auch seinem Eselkarren mit und so erreichte Sollthana in den frühen Abendstunden die Stadt.

Schon lange hatte sie keine größere Ansiedlung von Menschen mehr besucht, aber Starroff, hässlich, dreckig und laut, voller unangenehmer Gerüche und mit seinen matschigen, von Unrat übersäten Straßen, erinnerte sie unangenehm an Mazzar. 1-2 stöckige, hölzerne Bruchbuden säumten die Wege und Gassen, auf denen selbst zu dieser Stunde noch ein Gedränge und Geschiebe herrschte, Händler boten lautstark ihre Waren feil, Lasten wurden vorbeigeschleppt und wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht unter die Räder eines der vielen Pferde- und Eselkarren geraten.

Betrunkene stolperten aus den zahlreichen Bordellen und Tavernen, Streitlust lag in der Lust. Die ganze Stadt erweckte den Eindruck eines riesigen Durchgangslagers und genau das war sie auch- direkt an der Kreuzung der vier Karawanenstraßen gelegen, war sie unvermeidlicher Zwischenstopp und Sammelpunkt, ganz gleich ob man nach Süden bis zum Meer, in die östlichen Königreiche, nach Westen ins Delta des Sterynge oder in den Norden des Königreichs Prahatien reisen wollte.

Hier konnte man sich auf den Proviantmärkten mit allem Notwendigen eindecken, Reittiere oder auch Lastenträger erstehen, Geschäfte abwickeln und Vergnügungen jedweder Art nachgehen. Für Sollthana war die hektische Betriebsamkeit dieses Ortes nach den Jahren der Abgeschiedenheit auf Aradoj ein Greul. Das Geschrei der Händler, die aufdringlichen Possen der Gaukler, das ständige Gedränge und der Geruch der Menschenmassen zerrten gehörig an ihren Nerven.

Sie hätte fast aufgeschrien vor Schreck als direkt vor ihr ein bulliger, rotgesichtiger Mann aus der Tür einer Schenke stolperte und Halt suchend nach ihrer Schulter grabschte: „He, mein Täubchen, willste nich' 'nem alten Mann ein bisschen Vergnügen verschaffen -was meinste?“ Der Atem des Mannes stank nach Branntwein und Zwiebeln und Sollthana wich angewidert zurück. „Nu komm schon, stell dich nicht so an.“ Er griff jetzt fester zu, seine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Schultern und Sollthana dachte an den Dolch, den die beiden alten Schwestern ihr geschenkt hatten, der aber unerreichbar ganz unten in ihrem Bündel verstaut lag. Vielleicht sollte sie von nun an doch darüber nachdenken, ihn am Gürtel zu tragen. Zu ihrem Glück lockerte der Mann kurz seinen Griff, als er von einem anderen Betrunkenen angerempelt wurde und sich umdrehte, um ihn ordentlich zu beschimpfen, schnell schlüpfte sie unter seinen Armen hindurch und flüchtete.

Die Menge hatte sie bald verschluckt, aber sie hörte noch seine wütenden Rufe, dass sie zurückkommen solle, sie lief weiter, bis sie ganz sicher war, dass er ihr nicht nachkommen würde und blieb dann keuchend vor Anstrengung an einer etwas ruhigeren Straßenecke stehen. Sie merkte, dass eine einzelne Träne über ihre Wange kullerte und wischte sie wütend weg. Was war nur los mit ihr? Es konnte doch nicht angehen, dass dieser kleine Zwischenfall sie dermaßen außer Fassung gebrachte hatte.“ Reiß dich zusammen, Sollthana. Du bist doch kein kleines Kind mehr, “ schalt sie sich selbst.

Als sie sich wieder etwas gefasst hatte, machte sie sich erst mal auf die Suche nach dem Nachtquartier, dass ihr Lorc empfohlen hatte. Es erwies sich als eine Massenunterkunft, eine zugige Halle in der über hundert Personen auf dünnen Strohmatten nächtigten, aber es kostete nur ein paar Dimez und es sollte ja nur für ein oder zwei Nächte sein. Da sie keine Lust mehr verspürte, sich noch einmal de, stress auszusetzen, auf die Strasse zu gehen, ging sie an diesem Abend früh und ohne Abendmahlzeit zu Bett.


Als Sollthana am nächsten Morgen erwachte, war sie übernächtigt und gereizt. Sie hatte kaum Schlaf gefunden bei dem ständigen Schnarchen, Husten und anderen Geräuschen, die so viele Menschen auf einem Haufen verursachten. Auch die Angst, ausgeraubt oder wieder Opfer einer männlichen Attacke zu werden, hatte sie wach gehalten und als sie endlich einmal eingeschlummert war, hatten Albträume sie gequält.

Zu allem Überfluss war die Decke, die man ihr gegeben hatte, nicht ganz so sauber gewesen, wie es wünschenswert war und nun juckte ihr ganzer Körper von Floh und Wanzenbissen. Während sie nun durch die Straßen der Stadt lief, in der langsam wieder das Leben erwachte, kam sie zu dem Entschluss, diesen unwirtlichen Ort so schnell als möglich zu verlassen. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, erst ein bisschen Geld für die Weiterreise zu verdienen und in Ruhe zu überlegen, wohin sie sich als Nächsten wenden sollte, aber nach ihren Erfahrungen mit Starroff hatte sie nur noch den Wunsch sobald als möglich aufzubrechen, wohin auch immer.

So ließ sich Sollthana, während sie an einem Straßenstand ein Frühstück aus Weizengrütze und altbackenem Brot verzehrte, noch mal alle Möglichkeiten, die ihr offenstanden, durch den Kopf gehen: Wenn sie sich nach Süden wand, nach Magazenien oder gar nach Messenien würde das eine Reise von mehreren Wochen oder gar Monaten bedeuten.

Die westliche Richtung einzuschlagen verspürte das Mädchen wenig Verlangen, war sie doch in Sonesh, einem westlichen Fürstentum aufgewachsen und auch nach Maldevien, in deren Hauptstadt Mazzar sie so schlechte Erfahrungen gemacht hatte, zog sie nichts zurück. Im Osten lag das Reich Tohumbec und das Delta des Sterynge – dahinter weite, unbekannte Lande, von kriegerischen Volkstämmen besiedelt.

Als letztes blieb der Norden Prahatiens und das angrenzende Smaranska, dort war in den letzte Wochen ein lange schwelender Konflikt ausgebrochen und es war bereits zu kleineren Gefechten zwischen prahatischen und smaranskischen Truppen gekommen. Hatte nicht Dame Eletha gesagt, der Krieg würde einer Heilerin genug Beschäftigung bieten?

Sie hatte nicht viel Erfahrung mit Wunden sammeln können, ein paar Mal hatte sie Holzarbeiter behandelt, die sich mit ihrer eigenen Axt verletzt und Kinder, die sich beim Spielen einen Arm oder Beinbruch zugezogen hatten, also war es sicher nicht schlecht, auf diesem Gebiet Erfahrung zu sammeln. Ja, dieser Gedanke begann ihr zu gefallen. Nicht einmal alleine zu reisen brachte sie mehr, wenn sie sich gleich hier nach einer frischen prahatischen Einheit umschaute, die sich zum Abmarsch ins Kampfgebiet sammelte.Bestimmt konnte sie gleich die Wundheiler bitten, sie in ihrer Mitte aufzunehmen.

Als Sollthana ihr Frühstück beendet hatte, waren die Müdigkeit und die schlechte Laune von ihr abgefallen, ihr Entschluss war gefallen und sie war voller Tatendrang und Optimismus. Sogleich machte sie sich auf ins Herz der Stadt, wo der große Karawanensammelplatz lag, der selbst in dieser frühen Stunde bereits vor Leben barst.

Das Mädchen schlenderte über den ausgedehnten Platz und lauschte den Rufen und Ankündigungen der Sammler, die sich gegenseitig zu überschreien versuchten. In einer Stadt wie Starroff trafen jeden Tag Hunderte Reisende, man trennte sich von Reisegefährten und suchte nach Neuen, Karawanen mussten zusammengestellt oder neu formiert werden, reiche Händler und Kaufleute suchten nach bewaffnetem Begleitschutz.Um all dies und noch viel mehr kümmerten sich die Sammler, deren Meister Abelain Cunwicke war, der den Überblick über alles und jeden auch im größten Chaos zu behalten schien und an dem kein Weg vorbeiführte.

Auch Sollthana fand sich alsbald vor seinem mit Papieren übersäten Schreibpult wieder und trug ihr Begehren vor. Der gute Cunwicke zog das Gesicht in kummervolle Falten, als sie geendet hatte. „Den Kriegstross habt Ihr gerade verpasst, junge Dame – sie sind schon gestern Morgen aufgebrochen, tut mir sehr leid. Aber vielleicht kann ich euch eine andere Mitreisegelegenheit anbieten?“ fügte er sogleich geschäftstüchtig hinzu. „Ich hätte da noch einen Platz in einer Karawane, die heute Mittag nach Krowland aufbricht – mit eigenem Reittier, Begleitschutz und Verpflegung macht das nur, lasst mich nachdenken, nur 120 Dimaz, plus Vermittlungsgebühr 10 Dimaz, plus....“

„Nein, nein“, unterbrach ihn Sollthana hastig. „Ich brauch keine andere Karawane, Meister Cunwicke, ich muss unbedingt diesen Kriegstross einholen. Gibt es denn gar keine andere Möglichkeit?“ Cunwicke starrte sie, sichtlich aus dem Konzept gebracht, eine Weile verdattert an und brummte dann:“ Nun gut, lasst mich sehen, was ich noch habe, “ und verschwand dann in dem Wust von Pergamenten und Schriftrollen auf seinem Schreibpult, wobei er beständig vor sich hinmurmelte und seufzte.

Als er endlich wieder auftauchte, strahlte er über sein ganzes rundes, glänzendes Gesicht: „Ah, seht Ihr, ich wusste doch, es würde sich noch etwas für Euch finden. Es wäre ja auch nicht zu verantworten, Euch ganz allein den weiten Weg in den Norden machen zu lassen.“ Umständlich zog er ein Schriftstück hervor und wedelte ihr damit vor der Nase herum. „Ein Schriftgelehrter, sein Name ist Andraic und er hat ebenfalls den Tross verpasst, ist auf der Suche nach Mitreisenden, die nach Norden wollen. Er sagte mir, er will um die Mittagszeit am Standbild des Gr0ßen Kriegers auf eventuelle Weggefährten warten. Wisst ihr, wo das zu finden ist?“

Sollthana schüttelte den Kopf: „Danke, Meister Cunwicke, aber ich werde es schon finden.“ „Ja, junge Dame, mehr kann ich Euch leider nicht bieten. Dieser Tage reisen nicht allzu viele Zivilisten in den Norden, verständlich, man weiß nicht, wie sich das noch alles entwickelt. Und Ihr wollt wirklich nicht noch einmal über die Möglichkeit nachdenken, vielleicht doch eine andere Karawane...schon gut, ich will Euch nicht von Eurem Entschluss abbringen. Ihr habt sicher
Gute Gründe dafür. Ich bitte Euch nur, gebt gut auf Euch acht.“ Sollthana nickte nur und fragte dann: „Wie viel schulde ich Euch für Eure Mühen?“ Cunwicke hob abwehrend die Hände: „Für diesen Dienst nehme ich kein Geld, was konnte ich Euch schon anbieten? Möge Charis Euch auf dem Weg beschützen.“

Sollthana bedankte sich und kämpfte sich dann über den Platz und durch die mit Menschen, Tieren und Gefährte alles Art verstopften Straßen, bis sie in einer etwas weniger belebten Gasse schließlich auf das Standbild, welches als Treffpunkt dienen sollte, stieß. Kein Mensch war zu sehen und so ließ sich das Mädchen zu Füßen des Mächtigen Kriegers nieder, um auf ihren unbekannten Reisegefährten zu warten.

Smaranska, das Nördliche Königreich – während Sollthana sich auf einige Stunden Wartezeit gefasst machte, ließ sie die Gedanken schweifen und versuchte sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über dieses Reich und seine Geschichte gehört hatte. Einige Lektionen in Historie waren ihr von Eletha zusätzlich zu ihrem gewöhnlichen Lehrstoff auch eingebläut worden, anderes wusste sie von Maghira und Mekhana, die an den langen Winterabenden vorm Kamin gerne alte Geschichten und Legenden aus der Zeit der Besetzung und des Großen Krieges zum besten gegeben hatten.

Einstmals war Smaranska ein sehr mächtiges Königreich gewesen, es hatte bereits eine hohe Stufe der Zivilisation erreicht, als die Menschen auf dem restlichen Kontinent noch Jäger und Nomaden waren, oder gerade mal bescheidene Ansiedlungen errichtet hatten, doch das war nun schon 1000 Jahre her. In dieser Zeit gab es in Smaranska bereits blühende Städte und Akademien waren entstanden, an denen Wissenschaften wie Mathematik, Astrologie, Rhetorik und Schriftkunde, aber auch Kunst und Musik gelehrt wurden. Das höchste Ansehen hatte jedoch die Magie und die begabtesten unter den Magier, man nannte sie den Kreis der Sieben, genossen ebensoviel Ansehen wie der König und waren sehr mächtig.

Man erzählte sich noch heute in allen Ländern des Kontinents, wie prunkvoll die Städte und Paläste Smaranskas gewesen sein sollen, nicht vergleichbar mit irgendwas, was heute existierte; und welch ein wunderbares Leben die Smaransker führten. Sie liebten Feste und Musik, sie legten wunderschöne Gärten an, um darin spazieren zu gehen und künstliche Seen und Wasserfälle. Das Land war fruchtbar und es gab keine Missernten und Hungersnöte.

Doch eines Tages hatte der regierende König Roj der Erste beschlossen, sein Reich zu vergrößern und begann mit Eroberungsfeldzügen, die sich über Jahrzehnte hinzogen und am Ende hatte Smaranska sich ein riesiges Gebiet einverleibt. Das Großreich umfasste nun den gesamten nördlichen Teil des Kontinents – im Osten bis zum Sterynge, der schon immer eine natürliche, schwer zu überwindende Grenze dargestellt hatte, im Westen bis zum Meer und im Süden bis zum Arruna Gebirge, das den Nord vom Südkontinent trennte. Für das gut ausgerüstete Heer Smaranskas war es nicht schwierig, die verstreut lebenden und sich bis dahin stetig gegenseitig bekriegenden Stämme zu unterwerfen.

In den nächsten 500 Jahren herrschte Smaranska und wenn sie auch überlieferter Weise oftmals grausam vorgingen und die Stämme nach ihrem Willen beherrschten, so gelang es ihnen doch, das einstmals wilde Land urbar zu machen und eine neue Kultur zu errichten. Es entstanden Städte und Akademien nach Vorbild des Mutterlandes, Ackerbau und Viehzucht wurden eingeführt, ein Staatswesen gegründet.

Die großen Karawanenstraßen durchschnitten das gesamte Reich und Handel kam auf. Doch die unterworfenen Stämme bekamen wenig von den positiven Veränderungen zu spüren, ihr Los war es die Felder zu bestellen, die Städte und Straßen zu bauen oder in Bergwerken zu schuften und ein jeder konnte jederzeit seine Freiheit verlieren, wenn ein Smaransker in als Sklave beanspruchte.

So gab es auch keine Vermischung zwischen den Völkern, die vielleicht ein Zusammenwachsen begünstigt hätte und die Wut der Entrechteten wuchs von Generation zu Generation. Bereits zu Beginn der Fremdherrschaft hatte es immer wieder kleinere Aufstände und Revolten gegeben, die jedoch sofort brutal niedergeschlagen worden waren und eine Weile hatten sich die ungebildeten Nomaden aus Angst in ihr Schicksal gefügt.

Es war jedoch in der Zeit der Eroberungsfeldzüge nicht gelungen, wirklich alle Stämme zu unterwerfen, einige waren über den Sterynge nach Westen geflohen, andere entkamen ins Arruna Gebirge, wo sie sich lange versteckt hielten und ein kärgliches Dasein führten, bevor sie einen Pass über die Berge entdeckten und in die südlichen Ebenen gelangten. Viele Jahre lebten sie dort, wie sie es gewohnt waren, vom Jagen und Fischfang, doch im Laufe der Zeit kamen immer mehr Flüchtlinge von jenseits der Berge. Sie brachten neue Fertigkeiten und Wissen mit, welches sie von den smaranskischen Besatzern angenommen hatten und ganz langsam entstand eine neue Zivilisation, aus der sich die Reiche Tahalien und Messenien herausbildeten.

Waren sie auch beide ursprünglich aus nomadischen und smaranskischen Einflüssen hervorgegangen, entwickelten sich diese Reiche jedoch aufgrund des viel heißeren, trockeneren Klimas eine ganz eigenständige, neue Kultur. Die großen Städte, die am Meer entstanden, lernten von den kartanischen Inselreichen die Kunst des Schiffbaus und ein blühender Handel entstand. Im Jahre 506 nach der Eroberung schloss Adalyc, ein tahalischer Thronerbe und Feldherr ein Bündnis mit Kartanien und Messenien und der 48 Jahre währende Rückeroberungskrieg begann, der das gesamte smaranskische Großreich in Schutt und Asche legte. Niemand weiß noch zu sagen, wie viele Menschen durch die Kämpfe und die darauffolgenden Hungersnöte und Seuchen ihr Leben lassen mussten, doch am Ende war die lange Herrschaft Smaranskas gebrochen.

Es dauerte wiederum etliche Jahre, bis aus den Trümmern der solange unterdrückten und dann zerstörten Lande etwas Neues entstehen konnte und die solange in Unfreiheit gehaltenen Menschen in der Lage waren, sich selbst zu regieren. Anfangs hatte man einfach in Nord und Südland unterteilt und tahalische und messenische Adelige hatten vorerst die Macht übernommen, aber nach vielen weiteren Umwälzungen und kleineren Kriegen entstanden schließlich die Königreiche Magazenien, Prahatien, Cohlbec, Tohumbec, Maldevien und die 7 Krowlande, welche aus 6 kleinen Fürstentümern und dem Königreich Krowland bestanden.
Das geschlagene Smaranska aber zog sich zurück in seine ursprünglichen Grenzen und lange Zeit führte das einstmals so mächtige Reich ein Schattendasein auf dem nördlichen Kontinent.


Irgendwann war Sollthana, nachdem sie schon eine geraume Zeit in der warmen Mittagssonne gewartet hatte, von Schläfrigkeit übermannt worden und nachdem sie eine Weile gegen ihre schweren Lider angekämpft hatte, eingenickt. Als sie mit schmerzenden Gliedern und einem unangenehmen, pelzigen Geschmack auf der Zunge aus ihrem Schlaf erwachte, waren die Schatten bereits länger geworden. Sollthan gähnte und streckte sich ausgiebig und wollte gerade nach ihrem Wasserschlauch greifen, als eine Stimmer hinter ihrem Rücken sie herumfahren ließ:

„Fürchtet Ihr Euch nicht davor ausgeraubt zu werden, wenn Ihr so einfach auf offener Straße einschlaft? Starroff ist kein ungefährliches Pflaster für eine alleinreisende Frau.“ Sollthana blinzelte erschrocken zu dem Sprecher auf, der zwei Stufen über ihr saß und sie mit einem spöttischen Lächeln bedachte. Der Mann war vom Alter her schwer einzuschätzen, das dunkle Haar nach Landessitte zu einem Zopf gebunden, die Kleidung verstaubt und eingerissen, als wäre er schon sehr lange unterwegs. Seine Augen, die ihrem Blick amüsiert standhielten waren von einem tiefen, intensiven Blau.

Sollthana hatte sich endlich ein bisschen gefasst und spürte nun, wie der Ärger in ihr aufloderte. „Was wollte Ihr von mir?“ fauchte sie. „Kümmert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten.“ „Oh, zu Eurem Glück will ich nichts von Euch. Ich habe mir nur die Freiheit genommen, ein wenig über Euren Schlaf zu wachen, während ich hier warten muss und ich denke wohl, dass Ihr ein bisschen mehr Dankbarkeit zeigen könntet, denn als ich ankam, trieben sich bereits einige zwielichtige Gestalten hier herum, die begehrliche Blicke nicht nur über Eure Habe, sondern auch über Euren Körper schweifen ließen.“

Sollthana wurde rot und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie kam sich schrecklich dumm und unerfahren vor, stäubte sich jedoch, diesem aufdringlichen Kerl zu danken. „Nun gut, “ antwortete sie schließlich, so hochmütig sie nur vermochte „Jetzt, da ich wohlbehalten erwacht bin, ist Eure Aufgabe wohl erfüllt und Ihr könnt getrost Eurer Wege ziehen.“ Der Mann zog amüsiert eine Augenbraue hoch: „Ich sehe langsam ein, dass meine Gesellschaft Euch nicht wirklich zu erfreuen scheint. Aber bedauerlicherweise bin ich gezwungen, hier noch eine Zeit lang zu verweilen, so dass Ihr schon selber gehen müsst, um von meiner Anwesenheit befreit zu werden.“

Sollthana war aufgestanden, um den Staub von ihren Kleidern zu klopfen und funkelte den Fremden nun erbost an: „Aber ich habe hier ebenfalls zu warten, also warum besitzt Ihr nicht die Höflichkeit, einfach einen anderen Platz zu suchen?“ „Friede, hochgeschätzte Dame. Wenn uns wirklich beide eine Verabredung an diesen Ort kettet, sollten wir das Beste aus unserer Situation machen. Warum stärken wir uns nicht erst mal? Ich jedenfalls habe einen geradezu wölfischen Hunger. Seht her, ich habe Brot und Wein, lasst uns doch dieses einfache Mahl miteinander teilen.“

Sollthana warf einen Blick auf die dargebotenen Speisen und das frische, duftende Brot und der würzige Käse, von dem der Fremde bereits angefangen hatte, dicke Scheiben abzuschneiden taten ihr Übriges. Ihr knurrender Magen siegte über ihren Ärger und sie nahm die Einladung dankend an. Eine Weile speisten sie schweigend und Sollthana nahm immer wieder einen Schluck aus dem Weinschlauch, es dauerte nicht lange und ihre Zunge schien sich wie von selber zu lösen und sie hörte sich ihren Namen, Herkunftsort und Reiseziel nennen, auch, dass sie auf einen Reisegefährten mit dem Namen Andraic warten musste, noch nie im Leben hatte sie einen Tropfen Alkohol getrunken und die paar Schlucke von dem schweren, roten Wein schienen ausgereicht zu haben, um sie in die reinste Plaudertasche zu verwandeln. Der Fremde zog interessiert eine Augenbraue hoch, als sie geendet hatte.

„Ihr seid Sollthana? Die Heilerin auf Wanderschaft?“ Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf und fing dann urplötzlich lauthals an zu lachen, so dass er sich fast an seinem Wein verschluckte. „Bei den Göttern – ich glaube es einfach nicht...aber eigentlich hätte ich auch schon früher darauf kommen müssen, natürlich, der Treffpunkt, die Zeit...Ich hätte nur nicht gedacht, dass Ihr...“ „ Was ist denn mit mir?“ fragte Sollthana verständnislos. Der Fremde lachte immer noch und ergriff dann ihre Hand, um sich formvollendet zu verbeugen. „Darf ich mich vorstellen, Andraic ist mein Name, sehr verehrte Dame, ich höre, Ihr sucht noch einen Reisegefährten in den Norden?“ Sollthana starre ihn ungläubig an.

„Ihr! Ihr seid der Schriftgelehrte?“ Zweifelnd betrachtete sie seine abgerissene Kleidung und das ärmliche Bündel, welches er bei sich trug. Sie hatte zwar noch nie einen Schriftgelehrten persönlich getroffen, aber irgendwie hatte sie sich ein anderes Bild von diesem Berufsstand gemacht. Andraic schien ihre Gedanken erraten zu haben: „Entspreche ich etwa nicht Euren Vorstellungen, wie ein solcher Gelehrter auszusehen hat? Es tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen, aber unser Gewerbe ist keineswegs immer mit großem materiellen Reichtümern verbunden und meine Kleidung hat während der langen Reise ebenfalls leiden müssen.“

„Und Ihr wollt also auch in den Norden? Was habt Ihr dort vor?“ „Oh, versteht Ihr, als Schriftgelehrter ist es meine Aufgabe Geschehnisse, wie z.B. auch Schlachten, schriftlich festzuhalten. Eine interessante Tätigkeit, denn so kommt man viel rum – viel interessanter jedenfalls, als immer nur in einem staubigen Studierzimmer zu sitzen, wie es vielen meiner Berufsgenossen beschieden ist.“ „Ganz gewiss“, pflichtete ihm Sollthana eifrig bei, vor deren geistigen Auge mal wieder ihr eigenes Studierzimmer auf Aradoj aufgetaucht war.

„So könnt Ihr Euch denn vorstellen, mich für eine gewisse Zeit als Weggefährten zu betrachten? Ich schätze, zu Fuß werden wir etwa 2 Wochen bis zur Grenze brauchen, wenn wir 30 Meilen pro Tag zurücklegen. Könnt Ihr das schaffen?“ „Natürlich. Und ich denke, ich muss mich für mein Benehmen vorhin entschuldigen. Ich...ich habe mich nur etwas erschreckt, so kurz nach dem Aufwachen und dann bin ich wütend geworden. Ihr habt sicher recht gehabt, es war leichtsinnig von mir, einfach einzuschlafen.“ „Na, wunderbar, dann haben wir ja alles geklärt. Wollen wir sofort aufbrechen, was meint Ihr? Ich würde heute gern noch ein paar Meilen zwischen mich und dieses Drecksloch bringen und etwa 10 Meilen von hier soll es eine Unterkunft geben.“

Sollthana nickte zustimmend, auch sie war froh, wenn sie Starroff noch heute verlassen konnte und so erhoben sie sich von den Stufen und packten ihre Habseligkeiten zusammen. Erst als sie abmarschbereit waren, bemerkte Sollthana den Wanderstab aus Eichenholz, den Andraic bei sich trug und das leichte Hinken und sie fragte sich, wie er wohl so lange Strecken zu Fuß bewältigen wollte. Andraic hatte ihren Blick bemerkt und er zeigte auf den Stab und meinte leichthin: „Keine Sorge deswegen. Solange ich dieser alte Gefährte bei mir ist, habe ich keine Mühe schnell zu gehen, eher werdet Ihr wohl Mühe haben, mit mir Schritt zu haben, wenn ihr Euch nicht ins Zeug legt.“

„Ich will es Euch glauben“, antwortete Sollthana zweifelnd und musste gleich darauf einen Fluch unterdrücken, als ihr neuer Gefährte in flottem Tempo voraus Schritt und sie fast rennen musste, um hinterher zu kommen. „Kommt, kommt, oder hat Euch schon wieder die Müdigkeit gepackt? Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, “ rief Andraic. Sollthana seufzte ergeben und während sie dem Schriftgelehrten im Laufschritt über die Straßen und Plätze von Starroff folgte, überlegte sie, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, sich einen Reisegefährten zu suchen.

Lordan




Der Gang schien einem Alptraum entsprungen. Tief in den Berg hineingeschlagen, hatte er niedrige, vor Nässe tropfende Decken und es war stockdunkel, nur gelegentlich warfen ein paar schwächlich flackernde Pechfackeln etwas Licht. Es ging stetig nach Unten und Jalaynas glitt mehrmals auf dem glitschen, mit Unrat bedeckten Untergrund aus, wurde jedoch jedes Mals wieder von seinen Bewachern schmerzhaft an den Armen hochgezerrt. Es schien ihm eine Ewigkeit, bis der Gang endlich in einem hohen Gewölbe endete, von dem links und rechts schmale Gänge abzweigten, die zu den Verließen zu führen schienen. Ein grauenhafter Geruch von abgestandener Luft, fauligem Stroh, Exkrementen, Nässe und Schimmel empfing sie und das Schreien und Klagen der Gefangenen drang von weiters her gedämpft an ihr Ohr.

Die beiden Soldaten zerrten ihn in die Wachstube, wo an einem Tisch mehrere Wächter beim Würfelspiel saßen und stießen ihn dort zu Boden. Dank der auf dem Rücken festgebundenen Hände konnte Jalaynas den Sturz nicht abfangen und fiel mitten aufs Gesicht. Die Wächter quittierten seinen Aufschrei und das Blut, das ihm aus der Nase schoss mit Hohngelächter und groben Bemerkungen und vor Schmerz und Demütigung wären ihm fast die Tränen gekommen.

Zum wiederholten Mal verfluchte er seine Leichtsinnigkeit, die ihn in diese prekäre Lage gebracht hatte. Wie hatte er nur so dumm sein können, sich von Sherlys Männern erwischen zu lassen? Viel schlimmer als alle Angst, vor dem, was ihn erwartete, waren die Scham und die Sorge um seine Familie, hatte er sie doch durch sein eigenmächtiges Handeln alle in große Gefahr gebracht. Er war alleine auf der Jagd gewesen, was an sich schon einen Verstoß gegen die Regeln seines Vaters bedeutete, aber er war so wütend und verletzt darüber, dass Mahac und seine Brüder ihn mal wieder bei den Alten und Kindern im Lager zurückgelassen hatten, dass ihm alles egal war. Die ungewohnte Freiheit hatte ihn ziemlich weit entfernt von ihrem Unterschlupf in den Wäldern herumstreifen lassen, als er auf etwa ein halbes Dutzend Soldaten gestoßen war, die auf einer Lichtung kampierten.

Das einzig Richtige wäre gewesen, so schnell wie möglich Verbindung mit Spähern der Rebellen aufzunehmen und seinem Vater Meldung davon zu machen, aber er hatte den Helden spielen wollen und hatte sich vorsichtig an das Lager herangeschlichen, um zu lauschen. Es wäre wohl auch alles gut ausgegangen, wenn ihm nicht ein zu seinen Kameraden zurückkehrender Späher zum Verhängnis geworden wäre, der ihn entdeckt und sofort Alarm geschlagen hatte. Jalaynas war geflohen und Anfangs hatte es gar nicht so schlecht für ihn ausgesehen, denn er kannte sich im Wald viel besser aus als die Soldaten. Aber das Unterholz war in diesem Gebiet zu seinem Unglück nicht besonders dicht und so hatten die Soldaten durch ihre Pferde den Vorteil wieder wett machen können und ihn schließlich eingekreist und überwältigt.

Zuerst hatten sie selber versucht, ihn zu verhören, sie hatten ihn angebrüllt und getreten und geschlagen, während er immer wieder beteuerte, nur ein Bauernbursche zu sein und nichts von den Rebellen zu wissen. Schliesslich hatte der Anführer beschlossen, ihn mit 2 Soldaten nach Lordan, Sherlys Burg und Hauptquartier, welche 1 Tagesritt nördlich lag zu schicken. Und nun war er tatsächlich hier, an dem Ort, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand redete und von dem sein Vater behauptete, das nur das Blut Abertausender und dunkle Magie seine alten Mauern zusammenhielten... den langen Ritt über, fest verschnürt und wie ein Mehlsack über den Rücken eines Pferdes geworfen, war er verhältnismäßig ruhig geblieben und hatte sich eingeredet, dass er sich schon irgendwie wieder aus dieser Sache herausreden würde können.

Er war erst 14 Jahre alt und sah nicht aus wie ein gefährlicher Rebell, er würde einfach bei der Geschichte vom Bauernburschen bleiben, der auf der Jagd gewesen und sich aus Neugier zu nah an die Soldaten herangewagt hatte. Aber jetzt, als er diesen Ort wahrnahm, und in die brutalen, mitleidlosen Gesichter der wachhabenden Soldaten sah, sank sein Mut gewaltig, denn nun wurde ihm klar, dass ihm Niemand zuhören, geschweige denn helfen würde. Er war allein. Und vielleicht würde er Sherlys selbst in die Hände fallen, von dem manche behaupteten, er sei ein Dämon in Menschengestalt, der das Blut seiner Feinde trinken würde, um an Kraft zu gewinnen. Jalaynas glaubte nicht an solche Gruselmärchen, aber eines wusste er und dass war, dass keiner aus Lordans Verließen je zurückgekehrt war.

Er lag noch immer am Boden, als die Tür geöffnet wurde und ein weiterer Wächter den Raum betrat. Er schien eine höhere Funktion inne zu haben, denn sofort verstummten die Gespräche und das Gelächter der Männer und die beiden Soldaten, die Jalaynas hergebracht hatten, stellten ihn endlich wieder auf die Füße. „Seid gegrüßt. Wen bringt Ihr uns da?“ „ Seid gegrüßt, Wachtmeister Taevul. Wir überbringen Grüße von Hauptmann Teron, welcher sich zurzeit mit einer Abordnung Berittener auf einem Erkundungsritt im Südsektor befindet. Hierbei fiel uns dieser Bursche in die Hände, als er versuchte, unser Lager auszuspionieren. Wir konnten bis jetzt kein Wort aus ihm herauskriegen, vermuten aber eine Verbindung zu den Rebellen.“

„So“, sagte der Wachhabende und musterte Jalaynas mit einem Blick in dem sich Belustigung und Mitleid zu mischen schienen. „Du bist ja noch ein halbes Kind. Solltest du nicht lieber deiner Mutter beim Ziegenhüten helfen, statt dich mit den Männern des Königs anzulegen?“ „Ich habe nichts getan, Herr, für dass man mich hierher bringen müsste. Ich bin nur ein Bauernjunge, der...“ Der Schlag traf ihn unvorbereitet in den Magen und ihm blieb die Luft weg. „Hat irgendjemand gesagt, dass du das Maul aufmachen sollst, du schmutziger Lümmel? Also halt die Klappe oder du fängst noch ein paar.“ Der Soldat, der ihn geschlagen hatte, hob bereits wieder den Arm, da schritt Taevul ein. „Schon gut, Zutt, lass das jetzt, bringen wir ihn erst mal rüber.“

Er gab den beiden Soldaten einen Wink, ihm zu folgen, worauf diese Jalaynas den Gang entlang zu einem der Verliese schoben. Auf Taevuls Befehl hin legten sie ihm nur Beineisen an und ließen die Arme frei, dann verließen die Beiden den Kerker und ließen Jalaynas mit dem Wachtmeister allein. „ Was wird mit mir passieren?“ fragte Jalaynas gepresst. „Warum glaubt mir denn nur Niemand, dass ich gar nichts Übles im Sinn gehabt habe, als ich die Soldaten belauschte? Ich bin doch nur der Sohn eines Bauern...mein Vater wird sich solche Sorgen machen, wenn ich nicht nach Hause komme, und meine Mutter weint sich die Augen aus dem Kopf – bitte, Herr, könnt ihr mich nicht gehen lassen? Ich glaube, Ihr seid ein anständiger Mann. Lasst mich doch gehen!“

Taevul musterte den Jungen aufmerksam und schüttelte dann langsam den Kopf: „Das kann ich nicht, Kleiner. Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass du nur ein dummer Bengel bist, der sich in Sachen eingemischt hat, die ihn nichts angehen oder ob du doch etwas mit den Rebellen zu tun hast und mir gegenüber brauchst du dich auch nicht zu rechtfertigen. Ich kann dir nur einen Rat geben und der ist, dass du die Wahrheit sagst, wenn Lerkis dich befragt, oder sogar Sherlys selbst. Ich bin mir sicher, du wirst seinen Namen schon das ein oder andere Mal gehört haben, seit der König ihm vor 2 Jahren den Oberbefehl über den Südsektor übergeben hat und vielleicht hast du auch etwas darüber gehört, dass eine Macht ihn umgibt, die nicht jeder Sterbliche besitzt...aber wie dem auch sei, er ist vor allem ein harter und rücksichtsloser Mann und er bekommt immer was er will – auf die eine oder andere Weise. Ich kann dir nur empfehlen, wenn du wirklich etwas weißt, dann sag es ihm gleich, denn er hat keine Skrupel, auch Frauen und Kinder der Folter zu unterziehen und er wird bei dir keine Ausnahme machen.“

Jalaynas hatte das Gefühl, als ob eine eisige Hand nach seinem Herzen greifen würde. Er blickte zu dem Mann hoch, der ihm ein guter Mensch zu sein schien, auch wenn er in Sherlys Diensten stand. „Und was hätte ich damit gewonnen, Taevul? Würde ich einen barmherzigen, raschen Tod finden? Oder würde ich noch einige Jahre als Sklave in einem Steinbruch dahinvegetieren dürfen, immer mit der Gewissheit vor Augen, dass ich das Leben meiner Familie und Freunde für dieses Dasein geopfert hätte? Ich fürchte, ich kann Euren Rat nicht beherzigen.“ Jalaynas vorher noch flehentlicher, kindlicher Tonfall hatte sich verändert, er sprach die paar Sätze so ernst und nachdrücklich aus, dass er plötzlich ganz wie ein Erwachsener klang.

Auf Taevuls Geseiht zeichnete sich Bestürzung ab. „Du gehörst also wirklich zu Ihnen“, sagte er leise. „Ich weiß, die Vorstellungen von Ehre sind bei deinen Leuten sehr hochgesteckt, aber gelten diese auch für Kinder?“ „Ich bin kein Kind mehr“, begehrte Jalaynas trotzig auf. Der Wachmann schnaubte nur „Bei Charis, ich hatte selber Söhne in deinem Alter, und auch diese beiden dachten oft genug, sie wären schon Männer, aber das waren sie nicht und ich als ihr Vater musste sie oft genug in die Realität zurückholen, indem ich ihnen ordentlich den Hintern versohlte. Und das hätte dein Vater lieber auch tun sollen, anstatt dich in dem glauben zu lassen, es wäre deine Bestimmung sich für diese hoffnungslose Sache foltern zu lassen.“

„Aber genau das erwartet er von mir. Und es ist richtig so, denn ich hab es vermasselt, also muss ich es auch durchstehen.“ Taevul schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab, als er die Tränen in den Augen des Jungen sah. Trotz seiner heldenmütigen Worte war er eben doch nur ein Kind, ein verlassenes, einsames Kind an einem grausamen Ort „Ich muss jetzt gehen.“ sagte Taevul gepresst. „Beherzige meinen Rat, dann wirst du vielleicht weiterleben.“
Aber Jalaynas gab ihm keine Antwort mehr.

Unterwegs nach Norden




3 Tage, nachdem Sollthana und der Schriftgelehrte Andraic die Stadt verlassen hatten, waren sie bereits ein gutes Stück auf der Karawanenstraße vorangekommen, was ganz sicher auch an Andraics weiterhin zügigem Lauftempo lag. Doch trotz ihrer anfänglichen Bedenken und den Blasen an ihren Füßen, war Sollthana inzwischen froh darüber, einen Gefährten auf dieser Reise zu haben, doch nicht nur wegen der möglichen Gefahren, denen eine alleinreisende Frau auf der Straße ausgesetzt war. Nein, es waren vielmehr auch die Unterhaltungen und das gemeinsame Lachen, die ihr so gefielen und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie einsam sie die letzten Jahre gewesen war. Seitdem sie Binhall und ihre Familie verlassen hatte, war sie auf sich gestellt gewesen und auch die Jahre auf Aradoj, die sie mehr allein in ihrem Studierzimmer als in Gesellschaft verbrachte, hatten sie nicht gerade erfahren im Umgang mit anderen Menschen gemacht.

Sie erzählte dem Schriftgelehrten von ihrer Familie und ihrer Kindheit in dem kleinen Fischerdorf, sie erzählte von Mazzar und der schrecklichen Seuche, vor der sie geflohen war, von den Monaten in den Wäldern und der Aufnahme als Elethas Schülerin und Andraic hörte ihr aufmerksam zu, unterbrach nur manchmal, um etwas nachzufragen. Im Gegenzug berichtete ihr der Gefährte von den Reisen, die er unternommen hatte und von den seltsamen und schönen Dingen, die er in fernen Ländern mit unaussprechlichen Namen gesehen hatte, teilweise waren seine Darstellungen so komisch, dass Sollthana aus dem Lachen gar nicht mehr raus kam. Fragen nach seiner Kindheit und Jugend jedoch und dem Ort, wo er aufgewachsen war, blockte Andraic zu ihrer Verwunderung immer ab, meinte nur, diese Zeit läge nun schon so lange zurück, dass er sich kaum mehr daran erinnern könne.

Sollthana bohrte nicht weiter nach, aber ein bisschen komisch kam ihr das Verhalten des Schriftgelehrten dann doch vor. Sein Alter hatte Andraic ebenfalls nicht verraten wollen, aber sie schätzte ihn auf gut 15 bis 20 Jahre älter als sich selber und in diesem Alter hatte man doch normalerweise auch Frau und Kinder, ein Heim in irgendeiner Stadt, in das man nach seinen Reisen zurückkehren konnte, so jedenfalls hatte Sollthana sich das immer vorgestellt. Aber vielleicht, so vermutete sie bei sich, hatte er seine Familie ja auch verloren, durch Krankheit oder andere Umstände, und deswegen wollte er nicht über sein Privatleben reden.


Jeden Tag hatten sie nun etwa 30 Meilen zurückgelegt und die Nächte in einfachen Rasthäusern entlang der Straße verbracht, doch Andraic hatte gesagt, dass sie von nun an eine Weile in Freien würden übernachten müssen und erst in etwa 1 Woche wieder ein Gasthaus erreichen würden. Sollthana machte es nichts aus, draußen zu schlafen, aber sie wunderte sich darüber, dass dieser Teil der Karawanenstraße so einsam sein sollte. „Früher gab es noch 3 oder 4 weitere Unterkünfte auf dieser Strecke, aber nachdem der Norden so unsicher geworden ist und immer weniger Reisende diese Straße benutzen, hat es sich für die Betreiber nicht mehr gelohnt, die Häuser weiter zu halten“, erklärte ihr Andraic.

„Und von was geht diese Gefahr aus, von der du sprichst?“ wollte Sollthana wissen. „Wegelagerer, Banditen, was du willst. Diese Gesellen gibt es zwar auch an anderen Wegabschnitten, aber hier sind sie in den letzten Jahren gehäuft aufgetreten.“ „Dann können wir ja nur hoffen, dass wir ihnen nicht begegnen, denn mit Federkiel und Heiltränken werden wir sie wohl nicht in die Flucht schlagen können“, scherzte Sollthana, aber der Schriftgelehrte lachte nicht. „Ja, ich wäre auch sehr froh, wenn wir ohne Zwischenfälle bis zur „Untergehenden Sonne“ kommen würden.“

Nicht lange nach diesem Gespräch schlugen sie in einer Senke, ein gutes Stück von der Straße entfernt, ihr Nachtlager auf. Während Andraic ein kleines Feuer entfachte, machte Sollthana sich, mit Wasserschläuchen und Trinkflaschen beladen, auf die Suche nach Wasser. Es dauerte nicht lange, da wurde sie fündig an einem kleinen Bach und nachdem sie die Trinkgefäße gefüllt hatte, zog sie die Stiefel aus und streckte mit einem Seufzer der Erleichterung ihre wunden Füße ins Wasser.

Genießerisch schloss Sollthana die Augen und überließ sich ganz dem angenehmen Gefühl des fließenden Wassers und der Aussicht, heute nicht mehr weiterlaufen zu müssen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Nicht wirklich besorgt, da sie der Annahme war, Andraic sei ihr nachgekommen, drehte sie sich träge um und erstarrte sogleich vor Schreck, als sie die 5 Männer erblickte, die einen Halbkreis gebildet hatten und langsam auf sie zu kamen, allesamt zerlumpte Gestalten mit wirren Haaren und Bärten, die Schwerter oder Holzknüppel in den Händen hielten und keinen sehr freundlichen Eindruck machten. Sollthana stieß einen schrillen Schrei aus und sprang auf die Füße, sah sich panisch nach irgendeiner Waffe um, aber da war nichts außer den frisch gefüllten Wasserschläuchen, der Dolch war wieder einmal unerreichbar in ihrem Rucksack, den sie im Lager bei Andraic gelassen hatte.

„Na komm schon, mein Täubchen, nicht so hektisch, wir wollen doch gar nichts von dir, außer vielleicht ein bisschen Spaß und deine Geldbörse, “ sagte einer der Männer, ein beleibter Hüne mit langen, karottenroten Haaren höhnisch und kam noch einen Schritt näher auf sie zu. Sollthana schrie wieder, Andraics Namen diesmal und dann griff sie sich den am nächsten liegenden Wasserschlauch und warf sie nach dem Hünen.
Es war ein guter Wurf, sie traf den Mann mitten im Gesicht und Sollthana nutzte den Überraschungsmoment, um die anderen Wasserschläuche an sich zu raffen und durch den Bach ans andere Ufer zu waten, aber dann hatte der Rothaarige schon mit wütendem Gebrüll seine Spießgesellen aufgefordert, ihr zu folgen.

Während Sollthana die Uferböschung raufkletterte, warf sie noch einmal einen der Wasserschläuche, aber diesmal verfehlte sie ihr Ziel und kurz darauf spürte sie, dass sie nicht mehr weiterkam, ihr Verfolger hatte den Saum ihres Gewandes erwischt und zog sie langsam und unerbittlich zurück. Das Mädchen kreischte wütend und schlug mit dem verbliebenen Wasserschlauch nach dem Kopf des Wegelagerers, aber er wich ihr geschickt aus und riss dann so heftig an ihrem Rock, dass sie die Böschung hinunterrutschte und im Wasser landete.
Sofort wurde sie wieder hoch gezerrt und an den Mann gedrückt, sein Gesicht war direkt vor ihrem, übelriechender Atem wehte ihr ins Gesicht und die Hände des Kerls schienen überall zu sein, während er ihr ins Ohr flüsterte, was er alles mit ihr zu tun gedachte.

Keuchend holte sie Luft und schrie noch einmal nach Andraic, in der Hoffnung, dass die Banditen ihn nicht schon überwältigt oder getötet hatten. Ihr Peiniger zerrte sie nun grob an den Haaren durch den Bach, zurück zu seinen Kumpanen. Der rothaarige Anführer blutete an der linken Augenbraue, wo ihn der Wasserschlauch getroffen hatte und sah ziemlich erzürnt aus, er hob bereits eine Hand, um das Mädchen ins Gesicht zu schlagen, da mischte sich ein weiterer Mann, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, ein.

„Warte mal, Melor. Siehst du, was sie da am Gürtel hängen hat?“ „Was?“ knurrte Melor, immer noch mit zur Faust geballter Hand. „Das ist ein Beutel, wie ihn die Heiler benutzt. Hat Sarkan nicht gesagt, wir sollen nach einer Heilerin Ausschau halten? Und sie ihm lebend und unversehrt übergeben?“ Melor sah noch nicht überzeugt aus, aber er ließ endlich die Hand sinken und gebot dem anderen Mann, ihm den Beutel zu zeigen. Mit einem Ruck hatte dieser ihn Sollthan vom Gürtel gerissen, als ein wildes Gebrüll hinter ihnen die Wegelagerer zusammenfahren ließ. „Andraic“, rief Sollthana erleichtert aus und wand sich im Griff ihres Bewachers. Diese jedoch hatten den ersten Schrecken rasch überwunden, als sie feststellten, dass sie sich nur einem Angreifer gegenübersahen.

Auch Sollthana fragte sich, ob der Schriftgelehrte ihr wirklich helfen konnte: Wie er so dastand, seinen Wanderstab mit beiden Händen fest umklammert, einen Ausdruck grimmiger Entschlossenheit im Gesicht und doch so unterlegen wirkend gegen die Übermacht der 5 Männer. „Lasst das Mädchen los“, sagte Andraic ruhig und fixierte dabei den rothaarigen Anführer der Banditen. „Und wenn nicht?“ fragte der Mann höhnisch und musterte Andraic abschätzend von oben bis unten. „Willst du uns dann mit deinem Stöckchen da verhauen, Hinkebein?“ „Genau das habe ich vor“, antwortete der Schriftgelehrte gelassen und kam einen Schritt näher. „Bleib, wo du bist, “ befahl der Rothaarige und hob langsam sein Schwert. „Das hier geht dich nichts an, wir wollen nur die Heilerin. Verschwinde jetzt, dann kommst du mit dem Leben davon, sonst…“

„Da habe ich aber etwas dagegen“, unterbrach ihn Andraic und kam noch einen Schritt näher. „Das Mädchen gehört zu mir.“ Sollthana, die mit angehaltenem Atem dem Wortwechsel gefolgt war, sah aus den Augenwinkeln, wie der Anführer der Wegelagerer mit der linken Hand eine fast nicht wahrnehmbare Bewegung vollführte und wollte Andraic eine Warnung zurufen, aber ihr Bewacher presste ihr die Hand auf den Mund und zerrte sie ein Stück beiseite. Einer der Banditen, der links von Andraic gestanden hatte, war ein paar Schritte zurückgetreten und näherte sich nun von hinten mit erhobenem Schwert dem Schriftgelehrten, der davon nichts mitzukriegen schien, da er sich auf die anderen 3 Angreifer konzentrierte, die nun auf ihn eindrangen. Der Mann, der nun hinter Andraic stand, hob langsam sein Schwert.

Sollthana schloss die Augen, sie wollte nicht sehen, was nun kommen würde. Doch der schrille Schmerzensschrei, der kurz darauf die angespannte Stille zeriss, stammte nicht von Andraic. Das Mädchen öffnete vorsichtig die Augen und sah, dass der Mann, der kurz zuvor noch hinter dem Schriftgelehrten gestanden hatte, sich nun unter Schmerzen am Boden wand und seine offenbar durch Andraics Stock zerschmetterte Schulter umklammerte.

Die übrigen Angreifer warfen sich auf Andraic und mit angehaltenem Atem versuchte Sollthana zu erkennen, was nun passierte. Die Leiber der Kämpfenden wogten gegeneinander und versperrten ihr die Sicht auf Andraic, aber sie sah seinen Stock, der mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft wirbelte und Schläge austeilte. Der erste der Angreifer stürzte, durch einen Hieb auf den Kopf unschädlich gemacht, bewusstlos zu Boden und blieb regungslos liegen. Weiter drehte sich der wilde Kampf und bald ließ ein weiterer Bandit sein Schwert fallen und krümmte sich vor Schmerzen. Nun war nur noch der rothaarige Anführer auf den Beinen, doch dieser schien die Kraft und die Wut eines gereizten Stiers zu besitzen, immer wieder drang er auf den zurückweichenden Andraic ein und hieb mit dem Schwert nach ihm, dieser parierte erfolgreich mit dem Stock, doch einmal reagierte er nicht schnell genug und Sollthana sah erschrocken, dass Andraic am Arm getroffen war, der Stoff war zerfetzt und Blut sickerte hervor.

Doch der Schriftgelehrte kümmerte sich nicht um die Verletzung, für einen Augenblick konnte das Mädchen das Gesicht ihres Gefährten erkennen, wie gemeißelt sah es aus und die blauen Augen funkelten kalt und entschlossen. Sollthana konnte kaum glauben, dass dies der Mann war, mit dem sie noch vor wenigen Stunden die Straße entlang gewandert war und der ihr so lustige Geschichten erzählt hatte. Andraic hob seinen Stock und ließ ihn auf den Schwertarm seines Gegners herunterfahren, mit einem Schrei ließ dieser das Schwert fallen und taumelte zurück. Angst stand nun in den Augen des Rothaarigen und er hob abwehrend die Hände als Andraic langsam auf ihn zukam.

Aber sein Flehen und Bitten blieb ungehört, der Schlag auf den Kopf war wohl gezielt und mit aller Kraft ausgeführt, das grässliche Geräusch der brechenden Schädeldecke drang bis zu Sollthana und ihrem Bewacher, der sie augenblicklich losließ, als Andraic sich von seinem Opfer abwandte und nun auf sie zukam.
Blitzschnell war der letzte der Wegelagerer im Unterholz verschwunden und Sollthana lief Andraic entgegen und warf sich ihm in die Arme. „Ist ja gut“, murmelte der Schriftgelehrte begütigend und wischte ihr vorsichtig die Tränen ab, die nun, wo alles überstanden war, reichlich flossen. „Es kann dir jetzt nichts mehr passieren“, „Ich weiß ja“, schniefte Sollthana und löste sich aus der Umarmung des Gefährten, plötzlich war es ihr peinlich, dass sie sich ihm so an den Hals geworfen und drauflos geheult hatte. „Aber was ist mit dir? Bist du verletzt?“ „Es ist nur ein Kratzer“, wiegelte Andraic ab. „Aber wenn du möchtest, darfst du nachher gerne deine Heilkünste an mir ausprobieren. Zuerst aber sollten wir noch ein paar Meilen zwischen hier und diesen Ort bringen, ich weiß nicht ob unsere Freunde hier noch ein paar Verwandte haben, die sie vielleicht suchen gehen.“ „Und was geschieht jetzt mit den drei Überlebenden?“ fragte Sollthana zaghaft. „Sie könnten uns verfolgen.“ „Darum werde ich mich gleich kümmern“, antwortete Andraic. „Du gehst schon mal zurück ins Lager und packst unsere Sachen zusammen, ich komme gleich nach.“

Sollthana wagte nicht zu fragen, was der Schriftgelehrte vorhatte, aber sie konnte sich schon denken, dass die drei verwundeten Wegelagerer die Lichtung am Bach nicht lebend verlassen würden. Und obwohl sie kein Mitleid mit den Männern empfand, lief es ihr doch eiskalt den Rücken runter, wenn sie sich ausmalte, was Andraic mit ihnen machen würde.

Die Nacht verbrachten sie etwa 5 Meilen entfernt von ihrem ersten Lagerplatz. Sollthana hatte den Schnitt an Andraics Oberarm, der zum Glück nicht sehr tief war, gesäubert und verbunden. Ein Feuer hatten sie nicht wieder angezündet und als Sollthana sich zum Schlafen hinlegte, blieb Andraic sitzen, um Wache zu halten. „Wo hast du als Schriftgelehrter nur so gut kämpfen gelernt?“ fragte Sollthana nach einer Weile, als der Schlaf einfach nicht kommen wollte. „Ach, das hab ich mir so nebenher angeeignet“, antwortete Andraic leichthin.

„Wenn man so viel reist wie ich, muss man sich auch verteidigen können.“ Sollthana war nicht überzeugt von dieser Antwort, aber sie unterließ es, weiterzufragen. Die Beherrschung der Kampfkunst war wieder etwas, dass seltsam und widersprüchlich an Andraic war, aber noch seltsamer war die Aussage des Wegelagerers gewesen, dass man sie, Sollthana irgendjemand übergeben solle. Dieser kurze Wortwechsel war ihr erst jetzt, nachdem die Aufregung etwas abgeflaut war, wieder eingefallen und sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Wer wusste denn, dass sie diese Straße benutzte? Wer konnte ein Interesse an ihr haben, einer unbedeutenden Heilerin auf Wanderschaft? Vielleicht war das Ganze einfach eine Verwechslung gewesen, anders konnte sie sich das Ganze nicht erklären.

Es war schon spät, als Sollthana endlich einschlief, doch obwohl sie Andraic aufgetragen hatte, sie zu wecken, damit auch sie ihren Teil der Wache übernehmen konnte, war es das Licht des frühen Morgens, das sie erblickte, als sie das nächste Mal die Augen aufschlug.


Am Abend des 14. Tages, nachdem sie Starroff verlassen hatten, erreichten Andraic und Sollthana das „Gasthaus zur Untergehenden Sonne“. Beide waren sie erschöpft und dreckig und freuten sich auf ein heißes Bad, eine ordentliche Mahlzeit und ein weiches Bett, nachdem sie die letzten 5 Tage in strömenden Regen marschiert waren und die Nächte sehr ungemütlich im Freien hatten verbringen müssen. Das Land war flach und öde und bot wenig Schutz vor der Witterung.

Dennoch hatte Sollthana den schrecklichen Zwischenfall auf der Lichtung fast vergessen und die letzten Tage mit Andraic sehr genossen. Der Schriftgelehrte hatte rasch zu seinem Humor zurückgefunden und sie weiterhin mit Geschichten und Anekdoten unterhalten, seit dem Kampf mit den Wegelagern war eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen aufgekommen, wie sie unter Freunden üblich ist und tatsächlich hatte sie manchmal das Gefühl, Andraic schon viel länger als nur ein paar Tage zu kennen. Was Sollthana nicht so gefiel, waren die häufigen Neckereien des Schriftgelehrten, die sie über sich ergehen lassen musste und mit denen sie nicht umgehen konnte. Wäre sie nur etwas schlagfertiger und nicht so unerfahren in manchen Dingen...aber die Zeit in der Abgeschiedenheit Aradojs hatte nicht gerade dazu beigetragen, sie auf den Umgang mit dem männlichen Geschlecht und insbesondere auf so spezielle Exemplare wie Andraic vorzubereiten. Sie erinnerte sich an das Leben in ihrem Heimatdorf zurück, wo viele Mädchen in ihrem jetzigen Alter bereits verheiratet waren und daran, dass die Werbung auf Tanzveranstaltungen und abends am Brunnen stattfand.
Kichernd hatte sie sich damals mit ihren Freundinnen und jüngeren Schwestern in der Nähe herumgetrieben, wenn die älteren Jungen und Mädchen heimliche Küsse austauschten und Händchen hielten. Aber all diese Erfahrungen hatte sie selbst nie machen können und nun, in einem Alter indem sie es eigentlich schon besser wissen sollte, lösten bereits kleine Komplimente und Scherze von Seiten Andraics heftige Verwirrung in ihr aus und ließen sie manchmal auch ungewollt heftig darauf reagieren.

Als sie nun den Schankraum des Gasthauses betraten und beim Wirt um eine Unterkunft nachfragten, stellte Sollthana zu ihrem Entsetzten fest, dass sie kaum genug Geld hatte, für diese zu zahlen. War wirklich bereits die ganze Barschaft die sie von Aradoj mitgenommen hatte ausgegeben, für 2 Übernachtungen und ein paar Mahlzeiten? Doch wirklich, sie hatte nur noch 10 Dimez in ihrem Lederbeutel und die Übernachtung sollte bereits 12 Dimez betragen. Was für eine peinliche Situation. „Ihr könnt in 'nen Stall, “ bot der Wirt an und sog an seiner Maiskolbenpfeife, während er sie von oben bis unten musterte.

„Da is' es warm und gibt genug Stroh, zum drauf liegen. Und es kostet nichts für Euch.“ „Kommt gar nicht in Frage“, mischte sich Andraic ein. „Ich werde dir etwas leihen, kommt gar nicht in Frage, dass du alleine im Stall nächtigst.“ „Nein, das möchte ich nicht, Andraic, wirklich“, wehrte Sollthana verlegen ab. „Ich habe durchaus schon an ungemütlicheren Plätzen als einem Kuhstall übernachtet, also mach dir keine Sorgen. „Nun nimm schon die paar Dimez. Ansonsten werde ich die ganze Nacht wach liegen und mir Gedanken über deine Sicherheit machen.“ „Aber ich will dein Geld nicht, ich will niemandem etwas schuldig sein.“

Andraic zog amüsiert eine Augenbraue hoch: „Hast du etwa Angst, man könnte dich für ein käufliches Mädchen halten?“ flüsterte er ihr ins Ohr und grinste dabei. „Sei unbesorgt, den Wirt interessiert das nicht, solange nur die Bezahlung stimmt.“ Sollthana versuchte gelassen zu bleiben, konnte aber nicht vermeiden, einen knallroten Kopf zu bekommen. „Schlag dir das aus dem Kopf, ich schlafe im Stall und jetzt lass uns endlich etwas zu essen bestellen, ich bin am verhungern.“ „Ganz wie du willst. Ich hoffe nur, die Rinder reagieren nicht aggressiv auf deine Haarfarbe, ich habe gehört, sie finden Rot ganz besonders reizend.“

Sollthana tat so, als hätte sie Andraics letzten Kommentar gar nicht mitbekommen und ließ sich mit einem wohligen Seufzer auf einer der langen Holzbänke, mit denen der Schankraum ausgestattet war nieder. Erst als sie eine Mahlzeit bestellt hatten und einen Krug Apfelwein vor ihnen stand, sah sich Sollthana neugierig in dem langgestreckten, holzgetäfelten Raum um. Auch der Aufenthalt in einem Gasthaus war für sie eine ganz neue Erfahrung und sie musterte unverhohlen die anderen Gäste, von denen einige an ihrer Kleidung unschwer als Bauern aus der Umgebung zu erkennen waren, ein Paar jedoch, welches am Nachbartisch Platz genommen hatte, wirkte in seiner vornehmen Kleidung fast deplaziert in dieser Umgebung, der Mann trug eine reichverzierte Weste über seinem blütenweißen Hemd, welches wiederum über einem gewaltigen Wohlstandsbauch spannte, die Frau war um einiges jünger, sie konnte nicht viel älter als Sollthana selbst sein und auch bei ihr zeichnetet sich unter dem eleganten Seidenkleid ein deutlicher Bauch ab, wobei dies eher von einer Schwangerschaft als von übermäßigen Gaumenfreuden herzurühren schien.

Als das Essen serviert wurde, fielen Andraic und Sollthana heißhungrig über den deftigen Eintopf, den kalten Braten und das Brot her, doch obwohl alles köstlich mundete, warf sollthana immer wieder verstohlene Seitenblicke auf die junge Frau, die mit gequälter Miene in ihrem Essen stocherte, während ihr Gatte seiner Portion mit Genuss zusprach. Immer wieder fasste sich die Schwangere an die Seite oder rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum und als Sollthana ihren ärgsten Hunger gestillt hatte, konzentriert sie sich ganz auf ihre potentielle Patientin. „Was gibt es denn da drüben so Interessantes zu sehen?“ fragte Andraic mit vollem Mund und brach sich ein weiteres Stück Brot ab, um damit seine Suppenschüssel sauber zu wischen. Da er mit dem Rücken zu dem jungen Paar saß, hatte er nichts mitbekommen. „Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Sollthana und versuchte die aufkeimende Nervosität aus ihrer Stimme zu verbannen. „Aber vielleicht werde ich gleich zum ersten Mal ganz alleine ein Kind entbinden.“ Andraic legte das abgebissene Stück Brot neben seine Schüssel und musterte sie mit einem Blick, in dem sich Belustigung und nachsichtige Herablassung spiegelten:

„Also bitte, Mädchen, ich verstehe ja, dass du nun endlich mal deine Kunst unter Beweis stellen willst, aber wo willst du hier bitte ein Kind zum entbinden herbekommen...?“ Er hatte den Satz noch nicht ganz beendet, als ein schriller, peinerfüllter Schrei alle im Raum zusammenfahren ließ. Die junge, elegante Frau am Nachbartisch hatte ihren Weinbecher fallengelassen und betrachtete mit einigem Entsetzen den sich rasch ausbreitenden, nassen Fleck in ihrem Schoß. Sie versuchte aufzustehen, sank jedoch gleich wieder mit einem Stöhnen zurück auf ihren Sitz. Sollthana sprang gleichzeitig wie der erschrockene Ehemann auf und lief zu der Schwangeren.

„Ganz ruhig, das ist nur die Fruchtblase, die geplatzt ist. In welchem Monat seit Ihr?“ „Es ist auf jeden Fall noch zu früh“, jammerte die junge Frau. „ Es ist mein erstes Kind und eigentlich ward der Geburtstermin erst für den nächsten Monat berechnet. Ich verstehe das gar nicht, vielleicht war die Reise doch zu anstrengend?“

Das arme Ding sah Sollthana mit weit aufgerissenen Augen an, in denen sich Angst und Schmerzen spiegelten und Sollthana bemühte sich, ihre eigene Auflegung weitgehend in Griff zu bekommen. „Es wird alles gut, ich bin Heilerin und werde Euch beistehen“ „Oh, wahrhaftig? Eine Heilerin? Das ist gut.“ Das Mädchen umklammerte Sollthanas Hand mit einer derart verzweifelten Kraft, dass sie fast laut aufschrie vor Schmerz. „Ganz ruhig, verkrampft Euch nicht so. Erst einmal müssen wir Euch auf Euer Zimmer bringen, das Kleine soll doch nicht auf dem schmutzigen Boden eines Schankraums das Licht der Welt erblicken.“ Sollthana sah sich suchend um und blickte geradewegs auf den händeringenden Ehegatten der jungen Frau, der die ganze Zeit neben ihnen gestanden war, aber kaum in der Lage schien, einen klaren Gedanken zu fassen. „Oh weh, was ist mit ihr? Ilena, mein Liebchen, mein Augenstern, sag' doch was. Was ist passiert? War es das Essen? Ich werde diesen Wirt verklagen, der Kerl wird sich hüten, noch einmal so einen schwerverdaulichen Schweinefrass unter die Leute zu bringen.“

Entrüstet schüttelte der beleibte Mann seine Faust Richtung Ausschank. Sollthana hätte angesichts dieser Theatralik fast laut losgelacht, bemühte sich jedoch um eine professionelle Miene. „Nein, mein Herr, es liegt nicht am Essen. Eure Gattin wird bald ein Kind zur Welt bringen und ich denke, es ist das beste, sie so schnell als möglich auf euer Zimmer zu bringen, würdet Ihr also so freundlich sein, und mit anfassen?“ Der Gatte wurde noch eine Spur blasser und rang wieder die Hände. „Das Kind? Jetzt? Aber es ist doch noch gar nicht an der Zeit, viel zu früh ist es noch.“
„Das kann schon sein“, setzte ihm Sollthana mit aller noch aufbringbaren Geduld auseinander. „Aber manchmal ist die Natur eben unberechenbar und wie mir Eure Gemahlin sagte, habt Ihr ja auch eine anstrengende Reise hinter Euch. Würdet Ihr also so freundlich sein und mir helfen, Eure Angetraute zu Bett zubringen?“
Aber auch dieser Appell schien nichts zu nutzen, denn der gute Mann verharrte noch immer lamentierend auf der Stelle und auch die übrigen Besucher der Schanke starrten nur neugierig auf Sollthana und die in sich zusammen gesunkene, vor sich hinstöhnende Frau. Doch plötzlich stand Andraic, den sie fast vergessen hätte, neben ihr und in diesem Moment hätte sie ihn wirklich umarmen können, als er wie selbstverständlich sagte:“ Also, Rotschopf, wo soll ich die junge Dame hinbringen? Und kann ich dir sonst wie behilflich sein?

„ Die Physiologie der Geburt wird unterteilt in „Eröffnungsperiode, Austreibungsperiode, Nachgeburtsperiode“
Mit der vollständigen Reife des Kindes tritt die Geburt ein, d.h. es kommt zu einem Vorgang, der zu einer Trennung des Eies vom Leib der Mutter führt.“
In einzelnen Fällen kann es durch Ursachen, welche da sind Krankheit, Verunfallung der Mutter, Angst oder übermäßige Anstrengung zu einer frühzeitigen Ablösung der Frucht kommen, wobei die Ausreifung dieser darüber entscheidet, ob eine Lebensfähigkeit gegeben ist.“
Aus dem Leitfaden Geburtshilfe von Hebamme Anneke Lebenen




Kaum eine Stunde später war es vollbracht. Das empörte Schreien eines Neugeborenen, welches soeben aus seiner wohlig warmen Geborgenheit in eine feindliche Welt gestoßen worden war, schallte durchs Haus. Sollthana hatte gelernt, dass Erstgebärende oft lange Stunden, ja Tage in den Wehen liegen konnten, aber das ständige Geschaukel in der Kutsche, in der sie unterwegs war, hatte bei Ilena wohl die Frühgeburt hervorgerufen und das Kind hatte es so eilig gehabt, dass Sollthana nicht vielmehr hatte tun müssen, als beruhigend auf die werdende Mutter einzureden, das blut und schleimverschmierte kleine Wesen entgegenzunehmen und seiner Mutter auf den Bauch zu legen und sich um Nabelschnur und Nachgeburt zu kümmern.

Doch dem kleinen Jungen schien es trotz seines verfrühten Start ins Leben gut zu gehen, wenn er auch etwas klein geraten war und auch die junge Mutter war wohlauf. Sollthana war erleichtert und durchaus ein bisschen stolz auf ihre erste alleinige Geburt, aber auch Andraic hatte sich als sehr hilfreich erwiesen, indem er den besorgten Vater und die übrigen Gäste des Gasthauses im Zaum hielt, als Zubringer und Organisator von heißem Wasser, Tüchern, Heilkräutern und Getränken diente, sowie zwischendurch immer wieder aufmunternde Worte fand.

Als Sollthana endlich den überglücklichen, frischgebackenen Vater das in Tücher gewickelte Kind in die Arme legte und dieser vor lauter Freude ein paar Tränen vergoss, fühlte auch Sollthana sich von Rührung übermannt und hätte fast ein bisschen mitgeweint, aber sie beherrschte sich im letzten Moment.“ Da ist er, Euer Sohn, gesund und kräftig und alles dran, was dran gehört.“ sagte sie stattdessen und lächelte Veldul, den stolzen Vater, freundlich an- „Und Ilena? Geht es Ihr gut?“ „Sie schläft jetzt, aber sie wird bald wieder zu Kräften kommen,“ versprach Sollthana und dann ließ sie die junge Familie allein und ging runter in den Schankraum, in der Absicht, nach dieser Tat erst mal einen Happen zu essen, aber kaum hatte sie den Raum betreten, ergossen sich bereits von allen Seiten die Glückwünsche auf sie herab, als ob sie selbst das Kind geboren und nicht nur geholfen hätte, es zur Welt zu bringen.

Dann gab es wirklich ein frisches Mahl und einen Krug Wein auf Kosten des Hauses, der Wirt höchstpersönlich brachte es vorbei und noch einmal später kam der stolze Vater des Neugeborenen hinzu, stellte sich offiziell als Veldul, Kaufmann aus Dosslar vor und spendierte eine weitere Runde Wein und wahrscheinlich wurde es noch ein langer und ausschweifender Abend, bei dem eine Runde die nächste ablöste, aber Sollthana bekam von alledem gar nicht mehr viel mit, denn schon nach wenigen Bechern Wein, fielen ihr einfach die Augen zu und ihr Kopf sank an Andraic Schulter, denn er hatte die ganze Zeit an ihrer Seite gesessen und auch immer wieder ihren Becher nachgeschenkt, so schien das eine ganz natürliche Sache zu sein.

„Wirkung von berauschenden Getränken und Kräutern auf den Organismus Mensch.“
Eine Abhandlung von Alsen Dioleyn



„Besondere Kennzeichen bei übermäßigem Genuss sind Euphorie, Entledigung aller Hemmungen und des sittlichen Verhaltens, sowie in einigen Fällen gesteigerte Raufeslust und Zerstörungswut. Der Kontrollverlust richtet sich nach der Menge der eingenommenen Getränke oder pflanzlichen Substanzen und kann insbesondere bei unerfahrenen Personen, die mit der Wirkung nicht vertraut sind, zu krankheitsähnlichen Zuständen wie Müdigkeit, Erbrechen, Schmerzen im Kopf und Bereich des Magens, sowie Gedächtnisverlust führen.“

Wiederum im Verlies




Jalaynas erwachte in schummriger Dunkelheit. Er versuchte sich zu bewegen, wurde jedoch von den schweren Eisenketten, die ihn fesselten, daran gehindert. Gequält stöhnte er auf, als ein stechender Schmerz durch seinen Körper fuhr und versuchte, eine bequemere Position zu finden. Mühsam kämpfte er um eine Erinnerung an die vergangenen Ereignisse, doch da waren nur verschwommene Bilder seiner Festnahme, von Taevul, der ihn aufgefordert hatte, alles zu gestehen, ... doch was war dann geschehen? Warum konnte er sich nicht an das erinnern, was passiert war, nachdem Taevul gegangen war?

War er verhört worden? Alles sprach dafür, er musste geschlagen worden sein, anders konnte er sich nicht erklären, dass sein ganzer Körper schmerzte. Aber hatte er etwas verraten? Er konnte sich nicht daran erinnern. Blieb nur zu hoffen, dass er getan hatte, was er schon Taevul gesagt hatte -seine Leute nicht verraten. Ob sein Vater stolz auf ihn sein würde? Es war müßig, darüber nachzudenken, denn wahrscheinlich würde er das nie erfahren. Schon jetzt hatte er das Gefühl, einen großen Teil seiner Kraft und seines Willens eingebüßt zu haben. Die Schmerzen beherrschten sein ganzes Denken und Fühlen. Auch wenn er bis jetzt nichts verraten hatte... wer wusste, ob er es nicht beim nächsten Mal tun würde?

Er dämmerte wieder weg und erst ein drückendes Gefühl auf seinem Brustkorb ließ ihn wieder aufwachen. Eine große, braune Ratte hatte sich dort niedergelassen und schien ihn aufmerksam zu betrachten. Jalaynas bemühte seine Stimmbänder, mehr als ein heiseres Krächzen brachte er nicht heraus- dies genügte jedoch um das Tier zu verscheuchen. Wiederum vergingen einige Stunden, in denen Jalaynas in einen benebelten Traum-Wach-Zustand eintauchte, der vom beginnenden Fieber ausgelöst wurde.

Als er das nächste Mal richtig zu sich kam, beugte sich eine verschwommene Gestalt über ihn: „Hab keine Angst, ich bin es, Taevul.“ Jalaynas Augen gewöhnten sich nur langsam an das dämmrige Licht und er erkannte den Wächter, der eine Schale mit Wasser in den Händen hielt und neben ihm kniete.
„Hier, trink ein bisschen.“ Taevul stützte seinen Kopf und hielt ihm das kühle Nass an die Lippen. Erst nachdem er dankbar nickend davon getrunken hatte, brachte Jalaynas mühsam die wichtige Frage heraus: „Habe ich etwas verraten?“ „Nein, mein Junge. Nicht ein Wort.“ In Taevuls Stimme schwangen widerwillige Bewunderung, aber auch Ärger mit.
„Du hättest auf mich hören sollen. Ludwin ist sehr erzürnt und früher oder später wirst du ihn anflehen, ihm alles erzählen zu dürfen. Wenn du dich weiterhin weigerst, wird vielleicht Sherlys höchstpersönlich erscheinen, um dich zu befragen -das hat hier noch keiner überlebt. Ich bitte dich, erzähl Ludwin etwas. Beantworte nur eine seiner Fragen, wenn sie dich wieder holen...denn Du verlängerst deine Qualen nur.“

„ Taevul!“ Jalaynas Stimme klang nun wieder erstaunlich kräftig, ja wütend. „Bei allem, was dir heilig ist, kannst du mich nicht verstehen? Hättest du deine Söhne verraten, deine Frau, deine Eltern? Hättest du sie einem grausamen Schicksal ausgeliefert, wenn es in deiner Macht gestanden hätte, sie davor zu bewahren?
Das kann ich nicht glauben. Vielleicht hast du Recht, wenn du mir vorwirfst, noch ein dummes Kind zu sein. Glaub mir, ich bin alt genug, um zu wissen, dass ich einen Fehler begangen habe und alt genug, um zu wissen, dass dieser Fehler nur durch mein Schweigen wieder gut gemacht werden kannn.

Was versuchst du mir eigentlich zu vermitteln, Taevul? Was ist dein Anliegen?
Ich verstehe es nicht. Im Grunde deines Herzens scheinst du ein anständiger Mann zu sein und doch versuchst du mich zu überreden, meine Familie mutwillig dem Tode Preis zu geben. Lass
mich einfach in Ruhe. Bring mir auch kein Wasser und keine aufmunternden Worte mehr. Ich werde meine Meinung nicht ändern -und daran wird dein Sherlys auch nichts ändern“

Und damit schwieg Jalaynas erschöpft. Er war stolz auf seine Worte, auch wenn sie vielleicht sein Todesurteil waren - nun war es ihm gleichgültig. Er ließ sich zurückgleiten in den Dämmerschlaf, der ihm Schutz und Trost bot. Er achtete nicht mehr auf Taevuls Antwort. Wenn er es doch getan hätte, so hätte ihn die Antwort vielleicht überrascht: „ Du hast Recht, mein junger, tapferer Freund, aber was kann ich schon verändern?“ sagte Taevul leise in die Dunkelheit, die nur von Jalaynas abgehacktem Atem durchbrochen wurde.
Und er ging fort, voller Scham, und doch mit der Gewissheit, hier nichts mehr ausrichten zu können.

Im Gasthaus zur untergehenden Sonne




Sollthana steckte den Kopf in die Wasserschüssel und kam prustend wieder hoch. Eiskalt war das Wasser, aber wenigstens nahm es ihr etwas von der bleiernden Schwere, die ihren schmerzenden Schädel beherrschte. „Ich bin mir sicher, irgendjemand hat mir etwas in den Wein geschüttet“, klagte sie und betrachtete stirnrunzelnd ihr zerknittertes Äußeres im Spiegel.

Andraic, der auf dem Bett saß und sich mit seinen Stiefeln abmühte, lachte schallend. „Aber es ist wahr, ich habe wirklich nicht soviel getrunken“, verteidigte sich Sollthana wütend. „Oh, doch,“ behauptete Andraic. „Ich musste dich ins Bett tragen und du hast mir die unflätigsten Beschimpfungen an den Kopf geworfen, während ich mich mit dir abmühte.“ „Ich werde wohl allen Grund dazu gehabt haben“, gab Sollthana gereizt zurück. „ Was hast du denn überhaupt in meinem Zimmer zu suchen?“ „ In deinem Zimmer? Wer wollte denn gestern noch unbedingt im Stall nächtigen? Froh sein kannst du, dass ich es nicht übers Herz brachte, dich in diesem Zustand einfach beim Milchvieh abzuladen.“

Andraic grinste unverschämt und wechselte dann geschickt das Thema, ehe sich Sollthana noch eine passende Antwort zurechtgelegt hatte. „Veldul war wirklich großzügig, da kann man nichts sagen, sehr viel ist in den Weinfässern des Wirts sicher nicht zurückgeblieben. Und deine Dienste hat er dir auch mehr als reichlich vergolten, 20 Golddimez für die Entbindung eines Kindes, welches sich seinen Weg wahrscheinlich auch von allein gebahnt hätte, so eilig hatte es der kleine Wurm, das Licht dieser schnöden Welt zu entdecken...“ „20 Golddimez? Für mich? Das ist ja ein kleines Vermögen.“ Sollthana war fassungslos, nicht nur über diesen unerwarteten Geldsegen, sondern auch, weil sie sich an den Erhalt überhaupt nicht mehr erinnern konnte. „Warum weiß ich bloß gar nichts mehr von alledem?“ jammerte sie und stützte ihren wehen Kopf mit beiden Händen, als wollte sie ihn davor bewahren, in tausend Teile zu zerspringen. „Jedenfalls muss ich mich wohl glücklich schätzen, dass du ehrlich zu sein scheinst und noch nicht mit dem Gold über alle Berge bist.“

Andraic legte den Kopf schief und wieder funkelte der Schalk boshaft in seinen blauen Augen. „Ja, meine Liebe, du bist schon ein selten vertrauensseliges Ding, aber genau das macht dich auch äußerst liebenswert. Und nicht nur das, auf dem besten Weg eine ansehnliche Frau zu werden bist du ebenfalls und nun gibt es ja da noch diese reizende, kleine Mitgift von 20 Goldstücken – was könnte ein Männerherz mehr begehren?“

Andraic zwinkerte vergnügt, als er sah, wie Sollthana langsam die Röte ins Gesicht stieg. „Was soll der Unsinn?“ brachte sie schließlich hervor und ärgerte sich wieder maßlos über ihr Unvermögen, auf Andraics Attacken zu kontern. Warum war er nur so verdammt beredsam? Natürlich, er war ein Schriftgelehrter, aber hätte er da nicht ein bisschen mehr Ernst und Würde an den Tag legen müssen? So frech hatte sie sich einen Vertreter dieses Standes jedenfalls nicht vorgestellt.

„Das ist kein Unsinn“, erklärte Andraic und bemühte sich vergeblich, sein Grinsen im Zaum zu halten. „Du würdest wirklich eine gute Partie abgeben.“ „Ach, wirklich? Ist das dann vielleicht der Grund, dass du dich in meinem Zimmer herumtreibst?“ schnappte Sollthana zurück. „Was machst du dir nur immer für Sorgen über das Zimmer? Die Sache ist ganz einfach – als sich gestern herausstellte, dass du ja nun wieder über Geld verfügst, fragte ich den Wirt sofort nach einem Raum für dich, aber leider waren nun schon alle Quartiere besetzt. Aber wie schon gesagt, ich fand es nicht passend, dich in deinem berauschten Zustand einfach im Stall abzulegen.“

„Also haben wir heute Nacht ein Bett geteilt, oder wie soll ich das verstehen?“ schrie Sollthana entsetzt. „Ja, verdammt, aber das ist noch lange kein Grund, das ganze Haus zusammenzubrüllen. Ich habe deine Ehre nicht befleckt, wenn es das ist, was du befürchtest. Du warst so betrunken, dass du dich zweimal übergeben hast und dann zum Schnarchen übergegangen bist, dass die Wände wackelten. Denkst du etwa, dass ich dabei irgendwelche unzüchtigen Gedanken fassen konnte?“

„Du gemeiner Schuft, “ Sollthana griff nach dem Wasserkrug und schleuderte ihn in Andraics Richtung, doch dieser duckte sich geschickt und das Porzellan zerschellte an der Wand. „Zornige Rothaarige haben schon einen ganz besonderen Liebreiz, “ sinnierte Andraic und packte dann blitzschnell ihr Handgelenk, als sie sich die Waschschüssel als weiteres Wurfgeschoss angeln wollte. „Las das bleiben, du verrücktes Kind, du magst in diesem Haus zwar die Heldin des Tages sein, aber das Gold ist für etwas anderes sicherlich nützlicher, als damit kaputtes Geschirr zu zahlen.“ Einen Moment lang starrten die zwei sich an, beide unnachgiebig und mit zornfunkelnden Augen. Doch dann ließ Andraic ihren Arm los und Sollthana rannte wie von Furien gehetzt aus dem Raum, weg, nur weg, ihre Zornestränen sollte dieser verwünschte Schreiberling auf gar keinen Fall sehen. Die Tür krachte hinter ihr ins Schloss und sie fiel fast die steile Treppe hinunter, weil die Tränen ihr die Sicht verschleierten, fast wäre sie noch mit dem verdutzen Wirt zusammengestoßen, der auf dem Treppenabsatz gedankenverloren seinen Besen schwang, doch endlich war sie raus aus dem Gasthaus und flüchtete in den Stall, dort hätte sie von Anfang an hin sollen, dann wäre das alles nicht passiert.

Umgeben von zufrieden muhenden Rindern warf sie sich in einen Heuhaufen und ließ ihren Tränen erst mal freien Lauf. Als sie sich etwas beruhigt hatte, versuchte sie nachzudenken über den vorangegangenen Wortwechsel mit Andraic und was sie eigentlich so aufgeregt hatte. War es, weil er gesagt hatte, dass er ihren nächtlichen Zustand nicht besonders anziehend fand? Wollte sie etwa, dass er sie anziehend fand? Nein, bestimmt nicht, so dreist, wie er sich benahm und überhaupt war er viel zu alt und machte sich ständig über ihre Jugend und Unerfahrenheit lustig.

Aber dennoch, gestern Nacht, da hatte er ihr so selbstverständlich geholfen und als sie so betrunken gewesen war, dass sie nicht mehr wusste wo oben und unten war, da hatte er sich um sie gekümmert, sie ins Bett getragen und über sie und ihren Goldschatz gewacht. Sollthana seufzte laut auf: Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, sie musste sich eingestehen, dass irgendwas an diesem Mann sie anzog und nur deswegen konnte er sie auch so aus der Fassung bringen. Und dennoch musste sie diese Gefühle irgendwo tief in sich vergraben und ihn nur noch als das sehen, was er war: Ein Reisegefährte auf Zeit, eine viel zu kurze Zeit sogar.

Endlich erhob sich das Mädchen wieder aus dem Heu und pflückte sich ein paar vorwitzige Halme aus dem Haar. Die Kühe drehten die Köpfe und beäugten den Gast in ihrer Mitte mit gutmütigem Interesse. Andraics Warnung bezüglich ihrer roten Haare und der angeblichen Aggressivität, die diese bei Rindviechern auslösen sollte, kam ihr in den Sinn und sie musste lachen. Diese Vertreter ihrer Gattung schienen jedenfalls noch nie etwas davon gehört zu haben.


Hungrig vom Streiten und Weinen genehmigte sich Sollthana ein üppiges Frühstück, wie sie noch nie eines zu sich genommen hatte, mit Eiern und Schinken, köstlichem weißen Brot und süßer Marmelade, frischem Obst und mit Sahne angereicherter Hafergrütze. Danach fühlte sie sich um einiges besser und auch bereit, ihren Mitmenschen wieder unter die Augen zu treten. Als erstes stattete sie Ilena und dem Neugeborenen einen Besuch ab. Die junge Mutter hatte sich den Kleinen gerade an die Brust gelegt und die ungewohnte Aufgabe bereitete ihr noch etwas Schwierigkeiten, doch sie strahlte ein solches Glück aus, dass Sollthana einen kleinen Stich verspürte.

Schon manches mal hatte sie sich gefragt, ob irgendwo auf dem Weg, den sie gewählt hatte, noch Platz für einen Gefährten und eine eigene Familie war, doch heute schien ihr das Schicksal besonders boshaft vor Augen führen zu wollen, dass sie in absehbarer Zeit auf all das verzichten musste. Erst Andraic und nun der Anblick dieses kleinen Kindes und seiner glücklichen Mutter – das war einfach zu viel.

Sollthana schob diese Gedanken erst einmal beiseite. Sie war nicht hierhergekommen, um ihren eigenen, trübseligen Gedanken nachzuhängen. Eine kurze Untersuchung von Mutter und Kind ergab, dass es beiden gut ging. Ilenas Blutungen waren nicht stärker, als sie sein sollten und sie war bereits aufgestanden und ein wenig herumgelaufen. Sollthana machte sich Sorgen, wie ihre Patientin den morgigen Reisetag verkraften würde, aber Veldul hatte darauf gedrungen, so schnell als möglich den Hof zu erreichen, wo Ilena in Zukunft wohnen würde und wo sie mehr Bequemlichkeit und weibliches Dienstpersonal zu ihrer Hilfe haben würde.

„Habt Ihr schon einen Namen für den Kleinen?“ erkundigte sich Sollthana höflich, als sie ihre Untersuchungen abgeschlossen hatte. Sie hatte den Säugling noch auf dem Arm und wiegte ihn behutsam hin und her. So warm und weich fühlte er sich an und roch süß nach Milch, wie nur ganz kleine Kinder es tun.

„Veldul und ich haben beschlossen, ihn Andraic zu nennen. Wäre es ein Mädchen geworden, hätte es natürlich nach Euch, Sollthana, geheißen. Aber vielleicht schenkt mir Charis ja noch eine Tochter, die ich nach Euch benennen kann, das wünsche ich mir sehr. Wirklich, Sollthana, ich werde Euch nie vergessen, was Ihr für uns getan habt. Ich war so voller Angst und sicher, sterben zu müssen, ohne Euch wäre es vielleicht wirklich so weit gekommen, dass mein Sohn auf einem Schenkenboden zur Welt gekommen wäre. Sein Vater wusste ja nicht aus und nicht ein, wer hätte gedacht, dass gestandene Männer in solchen Situationen hilfloser als dieses Baby hier sind?“

Die so gelobte Sollthana nickte verlegen und dann begann Ilena von ihrer Heimat, ihrer Familie und ihrer Ehe mit Veldul zu schwätzen. Sie stammte aus Dosslar, einer Hafenstadt in Colhbec, wo ihre Familie recht einflussreich war. Vor einem Jahr hatte man sie mit dem 20 Jahre älteren Veldul verheiratet, weil es eine günstige Verbindung für beide Familien war. Veldul betrieb Handel zwischen Dosslar und Starroff und besaß zudem den Hof, zudem das junge Paar unterwegs war. Ilena vermisste ihre Eltern und Schwestern, auch wäre sie lieber in Dosslar geblieben, wo es Feste und Zerstreuungen aller Art gab, doch Veldul war gut zu ihr und nun hatte sie ja den kleinen Andraic und das entschädigte sie für einiges.

„Aber hättet Ihr Veldul auch geheiratet, wenn man Euch die Wahl gelassen hätte?“ fragte Sollthana neugierig. Ilena warf ihr einen Blick zu, als ob sie etwas überaus Seltsames, ja Dummes gefragt hätte und lachte dann: „Wisst Ihr, in der Zeit als ich schon mit Veldul versprochen war, hatte ich einen Verehrer-Nachts kam er zu meinem Fenster und trug mir Gedichte vor, manchmal spielte er sogar ein paar unendlich schmachtige Lieder auf der Janjuli, bis mein Vater ihn mit Steinen fortjagte. Einmal traf ich ihn in einem abgelegenen Winkel unseres Gartens und wir haben uns geküsst.“

Ilenas Augen begannen bei dieser Erinnerung zu glänzen und ihr Lächeln war geradezu spitzbübisch. „Es hat mir sehr gefallen...das Herzklopfen, wenn ich ihn sah, die Gedanken an ihn, wenn er nicht bei mir war und ich nachts nicht schlafen konnte, dieses Kribbeln in Bauch, als er mich küsste...aber es musste vorübergehen, denn ich war nun einmal Veldul versprochen. Irgendwann kommt die Zeit, seine Pflicht zu erfüllen.“ „Einem Mann zu folgen, der einem nichts bedeutet, das ist die Pflicht?“ Ilena seufzte, als hätte sie ein besonders unbelehrbares Kind vor sich.

„Es geht nicht in erster Linie um den Mann, es kann auch etwas Anderes sein, dem man verpflichtet ist. Jeder ist an etwas gebunden, du, ich, alle Menschen. Bei mir sind es die Traditionen, die in unserer Familie herrschen, ein anderer mag vielleicht das Handwerk seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters übernehmen müssen, weil es so von ihm erwartet wird. Und bei dir ist es der Schwur, den du als Heilerin leisten musstest und das erscheint mir sicher härter, als einen reichen, gutmütigen Mann zu heiraten und ein paar Kinder großzuziehen. Aber so ist es nun einmal, manchmal würden wir vielleicht gerne ausbrechen und etwas ganz anderes tun, doch dann besinnen wir uns doch wieder darauf, was uns bestimmt ist, nicht wahr?“

Sollthana nickte und kam sich zum zweiten Mal an diesem Tag sehr kindisch vor. Ilena war kaum älter als sie, doch wirkte sie bereits soviel reifer und verständiger. Warum hatte Eletha sie mit Wissen vollgestopft, aber vergessen ihr zu sagen, wie kompliziert es doch in der Welt zuging? Dass man sich zu allem anderen mit Gefühlen, Pflichten, Traditionen und sonstigen undurchschaubaren Dingen herumschlagen musste?

Sie blickte auf, als Ilena ihre Hand nahm und wieder das Wort ergriff: „Sollthana, schaut nicht so traurig. Ich bewundere Euch wirklich, für das was ihr tut. Seht doch, Eure Begabung ermöglicht euch soviel, viel mehr, als ich einfaches Eheweib mir vorstellen kann. Ihr habt die Freiheit zu Reisen, euer eigenes Geld zu verdienen und euer Leben nach euren Wünschen zu gestalten. Überall gibt es Abenteuer zu erleben und Neues zu entdecken, aber natürlich, da ist auch die anderer Seite, der Preis, den Ihr für Eure Unabhängigkeit zahlen müsst, nicht wahr? Die Geborgenheit einer Familie, die Zuneigung eines guten Gefährten, das Glück, Kinder aufwachsen zu sehen und ein eigenes Heim zu haben...“

Die junge Heilerin nickte und versuchte, sich die Gesichter ihrer Eltern und Geschwister vor Augen zu rufen, die sie vor so langer Zeit verlassen hatte, aber sie blieben schemenhaft und weit entfernt. Unendlich einsam fühlte sich Sollthana plötzlich und Ilenas Schicksal fand sie auch nicht mehr so beklagenswert. Warum hatte sie das Mädchen überhaupt bedauert? Ja, sie war mit einem Mann verheiratet, den sie nicht liebte, aber erging es nicht vielen Frauen so? Den meisten sogar? Und wenigstens hatte dieser Mann Geld und Land und konnte für sie sorgen.

War es ihrer eigenen Mutter nicht viel schlechter ergangen, harte Arbeit Tag für Tag und doch nie genug zu essen, zu viele Geburten, die ihre Gesundheit ruinierten und ein liebloser, abgestumpfter Mann an ihrer Seite. Ilena hingegen würde bald über einen großen Haushalt herrschen, ihr Mann würde ihr alle Wünsche von den Augen ablesen, sie würde sehen, wie der kleine Andraic wuchs und gedieh und vielleicht noch weitere Kinder bekommen....

„Wenn Ihr mir eine etwas indiskrete Frage verzeihen wollt...“ riss Ilena sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. „Was ist das zwischen Euch und eurem Reisegefährten...habt ihr eine Liebelei?“ Ilena kicherte .Sollthana merkte, dass sie mal wieder rot wurde: „Oh, nein, wir sind tatsächlich nur Weggefährten und kennen uns auch erst seit 14 Tagen. Bald werden sich unsere Wege wieder trennen, wenn wir nur erst unser Reiseziel erreicht haben“ „Wirklich?“ staunte Ilena. „Ihr schient mir so vertraut und die Blicke, die er Euch zugeworfen habt....ein bisschen habe ich ja gestern doch noch mitbekommen, trotz der Angst und der Schmerzen und glaubt mir, ich irre mich nicht, wenn ich sage, etwas ist da am entstehen.....und Veldul meinte vorhin, ihr müsstet ein Paar sein, nach dem heftigen Streit zu folgern, dessen Zeuge er unfreiwillig wurde.“

Ilena zwinkerte ihr verschwörerisch zu und Sollthana wäre vor Scham fast im Boden versunken. „Oh, das hat er alles mit angehört?“ Laut genug geschrien und mit Geschirr um sich geworfen hatte sie ja, sie konnte nur hoffen, dass nicht das ganze Gasthaus unfreiwillig Zeuge ihrer Auseinandersetzung geworden war.

„Aber erkennt man denn Liebespaare daran, dass sie streiten?“ fügte sie verwirrt hinzu. Ilena kicherte: „Denkt doch mal nach...eine Frau wirft nicht mit Sachen nach jemandem, der ihr gleichgültig ist. Da muss erst ein bisschen Leidenschaft im Spiel sein.“ Sollthana fing an zu prusten und bald kicherten beide wie zwei alberne Hühner, aber es war durchaus befreiend nach all diesen ernsthaften Gesprächsthemen. „Ich weiß nicht“, brachte Sollthana schließlich, nach Luft schnappend und mit rotem Gesicht heraus. „Ich habe mich noch nie verliebt, bin unerfahren wie ein kleines Mädchen und anscheinend auch genauso naiv - woher sollte ich also wissen, woran ich bin?“

„Was nicht ist, kann ja noch werden“, behauptete Ilena und nahm den kleinen Andraic hoch, der von ihrem Gekicher aus dem Schlummer gerissen worden war und jetzt jammerte und greinte. Sollthana stand auf, um sich zu verabschieden, doch an der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte traurig: „Aber Ihr wisst doch, meine Pflicht ist eine ganz andere. Auch wenn ich mich verliebt hätte - ich bin auf Wanderschaft und das verbietet mir, auch nur an so etwas zu denken, bis die 7 Jahre vorbei sind.“ Sie winkte Ilena noch einmal zu, bevor sie behutsam die Tür hinter sich schloss.

Jalaynas und Melynas




In seinem dunklen Verlies erwachte Jalaynas schweißgebadet aus einem Fiebertraum und rief nach Wasser. Seine Stimme, dünn und kläglich wie das Greinen einer jungen Katze, hallte ungehört von den Wänden wieder.

Er hatte kein Gefühl dafür, wie viel Zeit seit Taevuls Besuch vergangen war, es hätten Minuten, aber auch Stunden oder sogar Tage sein können. Und hatte er nicht irgendetwas Dummes zu Taevul gesagt, etwas in der Art, dass er nicht wiederkommen und ihm auch kein Wasser mehr bringen solle? Was für ein Held war er doch in diesem Moment gewesen und was für eine klägliche Gestalt gab er jetzt ab – tatsächlich, wären seine Folterknechte in diesem Moment erschienen und hätten ihm einen Krug Wasser geboten, er hätte ihnen alles erzählt was er wusste und auch alles was er nicht wusste.

Aber keine Menschenseele ließ sich blicken, nur die große, braune Ratte, die ihm schon einmal einen Besuch abgestattet hatte, war wieder da. Eine Weile raschelte sie zwischen dem fauligen Stroh herum, welches den Boden bedeckte, dann kletterte sie furchtlos auf seine Brust, wie auch schon beim ersten Mal und betrachtete ihn neugierig mit ihren dunklen Knopfaugen.

Doch diesmal hatte Jalaynas keine Lust und auch keine Kraft das Tier zu verscheuchen, er war froh, dass ein lebendiges Wesen ihm Gesellschaft leistete. „Liebe, kleine Ratte, wenn du mir doch helfen könntest. Einen Schluck Wasser bringen vielleicht oder sogar meine Ketten lösen und mich von hier fortbringen. Weißt du, es ist schon komisch, noch vor ein paar Tagen hab ich mich furchtbar mit meinem Vater und meinen Brüdern gestritten, sie wollten mich nicht mitnehmen auf einen Erkundungsritt nach Sarkanda, meinten, es wäre zu gefährlich. Was war ich wütend, verflucht hab ich sie alle drei und nicht mehr mit ihnen geredet, auch als sie fortritten und sich von mir verabschieden wollten.
Warum war ich nur so kindisch und dumm, jetzt werde ich sie vielleicht nie wiedersehen...“
Der Nager starrte ihn unverwandt an, als ob er jedes Wort verstanden hätte und Jalaynas schloss müde die Augen. Wenn er jetzt schon anfing sich mit Tieren zu unterhalten, sie sogar um Hilfe bat, dann würde es wohl nicht mehr lange dauern, bis er dem Wahnsinn anheim fiel.

„Vielleicht kann ich wirklich etwas für dich tun, mein junger Freund“ ,flüsterte eine feine, piepsige Stimme in seine Gedanken. Jalaynas fuhr erschrocken zusammen und riss die Augen wieder auf. Hatte da wirklich jemand gesprochen oder hatte er sich das nur eingebildet? „Ist da jemand?“ fragte er ängstlich. Hatte der Irrsinn, heimlich und schleichend, so schnell von ihm Besitz ergriffen? „Was denkst du denn, wer gesprochen hat?“ meldete sich die Stimme zurück „ Viele Möglichkeiten gibt es nun wirklich nicht.“

Das war Jalaynas auch bewusst. Ungläubig und fassungslos starrte er auf die Ratte auf seiner Brust, die begonnen hatte, sich genüsslich zu putzen. „Nun sieh mich nicht so an.“ Die feine Stimme klang tatsächlich etwas ungehalten „Hast du etwa noch nie eine sprechende Ratte gesehen? Nein? Naja, eigentlich kann ich es dir nicht verdenken, dass du erstaunt bist, tatsächlich kenne ich selbst kein anderes Exemplar mit meinen Fähigkeiten. Jedenfalls keines, welches noch unter den Lebenden weilt“

Das klang nun fast eingebildet und dann fing der Nager an, vergnügt vor sich hinzukichern. Jalaynas stellten sich alle Haare auf und ein Schauer überlief ihn bei diesem unwirklichen Geräusch, am schlimmsten aber war, dass er nicht einmal hoffen konnte, sich noch in einem Fiebertraum zu befinden, dazu spürte er Schmerzen und Durst zu deutlich „Mein Name ist Melynas,“ stellte sich die Ratte vor, unbekümmert weiter sein Fell putzend Jalaynas schloss wieder die Augen und sprach ein Gebet an Charis, in der Hoffnung, dass sich der Spuk dann vielleicht verflüchtigen würde, aber der sprechende Nager dachte gar nicht daran, einfach so zu verschwinden.

Stattdessen beugte er sich soweit vor, dass seine Schnurrbarthaare Jalaynas im Gesicht kitzelten und sagte gebieterisch: „Willst du mir nun nicht auch deinen Namen verraten, wie es die Höflichkeit gebietet?“
„Jalaynas – ich heiße Jalaynas“, murmelte der Junge, ohne jedoch die Augen zu öffnen. „So, “ sagte die Ratte zufrieden, „Jalaynas also, und ich bin der Erste an diesem unwirtlichen Ort, dem du deinen Namen mitgeteilt hast. Du musst wissen, ich höre und sehe viel, ich bin klein und flink und niemand kommt auf die Idee, in meiner Gegenwart ein Geheimnis wahren zu müssen.

Diese dummen, dummen Menschen, plappern immer einfach drauflos und machen sich keine Gedanken über die Konsequenzen. Ich könnte dir Geschichten erzählen...entschuldige bitte, ich rede und rede, dabei haben wir eigentlich Wichtigeres zu tun, es ist nur, ich habe lange keinen Gesprächspartner mehr gehabt, Monate ist es schon her, dass ich mit jemandem gesprochen hab, schwer ist es, sich Gehör zu verschaffen, wenn man so klein ist und noch dazu jeder denkt, dass es so etwas wi mich eigentlich gar nicht geben dürfte..“ Die Ratte räusperte sich aufgeregt und putzte wieder hektisch an seinen Schnurrbart herum.

„Nun zurück zu dir, mein junger Freund. Du befindest dich hier in einer etwas prekären Lage, wie ich feststellen muss und uns läuft die Zeit davon. Bald werden sie dich wieder zum Verhör holen und wenn sie so weiter machen, wie bisher, hältst du nicht mehr lange durch, also muss ich mich beeilen damit, unsere Flucht zu organisieren“

Jalaynas öffnete endlich wieder die Augen und versuchte sich etwas aufzusetzen. „Ganz, ruhig, mein Freund, reg dich nicht auf. Schon lieber deine Kräfte, die wirst du noch brauchen.“ „Aber wer bist du?“ flüsterte der Junge „Und warum willst du mir helfen? Vor allem aber, wie willst du das anstellen?“

„Das las nur meine Sorge sein. Alles, was du zu tun hast, ist durchzuhalten, was nicht ganz leicht ist, aber du wirst es schon schaffen. Nun ruh dich noch etwas aus, bald komme ich wieder und vielleicht können wir dann schon von hier fliehen.“ Damit war der Nager so schnell verschwunden, als sei er wirklich nur ein Spuk gewesen und ließ einen völlig verstörten Jalaynas zurück.

Sollthana und Andraic




Nach ihrem Besuch bei Ilena war Sollthana in ihre Schlafkammer zurückgekehrt – bzw. in den Raum in dem sie die Nacht verbracht hatte, denn sicher war sie immer noch nicht, ob es nun als Andraics oder ihr Zimmer zu bezeichnen war. Etwas unschlüssig, wie sie diesen reisefreien Tag verbringen sollte – trotz dem sie länger geschlafen hatte als sonst, sich mit Andraic gestritten, ausgiebig gefrühstückt und lange mit Ilena geredet hatte war es erst früher Nachmittag – beschloss sie schließlich, dass ein Bad und vor allem eine gründliche Haarpflege nicht schaden könnten.

Als das Dienstmädchen und der Knecht ihr den Badezuber schließlich mit heißem Wasser gefüllt hatten, angereichert mit wohlriechenden Duftessencen und man ihr auch noch ungefragt einen Krug Wein kredenzt hatte, fand sie die Idee sogar ganz ausgezeichnet. Der Wein schmeckte auch nicht schlecht, fand sie. Auch wenn die Kopfschmerzen der Nacht gerade erst abgeklungen waren, so fand sie doch langsam Gefallen an diesem Getränk und eine Weile plantschte sie vergnügt im Wasser herum und schrubbte sich den angesammelten Dreck der vergangenen Woche vom Leib.

Später ließ sie sich, in ein sauberes Badetuch gehüllt, auf dem Bett nieder und begann mit der mühevollen Aufgabe, ihre verfilzten Haare auszukämmen. So versunken war sie in diese Aufgabe, dass sie vor Schreck zusammenfuhr, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Andraic im Türrahmen stand. Völlig entgeistert starrte er sie an, murmelte eine Entschuldigung und wollte die Tür schnell wieder schließen, aber bevor sie selbst genau wusste, was sie eigentlich vorhatte, rief Sollthana ihn zurück.

„Komm nur herein, Andraic, schließlich ist es ja auch dein Zimmer. Ich habe nur gerade ein Bad genommen, war aber auch allerhöchste Zeit, nicht wahr? Vielleicht möchtest du einen Becher Wein mit mir trinken? Scheinbar hatte der Wirt noch eine Notreserve, er ist wirklich sehr gut.“

Langsam stand sie auf und ging zum Tisch hinüber, wo der Weinkrug stand und auch Andraic trat endlich unter dem Türrahmen hervor und schloss die Tür hinter sich. Sollthana goss etwas Wein in einen Becher, doch als sie sich umdrehte, um ihn zu Andraic zu bringen, stand dieser plötzlich schon vor ihr und starrte sie mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an.

Schlagartig war all ihre Selbstsicherheit wie weggeblasen und sie merkte, wie ihr die Knie weich wurden. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, halb nackt herumzustolzieren und Wein anzubieten, am frühen Nachmittag? Andraic schien ähnlich zu empfinden, seine Stimme klang zornig und noch irgendwie anders, als er sie an den Schultern packte und so heftig schüttelte, dass sie fast den Weinbecher fallen ließ. „Mädchen, was soll das werden? Willst du dich über mich lustig machen? Mich quälen?“ Sollthana konnte nur hilflos den Kopf schütteln. „Mittlerweile solltest du eigentlich wissen, was für eine Art Mann ich bin – jedenfalls nicht einer von denen, die jede Situation schamlos ausnützen und bei Charis, davon gab es auf unserer Reise wahrlich genügend. Was soll ich nun denken, Sollthana? So unschuldig hast du getan, dass ich fast väterliche Gefühle entwickelt habe, aber vielleicht war das ja nur ein Spiel? Also, was willst du jetzt von mir? Das hier?“

Grob zog er sie noch näher zu sich her und Sollthana schrie erschrocken auf, sich selbst für ihre Gedankenlosigkeit verfluchend. Aber als sie in seine Augen sah, verflog ihre Angst und sie ließ den Kuss geschehen, der bei aller vorangegangenen Grobheit sanft und zärtlich war und sie alles andere vergessen ließ. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie einfach so dastanden, eine Ewigkeit und doch viel zu kurz, bis das Klopfen der Magd, die fragte, ob noch mehr heißes Wasser benötigt würde, sie schuldbewusst auseinanderfahren ließ.

Andraic murmelte etwas davon, dass er Veldul aufsuchen müsse, der Kaufmann hatte den beiden Reisenden eine Mitfahrgelegenheit in ihrer Kutsche angeboten und Andraic wollte bei den Reisevorbereitungen und Wartungsarbeiten helfen, dann verabschiedete er sich flüchtig und ohne sie noch einmal anzusehen und ließ Sollthana mit ihrem Gefühlschaos allein zurück. Eine Weile stand sie einfach nur da und starrte fassungslos auf die Tür, durch die soeben Andraic verschwunden war, dann kehrte sie zurück zu dem noch immer halbvollen Weinkrug, goss sich einen Becher voll und leerte ihn in einem Zug.

Ihr Herz klopfte immer noch wie wild, aber das unbeschreibliche Gefühl, welches sie während dem Kuss empfunden hatte, flaute langsam ab und machte Verärgerung über ihr leichtsinniges Verhalten und einer gewissen Angst, wie ihr Verhältnis zu Andraic zukünftig aussehen würde, Platz „Warum, warum nur musste das geschehen?“ dachte sie und schleuderte wütend das Badetuch in eine Ecke. “Jetzt ist alles noch viel komplizierter als vorher.“

Lordan




Taevul fühlte sich an diesem Nachmittag nicht wohl in seiner Haut. Kurz bevor seine Schicht zu Ende ging, war noch die Order gekommen den jungen Gefangenen in einen der Verhörräume zu bringen. Zu seiner nicht geringen Überraschung war Sherlys selbst anwesend, seit seiner Ankunft waren die Gefangenen unruhig geworden in ihren Verliesen und Zellen, als spürten sie, dass es nun keine Rettung mehr für sie gab und selbst das Wachpersonal wirkte gedrückt und verängstigt .

Auch Taevul selbst fühlte sich jedes Mal unwohl, wenn er seinem obersten Befehlshaber begegnete, aber er hätte nicht in Worte fassen können, woran es genau lag. Sherlys schikanierte seine Leute nicht und gab stets korrekte Anweisungen, er neigte nicht dazu, ständig ihre Arbeit zu überwachen oder ihren Weinkonsum zu kontrollieren...woran also lag es? An seinen seltsamen Augen vielleicht, die eine undefinierbare Farbe hatten, ein schillerndes Grün, das manchmal ins Gelbliche, dann wieder ins Graue wechselte? Oder daran, dass er selten ein Verhör selber durchführte, doch in den seltenen Fällen, wo er es doch tat, keiner der Wächter und Folterknechte anwesend sein durfte und wo die Gefangenen hinterher meist nicht mehr Herr ihrer Sinne waren?

Ja, das schien das seltsamste an Sherlys zu sein, seine Opfer wiesen meist gravierenden Verletzungen auf, aber sie waren zudem so verstört und leergebrannt, als hätte Sherlys ihnen mehr zugefügt als rein körperliche Schmerzen und wenn sie nicht bald darauf von selbst starben, so kam meist ziemlich rasch der Befehl, sie hinzurichten.

Taevul wusste wie alle anderen von den Gerüchten, die sich um Sherlys rankten und wenn er sie auch meistens um seines eigenen Seelenfriedens Willen ignorierte, so vermochte er es heute nicht. 3 Jahre war es her, dass seine Frau Melva und seine beiden Söhne ihm durch das Fieber genommen worden waren und immer noch war der Schmerz so klar und stark wie am ersten Tag.

Was würde Melva wohl sagen, wenn sie ihn so sehen könnte, wie er in der Wachstube saß und den billigen, verwässerten Wein in sich hineinschüttete, was würde sie über ihn denken, einen Folterknecht Sherlys, einen Mann, der alles verraten hatte, an das er glaubte und zu feige war, etwas daran zu ändern? Bevor seine Familie vom Fieber dahingerafft worden war, hatte er ein ruhiges Leben auf einem kleinen Gehöft geführt, nicht arm und nicht reich war er gewesen und der Meinung, ein rechtschaffender Mensch zu sein. Natürlich, die Zeiten hatten sich geändert, die Steuern waren erhöht worden und man erzählte sich hinter vorgehaltener Hand Geschichten über die Grausamkeit des neuen Königs, aber es hatte ihn nicht gekümmert, die Hauptstadt und der König waren weit weg von der Südprovinz.

Doch als auch Nachbarn und Freunde ihre Höfe verloren, hingerichtet oder verschleppt wurden, weil sie die Steuern nicht zahlen konnten oder etwas Unbedachtes gegen den König gesagt hatten, bekam er Angst. Immer hatte er an Gerechtigkeit geglaubt und daran, dass die Rechtschaffenden auch in Frieden leben würde können.
Dies hatte sich als falsch erwiesen, denn manchmal reichten Kleinigkeiten aus um die Soldaten des Königs und mit ihnen Tod und Verderben herbeizulocken. Dann drangen Geschichten von den Rebellen an ihr Ohr, Menschen, die alles verloren hatten und sich nun zusammentaten, um gegen den König zu kämpfen. Anfangs schienen es nur wenige Geächtete zu sein, doch ihre Zahl stieg und bald waren sie für den König eine ernsthafte Bedrohung.

Taevul versuchte weiterhin, sein Leben so zu führen, wie er es gewohnt war und sich aus allem rauszuhalten und wenn Melva offen ihre Sympathie für die Sache der Rebellen ausdrückte, gebot er ihr zu schweigen. Nach dem Tod seiner Familie war er nicht mehr in der Lage gewesen, das Gehöft alleine zu bewirtschaften und hatte es schließlich aufgeben müssen. Da kam der Posten eines Wachsoldat auf Lodan gerade recht, denn was hätte er anderes anfangen können, wohin gehen? Zu den Rebellen vielleicht?

Natürlich hatte ihn schon damals sein Gewissen geplagt und in all den Jahren auf Lordan war sie immer wieder da gewesen, diese nagende Stimme, die nach der Richtigkeit seines Handelns fragte, doch meistens hatte er sie unterdrücken können, indem er sich einredete, er würde nur seine Pflicht erfüllen und seinem Land dienen.
Aber heute kam er damit nicht weiter. Immer wieder sah er das Gesicht dieses Jungen vor sich, immer wieder hörte er seine anklagenden Worte, die ihm Feigheit und Heuchelei vorwarfen.


Längst schon vorbei war seine Schicht, aber er konnte einfach nicht aufstehen und sein Quartier oben in der Burg aufsuchen. Worauf wartete er eigentlich? Dass Sherlys sein Verhör beendete und er den Leichnam des Jungen zu Gesicht bekam? Darauf, dass man ihn rief, um den Scheiterhaufen in Gang zu bringen und zu beaufsichtigen, den man benutzte, um die verstorbenen Gefangenen zu verbrennen?


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Aufbruch




Veldul hatte bereits am vorangegangen Abend angekündigt, sehr früh am Morgen aufbrechen zu wollen, aber als Sollthana aus dem Schlaf schreckte, weil der Wirt vor ihrem Zimmer 2 verbeulte Kochtöpfe gegeneinander schlug, kam es ihr vor, als hätte sie erst ein paar Minuten geschlafen. Einen kurzen Moment lang war sie verwirrt, glaubte, wieder auf Aradoj zu sein, wo die Schwestern Mekhana und Maghira ähnlich rabiate Weckmethoden angewendet hatten, doch als sie sich im Bett aufrichtete und umsah, erkannte sie ihren Irrtum und alles fiel ihr wieder ein.

Ihr Aufbruch und die Reise mit Andraic, die Geburt und vor allem der Kuss... vor allem dieser Kuss, nach dem sich ihr Verhältnis zu Andraic deutlich verändert hatte. Geradezu gemieden hatte er sie gestern Abend, war ihr aus dem Weg gegangen wo er nur konnte und hatte nur das Nötigste gesprochen. Kurz bevor es Schlafenszeit war, hatte er an ihre Tür geklopft. Betreten murmelte er, dass es nun wieder freie Zimmer im Haus geben würde und ohne sie auch nur noch einmal anzusehen, sammelte er seine Sachen ein, um sie in seine neue Unterkunft zu bringen.

Auch Sollthana hatte nichts gesagt und ihn einfach gewähren lassen, aber sie war zutiefst verletzt und verstand die Welt nicht mehr. So nah waren sie sich in einem Moment gewesen und nun schien es, als sei eine unüberwindliche Mauer zwischen ihnen entstanden, die keiner von ihnen einzureißen vermochte.


Stundenlang hatte sie wach gelegen und hatte darüber nachgegrübelt, was sie nun tun, wie sie sich nun verhalten sollte und hatte ein paar bittere Tränen vergossen. Endlich, als sie schon glaubte, gar nicht mehr einschlafen zu können, war sie doch noch hinübergeglitten in das Reich des Schlafes, erschöpft vom vielen Weinen und ganz leer gebrannt.

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Flucht




Es hatte ein Weilchen gedauert bis Taevul Melynas aufgestöbert hatte und er war sich ziemlich blöd dabei vorgekommen, als er jeden Raum, jeden Winkel durchsucht und in dem schmutzigen Stroh rumgestöbert hatte, der den Boden bedeckte, und jedes Nagetier, dass ihm dabei begegnete ansprach.

Schließlich hatte er die Ratte in einem leerstehenden Verlies entdeckt, natürlich bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Fellpflege. Die schwarzen Knopfaugen musterten ihn mit einem Ausdruck von Befriedigung, aber ohne große Überraschung. Oder kam ihm, Taevul, das nur so vor? Doch er verdrängte seinen Ärger und hielt sich vor Augen, dass es schließlich nur um den Jungen ging, nicht um die Ratte und auch nicht um ihn selbst.

„Ich freue mich zu hören, dass du deine Meinung nun doch geändert hast, Taevul, aber es würde mich interessieren, wie es zu diesem plötzlichen Sinneswandel gekommen ist? Schließlich muss ich dir trauen können.“ Taevul nickte. „Das kann ich verstehen.“ Eine Antwort auf die Frage der Ratte war jedoch nicht so einfach zu formulieren. Nach Melynas Auftauchen in der Wachstube hatte er weiter dem Wein zugesprochen und mehr oder weniger versucht, zu vergessen, was soeben passiert war. Er hatte doch nicht wirklich mit einer Ratte gesprochen und sich von dieser auch noch angehört, wie verwerflich sein Handeln war?

Nach 2 weiteren Bechern Wein hatte er die ganze Sache als Hirngespinst abgetan und beschlossen, sein Quartier aufzusuchen, um sich einmal richtig auszuschlafen, doch noch bevor er sich dazu aufraffen konnte, war Sherlys in der Wachstube erschienen und hatte sie angewiesen, den Gefangenen aus dem Verhörraum zurück in seine Zelle zu bringen. Ohne ein weiteres Wort war er verschwunden und Taevul war mit einem Schlag wieder nüchtern gewesen. Er selbst hatte Jalaynas abgebunden und zurück in sein Verlies getragen, hatte notdürftig die frischen Wunden, die Sherlys verursacht hatte, verbunden. Aber nicht die Verletzungen waren es schließlich gewesen, die ihn so berührt hatten, das er all seine Prinzipien über Bord warf und nur noch helfen wollte, nein, es waren die Augen des Jungen, so voller Angst, Grauen und unausgesprochener Vorwürfe.

Dies alles versuchte er der Ratte zu erklären, doch die winkte bald ab: „Schon gut, Taevul, ich denke, wir verstehen uns. Für Vergangenheitsbewältigen und Schuldgefühle werden wir später noch genug Zeit haben, Oh ja, das werden wir, doch nun müssen wir schnell handeln. Nur gut, dass ich so ein großes Vertrauen in dich gesetzt und schon einmal etwas getan habe…sieh her:

Die Ratte peitschte einmal mit ihrem Schwanz über das Stroh, auf dem sie lag und etwas Funkelndes kam unter den fauligen Halmen zum Vorschein. „Was ist das?“ fragte Taevul erstaunt. „Das ist der Schlüssel zu Sherlys Geheimgang“, antwortete Melynas selbstgefällig. „Geheimgang? Hier? Davon weiß ich nichts.“ „Natürlich weiß du davon nichts, sonst würde man das ganze ja auch nicht Geheimgang nennen, oder?“ konterte Melynas gereizt „Hast du dich nicht manchmal schon gewundert, wie Sherlys einfach so kommen und gehen kann, ohne dass es irgendjemand mitkriegt? Plötzlich steht er vor einem und wehe dem, der gerade dabei ist ein Nickerchen zu halten…“

Taevul nickte nachdenklich. Bei genauerer Überlegung war es wirklich sonderbar, wie unvermutet Sherlys manchmal erschienen war und oft nicht aus der Richtung des Hauptstollens, wie man es vermuten würde. Aber auch das war eines der Dinge, über die er sich verboten hatte, allzu intensiv nachzudenken, wie alles, was mit dem Hauptmann zusammenhing. „Jedenfalls, mir stehen bekanntlicherweise andere Möglichkeiten offen, den kleinen Geheimnissen unseres Herrn Sherlys auf die Schliche zu kommen und so habe ich herausgefunden, dass er einen Gang benutzt, von dem Niemand etwas weiß und so kommen und gehen kann, wie es ihm beliebt.

Die Tür befindet sich in der Leichenkammer, wahrlich ein sicherer Ort, denn kein Mensch hält sich dort gerne länger auf und die es doch tun, können nichts mehr verraten. Ich bin mir sicher, das der Gang oben in der Burg endet, nur leider kann ich nicht genau sagen wo. Dennoch, ich bin der Ansicht, es ist unsere einzige Chance. Nicht einmal du, Taevul, kannst dir einfach einen Gefangenen schnappen und ihn durch den Hauptstollen hinaustragen und es sind einfach zu viele Wachen, um sie alle auszuschalten. Also, was sagst du? Willst du es immer noch tun?“

Taevul machte ein ziemlich beklommenes Gesicht, aber er nickte: „Ich habe meinen Entschluss gefasst. Und wenn dieser Gang zur Burg hinaufführt, umso besser. Doch wie geht es nun weiter? Wird Sherlys nicht bald seinen Schlüssel vermissen?“ „Etwa eine Stunde wird er noch beschäftigt sein, gerade hat er einen älteren Bauern, den sie verdächtigen, den Rebellen Getreide geliefert zu haben, ins Verhörzimmer bringen lassen. Solange hast du Zeit, einen Abdruck zu machen und mir den Schlüssel zurückzubringen, so dass ich ihn wieder in Sherlys Mantel unterbringen kann. Wenn das vollbracht ist, musst du alles für unsere Flucht Notwendige beschaffen, das heißt ein gesatteltes Pferd und Kleidung, Nahrungsmittel, Decken, was man eben so braucht draußen im Wald.

Später wirst du zurückkehren, mit einem neuen Krug Wein, aber Besseren, als den, den sie hier unten bekommen und außerdem mit Chariskraut versetzt. Du wirst den Wachen sagen, dass du nicht schlafen kannst und sie zu Wein und Kartenspiel einladen. Wenn um Mitternacht die Wachablösung der Stollenwächter vorüber ist, wird jeder außer dir einen schweren Kopf haben und von unüberwindlicher Müdigkeit gepackt sein…und das ist der Zeitpunkt, wo wir uns den Jungen schnappen und sehr schnell einen Abgang von diesem elenden Ort machen werden“

„Hört sich einfach an. Aber wie geht es dann weiter? Wenn wir oben auf der Burg sind, ohne entdeckt worden zu sein, wie schaffen wir den Jungen dann an den Torwächtern vorbei?“ gab Taevul zu bedenken „Das ist der Teil des Plans, dessen Ausarbeitung ich wohl dir überlassen muss, denn in der Burg kenne ich mich wahrhaftig nicht aus. Kann es sein, dass ich vergessen habe zu erwähnen, dass ich diesen unwirtlichen Ort seit über 20 Jahren nicht verlassen konnte?“

Taevul zog eine Augenbraue hoch: „Ja, das hast du wohl tatsächlich vergessen. Also möchtest du wohl auch deinen Gewinn aus dieser Angelegenheit ziehen und die ganze Geschichte ist nicht ganz uneigennützig?“ „So kann man das nicht sagen“, wehrte Melynas ab und wechselte schnell das Thema: „Also, Taevul, was sagst du, gibt es einen Weg aus der Burg, auf dem wir nicht an den Wachen vorbeimüssen?“

Der Wächter schüttelte den Kopf: „Unmöglich, es sei denn, Sherlys hat auch dort einen Geheimgang anlegen lassen, aber davon weiß ich nichts. Mir ist jedoch gerade eine ganz andere Idee gekommen – simpel, aber es könnte durchaus funktionieren: Es ist nämlich durchaus nicht unüblich, Nachts noch einen kleinen Ausritt zu unternehmen, auch wenn es offiziell verboten ist….meistens zusammen mit einem Mädchen, mit dem man ein bisschen allein sein möchte.“

„Mädchen? Was haben denn jetzt Mädchen damit zu tun?“ fragte die Ratte verständnislos. „Na, ist doch ganz einfach, stell dir vor, ich habe ein Liebchen und möchte mit ihr ein bisschen Sterne schauen gehen, wie man so schön sagt, ich nehme sie also vorn auf Pferd und wenn die Torwächter fragen sollten, warum sie ihr Gesicht nicht zeigt, dann gebe ich als Erklärung ab, dass sie schüchtern ist und nicht erkannt werden möchte….“

„Ah", rief Melynas aus „Jetzt verstehe ich. Genial, Taevul, das ist einfach genial und einfach dazu. Wir spazieren sozusagen mit dem Gefangenen an ihrer Nase vorbei und sie bekommen es gar nicht mit. Bestens, dann musst du nur Kleid und Haube von irgendeiner Magd besorgen, damit der Junge auch nach einem schüchternen Liebchen aussieht…doch nun musst du dich erst einmal beeilen, der ganze Plan ist umsonst gewesen, wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, den Schlüssel zurückzubringen. Geh, geh, spute dich, ich werde solange nach unserem jungen Freund sehen und in einer Stunde treffen wir uns hier wieder.“ Und mit diesen Worten war die Ratte auch schon durch einen Spalt in der Mauer davongehuscht.

Abschied




15 Meilen, hatte Veldul gesagt, 15 Meilen noch, bevor sie endlich diese elende Kutsche würden verlassen können, so lang würde es nicht dauern, hatte sich Sollthana gedacht und doch kam es ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie endlich hielten und Veldul mit einem fröhlichen „Letzter Halt, Reisende Richtung Smaranska bitte alle aussteigen", die Tür aufriss. Jeder Knochen in ihrem Leib schien zu schmerzen und ihr war ein bisschen schwindelig, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Sie warf einen schüchternen Blick auf Andraic, überlegte sich irgendetwas Lustiges, Stimmungsaufheiterndes, das sie zu ihm hätte sagen können, um das Eis zu brechen, aber sein finsteres Gesicht hielt sie davon ab.

„Und ihr lasst euch wirklich nicht überreden, für ein paar Tage mit auf unseren Hof zu kommen? Gutes Essen, ein bisschen Entspannung…die Armee läuft euch doch nicht weg?“ Dröhnte Veldul gutgelaunt. Ihm schien die Fahrerei kein bisschen angestrengt zu haben. „Nein, Danke, ich muss wirklich weiter“, erwiderte Andraic höflich. „Ich kann allerdings nicht für Sollthana sprechen, vielleicht möchte sie euch ja noch begleiten?“

Sollthana wurde wieder einmal rot, diesmal vor Ärger. Mühsam versuchte sie den Zorn aus ihrer Stimme herauszuhalten, als sie antwortete: „Eure Einladung ist wirklich großzügig, aber auch ich muss mich leider Lebewohl sagen. Vielleicht könnte ich jedoch auf dem Rückweg auf euer Angebot zurückkommen?“ „Natürlich, wann immer du willst." Ilena drückte sie an sich „Pass gut auf dich auf, Sollthana und vergiss uns nicht. Danke noch einmal für alles.“

Als sie sich auch von Veldul verabschiedet und ihre Habseligkeiten aus der Kutsche geholt hatten, war endgültig die Stunde des Abschieds gekommen. Sollthana stand neben Andraic und winkte der Kutsche noch eine Weile hinterher. Jetzt,wo sie fort waren, begann sie die kleine Familie schon zu vermissen. Aber auch das würde wohl immer wieder ein Teil ihres Wanderlebens ausmachen, Menschen kamen und gingen, doch sie musste immer weiter.

„Wir müssen los, wenn wir das Lager noch vor der Dunkelheit erreichen wollen“, unterbrach Andraic ihre Gedanken. Kühl klang seine Stimme und unpersönlich, nun, wo sie wieder alleine mit ihm war, schmerzte diese Tatsache noch viel mehr, aber Sollthana zwang sich zu einem Lächeln und dazu, einen lockeren Ton anzuschlagen: „Dann wollen wir uns doch beeilen, wenn wir noch rechtzeitig für eine leckere, warme Mahlzeit dort sein wollen.“
Aber Andraic hatte sich schon umgedreht und war, ohne auf sie zu warten, losmarschiert.


Jalaynas bekam von seiner eigenen Flucht gar nichts mit. Um kurz vor Mitternacht hatte Taevul sein Verlies betreten und versucht ihn zu wecken, aber der Junge war in eine so tiefe Bewusstlosigkeit gefallen, dass alles Schütteln und kaltes Wasser nichts half. Fluchend hatte Taevul ihn sich schließlich über die Schulter geworfen und war dann hinaus in den Gang getreten.

Alles war ruhig, aber das spärliche Licht, das die vereinzelten Fackeln an den Wänden gaben, ließ seltsame Schatten und Muster entstehen, wo man sie nicht vermutete und Taevul blieb einen Augenblick stehen und spähte angestrengt in jede Richtung um sicherzugehen, dass sich auch wirklich niemand auf dem Gang befand. Langsam schritt er dann an den Türen zu seiner linken vorbei, die ebenfalls zu verließen gehörten, als nächstes kam das Verhörzimmer…Taevul blieb kurz stehen und hielt den Atem an, fast erwartete er, dass sich die Tür öffnen und Sherlys herraustürmen würde, aber nichts geschah, natürlich nicht, Sherlys war längst fort.

Er hastete weiter, zu seiner linken zweigte nun ein kurzer Gang ab, der zur Wachstube führte, das war die gefährlichste strecke jetzt, von der Bank, die dem Eingang am nächsten stand, hätte man ihn durchaus sehen können, aber der mit Chariskraut versetzte Wein hatte seine Wirkung gezeigt, Chuks Schnarchen war bis hierher zu vernehmen.

Dann war er an der Wachstube vorbei und weiter ging es, einen langen Gang mit unzähligen Verliesen entlang, dann nach links und schließlich ging es nicht mehr weiter, er stand vor der Tür zur Leichenkammer. Taevul blieb kurz stehen, um Jalaynas Gewicht auf seiner Schulter etwas zu verlagern und einen zittrigen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Bis jetzt hatte alles reibungslos funktioniert. Kurz vor der 2. Wachablösung war Taevul in der Wachstube erschienen, den leicht betrunkenen mimend und seine diensthabenden Kameraden hatten sich nicht 2 mal bitten lassen, noch ein paar Becher Wein aus dem mitgebrachten Krug mit ihm zu leeren. Es war ihnen nicht aufgefallen, dass Taevul nur so tat, als trinke er mit ihnen und seinen Becher auch nie auffüllte, so gut mundetet ihnen der edle Tropfen, den Taevul aus der Hauptküche der Burg besorgt hatte.

Nach der Wachablösung hatten auch die zwei durchgefrorenen Stollenwächter sich nicht 2 Mal bitten lassen, einen schlucke zu trinken und es hatte nicht lange gedauert, bis die Köpfe auf die Tischplatte gesunken waren und alle in seligem Schlummer lagen. Zu schade war es, das es noch weiter Wachen außerhalb des Stollens gab, die jedoch nie runter in den Kerker und somit auch nicht in den Genuss von Taevuls Wein kamen, sondern von der Torwache abgelöst wurden, denn sonst wäre die Flucht ein Spaziergang geworden, einfach den Hauptstollen hätte man benützen können und wäre längst über alle Berge gewesen, bevor auch nur einer der betäubten Wächter erwacht wäre.

Das Nachmachen des Schlüssels einige stunden zuvor war nicht ganz so einfach gewesen, denn wollte er kein Aufsehen erregen, konnte er nicht einfach in die Schmiede marschieren und Alor, den Schmied um Hilfe bitten. So hatte er nur provisorisch einen Gipsabdruck gefertigt, Melynas den Schlüssel zurückgebracht und sich in den Abendstunden heimlich Zugang zur Schmiede verschafft, um den Abdruck in Blei zu gießen. Nur gut, dass er diese Fertigkeiten in seinem früheren Leben erworben hatte.

Auch Melynas Aufgabe, den Schlüssel ungesehen zurück in Sherlys Mantel gleiten zu lassen, war von Erfolg gekrönt gewesen und so hatte Taevul den Rest des Abends damit verbracht, alle anderen Vorbereitungen zu treffen. Sein Pferd war gesattelt, alles, was sie unterwegs brauchen würden, in den Packtaschen verstaut und nun wartete Bluwis geduldig in einem leerstehenden stall auf ihn, wo hoffentlich niemand nachschauen würde.

Taevul holte tief Luft und betrat die Leichenkammer, wo er Melynas treffen sollte. Am Nachmittag war die Kammer noch unbenutzt gewesen, doch im schwachen Licht der Fackel, die vom Gang her leuchtete, erkannte Taevul, dass nun eine der Holzbretter, die sich die Wand entlang zogen, mit einem in ein schmutziges, graues Tuch gewickelten Bündel belegt war. „Melynas? Bist du hier?“ fragte er leise in die Dunkelheit.

Ein kurzes Rascheln, dann spürte er eine Bewegung an seinem Fuß und wäre fast zurückgeschreckt, aber es war natürlich nur die Ratte, die sich geschwind an seiner Kleidung emporarbeitete, bis sie auf seiner Schulter angekommen war. „Es wird aber auch Zeit“, wisperte es in sein Ohr. „Warum hast du solange gebraucht?“ „War so schnell, wie’s nur irgendwie ging. Aber was ist das für eine Leiche da?“ „Das? Das ist Gorg, der Bauer. Scheint Sherlys Befragung nicht so gut verkraftet zu haben, sein Herz ist einfach stehengeblieben, sagte sie. Doch nun hol endlich den Schlüssel raus, wir haben schon genug Zeit vertrödelt. Siehst du die zwei Bretter dort ganz links? Das oberste musst du nach untern drücken, dann erscheint die Tür.“

Taevul tat wie ihm geheißen und als die Bretter wie von Geisterhand zur Seite schwenkten, war da tatsächlich der Umriss einer Tür im Fels zu erkennen, Vorsichtig schob er die Kopie des Schlüssels in das Schlüsselloch und drehte nach links. Mit einem empörten Ächzen öffnete sich die schwere Pforte und schwang nach innen auf. Tiefe Finsternis lag vor ihnen und Taevul wurde es erst jetzt bewusst, dass er nicht daran gedacht hatte, eine Lampe mitzunehmen, doch dafür war es jetzt zu spät. Noch einmal rückte er den bewusstlosen Jalaynas auf seiner Schulter zurecht und vergewisserte sich, dass auch Melynas sicheren Halt auf der anderen Schulter gefunden hatte, dann setzte er den ersten Schritt in Sherlys Geheimgang.

„Also, los ", ermutigte er sich selbst und dann lief er los, hinein in die ungewisse Dunkelheit.

Ankunft im Lager




So plötzlich waren die Männer erschienen, dass sie ihr im ersten Moment wie Geister vorkamen , die lautlos aus den in der Dämmerung bereits dunklen Baumreihen rechts und links der Straße traten und einen Kreis um sie bildeten. Vielleicht war sie auch nur so erschrocken, weil sie tief in Gedanken versunken und den Blick auf die Pflastersteine vor sich gerichtet, hinter Andraics abweisendem Rücken hergestolpert war. Aber auch der Schriftgelehrte schien die Gefahr nicht vorausgesehen zu haben, ein paar Meter vor ihr war er ebenfalls stehen geblieben, als die Uniformierten sich ihnen näherten und blickte mit angespanntem, gehetzten Gesicht um sich.

„Bleibt stehen, keinen Schritt weiter“, ließ sich schließlich eine barsche Stimme aus der Gruppe der etwa 20 Soldaten vernehmen, die sie mittlerweile so dicht umzingelten, das dies auch kaum mehr möglich gewesen wäre. Der Sprecher war vorgetreten und Sollthana erkannte an ihm die leuchtend blaue, mit Silber gewebten Mustern verzierte Uniform eines ranghöheren, prahatischen Soldaten.

„Ich bin Alwedis, Hauptmann des Königs Mowan von Prahatien und der Armee des Prinzen Lannatec unterstellt. Ihr befindet Euch hier auf Sperrgebiet, Fremde. Also, wer seid ihr und was habt ihr hier verloren? Antwortet mir!“ Der Hauptmann wandte sich an Andraic und musterte ihn eingehend von Kopf bis Fuß. „Dein Gesicht kenne ich doch von irgendwo her?“ „Das kann ich mir kaum denken“, entgegnete Andraic ruhig. „Ich bin Schriftgelehrter und hier, um dem Prinzen meine Dienste anzubieten.“ „Ein Schreiberling?“ Alwedis lachte verächtlich auf. „Von deiner Sorte haben wir bereits genug im Lager herumsitzen und die Vorräte auffressen. Und wer ist das Mädchen? Deine kleine Hure etwa?“ „Wie könnt ihr es wagen?“ brach es ungestüm aus Sollthana hervor, bevor Andraic noch zu einer Antwort ansetzen konnte.

„Ich bin keine Hure, Ihr ungehobelter Klotz. Gibt Euch diese Uniform etwa das Recht, friedliche Reisende zu bedrohen und zu beleidigen? Ich werde mich bei Eurem Prinzen über Euch beschweren und um auf Eure Frage zu antworten, ich bin eine Heilerin auf Wanderschaft und trug mich bislang mit dem Gedanken, dem Heer des Prinzen mit meinen Kenntnissen zu dienen. Aber bei einer derartigen Behandlung werde ich das noch einmal überdenken müssen. Und nun nehmt endlich diese Schwerter runter oder habt ihr vielleicht Angst vor einer unbewaffneten Frau und einem Schreiberling?“

Alle starrten sie an, als sie geendet hatte, auch Andraic und zum ersten Mal sah sie wieder dieses belustigte Funkeln und so etwas wie Anerkennung in seinen Augen. „Große Worte, kleines Mädchen“, sagte Alwedis schließlich, aber auch er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und gebot tatsächlich seinen Männern, die Waffen zu senken. „Dann gestattet doch, dass wir Euch in unser Lager begleiten, damit ihr dem Prinzen Lannatec Euer Anliegen vorsprechen könnt.“

Sollthana nickte würdevoll und nahm insgeheim erleichtert zur Kenntnis, dass die Soldaten tatsächlich ihre Schwerter wieder am Waffengürtel befestigt hatten. Ihren mutigen Worten zum Hohn zitterten ihre Knie und es kostete sie einige Mühe, ihre Füße dazu zu bringen, einen Schritt vor den anderen zu setzten.

Man führte sie die Straße entlang, bis sie nach etwa 2 Meilen plötzlich nach rechts abbogen und sich nun auf einem unbefestigten Waldweg befanden. Tiefe Furchen, die von schwerbeladenen Karren herrühren mochten und hunderte von Hufabdrücken zeugten davon, dass erst vor kurzem ein Kriegstross diesen Weg benutzt haben musste. Nach etwa 2 weitern Meilen lichtete sich der Wald allmählich und als die Bäume immer weniger und weniger wurden, lag plötzlich die Ebene von Arkanda vor ihnen, von der Veldul gesprochen hatte.

Sollthana blieb unwillkürlich stehen, um den Anblick, der sich ihr da bot, ganz auf sich wirken zu lassen. Hunderte von Zelten schienen es zu sein, die da dichtgedrängt über die weite Grasfläche verstreut lagen, kleine und große, alle in Blau und Silber gehalten und mit zahlreichen Wimpeln und Fahnen geschmückt, die alle den silbernen Bären zeigten, das Wahrzeichen Prahatiens.
Zwischen den Zelten patrouillierten bewaffnete Soldaten, saßen andere um Kochfeuer, lachten und stritten oder waren mit irgendeiner Arbeit beschäftigt, doch jeder blickte auf, als Alwedis sie durch das Lager auf ein großes Zelt zu führte, das ein wenig abseits stand und von mehreren Soldaten bewacht wurde. Neugier war auf jedes Gesicht geschrieben und einige konnten sich auch einen Kommentar nicht verkneifen:

„Was habt ihr denn da gefangen, Alwedis? Eine Waldhexe?“ Gelächter machte sich breit und Sollthana warf den Spaßvögeln einen wütenden Blick zu, doch da hatten sie auch schon das Zelt erreicht und Alwedis gebot ihnen zu warten, während er selbst die Wachen vor dem Eingang begrüßte und dann für lange Minuten im Inneren verschwand.

„Warum dauert das nur so lange?“ flüsterte Sollthana Andraic zu. Ein paar der Soldaten, mit denen sie hergekommen waren, standen noch um sie herum, aber sie schienen nicht wirklich zu ihrer Bewachung abgeordnet sein, denn sie lachten, unterhielten sich und tauschten Schnupftabak untereinander aus.
„Ich verstehe es auch nicht“, antwortete Andraic gepresst.

Sollthana fiel auf, dass er immer noch sehr angespannt wirkte, auf seiner Stirn glitzerten ein paar Schweißtropfen und sein Gesicht wirkte grau und eingefallen. „Was ist nur mit dir los, Andraic? Seitdem wir das Gasthaus verlassen haben, bist du so verändert, ich kenne dich kaum wieder…“ „Es ist alles in bester Ordnung“, unterbrach sie ihr Gefährte hastig. „Nur eines, Sollthana…falls sich unsere Wege hier trennen, dann halt mich nicht in allzu schlechter Erinnerung. Weitere Erklärungen kann ich dir im Moment nicht geben. Nur eines will ich dir noch sagen, du bist ein bezauberndes Mädchen, das besseres verdient hat als einen Kerl wie mich und ich hoffe, es wird dir schon bald einer über den Weg laufen, mit dem du glücklich werden kannst.“ „Andraic, was redest du ? Warum sollten wir uns hier im Lager nicht sehen können?“

Sollthana merkte, dass ihr wieder einmal die Tränen kamen, aber sie schaffte es gerade noch, sie zu unterdrücken. Nein, diese Genugtuung würde Andraic nicht haben und auf den Spott der umstehenden Soldaten konnte sie auch gut und gern verzichten. „ Und warum sagst du das nur, dass ich dich nicht verdient haben soll? Du meinst wohl, ich soll gehen und dich in Ruhe lassen…Sprich es doch einfach aus, das ist immer noch besser, als mich so zu behandeln wie du es den ganzen heutigen Tag getan hast.“

Andraics Schweigen war ihr Antwort genug, aber sie kam nicht dazu, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, denn in diesem Augenblick winkte einer der Wachposten Andraic zu, dass er eintreten solle. „Lebewohl, Rotschopf.“ Andraic drehte sich noch einmal um und lächelte sein spöttisches Lächeln, bevor er durch den Zelteingang verschwand. Sollthana starrte ihm hinterher, aber sie fand keine Gelegenheit, weiter über Andraics seltsames Benehmen nachzugrübeln.

„Komm Mädchen“, sagte einer der wartenden Soldaten und bot ihr mit einer übertriebenen Verbeugung seinen Arm an: „Das wird eine Weile dauern, wie wäre es mit einem Krug Bier und dem zweifelhaften Vergnügen meiner Gesellschaft? Mein Name ist übrigens Tobs. Tobisalion eigentlich, aber das kann sich keiner merken, außer meiner seligen Mutter.“
Sollthana sah auf den immer noch ausgestreckten Arm des jungen Soldaten, dann in sein Gesicht, rund und pausbäckig und voller Sommersprossen und rang sich dann ein Lächeln ab: „Also gut, Tobs. Ich hoffe, deine Absichten sind nichts anderes als rein und edel und du verteidigst deine Dame auch gegen das Ungemach, von übleren Vertretern deines Geschlechts belästigt und verhöhnt zu werden?“ Tobs ging auf das Ritterspiel mit Begeisterung ein: „Aber gewiss doch, meine Dame. Mein Geleit ist Euch sicher, wo immer ihr auch hingeht und es wird Euch kein Leid geschehen, solange ich Euer Ritter bin.“

Seine Worte schienen ihn selbst zu rühren, denn sein blasses Gesicht war plötzlich mit einem feinen Rot überzogen und Sollthana musste sich ein Lachen verkneifen. „Wohlan, edler Tobs, geleitet mich nun zu euren wohlschmeckensten Bierkrügen“, ermunterte sie ihn und damit griff sie endlich nach dem dargebotenen Arm des Soldaten Tobisalion.

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Immer noch auf der Flucht




Die Dunkelheit schien kein Ende nehmen zu wollen und ließ Taevul jegliches Gefühl für Zeit und Raum verlieren. Nichts war zu hören als sein eigener keuchender Atem und der dumpfe Widerhall seiner Schritte auf dem Steinboden. Immer wieder streckte er die Hände aus, um die Wände des Ganges zu ertasten und er hatte das Gefühl, dass sie näher an ihn heranrückten, seit sie aufgebrochen waren, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

„Melynas“, flüsterte er. „Melynas, bist du noch da?“ „Wo soll ich schon hingegangen sein?“ ließ sich die feine Stimme der Ratte vernehmen. „Was ist denn?“ „Ich weiß nicht, ich habe nur…es ist beklemmend so ins Ungewisse zu laufen und dann die Dunkelheit…ich wollte einfach nur deine Stimme hören.“

Melynas lachte leise. „Keine Angst Taevul, ich sehe mit diesen Augen besser als ihr Menschen und ich kann dir versichern, da ist nichts, vor dem du dich fürchten müsstest. Der Gang steigt jetzt ein bisschen an, also pass auf, dass du nicht stolperst.“

Tatsächlich spürte Taevul bald selbst, dass es nach oben ging, sein Atem ging in der stickigheißen Luft und durch die Anstrengung noch ein bisschen schneller und der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Wie gerne hätte er sich jetzt für einen Augenblick ausgeruht, aber die Angst trieb ihn unerbittlich vorwärts. Steiler noch und beschwerlicher wurde der Gang und die Wände waren tatsächlich näher gekommen, erlaubten ihm gerade noch ein Durchkommen, da sah er den schwachen Lichtschein in einiger Entfernung vor sich.

Er zählte seine Schritte als er bis zum Ende des Gangs schritt und als er bei 40 angekommen war, stand er vor einer eisenbeschlagenen Holztür. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als ihm der Gedanke kam, dass zu diesem Schloss vielleicht ein anderer Schlüssel passte, an diese Möglichkeit hatte keiner von ihnen gedacht. Nein, das durfte einfach nicht sein, mit zitternden Händen holte er den Abguss des Schlüssels aus seiner Brusttasche und schob ihn in das Schloss, wollte schon umdrehen, da zischte Melynas in sein Ohr: „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ich werde erst nachsehen, was sich hinter der Tür befindet oder willst du womöglich Sherlys in seinem Schlafgemach Gute Nacht wünschen?“

Taevul zog erschrocken die Hand zurück, so sehr sehnte er sich danach, diesen stickigen Gang zu verlassen, dass er alle Vorsicht hatte fahren lassen. „Setz mich auf den Boden, “ befahl Melynas „Und verhalt dich etwas leiser bis ich zurück bin, dein Keuchen hört man ja bis Sarkanda.“
Mit diesen Worten schob sich die Ratte geschickt unter der Tür hindurch und ließ Taevul und Jalaynas in der Dunkelheit zurück. Lebte der Junge überhaupt noch? fragte sich Taevul beklommen. Er schien sich seit einer Ewigkeit nicht mehr bewegt zu haben.
Melynas kehrte nach einiger Zeit mit der Nachricht zurück, dass sie sich im Ostflügel der Burg befanden, dort wo die Küche, der Speisesaal und einige Quartiere, darunter auch Taevuls, untergebracht waren. Der Raum, in den der Geheimgang mündete war zum Glück unbewohnt und diente wohl als Abstellkammer.

„Auf den Gängen ist niemand unterwegs“, berichtete Melynas. „Aber zwei Knechte sitzen in der Küche zusammen und spielen Karten.“ „Ja", sagte Taevul. „Zwei müssen immer wach bleiben und das Feuer in Gang halten, manchmal will auch noch einer der Soldaten mitten in der Nacht eine warme Mahlzeit, wenn er gerade von einem Erkundungsritt zurückkommt.“ „Verflixt, wir müssen also an ihnen vorbei und möglicherweise kommt uns dann auch noch irgendein hungriger Folterknecht entgegen.“ „Nein, da gäbe es noch eine andere Möglichkeit, “ widersprach Taevul. „Mein Quartier liegt am Ende des Hauptganges, noch vor der Küche. Von dort aus könnten wir durch das Fenster in den Kräutergarten gelangen. Der Garten liegt in einem kleinen Hof, der wiederum durch ein Tor mit dem Haupthof, wo die Ställe untergebracht sind, verbunden ist. Etwas mühsamer, aber sicherer, würde ich sagen.“ „Gut“, stimmte Melynas zu. „Dann wählen wir diesen Weg.“

Etwa 10 Minuten später hatten sie ohne Zwischenfälle den Haupthof erreicht. Gerade hatten sie den schützenden Torbogen verlassen, nachdem sie sich mehrmals versichert hatten, dass niemand auf dem Hof unterwegs war, da wurde über ihnen ein Fenster aufgerissen und gleich darauf ergoss sich ein Schwall Flüssigkeit auf die Pflastersteine. Taevul wich instinktiv einen Schritt zurück und stolperte dabei, fast wäre er gestürzt. Rasch zog er sich in den Torbogen zurück und lauschte angespannt. Kurz darauf wurde das Fenster wieder zugeschlagen, die Person, die ihnen fast den Inhalt ihres Nachttopfes auf den Kopf geleert hatte, schien sie nicht bemerkt zu haben.

Als er sich etwas gesammelt hatte, trat Taevul wieder unter dem Torbogen hervor, holte tief Luft und überquerte dann raschen Schrittes den Hof. Schrecklich ungeschützt kam er sich im hellen Mondlicht vor, immer in dem Bewusstsein, das jeden Moment jemand aus einem der umliegenden Gebäude kommen konnte oder irgendein Schlafloser das Fenster öffnete, um noch etwas frische Luft zu schnappen. Aber sie erreichten den Stall, ohne dass ihnen jemand begegnete.

Bluwis wieherte erfreut, als er Taevul erkannte und dieser tätschelte seinen Hals und ließ ihn ein paar Zuckerstücke aus seiner Hand fressen, um ihn für seine Geduld zu belohnen, bevor er sich daran machte, dem bewusstlosen Jungen Kleid und Haube überzustreifen. Zum Glück passte alles einigermaßen und wenn man nicht allzu genau hinsah, fiel einem nicht auf, dass die falsche Person in den Gewändern steckte. Melynas wurde in der Satteltasche untergebracht und dann hob Taevul Jalaynas zu sich aufs Pferd und versuchte den schlaffen Körper so in den Arm zu nehmen, dass es aussah, als würde ein verschüchtertes Mädchen sich an ihm festhalten. Jalaynas Arme schlang er sich um den Hals und umfasste seine Schultern, darauf hoffend, dass im entscheidenden Augeblick nicht plötzlich Kopf oder Arme des Bewusstlosen kraftlos zurücksinken würden, denn was würden die Wachposten wohl davon halten?

Taevul hatte geglaubt, die Angst und Nervosität kaum verbergen zu können, wenn er seinen Kameraden gegenüber treten musste, aber zu seinem eigenen Erstaunen, wurde er seltsam ruhig und gefasst, als er nun den Stall verließ und Bluwis zum Osttor lenkte. Hennike und Holgar hatten Dienst, was nicht allzu schlecht war, denn die Brüder waren selbst bekannt dafür, schon mit fast jedem Mädchen auf der Burg einmal Sterne gucken gewesen zu sein.

Und wirklich, als Taevul sein Pferd zügelte und den beiden Torwächtern einen Guten Abend wünschte, erntete er nur verständnisvolle und wohlwollende Blicke. „Hauptmann, so spät noch unterwegs?“ fragte Henneke schmunzelnd. „Ja,“ antwortete Taevul leichthin. „Die junge Dame konnte mir erst jetzt ihre kostbare Zeit widmen.“ Holgar reckte neugierig den Hals und versuchte einen Blick auf das Antlitz der unbekannten Schönheit zu erhaschen, aber Taevul hielt das Gesicht des Jungen weiter an seine Brust gedrückt.

„Versuchs gar nicht erst, Holgar. Sie ist sehr schüchtern und möchte nicht erkannt werden, das müsst ihr respektieren.“ „Aber natürlich, Hauptmann. Wir wünschen jedenfalls viel Vergnügen, “ versicherte Henneke hastig und zwinkerte seinem Bruder verstohlen zu. Gemeinsam machten sich die beiden Torwächter daran, dass schwere Fallgitter hochzuziehen, Taevul grüßte noch einmal und dann lag die Freiheit vor ihnen.

Lannatec




Sollthana schmeckte das Bier viel zu gut und die Gesellschaft von Tobs und seinen Freunden, die alles taten um ihr zu gefallen und sie zum Lachen zu bringen, ließ die Zeit wie im Fluge vergehen.

Vor dem Küchenzelt, wo Tobs ihr einen Sessel aufgestellt hatte, weiß der Himmel, wo er den organisiert hatte, wo er ihr Bier und Pastetchen und noch mehr Bier kredenzt hatte, herrschte mittlerweile ein kleiner Tumult. So viele Männer waren gekommen, um mit ihr zu reden und zu scherzen und mittlerweile fand Sollthana die Soldaten gar nicht mehr bedrohlich, im Gegenteil, sie waren ziemlich lustig und unterhaltsam. So war sie fast ein wenig enttäuscht, als nach einer Weile zwei viel zu ernst aussehende Soldaten erschienen, um ihr mitzuteilen, dass Prinz Lannatec sie nun empfangen wolle.

Nachdem sie sich von ihren neuen Freunden verabschiedet hatte, folgte sie den beiden griesgrämigen Soldaten zu Lannatecs Zelt, mühsam den Schluckauf beherrschend, den der reichliche Biergenuss ihr beschert hatte. Armer Andraic, hatte er die ganze Zeit mit steifer Konversation beim Prinzen zubringen müssen, während sie sich so amüsierte? War er womöglich gleich an ein Schreibpult abkommandiert worden? Sollthana musste ein Kichern unterdrücken, als die Wachsoldaten vor Lannatecs Zelt ihren beiden Begleitern ernst zunickten und dann die Vorhänge zurückschlugen, die den Eingang verhüllten.

Sie trat alleine in das leicht dämmrige Innere des Zeltes und blieb dann erst einmal ratlos stehen. In Blau und Silber war auch hier alles gehalten, die Teppiche, die Kissen auf den Ruhebänken und Sesseln, die Truhen und Schränke. Sollthanas Augen gewöhnten sich nur langsam an die neuen Lichtverhältnisse, doch dann sah sie den Mann, der an einem niedrigen Schreibpult saß und etwas auf eine Pergamentrolle schrieb, ganz vertieft in seine Aufgabe, und sie noch gar nicht wahrgenommen zu haben schien. Erst als Sollthana zögernd einen Schritt auf ihn zumachte, blickte er auf und legte den Federkiel, den er zum Schreiben benutzt hatte, beiseite.

Der Prinz Lannatec von Prahatien war ein noch junger Mann, groß und schlank in seiner blauen Uniform, in der er sich kaum von den gewöhnlichen Soldaten abhob. Blaue Augen, fast ein wenig zu verträumt, blondes Haar und Bart – er sah durchaus gut aus, dennoch hätte sich Sollthana einen richtigen Prinz irgendwie anders vorgestellt, nicht wie einen gewöhnlichen Mann eben, sondern größer, schöner und stärker als einen Normalsterblichen.

Lannatec war nun hinter seinem Schreibpult hervorgekommen und Sollthana beeilte sich, einen Knicks zu machen, aber ihre Stimme versagte und ihr Gruß kam nur als undeutliches Murmeln heraus. Jetzt, wo er so vor ihr stand, wirkte er doch respekteinflößender, der Prinz. Er begrüßte sie freundlich und bot ihr an, auf einem bequem aussehenden Sessel Platz zu nehmen. Ein Diener, der wie aus dem Nichts auftauchte, brachte Wein und Knabbereien und Prinz Lannatec wartete, bis Sollthana einen Schluck aus ihrem Becher genommen hatte, bevor er anfing zu sprechen:

„Euer Name ist also Sollthana und Ihr seid eine Heilerin auf Wanderschaft, so sagte man mir.“ „Ja, Herr. Ich hatte gehofft, Aufnahme unter den Heilern Eures Heeres zu finden, um von ihnen zu lernen.“ Der Prinz nickte gedankenverloren: „Das sollte kein Problem sein, unseren Heilern mangelt es hier nicht an Arbeit, auch wenn die eigentlichen Kampfhandlungen noch gar nicht begonnen haben. Doch bevor ich Euch Holarec, dem hiesigen Obersten Heiler anvertraue. Muss ich Euch noch einige Fragen stellen.“

Sollthana nickte, überrascht und erfreut darüber, wie unkompliziert das Gespräch bis hierhin verlaufen war. „Natürlich, Prinz Lanntec, ich werde versuchen, Euch all Eure Fragen zu beantworten“, sagte sie höflich. „Nun denn, könnt Ihr mir etwas über den Mann, in dessen Begleitung Ihr auf der Karawanenstraße aufgegriffen wurdet erzählen? Kennt Ihr ihn schon lange?“ Sollthana schüttelte verwundert den Kopf:
„Nein, nicht sehr lange. Wir trafen uns in Starroff, vor ungefähr 16 Tagen und seither sind wir zusammen gereist. Er ist Schriftgelehrter, viel gereist in den verschiedensten Ländern und gab an, sich hier mit Kriegsberichterstattung verdingen zu wollen. Mehr kann ich Euch nicht sagen. Aber warum, was ist denn mit Andraic?“

Der Prinz, der ihr gegenüber auf einem Sessel Platz genommen hatte, sah ihr nicht in die Augen, als er endlich zu einer Antwort ansetzte:„Es tut mir leid, Euch das sagen zu müssen, aber dieser Mann ist kein Schriftgelehrter und sein Name ist auch nicht Andraic. Sein wirklicher Name lautet Zoran Odely und er ist ein gefährlicher Attentäter und Verräter. Odely stammt ursprünglich aus Smaranska, war aber einige Zeit am Hofe meines Vaters, König Madwin, als Schwertkampfausbilder beschäftigt. Tatsächlich hielt mein Vater große Stücke auf ihn und schenkte ihm sein Vertrauen und auch ich, der ich bei ihm alles über die Kampfkunst erlernte, schätzte ihn als Freund und Lehrer. Doch als Madwin unerwartet starb und mein Bruder Mowan den Thron bestieg, änderten sich die Dinge langsam.
Natürlich, mein Bruder hatte ganz anderer Ansichten als mein Vater sie gehabt hatte, auch ich war nicht immer mit allem einverstanden, aber er ist nun mal der König und ihm gebührt Respekt. Doch Odely lehnte sich immer wieder gegen Mowan auf, in einem Maße, wie es ihm nicht zugestanden hätte und schließlich enthob der König ihn seines Amtes.
Kurze Zeit später versuchte mein ehemaliger Lehrer meinen König und Bruder zu ermorden, zum Glück konnte das Attentat vereitelt werden, doch Odely entkam und wird nun in allen Königreichen, die mit Prahatien in Freundschaft verbunden sind, gesucht. Als Hauptmann Alwedis Euch auf der Straße aufgriff, kam ihm Odelys Gesicht gleich bekannt vor, aber er beschloss abzuwarten, denn schließlich schien der Verräter freiwillig zu mir zu kommen.
Und tatsächlich, als er mir vorgeführt wurde, gab er an, mir gefolgt zu sein, um mich zu warnen.
Eine völlig abwegige Geschichte versuchte er mir weiszumachen, voller Verrat und Verschwörungen, ich glaubte ihm natürlich kein Wort, auch wenn ich nicht ganz verstand, warum er sein Leben und seine Freiheit aufs Spiel gesetzt hat, um mir diesen Unsinn zu erzählen. Vielleicht ist sein Geist umnachtet, ich weiß es nicht, doch auch wenn mich etwas Bedauern ergriff, eingedenk der Zeiten, als er mir Freund und Lehrer gewesen war, mir blieb keine Wahl, als seine Geschichte geendet hatte, ließ ich die Wachen kommen und ihn abführen“

„Aber das ist…das ist doch nicht möglich.“ Sollthana war, als Lannatec seine Erzählung beendet hatte aufgesprungen, aber sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden und musste sich wieder setzten. Lannatec musterte besorgt ihr bleiches Gesicht und winkte dem Diener, ihr einen weiteren Becher Gewürzwein zu bringen, den sie ihm fast aus der Hand riss und hinunterstürzte. Sie konnte es wirklich nicht glauben – hatte Andraic sie denn in allem belogen? War er wirklich ein Attentäter, ein Meuchelmörder? Sie konnte nicht fassen, dass sie sich so in einem Menschen geirrt haben sollte. Doch gleichzeitig machte sich ein nagendes Gefühl des Zweifels in ihr breit. Was hatte sie schon gewusst, über diesen Mann, der kurze Zeit ihr Weggefährte gewesen war, der ihr ein paar Freundlichkeiten und einen Kuss erwiesen und sich dann urplötzlich in einen finsteren, wortkargen Gesellen verwandelt hatte? Nein, sie konnte wahrlich nicht genug über ihn sagen, um die Hand für ihn ins Feuer zu legen. Und dennoch…

„Sollthana. Sollthana, hört Ihr mich? Ist Euch nicht wohl?“ drang endlich Lannatecs Stimme durch ihre Gedanken. „Entschuldigt mich, Prinz Lannatec, ich bin etwas verwirrt über diese Nachrichten und war abwesend.“ „Ich kann Euch nachfühlen, wie schockiert Ihr sein müsst. Wie konntet Ihr auch ahnen, dass Ihr euch unwissentlich in die Gesellschaft eines so scheußlichen Verbrechers begeben habt? Ich danke Charis, dass es noch rechtzeitig gelungen ist, Euch vor Schäden zu bewahren und Ihr sicher in unser Lager gefunden habt. Doch nun braucht Ihr keine Furcht mehr zu haben, es kann Euch nichts mehr geschehen, schon morgen wird man den Verräter an den Hof des Königs überführen und dort seinem gerechten Urteil überlassen.“

„So wird er hingerichtet werden?“ fragte sie beklommen und die Angst um Andraic – oder Zoran, wie sie ihn wohl jetzt nennen sollte – griff mit eisigen Fingern nach ihrem Herzen. „Nun, gewiss. Es wird eine Verhandlung geben, aber bei Angriff auf die Person des Königs kann es eigentlich kein anderes Urteil geben, es ist also eine reine Formsache.“

Sollthana suchte fieberhaft nach den richtigen Worten, die sie entgegnen konnte, alles in ihr drängte danach, Andraic zu verteidigen, für ihn zu kämpfen, aber sie erkannte, dass das im Augenblick ein Fehler gewesen wäre. Lannatec würde sicher misstrauisch werden, wenn sie den angeblichen Verräter zu leidenschaftlich verteidigte und so würde sie Andraic nicht helfen können. „Ja, Ihr habt recht“, sagte sie schließlich. „Für solch ein schändliches Verbrechen kann es keine andere Strafe geben. Trotz alledem, ich bin wirklich erschüttert…ich dachte wirklich, dass ich diesem Mann vertrauen kann. Nur gut, dass ich jetzt die Wahrheit über ihn erfahren habe.“

Lannatec nickte nur und damit schien das Thema Andraic abgeschlossen zu sein. Ein paar Fragen stellte er Sollthana noch, zu ihrer Person und ihrer Ausbildung und dann war sie zu ihrer Erleichterung entlassen.

Noch während ihrer Unterhaltung hatte der Prinz einem Diener Anweisungen gegeben, den führenden Heiler der Armee kommen zu lassen und als ihre Audienz bei Lannatec beendet war, wurde sie Holarec, einem wortkargen Mann mittleren Alters übergeben, der sie zu einer Ansammlung von Zelten brachte, wo 2 jüngere Männer in langen, grün eingefärbten Gewändern damit beschäftigt waren, das Abendessen vorzubereiten.

„Setzt dich dahin und warte, bis ich wiederkomme“, knurrte Holarec unfreundlich und verschwand ohne ein weiters Wort zwischen den Zelten. Sollthana sah im verdutzt nach. „Nimm es nicht persönlich, er ist zu jedem so“, sagte einer der Männer an der Kochstelle, der gerade dabei war, Möhren in einen riesigen, gusseisernen Kessel zu schnipseln. „Ich bin übrigens Jassem, aus Messenien und das ist Ulrech, er stammt aus den Krowlands. Willkommen bei unserer kleinen Truppe. Wir beide sind auch auf Wanderschaft, beide im 3. Jahr und schon eine Weile mit den Wundheilern unterwegs, gewöhnungsbedürftiger Menschenschlag, aber man kann es verstehen, wenn man eine Weile ihre Arbeit gemacht hat.“ „Und warum tragt ihr alle diese Gewänder? Ist das eine Art Erkennungszeichen?“ „Ja, so könnte man es nennen. Auf dem Schlachtfeld ist es jedenfalls recht praktisch, jeder weiß sofort, dass du kein Soldat bist und du kannst andere Heiler aus weiter Ferne erkennen und zu Hilfe rufen, wenn du sie brauchst.“

Jassem und Ulrech hatten viele interessante Dinge zu erzählen und nach und nach kehrten auch die anderen Heiler von ihren Einsätzen zurück, 12 an der Zahl waren es, alles Männer, wie Sollthana mit Verwunderung feststellte und außer den beiden Heilern auf Wanderschaft alle schon lange im Gewerbe der Wundheiler tätig. Jassem hatte recht, sie waren ein rauer Haufen, das ganze Abendessen hindurch gaben sie Geschichten über abgeschnittene Gliedmaßen und heraushängende Gedärme zum Besten, aber Sollthana, die durchaus richtig vermutete, dass sie hier auf dem Prüfstand saß, zuckte mit keiner Wimper, lächelte und schaufelte den wohlschmeckenden Eintopf in sich hinein.

Nach und nach erfuhr sie, dass die Heiler momentan fast nur Routinefälle zu behandeln hatten: Durchfall, Erkältungen, eingewachsene Zehennägel und Druckstellen, sowie ein paar geringfügige Verletzungen, denn bis jetzt waren die prahatischen Soldaten nur in ein paar Scharmützel verwickelt gewesen. „Keiner weiß so richtig, ob es nun noch zur Schlacht kommt oder nicht“, sagte Lurec, einer der älteren Heiler missmutig. „Seit Monaten kommen sie immer wieder über die Grenze, bringen ein paar von unseren Leuten um, die auf kleinen Grenzposten stationiert sind und verschwinden wieder. Jetzt hat Lannatec 5000 Mann hier zusammen ziehen lassen, aber ich weiß nicht, was das bringen soll, wenn diese elenden Feiglinge immer nur aus dem Hinterhalt zuschlagen und sich dann wieder in Luft auflösen.“

Sollthana nickte und versuchte Lurecs weiteren Ausführungen zu lauschen, aber ihre Gedanken hatten wieder begonnen, sich um Andraic zu drehen und es fiel ihr schwer, sich auf das Gespräch mit dem Heiler zu konzentrieren. Wo hatten sie ihn wohl hingebracht? War er bei seiner Festnahme verletzt worden? Und wenn Lannatec die Wahrheit gesagt hatte und Andraic tatsächlich versucht hatte, den König zu ermorden, warum sollte er das wohl getan haben? Doch vor allem, warum war er Lannatec gefolgt, er musste doch gewusst haben, dass man ihn höchstwahrscheinlich gefangen nehmen würde oder hatte er triftige Gründe gehabt, vom Gegenteil auszugehen? So viele Fragen hatte sie, die nur Andraic ihr hätte beantworten können, doch nun war es zu spät.

Sie schloss die Augen, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, doch zum Glück zogen die Heiler einen ganz anderen Schluss aus ihrem Verhalten „Mädchen, dir fallen ja schon die Augen zu, hast wohl ne anstrengende Reise hinter dir. Wie wär’s, wenn ich dir jetzt deinen Schlafplatz zeige? Musst morgen schließlich wieder fit sein, gibt viel zu lernen für dich.“ Lurecs Angebot kam gerade recht, sie wollte nur noch alleine sein und noch mal in Ruhe über alles nachdenken und so wünschte sie allen eine Gute Nacht und folgte Lurec bereitwillig, als er aufstand, um ihr eines der Zelte zu zeigen, in dem sie von nun an schlafen sollte.

Aber als sie sich dann auf ihrer Schlafmatte ausgestreckt hatte, merkte sie, dass sie wirklich sehr erschöpft war und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und kaum hatte sie die Augen geschlossen, da war sie auch schon eingeschlafen.

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Das Land der Schatten




Ein kühler Wind strich über die Hügel und trocknete den Schweiß auf Taevuls Stirn. Alles sah so friedlich aus im Mondlicht, das weitläufige Tal mit den Obstbäumen, das Bächlein, das leise murmeln zwischen ihnen hindurchfloss….nichts war zu sehen oder zu hören, aber Taevuls Herz schlug immer noch so heftig, als wollte es jeden Moment zerspringen und die Furcht schnürte ihm die Kehle zu.

Sie hatten es tatsächlich geschafft, Jalaynas aus Lordan hinauszubringen, doch in Sicherheit waren sie noch lange nicht. Langsam erst ging Taevul die ganze Tragweite seines Handelns auf und einen kurzen Moment lang bereute er fast, was er getan hatte.
Was würde ihn nun erwarten, ihn, einem Menschen, dem Sicherheit und Beständigkeit immer so wichtig gewesen waren? Ein Leben auf der Flucht, geächtet und vogelfrei, immer den Gedanken im Hinterkopf, eingefangen und hingerichtet zu werden?

Er verdrängte diese düsteren Gedanken, als Jalaynas, den er neben sich in das weiche Gras gebettet hatte, sich zu rühren begann und leise stöhnte.
Taevul kniete sich neben den Jungen und sprach leise auf ihn ein: „Jalaynas, kannst du mich hören? Ich bin es, Taevul. Du bist jetzt in Freiheit, es kann dir nichts mehr geschehen.“ Jalaynas Augenlieder flatterten und er öffnete kurz die Augen, aber er schien Taevul nicht zu erkennen und auch nichts von dem zu verstehen, was er sagte, sein Blick blieb leer. Auch das Wasser, das Taevul versuchte ihm einzuflössen, schluckte er nicht, es lief ihm wieder aus den Mundwinkeln, zusammen mit etwas Blut.

Melynas war eine Weile verschwunden gewesen, so groß war seine Freude über die wieder gewonnene Freiheit, dass er, als sie nach einem zweistündigen, scharfen Ritt endlich gehalten hatten, sofort aus der Satteltasche gesprungen war und einen irrwitzigen Tanz im Gras aufgeführt hatte. Taevul konnte darüber nur den Kopf schütteln, denn ihm war wirklich nicht nach Jubeln zumute. Was hatte all die Anstrengung gebracht, wenn Jalaynas im Sterben lag? Und Melynas war einfach im hohen Gras verschwunden, ohne ein Wort zu sagen, hatte ihn allein gelassen, mit seinen Zweifeln und dem Geräusch von Jalaynas Atem, der kurz und stoßweise kam, als könnte jeder Atemzug sein letzter sein.


Nun aber tauchte die Ratte wieder auf, ein leises Rascheln war zu vernehmen und dann spürte Taevul die feinen Krallen, die sich in sein Bein schlugen und sich einen Weg bis auf seine Schulter suchten. „Da bist du ja wieder. Hast du eine Idee, was jetzt geschehen soll? Jalaynas geht es immer schlechter, er stirbt uns noch unter den Händen weg.“ „Keine Sorge, Taevul“, keckerte Melynas vergnügt. „Ich habe bereits alles in die Wege geleitet, damit unserem Schützling bald geholfen wird. Doch wir müssen uns etwas beeilen. Einige Stunden Ritt liegen noch vor uns, und wir haben eine Verabredung am Steinernen Tor.“ „ Eine Verabredung? Und wen sollen wir treffen?“ fragte Taevul argwöhnisch. „Das wirst du schon sehen. Mach jetzt das Pferd klar und sorg dafür, dass wir auf schnellstem Weg an unser Ziel gelangen, wenn mich nicht alles täuscht, wird uns dort Hilfe zuteil werden“

Melynas schien sich nicht auf Diskussionen einlassen zu wollen, er kletterte in die Satteltasche, wo er es sich gemütlich machte und ignorierte weitere Fragen des Wachmanns, bis dieser es schließlich aufgab und sich daran machte, Jalaynas auf das Pferd zu setzen und sich ebenfalls für den Ritt bereit zu machen „Also gut. Lass uns zur Grenze reiten, wir werden ja sehen, was uns dort erwartet. Ist genauso gut wie alles andere auch.“


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Melynas erzählt eine Geschichte




Die ungleiche Gesellschaft blieb noch bis zum Abend des folgenden Tages auf der Lichtung und Sollthana hatte Gelegenheit, sich von den Strapazen ihrer beiden Reisen, der physischen wie auch der ins Schattenreich, zu erholen. Gerne hätte sie auch noch die Nacht durchschlafen und ihrer Meinung nach hätte es auch Jalaynas gut getan, der sich immer noch in einem kritischen Zustand befand. Der Transport per Pferd war sicher nicht das geeignete Mittel, ihn schneller gesunden zu lassen, aber Taevul und Melynas drängten darauf, so schnell wie möglich das Lager der Rebellen zu erreichen.

Ohne überhaupt nach ihren eigenen Plänen zu fragen, hatte man Sollthana in die kleine Reisegesellschaft integriert. Obwohl sie selber der Meinung war, dass Jalaynas noch eine Weile ihrer Hilfe bedürfen würde und sie auch neugierig war, mehr über Melynas und die Rebellen zu erfahren, ärgerte sie sich doch über die Manipulation durch Melynas und konnte es auch nicht unterlassen, diesem die Meinung zu sagen: „Wie kannst du dir eigentlich so sicher sein, dass ich mit euch ziehe, Meister Ratte?“ fragte sie angriffslustig.

„Meine Aufgabe in dieser Geschichte ist erfüllt, der Junge wird leben und mit den Rebellen und ihren Kämpfen habe ich nichts zu tun. Ich sollte vielmehr sehen, dass ich meine Wanderschaft wieder aufnehme, zuviel Zeit habe ich schon verloren durch euch. Oder habt ihr mich bereits für weitere Unternehmungen verplant?“

„Keineswegs, meine Liebe, “ entgegnete Melynas vergnügt und hopste auf ihre Schulter. „Es steht dir natürlich frei zu tun, was immer dir beliebt, obwohl mich der Vorwurf, dass du durch dieses kleine Abenteuer nur deine Zeit verschwendet hättest, doch etwas kränkt. Welcher gewöhnliche Heiler hätte dir schon eine Rückholung aus dem Land der Schatten als Lehrstoff bieten können? Doch gleich, was du davon halten magst, ich denke, dass da noch drei klitzekleine Gründe sind, noch eine Weile bei unserer kleinen Reisegesellschaft zu bleiben.“ „Die da wären?“ fragte Sollthana gereizt.

Das garstige Tier ließ sich Zeit mit der Antwort und strich sich erst mal versonnen das Barthaar. „Nun rede schon.“ „Also gut, zum einen ist da deine Verpflichtung als Heilerin und dieser Grund ist wohl der offensichtlichste. Zum Anderen musst du dir eingestehen, dass du bereits einen Platz in dieser Geschichte hast, ob es dir gefällt oder nicht. Außerdem sind da deine Neugier, wie es weitergehen mag und ein Versprechen, dass ich dir gab und ich schätze, du wirst keine Ruhe haben, bis du nicht mein kleines Geheimnis ergründet hast. Und dann...heh, mir ist noch ein Grund eingefallen“. Melynas holte tief Luft und legte eine nervenaufreibende Pause ein. „ Es dürfte dich vielleicht interessieren, dass die Leute, zu denen wir unterwegs sind, dir viel über einen Mann, welchen du unter dem Namen Andraic kennst, erzählen können. Soweit ich weiß, bestehen da sogar verwandtschaftliche Beziehungen zu unserem jungen Freund Jalaynas hier. Vielleicht befindet er sich ja auch mittlerweile schon dort, im Schoß der Familie?“

Sollthana sprang auf die Füße und die Ratte musste ihre Krallen tief in ihre Schulter versenken, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen, aber das Mädchen schien den Schmerz gar nicht wahrzunehmen.
„Jetzt reicht es aber mit diesen ewigen Andeutungen. Woher weißt du von Andraic und was waren das für Träume? Und was hast du mit uns vor, du elender...Ich will jetzt sofort alles wissen, vorher bewege ich mich hier nicht weg.“ „Jawohl“, kam ihr Taevul zu Hilfe, der bis dahin schweigend ihr Gespräch verfolgt hatte. „Uns alle scheinst du manipuliert und deinem Willen unterworfen zu haben und wir wissen nicht einmal, um was es geht,es ist nur gerecht, dass wir endlich erfahren, mit was wir es hier eigentlich zu tun haben.“

„Also schön“, sagte Melynas düster. „ich verstehe euren Unmut, aber ich hatte gehofft, dass wir bereits an einem sicheren Ort wären, bevor ich euch die Geschichte erzähle, denn sie wird etwas Zeit kosten. Aber nun setzt euch hin, macht es euch ein bisschen bequem, es ist schade, ich kann euch keinen Wein und kein Kaminfeuer bieten, wie es solch einer Geschichte angemessen wäre, aber nun muss es auch so gehen.“ Melynas legte eine kurze Pause ein, bis Sollthana sich etwas beruhigt hatte und sie und Taevul sich im Gras niedergelassen hatten und ihm ihre volle Aufmerksamkeit widmeten, dann fuhr er fort zu erzählen.

„Wie ihr euch vorstellen könnt, kam ich nicht ganz freiwillig zu meinem derzeitigen Erscheinungsbild. Mein vollständiger Name lautet Melynas De Loryan und einst war ich ein angesehener Magier im Kreis der Sieben.“ „Im Kreis? Du?“ fragte Sollthana ungläubig. „Aber es ist doch schon fast ein Lebensalter her, seit diese Verbindung ihre Macht aufgegeben hat, das kann einfach nicht sein.“ „Schweig und frag nicht gleich dazwischen, ich werde es erklären“, schnauzte sie der Rattenmagier an. „Recht hast du damit, dass man dem Volk damals glauben machte, der Kreis hätte sich vollständig aufgelöst, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Noch vor einer Dekade genossen die Sieben in allen Reichen des westlichen Kontinents sehr viel Macht und Ansehen und man nahm gerne ihre Hilfe in Anspruch. Vorallem, wenn es darum ging die Gefahr aus den wilden, östlichen Landen zu bannen, die immer wieder in Form von Groaks und anderen Dämonen die Grenzen bedrohten und von denen man heute nur noch in Märchen und Gruselgeschichten für Kinder hört.“

„Ich konnte als Kind nicht genug bekommen von diesen Geschichten, auch wenn meine Mutter mir damit eigentlich Furcht einjagen wollte“, fiel ihm Sollthana begeistert ins Wort. „Und du hättest besser daran getan, deine Mutter ernst zu nehmen“, entgegnete Melynas finster. „Nun, die Macht der Sieben erlosch allmählich, als die Kreaturen sich tiefer in die Ostlande zurückzogen und die Königreiche des Westens erstarkten. Ihr wisst, in diesen Tagen gibt es wenige, die sich öffentlich zur Magie bekennen und in einigen Ländern des Südens werden gar harte Strafen gegen jene verhängt, die sich durch die Ausführung magischer Handlungen schuldig gemacht haben. In der Blütezeit des smaranskischen Reiches war das ganz anders, die Magie war im alltäglichen Leben allgegenwärtig und für einen jungen Adeligen gab es kein höheres Ziel, als an einer der Zauberakademien des Landes aufgenommen zu werden.“

Melynas hielt einen Moment inne und betrachtete seine Zuhörer, die ihm gebannt an den Lippen hingen. Besonders die junge Heilerin schien von seinem Bericht völlig fasziniert zu sein. Rasch kam er dem Instinkt seines jetzigen Wesens nach und putzte sich ausgiebig die Schnurrhaare, bevor er in seiner Erzählung fortfuhr. „In jene Zeit fiel es auch, dass der Kreis der Sieben gegründet wurde, der sich aus den Fähigsten der Zunft zusammensetzte. Sie hatten die Aufgabe, die verschiedenen Zünfte und Schulen zu einheitlichen und zu kontrollieren, denn auch damals schon waren den Fähigkeiten eines Magiers Grenzen gesetzt und Gesetze regelten, was erlaubt war und was nicht.“
„Und welche Unterschiede gab es an den einzelnen Akademien?“ fragte Sollthana wissbegierig. „Oh, teilweise ziemlich gravierende. Es war natürlich ein gewaltiger Unterschied, ob man bei einem Meister, der vielleicht nur nebenher 1 oder 2 Schüler unterrichtete seine Ausbildung absolvierte oder an einer der angesehenen Akademien der Hauptstadt Aufnahme fand. Die berühmteste Magierschule war zweifelsohne die Akademie des Arawa in Sarkanda und ebendort wurden auch die ersten Vertreter der Sieben ausgebildet. In den letzten Jahrhunderten veränderten sich jedoch die Aufgaben und der Status des Kreises immer mehr, denn als das Großreich Smaranska zerfiel, versuchten die Menschen alle Symbole dieser verhassten Macht zu zerstören und die Magie war immer eines der gefurchtesten Instrumente der Beherrscher gewesen. Der Kreis blieb zwar bestehen, da die neuen Herrscher die Hilfe der Magier durchaus zu schätzen wussten, aber gegenüber dem einfachen Volk gab man kund, dass alles magische der Vergangenheit angehöre und auch die Sieben nicht mehr existierten.

In den nächsten Jahrhunderten überlebte der Kreis durch den Kampf mit den Dämonen der Ostlande, doch als vor etwa 25 Jahren diese Gefahr gebannt schien, beschlossen die Herrscher der westlichen Königreiche seine entgültige Auflösung. Ich selbst war damals ein junger Magier, der erst kurz zuvor zum Kreis gestoßen war, als mein Meister, der große Labesens Jaldar dahingeschieden war. Ich gebe es nicht gerne zu, aber in den alten Zeiten wäre es höchst unwahrscheinlich gewesen, dass ich je in den Kreis aufgenommen worden wäre, der nur den Besten und Erfahrensten vorbehalten war, aber seit dem offiziellen Verbot der Magie war es sehr schwierig geworden, geeignete Nachfolger zu finden und auszubilden. Es gab nicht einmal mehr eine feste Niederlassung, der Kreis zog von Ort zu Ort, wie ein paar heimatlose Vagabunden. Ich selbst hatte mir nie träumen lassen, in den Kreis gelangen, aber Labesens war plötzlich und unerwartet gestorben, was ein schwerer Schlag für den Kreis war. Inkomplett verringert sich ihre Kraft und magische Stärke und so musste schnellstens ein Nachfolger gefunden werden.

Vier der Sechs übriggebliebenen schlugen mich als geeigneten Kandidaten vor, während die anderen zwei gegen mich stimmten und so wurde ich schließlich unter Vorbehalten in den Kreis aufgenommen und vereidigt, was mir anfangs keinen einfachen Stand verschaffte. Zu meiner Jugend und Unerfahrenheit kam noch erschwerend hinzu, dass ich kein Hoher war. Ihr müsst wissen, dass man zwischen magisch Unbegabten, magisch Begabten und Hohen unterschied und eben diesen Unterschied versuchte man in den alten Zeiten bereits im Kindesalter zu erkennen und entsprechend zu fördern. Meine Eltern waren selbst magisch völlig unbegabt, sehr zu ihrem Leidwesen, da sie der alten Macht anhingen und als sie bei mir Zeichen der Begabung entdeckten, suchten sie nach Wegen, mir eine entsprechende Ausbildung zu ermöglichen. Mit 8 Jahren war ich zu Labesens gekommen und ich war ihm immer ein gelehriger Schüler, doch schon sehr früh hatte er mir gesagt, dass in mir kein Hoher schlummerte.“

„Aber was unterscheidet nun einen Hohen von einem Nicht Hohen?“ wollte Taevul stirnrunzelnd wissen. Melynas seufzte ergeben und erklärte dann: „Ein Hoher hat mehr...wie soll ich es ausdrücken, Potenzial? Vieles was man sich als Magier aneignet ist natürlich theoretischer Lehrstoff, aber ohne Potenzial kann man diesen nicht in die Tat umsetzen, also Magie ausüben. Einiges kann man durch Lerneifer und ständiges Üben ausgleichen, aber unbestritten ist, dass nur die Hohen in der Lage sind bestimmte, sehr komplexe magische Handlungen auszuführen. Bei Charis, das waren Dinge, die man in unseren Tagen sehr selten wirklich brauchte und von deren Anwendung man eher in Abhandlungen über magische Geschichte las, aber dennoch haderte ich immer mit dem Schicksal, nicht als Hoher geboren zu sein. So könnt ihr euch vielleicht meinen unglaublichen Stolz vorstellen, als ich wahrhaftig zu den Sieben gehörte. Wie gesagt, es gab Vorbehalte gegen mich, aber auch jetzt gelang es mir durch harte Arbeit und Lernbereitschaft vorwärtszukommen und mir in den folgenden Jahren die Achtung meiner Mitbrüder und Schwestern zu verdienen.

Aber der Zeitpunkt war denkbar schlecht, zudem verstarben weitere, erfahrene Mitglieder des Kreises und wieder gab es keine würdigen Nachfolger, ihre Plätze wurden von 2 jungen Magiern eingenommen, denen auch ich von Anfang an nicht mein volles Vertrauen schenken konnte. Eine der gewählten Personen, Latara, war meine eigene Schülerin gewesen und noch dazu meine Geliebte, aber nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie eine Hohe war und mir in ihren Fähigkeiten weit überlegen und wir zudem einige banale Meinungsverschiedenheiten hinter uns hatten, konnte man unser Verhältnis nur als gespannt bezeichnen. Der zweite Neuling war ein junger Mann mit Namen Sherlys Laslay...“ „Sherlys? Hauptmann Sherlys?“ rief Taevul bestürzt aus und er und Sollthana wechselten verwirrte Blicke. Melynas redete über eine Zeit, die mehr als 20 Jahre zurücklag, doch der Sherlys, den Taevul als seinen Vorgesetzten kannte, machte einen durchaus jugendlicheren Eindruck.

„Ruhe jetzt“, donnerte Melynas. „So werde ich mit dieser Geschichte nie fertig. Hört einfach zu, ihr werdet schon alles zur rechten Zeit erfahren. Also, jener Sherlys, der damals zum Kreis stieß, weckte mein Misstrauen dadurch, dass er eine sehr enge Bindung zum smaranskischen Königshaus unterhielt, was in diesen Zeiten absolut unüblich war. Bisher waren unsere Kontakte nach Smaranska rar gewesen und unsere Hilfe wurde vom damaligen König Melvor nur sehr selten in Anspruch genommen. Sein Nachfolger, Hannarek, war es, der plötzlich ein gesteigertes Interesse an unserem Wirken, besonders aber an unserem Mitbruder Sherlys zeigte. Ständig reiste er an den Hof und verbrachte dort sehr viel Zeit mit dem Herrscher, aber uns gegenüber machte er nur sehr vage Angaben über den Sinn und Zweck dieser Zusammenkünfte. Um es kurz zu machen, der Kreis wurde schließlich offiziell aufgelöst, bevor ich Gelegenheit hatte, dieser Sache nachzugehen und die Sieben beschlossen, vorerst ihrer eigenen Wege zu gehen. Viele von uns waren enttäuscht und verbittert über die Entwicklung der Dinge, auch ich zog mich einige Zeit von der Welt zurück und verbrachte einige Jahre in der Abgeschiedenheit der messenischen Berge, um in Ruhe meine Studien fortzusetzen, bis mich, lasst mich überlegen, vor etwa 20 Jahren ganz plötzlich die Einladung meines ehemaligen Mitbruders Gloven Tandiri erreichte, an einem Treffen der Sieben teilzunehmen.

So führte mich meine Reise nach langer Zeit wiedereinmal nach Prahatien. So lange hatte wir nichts mehr voneinander gehört, dass ich voller Vorfreude und Aufregung an dem Ort unserer Zusammenkunft eintraf. Doch der Kreis war nicht vollständig erschienen. Sanarkan Bedin war aus Catanien angereist, wo er eine geheime Zauberakademie gegründet hatte, Doryon Al Lodan kam aus den Ostlanden, wo er Studien über den Verbleib der Groaks anstellte und Urbin Mehener hatte den Weg von Dosslar hierher gefunden, wo er, ähnlich wie ich, ein zurückgezogenes Leben geführt hatte. Unsere Gastgeberin war Mitschwester Mewana, die ihre Festung Chardock zur Vefügung gestellt hatte.

„So waren wir zu fünft,“ fuhr Melynas schließlich fort. „Und wie ihr sicher schon festgestellt habt, fehlten ausgerechnet jene zwei, die zuletzt zum Kreis gestoßen waren, Sherlys und Latara. Ich dachte mir nichts dabei, doch nach der ersten Wiedersehensfreude und dem Austausch darüber, was wir in den letzten Jahren getan und erlebt hatten, rief uns Mewana zusammen und erklärte sehr ernst, dass dieses Treffen nicht allein zum Vergnügen anberaumt wäre, sondern einen ernsten Hintergrund hätte. In dieser Nacht erfuhren wir unglaubliche Dinge. Mewana hatte erfahren, durch welche Quellen auch immer, dass es Sherlys, unser ehemaliger Mitbruder, gewesen war, der für den kurz zuvor stattgefundenen Übergriff Smaranskas auf Prahatien verantwortlich war. Vielleicht erinnert Ihr euch noch an diesen Zwischenfall, damals versuchten die Machthabenden zu vertuschen, dass Magie im Spiel gewesen war, aber es sickerte dennoch einiges durch.“

Taevul nickte:„Damals war ich noch ein junger Bursche, aber ich erinnere mich daran, wie Nachrichtenüberbringer von Dorf zu Dorf eilten und verkündeten, unser geliebtes Heimatland habe mit dem Feldzug begonnen, der alle Schmach und Schande der letzten 500 Jahre tilgen solle und uns wieder soviel Macht und Ansehen wie in den alten Zeiten einbringen sollte. Sie kamen wieder, um uns zu sagen, dass die erste Schlacht erfolgreich verlaufen wäre, doch dann erreichte uns lange keine Nachricht mehr und nur nach und nach erfuhren wir, dass Smaranska gescheitert sei, doch die genauen Umstände blieben im Dunkel.“

„Ich weiß noch, dass man darüber munkelte, dass wilde Bestien an den Kämpfen teilgenommen und schreckliche Untaten unter den prahatischen Kriegern verübt hätten. Meine Mutter sagte, die Groaks seien zurückgekehrt und wenn ich nicht folgsam war, drohte sie damit, die Dämonen würden auch den Weg nach Binhall finden, um mich zu bestrafen.“ Sollthana kicherte, aber Melynas warf ihr einen ernsten Blick zu und sagte: „Deine Mutter, mag sie auch eine abergläubische Bauersfrau gewesen sein, hatte so Unrecht nicht mit ihren Vermutungen. Weißt du überhaupt, wie schrecklich diese Wesen wirklich sind? Man erzählt sich, sie kamen einst aus der Unterwelt und fanden den Weg zurück nicht mehr…voller Zorn, dass sie an die Welt der Sterblichen gebunden waren, aber keinen eigenen Körper besaßen, drangen sie in die Körper wilder Tiere ein. Im Laufe der Jahrtausende entwickelte sich ihre Erscheinungsform weiter und ihre Kräfte wuchsen. Früher versuchten sie oft den Sterynge zu überqueren und in den grenznahen Dörfern und Städten zu morden und zu plündern, aber in den letzten hundert Jahren blieb die Grenze ruhig. Fast geriet es in Vergessenheit, dass es diese Bedrohung jemals gegeben hatte.

Doch Tatsache ist, dass es unserem Mitbruder Sherlys gelungen sein muss, einige Exemplare der Groaks nach Smaranska zu bringen. Man versuchte, die Bestien abzurichten, um sie im Kampf einsetzen zu können und damit König Hannarek ehrgeizige Pläne, die verlorenen Gebiete des ehemaligen Großreiches Smaranska zurückzuerobern, in die Tat umzusetzen. Doch der greuliche Plan ging nicht auf. Zwar brachten die Bestien wie erhofft Chaos und Tod, doch nicht nur den prahatischen Kriegern-es war nicht gelungen, die Groaks soweit zu zähmen, dass sie ihren vermeintlichen Herren gehorchten und so ließen auch zahlreiche smaranskische Soldaten ihr Leben, als die Ungeheuer freigelassen wurden.

Nach dieser Schlacht, welche nicht weit von hier auf der Ebene von Arkanda stattfand, herrschte eine Weile scheinbar Ruhe. Prahatien sicherte seine Grenzen und brach alle Handelsverbindungen und diplomatischen Kontakte nach Smaranska ab und die meisten Königreiche des westlichen Kontinents taten es ihm gleich. Seit dieser Zeit verschlechterten sich die Lebensbedingungen der einfachen Bevölkerung Smaranskas drastisch, wie Taevul mir sicherlich bestätigen kann.“

Taevul nickte düster: „Alles kam zum erliegen, als der Handel eingestellt werden musste, keine Nachrichten von außen erreichten uns mehr und Familien waren plötzlich auseinandergerissen. Es kam zu Unruhen und Aufständen, doch die Soldaten des Königs schlugen diese unerbittlich nieder. Einige flohen und gingen in die Wälder, von wo aus sie zu Gegenschlägen ausholten. Mit der Zeit wurden es immer mehr und der König begann die Rebellen zu fürchten. So wurde es auch für uns einfache Leute, die nur ihrer Arbeit nachgehen und ein friedliches Leben führen wollten, immer schwerer sich aus allem herauszuhalten. Schon der leiseste Verdacht, dass man mit den Rebellen in Verbindung stehen könnte, konnte einem Tod und Kerker einbringen.“

„Und deswegen bist du lieber gleich ein Handlanger dieses Tyrannen geworden?“ Taevul schüttelte resigniert den Kopf: „Ich kann nicht auf Verständnis für meine Taten hoffen, dennoch steht es dir, die du in einem freien Land aufgewachsen bist nicht zu, über mich zu urteilen. Lange Jahre habe ich nur an das Wohl meiner Familie gedacht, die ich schützen und ernähren musste und als mir diese Last genommen war, nun, lass mich ehrlich sein, es drängte mich nicht danach ein Geächteter zu sein und mich wie ein Tier in den Wäldern zu verstecken.“
Sollthana funkelte ihn zornig an. „Ach, nur um deiner Behaglichkeit willen bist du zum Folterknecht geworden? Deine Opfer hätten wohl auch lieber ein Leben in Frieden geführt und für ihre Familien gesorgt, aber im Gegensatz zu dir hatten sie auch den Mut, gegen das Unrecht aufzubegehren...“ „Hört jetzt auf damit, ihr zwei, “ schaltete sich Melynas ein. „Ihr könnt später noch genug disskutieren, lasst mich endlich meine Geschichte zuende bringen.“ Sollthana nickte widerstrebend und auch Taevul klappte den Mund wieder zu, den er gerade geöffnet hatte um zum Gegenschlag auszuholen.

„Nun wissen wir also Bescheid darüber, was geschah, um die gegenwärtigen Zustände in Smaranska zu erklären“, fuhr Melynas fort. „Schrecklich, mag man denken, dieses Wüten der Groaks und bedauerlich, dass die Bevölkerung Smaranskas so unter den Auswirkungen dieser Ereignisse zu leiden hatte, aber passieren nicht täglich genauso furchtbare Dinge allüberall? Ja, bis hierhin fanden wir Mewanas Ausführungen noch nicht wirklich besorgniserregend. Aber was dann kam, jagte uns wahrhaftig einen Schrecken ein. Unsere Mitschwester berichtete uns, dass es Sherlys gelungen war, mit Hilfe dunkler Magie ein Wesen zu schaffen, welches zu einem Teil Groak, zu einem Teil Mensch ist. Nicht genug damit, dieses...dieses Ding war auch von einer Menschenfrau zur Welt gebracht und aufgezogen worden und diese Frau war niemand anderes als meine ehemalige Schülerin Latara. Zusammen mit Sherlys und weiteren, smaranskischen Magiern, die von den beiden Verrätern ausgebildet worden waren, war unsere ehemalige Mitschwester dabei, eine Herrschaft des Schreckens zu errichten. Ihr könnt euch meine Erschütterung nicht vorstellen, die mich in diesem Moment befiel, ich konnte nicht fassen, dass dieses Mädchen, das ich geliebt hatte, das ich vielleicht noch immer liebte, das diese meine Latara zu solch schändlicher Tat fähig sein sollte. Nun, machen wir es kurz. Wir fünf Übriggebliebenen disskutierten die ganze Nacht, redeten uns die Köpfe heiß und versuchten, einen Plan zu fassen, um diesem unheilvollen Treiben ein Ende zu setzten. Es führte schließlich alles darauf hinaus, dass wir nach Smaranska gehen und die beiden Abtrünnigen und ihre scheußliche Brut vernichten würden müssen.“

Melynas hielt inne und blickte auf seine Zuhörer, die ihn wie gebannt anstarrten. „Es fällt mir schwer, fortzufahren, meine Freunde, denn was nun kommt, ist nicht besonders rühmlich für mich und hat nicht nur dazu geführt, dass ihr mich nun als Ratte vor euch seht, sondern auch den Tod meiner Freunde verursacht.“

Der Rattenmagier räusperte sich umständlich und fuhr dann wieder fort: „Wir brachen 2 Tage später auf nach Smaranska. Aus Sicherheitsgründen reisten wir nicht in der Gruppe, sondern jeder für sich, so war es einfacher über die Grenze und bis in die Hauptstadt Sarkanda zu gelangen. Dort wollten wir jeder für sich Informationen sammeln und uns an einem vereinbarten Tag wiedertreffen, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen. Mir war die Aufgabe zugefallen, Latara zu beschatten, da sie meine Schülerin gewesen war und ich sie am besten kannte. So beobachtete ich sie in der Residenz, welche sie im nobelsten Stadtteil Laranx bewohnte und in der sie Hof hielt wie eine Königin.

Und ich bekam auch den Groakmischling zu Gesicht: Ein Knabe, der durchaus wie ein normales Menschenkind gewirkt hätte, wären nicht die Augen gewesen, die seine dämonische Herkunft verrieten. Auch die schlohweißen Haare passten nicht zu seinem jugendlichen Alter, doch das hätte nur eine Laune der Natur sein können. Wahrlich sicher war ich mir erst, als ich sah, wie er sich verwandelte. Dies geschah im Haus seiner Mutter während einer Festlichkeit, Latara wollte wohl ihre Macht demonstrieren und wie ihr euch denken könnt, war sie sich der Aufmerksamkeit ihrer hochgestellten Gäste sicher, als sie aus heiterem Himmel eine Formel aussprach und anstatt ihres kleinen Sohnes ein abscheuliches Ungeheuer an der Tafel saß. Jeder saß wie erstarrt und wagte sich nicht zu rühren, bis Latara sich genug amüsiert hatte und die Verwandlung rückgängig machte.“
„Und dieses Wesen...dieses Wesen ist also Hauptmann Sherlys?“ fragte Taevul tonlos.“Ja, mein Freund, so ist es.“ „Aber, ich begreife das nicht. Hätten wir das nicht merken müssen? Warum hat er sich nie verwandelt?“ „Es war noch nicht an der Zeit, es öffentlich zu tun Taevul. Aber Gerüchte hat es durchaus schon gegeben. Habt ihr nie gehört, dass man munkelte Sherlys sei ein Dämon in Menschengestalt? Daß er das Blut seiner Feinde trinken würde oder ähnliches?“ „Doch, es war etwas Unheimliches an ihm, das ich nie so recht zu benennen wusste, aber ich schrieb es nur seiner Grausamkeit und Gewissenlosigkeit zu, alles andere hielt ich für Geschwätz.“

„Nun gut. Jetzt wisst ihr jedenfalls, wie es zu dem Namen Sherlys kommt. Sherlys Altoys, mein ehemaliger Mitbruder und Magier, gab diesem Wesen, das er miterschaffen hatte, seinen Namen, wie ein Vater seinem Sohn den Hauptnamen in Smaranska weitervererbt. Doch seine Kreatur wird mit 2. Namen Laslay gerufen, was ihn von seinem väterlichen Schöpfer unterscheiden soll, was interessanterweise soviel wie „dreifach begünstigt“ heißt. Was er damit meint, sollte uns nun klar sein: der Sohn hat nicht nur die Anlagen seiner menschlichen Eltern, sondern wird noch dazu durch sein Dämonenerbe begünstigt.

Doch der Groak war natürlich nicht alles, was ich in dieser Zeit zu sehen bekam, mein Hauptaugenmerk galt schließlich Latara, die ich so ausspionieren sollte, dass wir den günstigsten Zeitpunkt für unser Attentat wählen konnten. Doch ihr könnt euch vorstellen, all die Zeit war ich gezwungen, die Person zu beobachten, die ich noch immer liebte und je näher der Tag rückte, an dem ich meine Magierfreunde treffen sollte, um ihnen meine Beobachtungen mitzuteilen umso stärker keimte der Wunsch in mir, Latara den Tod zu ersparen. Was war es, was mich schließlich zu dem Entschluss trieb, mich ihr zu offenbaren? Ich hatte genug gesehen, um zu wissen, zu was sie imstande war, glaubte ich also dennoch, sie überzeugen zu können, ihr Handeln einzustellen? Sah ich immer noch das unschuldige, wissensdurstige Mädchen, das zu mir gekommen war, als es gerade 12 Jahre alt gewesen war und das mir soviel bedeutet hatte? Ich weiß es nicht, aber ich werde bis zu dem Tag, an dem ich diese Welt verlasse, bereuen, was ich tat.“

„Oh, verdammt,“ flüsterte Sollthana Taevul zu, während Melynas noch um Fassung rang, um weitererzählen zu können. „Kann es denn wirklich wahr sein? Hat er wirklich getan, was ich denke?“ „ Es ist zu befürchten“, seufzte Taevul. „Schhh,“zischte Melynas. „Kommentare könnt ihr später anbringen, hört euch erst das Ende an. Wie gesagt, entgegen aller Vernunft hatte ich mich entschlossen, Latara gegenüberzutreten und mit ihr zu reden. Sie gab sich überrascht, doch auch erfreut, als ich ganz offiziell an ihre Tore klopfte und um eine Unterredung bat, sie lud mich ein, mit ihr auf die alten Zeiten zu trinken und war so charmant und liebenswürdig, wie ich sie kannte. Ich beschloss, dieses erste Treffen verstreichen zu lassen und erst beim nächsten Mal mein Anliegen vorzutragen, doch als Latara mich einlud, in ihrem Haus Quartier zu beziehen, fiel mir kein Grund ein, abzulehnen, und so blieb ich. Und wie es kommen musste, sprach ich übermäßig dem Wein zu, der schwer und süß war und die Zunge lockerte, doch es war nicht nur der Wein, Latara musste etwas Chuliskraut untergemischt haben, denn meine Sinne waren benebelt wie nur dieses Gewächs es vermag und ein Drang, alles zu erzählen überkam mich.Das mag ich dann auch getan haben, ich kann es nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, denn irgendwann schwand mir das Bewusstsein und ich erwachte erst viel später, nackt und in Ketten gelegt in einem Kerker, zusammen mit den restlichen Magiern des Kreises. Ich will euch die Einzelheiten der nächsten Stunden ersparen, nur soviel sei gesagt, dass Latara meine Gefährten vor meinen Augen auf grausamste Art und Weise foltern und schließlich töten ließ und mich schließlich in das, was ihr hier vor euch seht, verwandelte. Zusätzlich sprach sie einen Bann aus, der meinen Bewegungsradius für immer auf den Kerker von Lordan begrenzen sollte. Nun mag man denken, dass ich dankbar sein sollte, dass sie mich nicht auch tötete, aber glaubt mir, es ist eine weitaus grausamere Strafe, mit der Gewissheit weiterzuleben, für den Tod deiner Freunde verantwortlich zu sein und auch noch täglich den lebenden Beweis deines Scheiterns vor Augen zu haben. Das hatte ich, in Form von zahlreichen Kerkermeistern und schließlich Sherlys Laslay, denen ich nun bei ihrer grausamen Arbeit in den Kerkern beiwohnen durfte. Doch Latara hat trotzdem einen Fehler begangen. Ihr müsst wissen, es gibt keinen Fluch und keinen Bann, den man nicht aufheben kann und es ist ein Gesetz der Magie, selbst der dunklen, dass der Aussprechende nennt, wie selbiger aufgelöst werden kann.“

„Und was nannte Latara nun?“ fragte Taevul ungeduldig. „Nun, der Fluch lautete sinngemäß, dass ich für jetzt und immerdar an diesem unwirtlichen Ort verweilen müsse, es sei denn, irgendjemand würde mich aus freien Stücken mit sich nehmen. Nun, ich kann nur sagen, es war nicht leicht, aber am Ende, wie ihr seht, auch nicht unmöglich. 20 Jahre verbrachte ich an diesem Ort. 20 Jahre, an denen ich viel Leid und Schmerz gesehen und in denen ich mit vielen guten Menschen Freundschaft schloss, doch so gerne mir einige von ihnen geholfen hätten, sie vermochten es nicht, denn sie fanden vorher den Tod. Es wurde mir also rasch klar, dass ich erst einem von ihnen zur Flucht verhelfen musste, um selber dem Bann zu entkommen oder aber einen der Wachleute dazu überreden, mir zu helfen, doch das war leichter gesagt als getan.

Vor etwa 3 Jahren entdeckte ich dann durch Zufall, dass Sherlys einen Geheimgang zur Festung benutzte und wo er den Schlüssel aufbewahrt. Als kurz darauf Taevul in Sherlys Dienste trat, beobachtete ich ihn, wie ich schon so viele der Wachleute beobachtet hatte, immer in der Hoffnung, ich würde irgendwann einen finden, dessen Seele noch nicht völlig verdorben war und der mir vielleicht bei meinen Fluchtplänen nützlich sein würde.
Taevul erschien mir ein geeigneter Kandidat zu sein und schon vor etwa 2 Jahren hätte ich es fast gewagt und einen Versuch unternommen, ihn anzusprechen, aber es ergab sich keine günstige Gelegenheit und dann fingen die Träume an....nun, wie soll ich das erklären, noch in meiner menschlichen Gestalt war es mir möglich gewesen, meinen Blick in künstlich herbeigeführten Träumen in die Ferne zu richten und Kontakt zu anderen Personen aufzunehmen oder sie auch nur zu beobachten.
Diese Fähigkeit hatte ich, wie auch all meine übrigen magischen Kenntnisse mit dem Fluch eingebüßt, fiel ich in Schlaf, so wurde ich nur von den ganz normalen Schrecken und Wunderlichkeiten der Traumwelt heimgesucht, die jeder kennt. Plötzlich jedoch veränderten sich die Träume, mir unbekannte Personen und Ereignisse erschienen mit solch einer Eindringlichkeit und Klarheit, dass ich nicht lange an einen Zufall glauben wollte. Der Junge, Jalaynas, war einer der Personen, die immer wieder auftauchte, ebenso wie ein Mädchen mit rubinrotem Haar, das über Heilkräfte verfügte...“

„Du hast also schon vorher von mir geträumt, bevor du dann auch in meine Träume eingedrungen bist.“ Sollthana wusste nicht, was sie von dieser neuerlichen Wendung der Geschichte halten sollte, nur dass sie wiederum das Gefühl hatte, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen.

„Ja,“ bestätigte Melynas „Ich sah dich viele Male, aber ich wusste nicht warum du mir erschienst, genauso wenig wie ich verstand, was es mit Jalaynas oder Zoran, bzw. Andraic auf sich hatte. Und ich verstehe auch heute noch nicht alles. Eines wurde mir jedoch klar, als Jalaynas nach Lordan gebracht wurde, auf irgendeine Art war dieser Junge wichtig und ich musste dafür Sorge tragen, dass er überlebte, wie auch immer diese Geschichte weitergehen würde. So begann ich unsere Flucht zu organisieren und kaum hatten wir Lordan verlassen, kehrten auch meine magischen Fähigleiten zurück, denn der erste Fluch war nun gebrochen. Also machte ich mich auf die Suche nach dir und sprach zu dir in deinen Träumen, um mit deiner Hilfe Jalaynas Leben zu retten.“

„Und das ist ja nun auch gelungen“, sagte Sollthana, nicht ohne eine Spur von Stolz in der Stimme. „Eines aber verstehe ich nicht, wie konnte es nur geschehen, dass all deine Freunde aus dem Kreis ergriffen und getötet werden konnten? War ihre Magie nicht mächtig genug, sich zu schützen?“ „Das habe ich mich auch viele Male gefragt“, antwortete Melynas betrübt. „Und mit Sicherheit weiß ich es auch heute noch nicht zu sagen, aber ich befürchte, dass Latara und Sherlys es geschafft hatten, mehr als sieben außerordentlich gute Magier auszubilden und uns so überlegen zu sein. Meine magischen Kräfte waren bereits in diesen Stunden im Kerker, als ich noch meine menschliche Gestalt besaß, auf ein Minimum reduziert, bzw. gebunden und meinen Mitstreitern schien es nicht besser zu ergehen.“

Sollthana nickte nachdenklich „Was aber soll das alles bedeuten? Warum ist Jalaynas so wichtig und warum musste ausgerechnet ich euch helfen? Ganz bestimmt gibt es genug erfahrenere Heiler, die du hättest herbeirufen können.“ „Vielleicht,“ gab Melynas zu. „Aber nur du bist mir gezeigt worden und die Macht dieser Traumbotschaften darf man nicht unterschätzen. Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es da Irgendjemanden, der sehr viel mehr magisches Wissen besitzt, als wir uns vorstellen können und dieser Jemand versucht uns nach seinem Willen zu lenken. Welche Interessen er damit verfolgt, ob seine Absichten nur edel und gut sind…ich weiß es nicht, meine Lieben. Und mehr kann ich euch im Augenblick auch nicht erklären, wir müssen Jalaynas nach Hause bringen und wenn mich nicht alles täuscht, werden wir dort auf unseren Freund Andraic treffen. Vielleicht kann er uns mehr erzählen.“

Im Lager der Rebellen




Wenn Sollthana später zurückdachte an die Ereignisse jener Nacht, fragte sie sich oft, was geschehen wäre, wenn sie zu diesem Zeitpunkt, als Melynas seine unglaubliche Geschichte beendet hatte, einfach ihre Sachen gepackt und die seltsame Reisegruppe verlassen hätte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand Zwang ausgeübt hätte, um sie zum Bleiben zu überreden, nicht nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt und Jalaynas aus dem Land der Schatten zurückgeholt hatte. Wäre es nicht das einfachste und vor allem vernünftigste gewesen, einfach zu gehen, diese seltsame Begegnung zu vergessen und ihre Wanderschaft wieder aufzunehmen?Doch es war müßig, darüber nachzugrübeln, denn die ganzen Geschichten über schicksalhafte Träume, Groaks und Rebellen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt und außerdem brannte sie darauf, Andraic wiederzusehen.
Und so hatte sie nicht gezögert, als Melynas zum Aufbruch mahnte und geholfen, Jalaynas auf das Pferd zu setzen und dort festzubinden, das Feuer zu löschen und ihre Habseligkeiten einzusammeln.

Niemand von ihnen wusste genau, wo das Lager zu finden war, nur Jalaynas natürlich, der ihnen grob die Richtung Nordost vorgab, bevor er wieder in Schlaf fiel. Taevul führte sie in dieser ersten Nacht, denn wenn ihm auch diese Gegend unbekannt war, so ermöglichte ihm doch seine Ausbildung als Soldat sich anhand der Sterne und bestimmter Merkmale zu orientieren.

Den Tag über rasteten sie ein paar Mal, um Jalaynas Wunden zu versorgen und ein kärgliches Mal aus Beeren und Wurzeln zu verspeisen, sie wagten es nun nicht mehr, ein Feuer anzuzünden, aus Furcht vor Sherlys Soldaten.
Die Abenddämmerung kam und ging und wieder funkelten die Sterne über ihnen, wieder brach der Tag an und sie liefen immer noch weiter. Manchmal wurde Jalaynas wach und korrigierte ihre Richtung ein bisschen, wenn er auch immer noch schwach und sehr müde war, das Fieber schien zurückgegangen zu sein und sein Zustand stabil. Verbissen kämpften sie sich ihren Weg durch den dichten, unwegsamen Wald, schweigend meist, da jeder damit beschäftigt war, sich aufrecht zu halten und nicht zu stürzen, auf dem feuchten Laub und den Wurzeln. Sollthana hatte sich anfangs noch gefürchtet, vor den Geräuschen der Nacht und den Augen, die in der Dunkelheit hinter jedem Busch, hinter jedem Baum auftauchen zu schienen, ganz anders war dieser Wald als der ihrer Kindheit, viel finsterer und bedrohlicher, aber mit der Zeit stumpfte auch sie ab, folgte nur noch mit hängendem Kopf dem Wachmann, der sie führte, irgendwann in dem Glauben, dass sie nun für immer und ewig durch diese dichte, grüne, unheimliche Welt laufen müsse.

Plötzlich hob Jalaynas, der den ganzen Tag nur geschlafen hatte, Kopf und rief aus: „Wartet. Wir sind jetzt ganz nah am Lager.“ Die anderen waren stehen geblieben und blickten sich ratlos um. Es war schwer vorstellbar, dass sich hier irgendwo ein Lager befinden sollte, immer schmaler war der Fluss geworden, zu beiden Seiten des Ufers zogen sich steile Hänge empor, dicht bewachsen von Nadelgehölz und undurchdringlichem Gestrüpp. Die letzten Stunden waren sie dem Flusslauf gefolgt, immer in Richtung Süden, wie der Junge es ihnen gesagt hatte, seit 2 Stunden etwa war das Weiterkommen immer mühseliger geworden. Kaum ein Fußbreit blieb ihnen zwischen Fluss und Hang, immer wieder waren sie abgerutscht oder bis zu den Knien im Wasser gestanden, immer schwieriger war es auch geworden, das Pferd dazu zu bewegen, weiterzugehen. Nun schien es gar kein Voran mehr zu geben, der Fluss verengte sich vor ihren Augen zu einem schmalen Durchfluss, der sich zwischen zwei mächtigen Felsblöcken hindurch schlängelte. Wie sollte es jetzt weitergehen?

„Wir müssen das Pferd hierlassen und ich schätze, dass Taevul mich wohl oder übel tragen muss“, erklärte Jalaynas mit einem schiefen Grinsen. Melynas Kopf tauchte aus der linken Satteltasche auf und er gähnte erstmal herzhaft. Taevul sah etwas betroffen drein „Das werde ich schon hinkriegen. Aber ist es nicht schade um Bluwis? Gibt es gar keine Möglichkeit, ihn mitzunehmen?“ „Nein, tut mir leid. Man muss ziemlich klettern, das würde er nicht schaffen.“ „Also gut“, seufzte Taevul : „Sollthana, du musst wohl die Satteltaschen und den kleinen Quälgeist übernehmen, kannst du das alles tragen? Ja? Gut, dann wollen wir mal.“

Nachdem Sollthana die Gepäckstücke zusammengeschnürt und sich umgehängt und den empörten Melynas in der Tasche ihres Gewandes verstaut hatte, hob Taevul vorsichtig den verletzten Jungen vom Pferd. „Vielleicht ist es besser, wenn du mich huckepack nimmst, dann hast du die Hände zum Klettern frei,“ meinte Jalaynas „Ich denke, ich bin nun kräftig genug, mich festzuhalten“ Als endlich alle bereit zum Abmarsch waren und Taevul seinem Pferd einen letzten aufmunternden Klaps gegeben hatte, gebot ihnen Jalaynas, in den Fluss zu steigen und in Richtung des schmalen Durchgangs zu waten. Sollthana bekam es mit der Angst zu, als das Wasser ihr bis zu den Oberschenkeln reichte und die Strömung an ihr zerrte, schwer vor Wasser war auch ihr wollenes Gewand und riss ebenfalls an ihr, als ob sie es unter Wasser ziehen wollte, sie taumelte einmal, aber da war nichts, woran sie sich festhalten konnte, Taevul hatte genug mit sich selbst und seiner schweren Last zu tun und Melynas quiekte nur verängstigt, hangelte sich an ihrem Gewand bis zu ihrer Schulter empor und vergrub sich rasch unter ihren Haaren. „Und ich dachte immer, Ratten können auch schwimmen?“ zischte Sollthana ihm zu, als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. „Vielleicht. Ich habe es jedenfalls noch nicht ausprobiert und möchte es auch gar nicht“, antwortete Melynas kläglich. „Na, dann hoffe ich, dass du es nicht musst.“

Sollthana konzentrierte sich wieder auf die mühevolle Aufgabe, Taevul zu folgen, der Wachmann hatte, trotzdem er Jalaynas tragen musste, bereits den Durchgang zwischen den Felsen erreicht und winkte ihr nun ungeduldig. Als Sollthana ihn endlich erreicht hatte, war sie völlig erschöpft und hätte sich gern etwas ausgeruht, aber davon konnte gar keine Rede sein. Hatte man sich durch die kaum Mannsbreite Felsspalte gezwängt, wurde einem klar, dass der mühselige Teil des Weges gerade erst richtig losging: Etwa 10m noch schlängelte sich der zu einem Rinnsal verkommene Fluss noch oberirdisch dahin, bis er in einer Felsspalte verschwand….Sollthana schnappte nach Luft und sah sich ungläubig nach einer anderen Möglichkeit um, doch da war nichts, nur glatte Felswände links und rechts und diese Spalte, die so schmal wirkte, dass man schon vom hinschauen Beklemmungen bekam.

„Wir müssen doch nicht etwa da durch?“ „Doch. Aber keine Angst, nur der Einstieg ist etwas schwierig, danach befinden wir uns in einer Grotte, in der man aufrecht stehen kann, “ versuchte Jalaynas sie zu beruhigen. Der Junge saß aufrecht auf einem Felsbrocken, wo Taevul ihn abgesetzt hatte, aber ihm war deutlich anzumerken, wie sehr ihn das alles anstrengte. Sollthana bekam ein schlechtes Gewissen, als sie sein schmerzverzerrtes Gesicht sah und ermahnte sich selber, nicht so ängstlich zu sein. Wenn der schwer verletzte Jalaynas das alles durchstand, konnte sie es doch wohl auch. Taevul hatte den Einstieg zum unterirdischen Fluss bereits genau in Augenschein genommen und kam nun zurück zu den anderen.

„Ich denke, das Beste wird sein, wenn ich zuerst hinabsteige und Jalaynas unten in Empfang nehme. Sollthana, meinst du, du schaffst es, ihn solange an den Armen festzuhalten, bis ich ihn greifen kann?“ „Ich muss wohl oder gebe es eine andere Möglichkeit?“ Jalaynas Schweigen war ihr Antwort genug. Nachdem sie sich die letzten Schlucke aus dem Weinschlauch geteilt und Jalaynas noch etwas von Sollthanas schmerzlinderndem Trank erhalten hatte, machten sie sich zum Abstieg bereit. Der Junge bekam ein Seil um die Hüften, welches am anderen Ende an einem verkrüppelten Baum befestigt wurde, der wie ein mahnender Fingerzeig aus dem Geröll wuchs. Taevul verschwand so rasch durch die Felsspalte nach unten, als ob er nie im Leben etwas anderes getan hätte und Sollthana hielt unwillkürlich die Luft an, bis sie seine Stimme, dumpf und unheimlich, von unter der Erde vernahm.

„Alles in Ordnung, du kannst Jalaynas jetzt hinunterlassen.“ Es war nicht ganz einfach, den Jungen, der kaum mithelfen konnte, erstmal die paar Meter bis zu der Felsspalte zu bugsieren und ihn dann durch die enge Öffnung zu schieben, ohne ihm allzu sehr wehzutun. Jalaynas versuchte, sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen, aber ein paar Mal konnte er ein Stöhnen doch nicht unterdrucken und sie waren beide schweißgebadet, als es endlich so weit war, dass Sollthana dem Jungen mit einem letzten Drücken auf die Schultern die enge Spalte hinunterlassen konnte. Sofort griff sie nach dem Seil, bis von unten ein unterdrücktes Fluchen, ein Aufschrei und dann wieder Taevuls Stimme zu vernehmen waren: „Verdammt, das war ein bisschen zu schnell, Sollthana. Aber du kannst jetzt loslassen, ich hab ihn. Schneid das Seil durch und komm nach, aber pass auf, es sind etwa 2 Meter bis zum Boden und ich kann dich nicht auch noch auffangen.“

„Bei Charis“, stöhnte Sollthana „Worauf habe ich mich nur eingelassen? Was meinst du Melynas, sollen wir da wirklich durch? Vielleicht könnten wir ja auch einfach…“ „Hör auf zu lamentieren und steig endlich durch die verdammte Spalte oder willst du hier überwintern?“ schnauzte sie Melynas wenig verständnisvoll an, „Du hast leicht reden, “ schimpfte das Mädchen zurück. „Lässt dich ja auch immer spazieren tragen und verziehst dich, wenn es brenzlig wird, also sei bloß ruhig „Denkst du vielleicht, das gefällt mir?“ keifte wiederum Melynas und wenn Taevul nicht erstaunlich gut hörbar von unten heraufgebrüllt hätte, dass sie endlich voranmachen sollten, wäre der Streit noch eskaliert. So aber warf Sollthana der Ratte nur noch einen erbitterten Blick zu, warf dann die Gepäckstücke durch die Felsspalte und quetschte sich dann hinterher.

Einen Augenblick lang kam sie sich vor wie eine Erbse in der Schote und Panik und Beklemmung begannen sich in ihr breitzumachen, doch dann war dieser Moment schon wieder vorbei, ihr Körper rutschte ohne weiteres Zutun durch die Spalte und plötzlich befand sie sich in freiem Fall. Erschrocken kreischte sie auf und strampelte wild mit den Armen und Beinen, da war der Sturz auch schon beendet und sie landete unsanft mit der Kehrseite auf dem Höhlenboden.

Verstört blickte Sollthana um sich und jammerte: „Ich glaube, ich hab mir alle Knochen gebrochen. Taevul, Jalaynas? Seid ihr da?“ Ihre Augen versuchten, sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen und sie tastete nach Melynas, der hustend und schniefend aus ihrer Kapuze gekrochen kam: „Bei dir auch alles in Ordnung, Rattenmagier?, „So weit man von in Ordnung sprechen kann, wenn man gerade zwischen Felswand und Frau plattgedrückt worden ist, aber ja, ich lebe noch,“ brummte Melynas und nieste noch einmal kräftig. Dann war Taevul bei ihr und half ihr auf die Füße: „Das war nicht gerade eine elegante Landung, Heilerin, aber Hauptsache, du bist überhaupt hier“, begrüßte sie der Wachmann mit leisem Spott. „Und nun sammelt euch, wir haben noch ein Stück vor uns, wie Jalaynas meinte.“

Sollthana seufzte ergeben, klopfte sich notdürftig den gröbsten Dreck von den Kleidern und tappte hinter Taevul her, der mittlerweile eine Pechfackel entzündet hatte, die es ihnen ermöglichte, ihren Weg durch die unterirdische Grotte zu finden. Staunend musste das Mädchen immer wieder stehen bleiben und sich umsehen, denn so etwas hatte sie noch sie gesehen. Riesige, fingerähnliche Steine hingen von der Decke oder schienen aus dem Boden zu wachsen und wenn sie vom Licht der Fackel getroffen wurden, erleuchteten sie in rot, blau oder gelb. „ Man nennt die, die von oben her entstehen, Stalaktiten, die von unten Stalagmiten und sie brauchen sehr, sehr lange und viele Millionen Tropfen Wasser, bis sie so aussehen wie jetzt,“ erklärte Jalaynas ihnen. Etwa eine halbe Stunde folgten sie dem Rinnsal des Flusses, bis sie zu einem Saalgroßen Gewölbe kamen, wo der Bach in einen unterirdischen See mündete. „Jetzt wird es leider wieder etwas anstrengender, etwa eine Stunde Klettern liegt noch vor uns, aber dann haben wir es geschafft, “ verkündete Jalaynas, als sie den See umrundet hatten und nun vor einem großen Felsbrocken standen, der ihnen den Weg versperrte.

„Kannst du mich noch tragen, Taevul oder sollen wir vorher noch einmal rasten?“ „Nein, “ antwortete Taevul entschieden, „mit der Aussicht in einer Stunde endlich am Ziel zu sein, eine richtige Mahlzeit zu erhalten und die nächsten 24h nicht mehr aufzustehen, mit dieser Aussicht vor mir würde ich auch zwei von deiner Sorte da hochschleppen. Oder Sollthana? Bist du anderer Meinung?“ „Nein, nein“, stimmte ihm Sollthana hastig zu, bevor sie wieder als Angsthase dastehen würde. „Sieh nur, es gibt sogar ein Seil, um sich an dem Fels hochzuziehen.“ „Ja", sagte Jalaynas „Überall an der Strecke sind nun Seile befestigt, anders würde man viele Passagen gar nicht bewältigen können.“ „Kein Wunder, dass Sherlys dieses Lager nie gefunden hat“, äußerte sich Melynas anerkennend. Jalaynas lächelte gequält: „Ja, von sich aus wird er es sicher nie finden – aber seitdem ich weiß, welche Befragungsmethoden er verwendet, habe ich große Angst, dass er es doch bald herausfinden wird.“ Die anderen sahen ihn fragend an, aber der Junge schien sich nicht weiter erklären zu wollen. „Also, dann, “ sagte Taevul schließlich in das beklommene Schweigen hinein. „Soll ich wieder den Anfang machen, Sollthana?“


Über eine Stunde später sahen sie endlich wieder Tageslicht durch einen schmalen Ausgang in der Felswand schimmern. Sollthana hätte fast geweint vor Freude und Erleichterung, aber auch Taevul und Jalaynas waren sichtlich froh, den strapaziösen Aufstieg hinter sich zu haben. Einen Fels nach dem anderen hatten sie bewältigt, mal nur mit Händen und Füßen, mal mit Hilfe eines Seiles, an dem sie sich hochziehen mussten, an manchen Stellen war es Taevul gelungen, Jalaynas gleich hinaufzutragen, an anderen hatte Sollthana wieder all ihre Kraft aufwenden müssen, um Jalaynas ein Stück hochzuheben, bis Taevul ihn packen und hochziehen konnte. Auch die Fackel hatten sie immer wieder hin und her reichen müssen, denn ohne Licht hätten sie den Weg nicht mehr gefunden. Einmal war Sollthana mit dem rechten Fuß in einer Seilschlaufe hängen geblieben, hatte das Gleichgewicht verloren und hatte eine Weile hilflos wie ein Kaninchen in der Luft gebaumelt, bis Taevul fluchend wieder zu ihr hinunter geklettert war und sie aus ihrer misslichen Lage befreit hatte. Ein anderes Mal war sie fast zu Tode erschrocken und abgestürzt als sie aus einer Felsspalte heraus eine farblose Schlange aus blinden Augen anstarrte und angriffslustig anzüngelte. Und überall war der Fels mit einer schmierigen, stinkenden Schicht bedeckt, Fledermausexkremente, wie Jalaynas sagte, welche sie immer wieder ausrutschen und abgleiten ließ.

Doch da waren sie nun endlich, eine letzte Kraftanstrengung bedeutete es, Jalaynas aus dem schmalen Loch an die Oberfläche zu befördern und dann waren sie wieder an der Oberwelt, die Sonne traf sie mit gleißender Helligkeit und Taevul und Sollthana warfen sich japsend auf den Boden. „Ich glaube, ich mag Höhlen nicht“, verkündete Sollthana, als sie endlich wieder etwas Luft bekam.
Besorgt musterte sie Jalaynas, der blass und kaltschweißig neben ihnen im Gras lag. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick wieder das Bewusstsein verlieren. Aus ihrem Bündel förderte sie einen Wasserschlauch und das Fläschchen mit dem schmerzstillenden Mittel hervor und begann Jalaynas davon etwas einzuflössen. Der Junge verzog angewidert das Gesicht, aber sein Blick klärte sich etwas und er schien wieder richtig zu sich zu kommen. „Könnte mir auch etwas Schöneres vorstellen, “ stimmte ihr Taevul zu, „Aber ich glaube, der Aufstieg hat sich gelohnt, seht doch nur.“

Sollthana und Melynas mussten ihm recht geben, als sie aufstanden und sich umsahen. Hoch oben, weit über dem Fluss und den Wäldern waren sie nun, meilenweit konnte man über die grünen Wipfel in die Ferne blicken, fast wie der Ausblick aus ihrem Turmzimmer in Aradoj kam es Sollthana vor, nur noch atemberaubender. Sie schienen sich auf einem Hochplateau zu befinden, wie das Mädchen feststellte, als sie sich nun umwandte, eine weite Grasfläche erstreckte sich vor ihnen und in der Ferne konnte man einige schwarze Pünktchen ausmachen, die sich immer schneller auf sie zubewegten. „Ich glaube, da kommen deine Freunde bereits, Jalaynas“, sagte Taevul und sah nun etwas nervös aus, immerhin trug er noch die Uniform eines smaranskischen Soldaten.

Jalaynas setzte sich vorsichtig etwas auf und sein eingefallenes, zerschundenes Gesicht begann vor Freude zu leuchten: „Ja, da kommen sie.“ Er sah erst zu Taevul und dann zu Sollthana und Melynas auf und fügte leise hinzu: „Und das habe ich nur euch zu verdanken, das ist mir jetzt erst richtig klar geworden. Vor allem dir Sollthana, die du es auf dich genommen hast, in die Schattenwelt hinabzusteigen. Ich bitte dich, verzeih mir mein Benehmen dort, es war dumm und selbstsüchtig“ „Schon gut“, murmelte Sollthana verlegen und dann waren die ersten der Rebellen bereits bei ihnen.

Ein furchteinflößender Anblick waren sie, die etwa 30 Männer, gekleidet in Leder, mit langen Haaren und wilden Bärten, die meisten mit einem Schwert oder einer Lanze in der Hand. Sollthana blieb fast das Herz stehen vor Schreck, so sehr erinnerte sie der wilde Haufen an ihre Begegnung mit den Wegelagerern und sie wich unwillkürlich einen Schritt Richtung Abgrund zurück. Auch Taevul war bleich geworden, nicht ganz ohne Grund, wie sich herausstellte, denn besonders auf ihn fixierten sich die wütenden Blicke der Männer und ganz besonders der ihres Anführers, eines hünenhaften Mannes mit rabenschwarzem Haar und Bart, der sofort auf den Wachmann los ging, ihn vorne an seinem Uniformhemd packte und ihm bedrohlich mit seinem Schwert vor der Nase herumfuchtelte „Was hast du hier verloren, du verfluchter Schwarzrock, du Mörder, du Ausgeburt eines Dämonen…und wo ist der Rest von deinen Spießgesellen? Bist ja wohl nicht alleine hier? Wie hast du überhaupt hierher gefunden? Los, rede schon, oder soll ich ein bisschen nachhelfen?“

Er begann den armen Taevul heftig zu schütteln, und Sollthana, die nun ebenfalls von etwa 10 der Rebellen umzingelt war, die ihre Schwerter auf sie gerichtet hielten, konnte nur hoffen, dass Jalaynas schnell für eine Klärung der Dinge sorgte. Melynas der Feigling hatte sich bereits wieder unter ihren Haaren verkrochen, aber sie konnte spüren, wie er vor Angst schlotterte. Man konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses feige Nagetier wirklich einmal zum Kreis der Sieben und damit zu den mächtigsten Männern des ganzen Kontinents gezählt haben sollte. Beunruhigt versuchte Sollthana durch die Wand aus schweigenden Männern, die ihr die Sicht versperrten, einen Blick auf Jalaynas zu erhaschen. Hatte man in dem ganzen Tumult noch gar nicht erkannt, wer er war? Da endlich ließ ein Aufschrei aus der Menge die Männer herumfahren:

„Mahac! Sieh nur, es ist Jalaynas, er ist zurück…sieh nur. sie haben uns Jalaynas zurückgebracht“ Aufgeregtes Gemurmel machte sich breit und die Männer teilten sich, um Mahac, der Taevul endlich losgelassen und angewidert zu Boden gestoßen hatte, den Blick auf die Gestalt am Boden freizugeben. „Jalaynas?“ murmelte der Hüne und alle Kraft und aller Zorn schienen urplötzlich von ihm abzufallen, als er sich nun umwand und den am Boden sitzenden Jungen anstarrte „Nein…das kann doch nicht…“ Als ob ihn nun wirklich das letzte Bisschen seiner Stärke verlassen hätte, sank der große Mann vor seinem Sohn in die Knie und streckte ungläubig die Hand nach ihm aus, um ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen: „ Junge, bist du es wirklich und nicht nur eine Erscheinung, mich zu narren? Ich dachte, diese Bestien haben dich umgebracht, wie sie es noch mit jedem getan haben, der in ihre Hände fiel…Aber was ist mit deinem Gesicht passiert? Was haben sie dir angetan?“

Tränen liefen dem Anführer der Rebellen nun übers Gesicht und verschwanden in seinem verfilzten Bart und auch Jalaynas weinte mittlerweile: „Doch, Vater, ich bin es, ich bin es wirklich. Ich bin zurück. Und bitte, sei so freundlich und hör auf, meine Retter zu misshandeln, sie haben alle sehr viel auf sich genommen, um mich hierher zu bringen. Darf ich dir Taevul, desertierter Wachmann von Lordan, Sollthana, Heilerin auf Wanderschaft und Melynas, Magier in Gestalt einer Ratte vorstellen? Ihnen allen verdanke ich mein Leben und dass ich zu euch zurückkehren durfte“ Der Anführer der Rebellen musterte ungläubig den Soldat in der verhassten Uniform, das junge Mädchen in dem zerschlissenen Kleid und die Ratte auf ihrer Schulter, die vorsichtig den Kopf zwischen ihren langen, roten Haarsträhnen hervorgestreckt hatte und nickte langsam. „Alles, was du willst, Jalaynas, und wenn es Groaks wären, ich würde sie willkommen heißen.“ Mahac strich seinem Sohn noch einmal über den Kopf, dann richtete er sich langsam wieder auf und musterte Taevul, der sich mittlerweile vom Boden aufgerappelt hatte, und dann auch Sollthana und die Ratte sehr eingehend „Ihr habt ihn zurückgebracht,“ sagte er dann leise, „Ihr habt mir meinen Sohn zurückgebracht und das ist alles was zählt. Alles andere könnt ihr mir nachher noch eingehend erklären, doch das kann warten“

Dann stieß er urplötzlich ein animalisches Freudengeheul aus, dass Sollthana heftig zusammenzucken ließ, und in das sofort die übrigen 29 Rebellen mit einfielen. Dann stürmte er zurück zu Jalaynas, hob ihn hoch wie ein kleines Kind und drückte ihn so fest an sich, dass dieser vor Schmerzen aufschrie.“ Das ist ein großer Tag für uns alle.“ brüllte Mahac seinen Männern zu. „Mein Sohn ist zurück, und er ist der Erste, der Lordans Folterkammern entkommen ist. Jalas, Mirwan, lauft voraus zu den Frauen und gebt ihnen Bescheid, lasst sie ein paar Ziegen schlachten und die Weinfässer öffnen, wir haben etwas zu feiern.“ Und wieder umarmte er Jalaynas so heftig, dass dieser nur noch ein gequältes Röcheln von sich geben konnte „Vorsichtig!“ schrie Sollthana alarmiert auf, drängte sich an den Rebellen vorbei, die mittlerweile zwar ihre Schwerter gesenkt hatten, aber immer noch um sie herumstanden und sie neugierig anstarrten, und war mit einem Satz bei Vater und Sohn. „Seht ihr nicht, dass er verletzt ist? Ihr werdet ihn noch erdrücken.“ Mahac löste endlich seine Umarmung ein bisschen und starrte verwundert auf Sollthana hinunter. „Ich sehe schon, du wirst mir wirklich viel zu erzählen haben“, sagte er zu Jalaynas gewand, der immer noch nach Luft schnappte. „Ein Soldat, eine Ratte und eine rothaarige Schönheit mit einer scharfen Zunge – bessere Retter hättest du dir wohl gar nicht aussuchen können, was?“


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Zorans Geschichte




Zorans Geschichte


„Vor vielen Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war, lebte ich mit meinen Eltern und meiner Schwester Alany in Sarkanda, der Hauptstadt dieses Reiches. Mein Vater Verlun war Goldschmied und besaß eine kleine, aber gut gehende Werkstatt, die uns ein sorgenfreies Leben und Alany und mir den Besuch einer Schule ermöglichte, was für die Kinder eines Handwerkers eher die Ausnahme war. Wir beide, besonders jedoch meine Schwester, waren sehr lernbegierig und enttäuschten die Erwartungen unserer Eltern nicht. Diese Schule, die Akademie des Goldenen Zeitalters, war Sarkandas älteste und beste Schule und nur viel Gold hatte es uns ermöglicht, hier zwischen den Kindern von Adeligen und reichen Kaufleuten lernen zu dürfen. Wie schon erwähnt, übertraf meine Schwester Alany mich noch, was Lerneifer und Wissbegierde betraf und bald war sie der Liebling aller Lehrer an der Akademie. Doch auch wenn ich in ihrem Schatten stand, ich neidete ihr ihren Erfolg nicht, liebte und achtete ich sie doch sehr.

Dann kam der Tag, an dem sie mit vor Freude glänzenden Augen und geröteten Wangen zu mir kam und mir erzählte, dass man durch Zufall die Begabung bei ihr entdeckt hätte und Meister Meholan, der Leiter der Akademie, ihr angeboten habe, sie zur Magierin ausbilden zu lassen. Du musst wissen, im Gegensatz zu anderen Reichen hatte man in Smaranska die Magie nie ganz verboten, doch auch hier war es nichts Alltägliches mehr. Sicher hast du davon gehört, wie mächtig die alten smaranskischen Magier in der Zeit der Eroberungsfeldzüge und während ihrer Herrschaft über den westlichen Kontinent waren, doch während der Rückeroberungskriege waren fast alle der Großen Magier umgekommen und seit diesem Zeitpunkt war es vorbei mit der großen Tradition der Magier in Smaranska, es mangelte einfach an erfahrenen Lehrern, die magischen Nachwuchs hätten ausbilden können. Auch den berühmten Kreis der Sieben gab es nicht mehr.

Ich wunderte mich also sehr, als Alany mir erzählte, dass sie zur Magierin ausgebildet werden sollte, denn wer sollte ihr Lehrmeister sein? Sie konnte oder wollte mir diese Frage nicht beantworten und es verletzte mich sehr, dass sie in der folgenden Zeit nur noch wenig Zeit mit mir verbrachte und jegliche Fragen nach ihrem Tun abblockte. Sie nahm nun nicht mehr am regulären Unterricht teil, sondern ging jeden Tag in den Westflügel der Schule, der für uns andere gesperrt war. Meinen Eltern gefiel diese Entwicklung ebenso wenig, aber sie schwiegen, und ich sah, dass sie Angst hatten, Angst vor ihrer eigenen Tochter und den Leuten, die nun ihre neuen Lehrmeister waren.

Alany verbrachte immer weniger Zeit in unserem Elternhaus und die Veränderung, die mit ihr vorging, schmerzte uns sehr, meine Eltern und mich. War sie vorher ein freundliches, bescheidenes Mädchen gewesen, so erschien sie nun aufbrausend, rechthaberisch und jähzornig. Stück für Stück hatte ich mir im Verlauf der Monate und Jahre einiges zusammengereimt, manche Dinge hatte man hinter vorgehaltener Hand zugeraunt bekommen, andere sich selbst dazugedacht. Du weißt vielleicht, dass es in dieser Zeit im Jahre des Oruon zu einem Machtwechsel in Smaranska kam. Der alte König war gütig und friedliebend, aber in den Augen vieler smaranskischer Adeliger zu schwach. Viele träumten noch immer davon, dass Smaranska zu neuer stärke finden sollte und als sein Sohn, Hannarek, den Thron bestieg, erfüllten sich ihre Hoffnungen auf einen starken Regenten, der smaranskische Interessen besser vertreten und dem Adel zu neuen Ansehen verhelfen würde. Und wirklich, es war Hannarek, der endlich wieder eine Armee aufbaute, der Zölle und steuern einführen ließ und das wirtschaftliche Leben im Lande ankurbelte.

Es war, als sei Smaranska aus einem langen, trägen Nachmittagsschlaf erwacht, plötzlich gab es bewaffnete Einheiten, die durch die Strassen von Sarkanda patrouillierten und für Recht und Ordnung sorgten, plötzlich war überall Sägen und Hämmern zu hören, als die alten Paläste renoviert und neue, prächtige Gebäude errichtet wurden. Jeder schien von dieser Aufbruchsstimmung angesteckt zu sein und mithelfen zu wollen, Smaranska wieder in ein blühendes Reich zu verwandeln. Doch wer war es gewesen, der in unserem Reich vor langer Zeit am meisten bewirkt hatte? Wer hatte den halben Kontinent für uns erobert und über 5oo Jahre beherrscht, wer hatte den damaligen Smaranskern ein Leben ermöglicht, so prunkvoll und sorgenfrei, dass heutige Adelige nur davon träumen konnten? Richtig, es waren die Magier gewesen und Hannarek hatte erkannt, dass er unbedingt wieder Zauberkundige brauchte, wenn er seine Ziele erreichen wollte….“

„…und so holte er Sherlys Altoys an seinen Hof und überredete ihn, sein Wissen an einige Begünstigte weiterzugeben, “ ergänzte Sollthana. Zoran blickte erstaunt auf: „Woher weißt du das?“ „Das erklär ich dir später, erzähl ruhig weiter.“ Zoran schüttelte den Kopf und seufzte: „Also gut. Aber ich habe das Gefühl, nachher wirst du mir auch eine sehr lange Geschichte erzählen müssen und mit dem Schlaf wird es vorerst nichts werden. Möchtest du etwas Wein? Feona sammelt wilde Kräuter, die sie hineinmischt und die verhindern sollen, dass man müde wird.“ „Das wäre gar nicht so schlecht“, antwortete Sollthana lächelnd.

Als jeder einen Becher von dem wach haltenden Getränk in der Hand hielt und Sollthana sich wieder in ihre Felle gewickelt hatte, nahm Zoran seine Geschichte wieder auf: „ Tatsächlich unterrichtete Sherlys außer meiner Schwester noch 9 weitere Zauberschüler im Westflügel der Akademie des Wissens. Sie alle unterlagen strenger Geheimhaltung dieses Unternehmens, aber einige Informationen waren dennoch nach außen gesickert und um diese spärlichen Brocken rankten sich bald die abenteuerlichsten Gerüchte. Das heißt, damals erschienen sie mir abenteuerlich, doch im Gegensatz zur Wirklichkeit, die sich bald offenbaren sollte, waren sie noch harmlos.

Als Alany unser Elternhaus verließ, war sie gerade 14 Jahre alt und ich war 12. Sie sagte uns, dass sie von nun an Tag und Nacht ihrer Ausbildung widmen müsse, wünschte uns Lebewohl und ging, ohne auch nur ein Kleidungsstück oder eine persönliche Erinnerung mitzunehmen. „Was haben sie nur mit ihr gemacht?“ Meine Mutter weinte bitterlich und mein Vater sah zornig und enttäuscht aus, aber er schwieg und am nächsten Tag waren alle Dinge, die Alany gehört hatten oder an sie erinnerten, verschwunden. Von nun an war es eine unausgesprochene Regel, dass Alanys Name in diesem Haus nicht mehr erwähnt wurde und mit der Zeit wurde die Erinnerung an sie immer blasser.
In diesem Jahr war es auch, dass König Hannarek verkünden ließ, dass man gegen Prahatien zu Felde ziehe und dass Smaranska scheiterte und sich zurückzog, um seine Wunden zu lecken….vom Einsatz der Groaks erfuhr man offiziell nichts, aber es gab natürlich Gerüchte, die mir damals unglaublich erschienen. Warum sollte Hannarek sich Dämonen ins Land holen, die so schwer zu kontrollieren waren? Was erhoffte er sich davon? Doch hatte ich nicht viel Zeit darüber nachzugrübeln, plagten mich doch zu dieser Zeit ganz andere Sorgen.

Seit diesem Angriff auf Prahatien wurde Smaranska geächtet und der Handel mit den Nachbarländern war praktisch zum erliegen gekommen, was Auswirkungen auf uns alle hatte. Der König brauchte weiter Geld, um die Armee zu unterstützen und seine Paläste weiterzubauen und er bekam es, indem er die Steuern noch weiter erhöhte. Das führte natürlich zu Unzufriedenheit bei der ohnehin immer ärmer werdenden Landbevölkerung und bei den Händlern. Auch mein Vater konnte ohne Goldlieferungen aus Messenien und den catanischen Inseln sein Gewerbe nicht länger ausüben und musste die Werkstatt schließlich aufgeben.

Für mich bedeutete es, dass ich die Akademie des Wissens vorzeitig und ohne Abschluss verlassen musste. 2 Jahre hätten mir noch gefehlt, dann hätten mir alle Türen aufgestanden, ein Gelehrter hätte ich werden können, ein Richter vielleicht oder ein Astronom. Doch so blieb mir nur die Armee, denn wer hätte einen fast 15-jährigen noch als Lehrjungen genommen? Wie so vielen blieb mir keine andere Möglichkeit, doch jung wie ich war, trauerte ich meinem Schicksal nicht lange hinterher, sondern stürzte mich mit Feuereifer auf meine neue Aufgabe.
Wie sich herausstellte, war ich trotz des langen Aufenthalts in Lehrstuben und Bibliotheken ein guter Schwertkämpfer, und als im ersten Jahr meines Soldatenlebens meine Mutter von uns ging und kurz darauf auch mein Vater verstarb, da wurde die Armee mir zum Familienersatz und Lebensinhalt. Da gab es einen Hauptmann, dessen Einheit ich bald unterstellt wurde, den bewunderte und liebte ich bald wie einen großen Bruder, Mahac war sein Name, ein großer, gut aussehender Mann, mit schwarzen Haaren, blauen Augen und der Nase eines Adlers. Ja, du kannst dir nicht ausmalen, was für ein stattlicher Bursche Mahac in seiner Jugend war, die Frauen lagen ihm zu Füßen und alle Jungs aus unserer Einheit wären für ihn durchs Feuer gegangen.

Als ich etwa 2 Jahre bei der Armee gedient hatte, ließ mich Mahac eines Nachmittags zu sich rufen und erzählte mir, dass er den Befehl erhalten hätte, mich in den Palast zu bringen, da die Dame Alany Odely mich zu sehen wünschte. Du kannst dir vorstellen, meine Gefühle bei dieser Nachricht waren sehr gemischt. 5 Jahre hatte ich kein Lebenszeichen von meiner Schwester erhalten, nur gehört hatte ich, dass sie nun eine mächtige Magierin und eine von König Hannareks engsten Beraterinnen sein sollte. Was konnte sie nun so plötzlich von mir wollen?

Mahac und ich betraten den Königspalast zum ersten Mal und hatte ich doch schon viel gehört von seinem Prunk und seiner Herrlichkeit, so verschlug es mir doch ebenso wie meinem Freund den Atem. Die hohen Hallen und endlosen Korridore, die Säulen aus Silber stützten, die kostbaren Wandgemälde, die Smaranskas ruhmreiche Vergangenheit zeigten, bewacht von Wachen in schwarzen Uniformen, die ein silbernes Ornament auf die Brust gestickt hatten, das alles beeindruckte mich maßlos. Innenhöfe, so ausgedehnt, dass künstliche Seen und Wasserfälle darin Platz fanden, umgeben von einer unglaublichen Blumenpracht, wechselten mit Plätzen, auf denen man Statuen von längst verstorbenen Kriegern und Königen fand und solchen, auf denen Theater oder Musikaufführungen stattfinden konnten.

Wir trafen auf Alany in einem Besuchszimmer, wo sie uns bereits erwartete, wie eine Königin thronte sie auf einem rot gepolsterten Sessel, umgeben von weiteren Magiern und einer Schar von Dienern und Ratgebern. Schön war sie und doch kalt, wie eine sternenfunkelnde Winternacht und meine anfängliche Freude, sie wiederzusehen, schwand dahin, als ich in ihre Augen blickten, ebenso kalt und unerbittlich wie alles andere an ihr. Mahac schien das jedoch nicht zu bemerken, mit offenem Mund starrte er sie an, so hingerissen war er von ihr, tatsächlich war er ihr vom ersten Augenblick an verfallen.

Um es abzukürzen, Alany hatte nicht aus irgendwelchen verwandtschaftlichen Gefühlen heraus dieses Treffen anberaumt, sie verfolgte ganz klare Ziele und wollte als Sherlys Stellvertreterin einen besseren Kontakt zur Armee herstellen, um diese für ihre Zwecke einzubinden, ich als ihr Bruder sollte dabei von Nutzen sein.

Ebenso wie sie, blieb ich kühl und sachlich und nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten kamen wir schnell zum eigentlichen Thema.
Auch das, was an diesem Tag zwischen uns versprochen und verhandelt wurde, will ich hier abkürzen, aber von diesem Tag an suchte Mahac die Magierin fast täglich im Palast auf und nach Ablauf von nicht einmal 2 Monaten erhielt er plötzlich den Oberbefehl über die smaranskischen Truppen.“

„Aber wie war das möglich? Er war doch nur ein junger Hauptmann.“ „Möglich ist alles, wenn die Angst regiert. Ich weiß nicht, was man Ewin Gollard, dem vorherigen Oberbefehlshaber gesagt oder mit was man ihm gedroht hatte, aber er trat, wie er sagte, aus gesundheitlichen Gründen zurück. Dass man alle Hierarchien umging und Mahac, einen unbekannten, kleinen Hauptmann und nicht jemand mit einem höheren Rang und mehr Erfahrung zu seinem Nachfolger wählte, nun, es war niemand da, der Einspruch erhob, seit bekannt geworden war, dass Mahac bei der Magierin ein und aus ging.

Noch einmal ein paar Monate später ehelichte Mahac meine Schwester, die Magierin und wurde damit zu meinem Schwager. Zusammen besaßen sie nun unglaublich viel Macht, nur noch der König und der Magier Sherlys, sowie dessen Gefährtin Latara standen über ihnen, doch auch wenn er es nicht bemerkte, Mahac war nur ein Spielball in Alanys Händen.

Ich selber war inzwischen zum Hauptmann ernannt worden und nicht oft in Sarkanda, sondern häufig auf langweile Grenzposten abkommandiert, zweifellos, um mich aus dem Weg zu haben, denn Alany wusste, dass ich ihr und ihren Plänen misstraute und oft versucht hatte, Mahac ins Gewissen zu reden. Obwohl auf so abgelegenen Posten festsitzend, hörte ich doch eine Menge in dieser Zeit und vieles davon ließ mich ahnen, das ich recht gehabt hatte mit meinen Vermutungen und Mahac meiner Schwester nur zur Ausführung ihrer abscheulichen Pläne diente.

Da waren Geschichten von Soldaten in schwarzen Uniformen, die Dörfer und Höfe abbrannten und wehrlose Bauern ermordeten, weil diese die Steuer nicht mehr aufbringen konnten. Gerüchte, dass die lange unbewohnt gewesene Burg Lordan zu ihrem Hauptquartier umfunktioniert worden war, wurden hinter vorgehaltener Hand ausgetauscht. Zum ersten Mal hörte ich auch von der Existenz des Halbdämons und seiner Mutter, der Magierin Latara, die Sherlys ins Land gebracht hatte.

Drei Söhne hatte Alany inzwischen geboren, doch auch die Mutterschaft brachte nichts von ihrem alten Wesen zurück, die Kleinen wurden von Kindermädchen und Dienern betreut und durften den Palast nie verlassen.
Bei einem meiner seltenen Besuche in der Hauptstadt fand ich einen erschöpft und krank aussehenden Mahac vor. Ich hatte ihn in seinen privaten Gemächern im Palast aufgesucht, aber er wirkte nervös und angespannt, sprang während unseres Gespräches ständig auf und kontrollierte Türen und Fenster und schließlich überredete er mich, einen Spaziergang durch den weitläufigen Park des Palastes zu unternehmen, da er sich selbst in seinen eigenen Räumen nicht sicher vor Lauschern und Denunzianten fühlte

„Nur noch ein paar Monate und die große Rückeroberung soll beginnen,“ vertraute er mir an, als wir uns außer Sicht und Hörweite des Palastes befanden „Jeder, der ein Schwert heben kann, wird in den Krieg geschickt werden und der Halbdämon wird seine Brüder, die Groaks in den Kampf führen, mit Unterstützung der Magier.“ „Gegen wen sollen wir den Krieg führen, Mahac?“ fragte ich erstaunt. Diese Information war zu uns unbedeutenden Hauptleuten noch nicht durchgesickert. „Gegen Prahatien?“ „Prahatien? Prahatien ist erst der Anfang. Alle ehemals besetzten Gebiete wollen sie zurückerobern, den halben Kontinent in Schutt und Asche legen und eine Herrschaft des Schreckens, geführt von Magiern und Dämonen, soll die nächsten 500 Jahre die westliche Welt regieren.“ „Was ist das für ein Unfug? Die Welt hat sich gewandelt seit König Roj und wir werden es nicht mit ein paar umherziehenden Nomaden und Ziegenhirten, sondern dutzenden, gut ausgebildete Armeen zu tun haben. Da werden ein paar Groaks auch nicht den Sieg für uns davontragen.“

Mahac stöhnte und barg das Gesicht in den Händen. „Zoran, du warst lange nicht hier und weißt nicht, was Alany und ihre Magierfreunde in deiner Abwesenheit erreicht haben, ihre Macht ist noch gewachsen und es sind nicht nur ein paar Groaks, die ihnen dienen, es ist eine Armee, eine Armee der Albträume und Sherlys, der Halbdämon wird sie führen. Noch ein Kind ist er, nach Menschenjahren gerechnet, doch unterstützt von den Magiern und mit der Gabe ausgestattet, sich jederzeit in einen Dämon zu verwandeln und mit seinen wilden Artgenossen zu kommunizieren, scheint es diesmal zu funktionieren.

Was sollen die anderen Reiche schon dagegenhalten? Der Kreis der 7 ist lange zerschlagen, die letzten Mitglieder dieser Organisation hier in Sarkanda ermordet worden, und die Menschen ahnungslos, was sie erwartet. Was sollen wir nur tun?“ „Willst du denn etwas dagegen tun?“ fragte ich verwundert. „Was ist mit Alany und deinen Kindern? Gilt deine Loyalität nicht ihnen und deinem Land?“
„Alany? Ach, Zoran, meine Frau trägt ihre Schönheit wie eine Maske, das habe ich nun auch endlich bemerkt, doch darunter ist sie verdorben wie fauliges Obst. Sie will Macht, immer mehr Macht und dafür geht sie über Leichen und würde auch mich und die Kinder dafür opfern, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Bei Charis, kannst du dir vorstellen, was sie vorhat, mit ihrem eigen Fleisch und Blut? Ich weiß, dass sie immer gehofft hat, bei Rowlan und Malakis die Begabung zu entdecken. Jalaynas ist noch zu klein, um wirklich sicher sagen zu können, ob nicht doch ein Magier in ihm schlummert, aber bei den beiden Großen ist sie nun sicher, dass sie völlig normal und ohne die Gabe sind, also hat sie beschlossen, sie für ein Experiment freizugeben..“

Mahacs Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern und auch ich spürte die Angst wie einen kalten Finger über meinen Rücken streifen. „Was für ein Experiment?“ brachte ich mühsam heraus. Mahac sah mich an und in seinen Augen stand das blanke Entsetzten. „Sie wollen herausfinden, ob nicht auch normal Sterbliche in Halbgroaks verwandelt werden können. Seit der Erschaffung des Halbdämonen Sherlys ist es der Magierin Latara, die ihre ganze Kraft und Energie in dieses Projekt gesteckt hat, nie wieder gelungen, ein Geschöpf wie ihn heranzuziehen .Oh ja, er bekam noch ein paar Geschwisterchen, die wie er drei Elternteile hatten, aber keines kam über die ersten Lebenstage oder Wochen hinaus, Charis sei Dank. Nun aber wollen sie mir meine Söhne nehmen und sie in gefühllose Bestien verwandeln, ich weiß nicht, was für ein Hexenwerk dafür nötig ist und ich will es auch gar nicht wissen. Ich will sie nur davor bewahren und wenn ich dafür diese ganze verfluchte Bande von Magiern umbringen muss.“

Ich überlegte eine Weile, aber eigentlich stand meine Entscheidung schon von vornherein fest. Mahac und meine Neffen waren das einzige, was ich an Familie aufweisen konnte und obwohl ich Smaranska immer meine Heimat genannt hatte, missfiel mir die Entwicklung der Dinge doch schon seit längerem und die Aussicht auf eine Teilnahme an einem Feldzug, Seite an Seite mit den Groaks gefiel mir noch viel weniger„Ich schätze, es wird schwierig werden, mein Freund,“ sagte ich schließlich zu Mahac. „ Ich werde dir helfen, aber wir werden mit List und Tücke vorgehen müssen, denn mit Gewalt ist Alany und ihren Freunden nicht beizukommen.“
Das sah Mahac schließlich auch ein und die nächsten Tage verbrachten wir damit, die Entführung meiner Neffen und unsere eigene Flucht vorzubereiten. Wir wollten Smaranska verlassen und weit fort gehen, nach Messenien oder auf die catanischen Inseln, und dort ein neues Leben beginnen, doch kam schließlich alles ganz anders.“


Zoran schwieg erschöpft und nahm noch einen Schluck aus seinem Weinbecher. Sollthana aber war längst nicht mehr schläfrig, ob es nun an dem Wein oder Zoran`s Geschichte lag, sie war hellwach und voller Aufregung.
„Mahac war also einst der Anführer der smaranskischen Armee und Jalaynas Mutter eine Magierin….warum habe ich ihren Namen noch nie gehört, wenn sie doch so mächtig war?“ „Weil nie etwas davon außerhalb Smaranskas bekannt wurde. Die Länder des Westens sind bis heute ahnungslos, welches Schicksal sie fast erwartet hätte und vielleicht schon bald wieder drohen wird“ antwortete Zoran müde. Sollthana musterte ihn aufmerksam: „Aber der Angriff der Dämonen hat nicht stattgefunden und mindestens 1 der mächtigen Magier, die den verheerenden Feldzug hätte anführen können, ist tot. Nun erzähl schon, wie kam es dazu, wenn Mahac und du doch fliehen wolltet?“

Zoran seufzte: „Ich hatte unsere Flucht sehr sorgfältig geplant. An diesem Tag fand eine Konferenz statt, auf der die Magier zu den Anführern der Armee sprechen und sie über den Einsatz der Groaks informieren sollten, Alany und die anderen Magier würden also sehr beschäftigt sein und das wollte ich für unsere Zwecke nutzen. Mahac und ich sollten ebenfalls anwesend sein, aber während er als der Oberste Heerführer den Saal kaum hätte unbemerkt verlassen können, hatte ich vor, mich davonzustehlen, die Kinder aus dem Palast zu holen und unerkannt aus der Stadt zu bringen. Nach der Konferenz sollte Mahac zu uns stoßen, dann wollten wir so schnell wie möglich Richtung Süden und das Land verlassen. Dem Dienstpersonal wollte ich erzählen, dass Alany selbst die Kinder zu sich gerufen habe, damit sie keinen Verdacht schöpfen würden, wenn ich die Kleinen holen kam. Wenn wir Glück hatten, würde Alany erst am nächsten Morgen erfahren, dass wir geflüchtet waren, es war damit zu rechnen, dass sie auch die ganze Nacht über mit Besprechungen und Beratungen beschäftigt bleiben würde. Alles Mögliche hatte ich in meinem Plan bedacht, selbst die Möglichkeit, Alanys Dienstpersonal zu ermorden, sollten sie sich mir in den Weg stellen, in Betracht gezogen. Doch etwas war mir entgangen und zwar, dass meine drei Neffen keine erwachsenen Männer waren, die vernünftig handeln und sich an alle meine Anweisungen halten würden, sondern eben das, was sie waren, kleine Kinder in Alter von 2,4 und 5 Jahren.

Als ich die drei an diesem Tag wie geplant abholte, tobten die beiden Älteren, Rowlan und Malakis, wie 2 kleine Wirbelstürme durch den ganzen Palast und das gestresste Kindermädchen schien meiner Geschichte, dass ich die Kinder zu Alany bringen sollte, nur allzu gern Glauben zu schenken. Ich nahm Jalaynas, der still in einer Ecke gesessen und mit seinen Bauklötzen gespielt hatte auf den Arm und befahl den anderen beiden, mit mir zu kommen. „Wo gehen wir hin, Onkel Zoran?“ fragte Malakis, der Älteste, als wir auf der Straße standen. „Ich bringe euch zu eurem Vater“, antwortete ich knapp und war der Meinung, die beiden würden mir nun brav folgen, aber ehe ich es mich versah, waren die beiden Wildfange dabei, in verschiedene Richtungen auszuschwärmen und allerlei Unfug anzustellen.

Völlig außer Rand und Band waren sie, was nicht verwunderte bei ihrer langen Gefangenschaft im Palast, aber nicht gerade nützlich, wenn man sich auf der Flucht befand. Ich zerrte Rowlan vom Stand eines Obsthändlers weg, wo er bereits die kunstvoll aufgetürmte Pyramide aus Sukiäpfeln zu Fall gebracht hatte und hielt dann Ausschau nach Malakis, der wild johlend einigen Straßenhunden hinterhergelaufen war. Dabei konnte ich einige saftige Flüche nicht unterdrücken. Kaum war es mir gelungen Malakis einzufangen, hatte ich auch schon wieder seinen Bruder aus den Augen verloren und so ging es hin und her, es gelang mir einfach nicht, die beiden Rangen unter Kontrolle zu kriegen und allmählich erregten wir Aufmerksamkeit. Um es kurz zu machen, noch bevor wir das Stadttor erreicht hatten, wurden wir von einem Trupp patrouillierender Soldaten angehalten und nach unseren Berechtigungspapieren gefragt.“

„Berechtigungspapiere?“ Sollthana schüttelte verwundert den Kopf. „Was soll das sein?“ „Eigentlich war es nur ein Stück Papier, auf dem Name, Beruf und Wohnort der betreffenden Person vermerkt waren“, antwortete Zoran. „ Seit als Antwort auf Hannareks Säuberungsaktionen immer mehr Menschen in die Berge und Wälder geflüchtet waren und sich dort versteckt hielten, waren diese Papiere eingeführt worden, um zu gewährleisten, dass sich niemand in der Stadt aufhielt, der zu den Abtrünnigen und angeblichen Verbrechern gehörte. Um solch ein Papier zu erhalten, musste man nämlich einen Antrag beim Stadtbüttel stellen und Wohnort und Tätigkeit nachweisen können oder, bei einem Besuch in Sarkanda, zumindest eine besiegelte Urkunde des Dorfältesten mitbringen, die bescheinigte, dass man wirklich derjenige war, für den man sich ausgab. Wurde man ohne Berechtigungspapier angetroffen, konnte das einen Verweis aus der Stadt oder sogar eine Kerkerhaft nach sich ziehen. Und als ich nun von der Patroullie nach meinen Papieren gefragt wurde, ging mir mein 2. großer Fehler auf: Ich hatte nicht daran gedacht, dass die Kinder normalerweise in den Papieren ihrer Eltern aufgeführt wurden. In meiner Berechtigung stand nur, dass ich ein lediger, kinderloser Hauptmann der smaranskischen Armee sei und als der Anführer der Patroullie nach den leiblichen Eltern der 3 Jungen fragte, hatte ich nicht nur keine passende Antwort parat,, sondern alsbald auch ein noch größeres Problem, als Rowlan, der ausgelassen um uns herumsprang fröhlich verkündete.

„Alany, die Magierin, ist unsere Mutter, aber Onkel Zoran will uns zu unserem Vater bringen.“ „Zu eurem Vater?“ fragte der Soldat misstrauisch. „Aber der Oberste Befehlshaber befindet sich in diesem Augenblick in der Konferenzhalle, zusammen mit der Magierin Alany Odely.“ Andraic verstummte kurz und schenkte Sollthana ein mattes Lächeln: „Du kannst dir vorstellen, von diesem Moment an war schon alles verloren. Das Misstrauen der Soldaten war zu Recht geweckt und sie bestanden darauf, uns zur Klärung des Sachverhalts zu Alany und Mahac zu bringen. Was hätte ich tun sollen? Im Kampf wäre ich gegen 6 Soldaten hoffnungslos unterlegen gewesen, als einziges wäre mir die Flucht geblieben, aber ich brachte es nicht über mich, die Kinder und auch Mahac einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Und so ließ ich mich widerstandslos in Gewahrsam nehmen und zur Konferenzhalle abführen….“

Wieder schwieg Zoran und goss noch etwas Wein in seinen Becher. Sollthana brannte darauf, das Ende der Geschichte zu hören, aber sie merkte, dass sie ihrem Gefährten etwas Zeit geben musste, bevor er weitererzählen konnte. Ebenfalls schweigend füllte sie ihren eigenen Weinbecher auf, während sie über das nachdachte, was ihr Zoran bis jetzt erzählt hatte und versuchte, das Gehörte mit dem in Einklang zu bringen, was sie bisher über diesen Mann zu wissen geglaubt hatte.

Irgendwann legte Zoran den Arm um sie und zog sie näher zu sich her und sie ließ es geschehen. Ein paar Minuten waren sie so verharrt, immer noch schweigend, da erschien unvermutet Feona am Zelteingang, um sie zu den Festlichkeiten zu rufen. Sie sagte nichts dazu, wie einvernehmlich Zoran und Sollthana auf den weichen Fellen lagen, aber ihr Blick sprach Bände. „Beeilt euch“, trieb sie die beiden zur Eile an. „Alle sind schon am Feuer versammelt und Mahac will eine Rede halten.“ Als sie gegangen war, stieß Zoran einen tiefen Seufzer aus und löste die Umarmung: „Ich schätze, das Ende der Geschichte wird warten müssen und auch, dass du mir sagst, ob du mir verzeihen kannst…“ Sollthana schüttelte resigniert den Kopf: und verdrehte die Augen „Ich war eigentlich der Meinung, dass das schon erfolgt wäre, aber wenn du das noch nicht einmal bemerkt hast, dann weiß ich nicht, was ich noch tun soll.“ Zoran starrte sie verblüfft an und fing dann urplötzlich schallend an zu lachen. „Oh, da würde mir noch einiges einfallen, kleine Heilerin. Aber jetzt lass uns erst einmal das Fest aufsuchen, später werden wir sicher noch genügend Gelegenheit haben, all diese wichtigen Fragen zu klären und die Geschichte zu Ende zu bringen.“

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Verwirrte Gefühle




Verwirrte Gefühle


Endlich senkte sich die Dämmerung über das Hochplateau und im Lager der Rebellen kehrte langsam Ruhe ein.
Sollthana jedenfalls konnte es kaum erwarten, sich in ihre Felle zu kuscheln und zu schlafen, schon beim Abendessen waren ihr fast die Augen zugefallen. Die Traumabwehrübung, die Melynas mit ihr abgehalten hatte, war ein ziemliches Desaster gewesen und Melynas war ziemlich entnervt und gereizt gewesen, hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, sie als absolut untalentiert und unfähig zu bezeichnen.

Später hatte er sich für diesen Ausspruch entschuldigt und zugegeben, dass die Fähigkeit, sich gegen Botschaften eines Magiers, sei es im Wach oder Schlafzustand, abzuschirmen, vielleicht doch nicht ganz so leicht war zu erlernen, wenn man selbst kein ausgebildeter Magier war. Der Rattenmagier hatte ihr einfache Botschaften geschickt, z.B. das Abbild eines Tieres, einer Pflanze oder eines Gegenstandes und dann die Intensität langsam gesteigert, bis Sollthana das Gefühl hatte, von einer wahren Bilderflut überrollt zu werden. Sie hatte sich wirklich angestrengt, aber es war ihr einfach nicht gelungen, sich gegen Melynas Attacken abzuschirmen.

„Ich verstehe es einfach nicht“, lamentierte die Ratte und putzte hektisch an ihren Barthaaren herum. „Immerhin warst du im Reich der Schatten und das hätte gar nicht funktionieren können, wenn du nicht wenigstens ein klitzekleines bisschen magisches Potenzial in dir hättest.“ „Bist du dir da sicher?“ wollte Sollthana erstaunt wissen. „Immerhin hast du mir diese kleine Reise erst ermöglicht, aus eigenem Antrieb hätte ich das schließlich nicht geschafft.“ „Da hast du schon recht, dennoch, ohne Potenzial deinerseits hätte es nicht geklappt-wir hätten z.B. nicht einfach Taevul an deiner Stelle schicken können“ „Aber ich dachte, dass es nur darum gegangen ist, dass ich eine Ausbildung als Heilerin besitze?“ fragte Sollthana stirnrunzelnd.

Der Rattenmagier hörte auf sich zu putzen und bedachte sie mit einem ungnädigen Blick: „Meine liebe Sollthana, ist dir nicht klar, dass alle Heiler wenigstens über ein gewisses magisches Potenzial verfügen müssen, um ihre Kunst überhaupt ausüben zu können? Ich sage nicht, dass sie auch fähig sind, Magier zu werden, aber ganz ohne Potenzial geht es nicht und deswegen kann auch nicht jeder Heiler werden. Wusstest du das wirklich nicht? Hat deine Meisterin dir das alles vorenthalten?“ „Es scheint ganz danach auszusehen“, murmelte Sollthana und starrte auf ihre Hände. „ Warum hat sie mir das nicht erzählt, sondern mich, ganz im Gegenteil, immer vor den Gefahren der Magie gewarnt? Aber wenn ich wirklich über dieses Potenzial verfüge, warum kann ich dann die Träume und Botschaften, die du mir sendest, nicht abwehren?“

„Vielleicht brauchst du einfach mehr Übung. Ich muss gestehen, ich habe selbst zu wenig Erfahrung als Lehrender, also kann es auch sein, dass ich dir für den Anfang viel zu viel abverlangt habe.“ „Hast du nicht eine Schülerin gehabt?“ entgegnete Sollthana gereizt. „Wie war noch ihr Name? Latara?“ „Latara?“ Melynas spie den Namen förmlich aus und peitschte nervös mit dem Schwanz. „Ich glaube, da lassen sich keine Parallelen ziehen, Heilerin, weder was das Potenzial dieser Dame, noch meine Unterrichtserfahrung mit ihr angeht. Lass uns zurück ins Lager gehen und etwas ausruhen, heute Nachmittag ist auch noch Zeit, nochmals eine Übungsstunde abzuhalten.“ Sollthana nickte stumm, zu geknickt war sie über ihr Unvermögen, ihr angebliches magisches Potenzial, von dem sie eben erst erfahren hatte, nun auch anzuwenden. Melynas machte es sich auf ihrer Schulter bequem und schweigend und beide in ihre eigenen Gedanken versunken machten sie sich auf den Weg ins Lager. Dort waren sie auf Andraic und Taevul gestoßen, die von ihrem Gespräch mit Mahac zurückgekehrt waren und hatten im Küchenzelt Feonas köstlichen Wildeintopf genossen, bevor sie sich noch mal zu ihrem Treffpunkt aufmachten, um ungestört zu reden.

Sollthana und Melynas berichteten von ihrem Gespräch mit Jalaynas, und Zoran war sehr erschüttert, als er vernahm, was es wirklich mit Sherlys dämonischer Seite auf sich hatte und wie sehr sein Neffe gelitten haben musste. „Ich schätze, dass dürfen wir Mahac niemals genauer erzählen, sonst stürmt er ganz allein nach Lordan, um sich Sherlys persönlich vorzunehmen, “ meinte er mit schiefem Grinsen. Dann erzählte er rasch von der Unterredung mit Mahac, bei der beschlossen worden war, sobald wie möglich Taevul zusammen mit einer Gruppe der Rebellen in Lannatecs Lager zu entsenden. Danach hatte Melynas die unwillige Sollthana nochmals zu einer Traumabwehrübung überredet, aber viel besser als am Vormittag war es auch nicht gelaufen.


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Beim Abendessen gähnte Sollthana verstohlen vor sich hin und entschuldigte sich so bald wie möglich. Doch als sie sich endlich in ihre Felle gekuschelt hatte, blieb der Schlaf aus, zuviel ging ihr noch durch den Kopf, so dass sie nach einer Weile, in der sie sich unruhig hin und her gewälzt hatte, wieder erhob, sich ihren Umhang überwarf, eine Laterne entzündete und das Zelt verließ. Unschlüssig blieb sie stehen und sah sich um.

Sollte sie zu den Anderen zurückkehren, die sicher noch im Küchenzelt beieinander saßen? Nein, sie wollte lieber noch ein paar Schritte alleine laufen, vielleicht beruhigte sie sich dann und konnte bei ihrer Rückkehr endlich schlafen. Sie nahm die Laterne und schlug den Weg ein, der zu den Felsbrocken führte. Vorsichtig leuchtete sie sich ihren Weg über das Hochplateau und schrak zusammen, als sie die Felsen erreichte und dort eine dunkle Gestalt erblickte. „Sollthana, bis du das?“ Das Mädchen seufzte erleichtert, als sie Zorans Stimme erkannte. „Ja. Was machst du hier? Warum bist du nicht bei den Anderen?“ „Das gleiche könnte ich dich auch fragen, Heilerin. Du wolltest doch eigentlich schlafen, oder?“

Sollthana ließ sich neben Zoran auf dem Felsen nieder und blickte in die weite, sternenfunkelnde Nacht. „Mein Kopf war so voll mit alldem, was ich heute gehört und getan habe, da war es vorbei mit Schlafen.“ „Ja, so ging es mir auch, schmunzelte Zoran. „Ist dir kalt? Du zitterst ja.“ „Nein, nein, es geht schon", behauptete Sollthana, aber sie schauderte erneut im kühler werdenden Wind. Da hatte Zoran bereits seinen Umhang abgenommen und ihn ihr über die Schulter gelegt.

Seine Hände verweilten etwas länger als nötig auf ihren Schultern und die Berührung ließ Sollthana wieder erzittern, doch diesmal nicht vor Kälte, sondern vor plötzlicher Sehnsucht. Sie blickte zu Zoran auf und er erwiderte ihren Blick sehr ernst: „Was machst du nur mit mir, kleine Heilerin? Ich hätte nie gedacht, dass….ach, verdammt.“ Er schüttelte fast zornig den Kopf und Sollthana dachte schon, dass sie ihn irgendwie verärgert hätte, da war Zorans Gesicht plötzlich ganz nah vor ihrem und ihre Lippen trafen sich, zu einem sanften Kuss, der aber schnell leidenschaftlicher wurde, während der Krieger das Mädchen in seine Arme zog. „Sollthana…wie sehr hab ich mir gewünscht, dich so zu halten“, flüsterte Zoran heiser. „Willst du ….Ich meine…“ In diesem Moment schien es so richtig und gut zu sein, dass sie nicht lange überlegen musste.

Sie löste sich kurz aus seiner Umarmung und sah ihm in die Augen. „Ja, ich will, Zoran“, sagte sie mit fester Stimme. Aber ich bitte dich, tu mir nicht weh, Zoran. Missbrauche mein Vertrauen nicht mehr, das musst du mir versprechen.“ „Alles was du willst, und ein Königreich dazu, meine Schöne. Ich werde dich nie mehr verletzen, das schwöre ich bei Charis.“ Und damit zog er Sollthana wieder an sich und die Welt um sie herum wurde bedeutungslos.


In den nächsten beiden Tagen verbrachten die Gefährten zusammen mit Mahac, seinen älteren Söhnen und weiteren Rebellenkriegern viel Zeit damit, die Reise ins Lager der Prahatien, die Taevul zusammen mit Rowlan, Mahacs Ältestem und 3 weiteren Kämpfern antreten sollte, zu planen.
Für Sollthana und Zoran blieb nicht viel Zeit, etwas Zweisamkeit zu geniessen, aber die Blicke, die der Krieger ihr während der Zusammenkünfte zuwarf, sprachen Bände. Die junge Heilerin wurde rot, wenn sie daran dachte, was zwischen ihnen geschehen war und ihre Herz fing jedes Mal schneller an zu klopfen, wenn sie Zoran sah. Sie fragte sich, wie es nun weitergehen würde mit ihnen, die Umstände waren nicht gerade glücklich, um eine feste Beziehung einzugehen. Nicht nur, dass sie am Rande eines Krieges standen, nein, auch ihre 7 Wanderjahre waren noch längst nicht beendet und verboten ihr, sich irgendwo niederzulassen. Sie beschloss bei sich, nicht genauer darüber nachzudenken und ihr neugewonnenes Glück einfach zu geniessen.


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Diesmal endete der Traum nicht vorzeitig.
Anfangs war alles wie in jener Nacht in Lannatecs Lager, als Sollthana Melynas Traumbotschaften empfangen hatte und jenen dritten, unheimlichen Traum empfangen hatte, auch diesmal saß sie in dem Lehnstuhl am fast erloschenen Feuer des Kamins und spürte die Kälte des Steinfußbodens an ihren nackten Füßen. Auch diesmal öffnete sich die Tür und Schritte näherten sich ihr langsam. Wieder spürte sie die Angst und ihre Hände umklammerten die Sessellehnen, bis die Knöchel weiß hervortraten, aber diesmal war sie sich noch bewusster, dass sie träumte, noch dazu eine Wiederholung und sie war fest entschlossen, diesmal den Traum bis zum Ende zu durchleben und die unbekannte Gestalt zu Gesicht zu bekommen.

Als der Traum an der Stelle angelangt war, an der sie den heißen, übelriechenden Atem der Gestalt im Nacken spürte, nahm sie all ihren Mut zusammen und drehte sich um, bereit, jeglichem Schrecken ins Auge zu blicken, doch zu ihrer Überraschung stand kein schreckliches Ungeheuer, kein abgrundtiefhässliches Monster hinter dem Stuhl, sondern ein junger Mann, nur wenige Jahre älter als sie selbst und sichtlich ebenso erstaunt wie Sollthana.

„Wer seid Ihr?“ fragte er und musterte die Heilerin immer noch verwundert. „Und was macht Ihr in meinem Zimmer?“ Seine Stimme klang sanft und melodiös und Sollthana fragte sich, ob diese zierliche, fast zerbrechlich wirkende Gestalt wirklich Besitzer eines so übelriechenden Atems sein konnte. Jetzt, wo er sprach, war davon jedenfalls nichts mehr zu spüren und das Mädchen begann langsam an ihren Sinnesorganen zu verzweifeln. Der Geruch, die schreckliche Angst-alles war wie weggeblasen, nur noch Neugier war geblieben. Aufmerksam musterte sie nun ihrerseits ihr Gegenüber, registrierte das fein geschnittene, edle Gesicht, die etwas schräg stehenden Augen, von einem faszinierendem, intensivem Grün, das weißblonde Haar, das über die Schultern des Jünglings fiel, weiter das kostbare Tuch, aus dem Hemd und Hosen geschneidert waren und den roten Mantel, eines Prinzen würdig.

„Ich bin also in Eurem Zimmer? Das tut mir leid...ich meine, ich war mir nicht bewusst, hierhergekommen zu sein. Das ist nämlich nur ein Traum, müsst Ihr wissen. Mein Traum, also auf jeden Fall denke ich das, aber vielleicht ist es auch ebenso gut Eurer, das kann ich natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen, “ plapperte Sollthana schließlich los, um das Schweigen zu überbrücken. Der junge Mann hatte sich inzwischen auf dem noch freien Lehnstuhl neben ihrem niedergelassen und sich daran gemacht, das Feuer neu zu schüren.

Im Schein der aufflackernden Flammen, die über sein makelloses Gesicht tanzten, wurde Sollthana seine Schönheit erst so richtig bewusst und ihr stockte für einen Moment das Herz. Ein seltsames Begehren regte sich tief in ihrem Inneren, noch klein und schwach, aber bereits stetig wachsend, unerklärlich und verwirrend.

Das Feuer brannte nun richtig und der junge Mann legte bedächtig den Schürhaken beiseite, um sich ihr wieder zuzuwenden. Wie aus dem Nichts hatte er eine Karaffe mit Wein und zwei geschliffene Gläser hervorgezaubert, von denen er ihr nun eines reichte und von dem blutroten Saft einschenkte
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„Ihr sagt also, dass Ihr Euch in einem Traum befindest? Das ist seltsam, denn ich bin sicher, meinerseits völlig wach zu sein. Aber ganz gleich, wollt Ihr mir nicht Euren Namen nennen, da Ihr mir nun schon die Ehre erwiesen habt, von mir und meinem bescheidenen Zuhause zu träumen?“ „Sollthana“, erwiderte die junge Heilerin ohne Nachzudenken. „Mein Name ist Sollthana Lavantey. Und darf ich nun auch den Eurigen erfahren?“ „Natürlich, wie unhöflich von mir. Man nennt mich Sapphar Daywin, zu Euren Diensten.“ „Und wo befinde ich mich hier, Sapphar Daywin?“ fragte Sollthana und nahm einen Schluck von dem schweren, fruchtig schmeckenden Wein. Sapphar schien einen winzigen Moment zu zögern, bevor er ihr antwortete, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.

„Wir sind hier auf meines Vaters Burg, Andwyl, vielleicht habt Ihr schon einmal gehört von diesem Fürstentum?“ Das hatte Sollthana tatsächlich, Andwyl, im Süden Prahatiens gelegen, war berühmt für die Rebsorten, die dort gediehen, ob der Fürst nun einen Sohn hatte oder überhaupt Kinder, das hätte sie nicht mit Bestimmtheit sagen können, aber trotz ihrer Überraschung gab es für sie keinen Grund an Sapphars Worten zu zweifeln.

„Nun, ich weiß nicht, warum ich von euch bereits zum zweiten Mal träume, Sapphar, aber es ist jedenfalls ein recht angenehmer Traum, besonders, da ich den Wein schmecken und die Wärme des Feuers spüren kann.“ Aber die Angst hatte sie doch auch gespürt, beim letzten Mal und dieses Mal wieder, meldete sich eine leise Stimme in ihrem Kopf.

„Ich kann mir das auch nicht erklären“, sagte Sapphar nachdenklich und spielte dabei mit seinem Weinglas. „Aber ich muss sagen, ich freue mich über Euren Besuch, ist es doch oft recht einsam hier und voller Langeweile. Selten auch sah ich bisher solch bezauberndes Geschöpf wie Euch, Sollthana.“ Sapphar sah ihr nun direkt in die Augen und Sollthana merkte, dass sie rot wurde und senkte beschämt den Blick. „Ich freue mich auch, hier zu sein, auch wenn ich das alles nicht verstehe. Wie ist es nur möglich, dass ein Traum so real ist?“

Sapphar lächelte nur und schenkte ihr Wein nach. „Sagen wir es doch einfach so. Manche Dinge kann man einfach nicht erklären, aber man kann sie genießen, meint Ihr nicht auch? Erzählt mir doch ein wenig von Euch, damit wir uns ein bisschen besser kennenlernen.“ „Ja“, sagte Sollthana und trank noch einen Schluck von dem wunderbaren Wein. „Vielleicht beginne ich einfach mal von Anfang an:“

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Sollthana erwachte im Morgengrauen mit einem faden, pelzigen Geschmack im Mund, fast so als hätte sie am Abend vorher zuviel Wein getrunken.
Auch ihr Kopf schmerzte leicht und sie fühlte sich matt und zerschlagen, dabei war sie früh zu Bett gegangen und hatte genug Schlaf bekommen.

Einen Moment lang konnte sie sich das überhaupt nicht erklären, doch dann fielen ihr schlagartig der Traum und die Begegnung mit Sapphar wieder ein und sie fuhr mit einem Ruck im Bett auf. Was hatte sie nur getan? Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, dem Unbekannten von sich zu erzählen? Vor allem, was in Charis Namen hatte sie alles preisgegeben? Der verflixte Wein schien ihre Zunge gelockert und ihre Sinne benebelt zu haben, anders konnte sie es sich nicht erklären, dass sie sich an nichts mehr von dem erinnern konnte, was sie Sapphar erzählt hatte, nachdem er sie aufgefordert hatte von ihr zu berichten und noch einmal Wein nachgegossen hatte. Und wenn sie nun etwas wirklich Wichtiges verraten hatte, die Lage des Lagers etwa? Es war nicht auszudenken.

Sollthana schoss wie von der Tarantel gebissen aus dem Bett und stürzte zum Zeltausgang. Sie musste Melynas davon erzählen, er würde sicher wissen, was zu tun war. Doch im letzten Moment hielt sie inne, nicht nur von der Tatsache zurückgehalten, dass sie nichts trug außer ihrer Haut, sondern plötzlich auch unsicher geworden, ob sie sich Melynas wirklich anvertrauen wollte. Er würde sicher schrecklich wütend werden und was hatte sie damit gewonnen? Ändern oder gar ungeschehen machen konnte er die Geschichte auch nicht, also war es vielleicht besser, das ganze auf sich beruhen zu lassen und einfach erstmal abzuwarten. Vielleicht war das ganze doch nur ein einfacher Traum gewesen und wenn nicht, und sie in einer der nächsten Nächte wirklich wieder in Sapphars Gemächern die Augen aufschlug, nun, diesmal war sie gewappnet und würde sich nicht so leicht von Wein und netten Worten überrumpeln lassen.

Solchermaßen beruhigt kleidete Sollthana sich an und verließ dann das Zelt in der Hoffnung, ihre Gefährten seien zu dieser frühen Stunde bereits ebenfalls auf den Beinen, aber das ganze Lager schien noch in tiefem Schlaf zu liegen und Sollthana zog fröstelnd ihren Umhang enger um die Schultern, als sie den Weg zum Küchenzelt einschlug. Zu ihrer Freude brannte dort bereits ein Feuer und eine Person klapperte geschäftig mit Töpfen und Pfannen, doch diese Freude schlug sogleich in Unbehagen um, als die Frau am Herd sich zu ihr umdrehte und einen Gruß aussprach.

Natürlich, es war Feona, das unermüdliche und arbeitsame Mädchen für alles, wen auch sonst hätte sie hier erwarten können zu einer Uhrzeit, wo andere noch in den tiefsten Träumen lagen? Immer schien sie die letzte zu sein, die sich abends zur Ruhe legte und die erste, die am Morgen ihr Tagwerk begann und in der Zeit dazwischen war sie ununterbrochen in Bewegung und mit irgendeiner Arbeit beschäftigt. Sollthana fragte sich, zu welchem Zeitpunkt die anfängliche Freundlichkeit der Frau ihr gegenüber in diese missbilligende Kühle umgeschlagen war, mit der sie auch jetzt wieder gemustert wurde.

Feona wischte sich die mehlbestaubten Hände an der Schürze ab und wies Sollthana an, am grob behauenen Esstisch Platz zu nehmen, während sie den Morgentee aufbrühte und dann noch ofenwarme Fladen, Wildhonig, Blaubeermus und Ziegenkäse vor Sollthana auftischte. Nachdem auch Teller, Messer und Teebecher ihren Platz gefunden hatten, deutete Feona eine Verbeugung an und wünschte mit spöttischem Lächeln, dass es der tapferen, jungen Heilerin wohl munden möge. Sollthana starrte auf die Speisen vor sich auf dem Tisch, in das Gesicht der älteren Frau, die immer noch neben ihr verharrte, als ob sie sicher war, dass sie Sollthana doch noch eine Reaktion entlocken könne, dann wieder auf ihre Frühstück, welches eben noch so verlockend, doch jetzt nur noch verdorben und mit dem Geruch nach Niedertracht behaftet schien.

Als sie Feona wieder ins Gesicht blickte, sah sie dort unverhohlenen Hass, der sie dazu brachte, aufzuspringen und einige Schritte zwischen sich und ihre Widersacherin zu bringen. “Was wollt ihr von mir, Feona? Mit was habe ich Euren Zorn auf mich gelenkt? Erklärt es mir bitte, damit ich Euch um Verzeihung bitten kann, falls ich, ohne es zu ahnen, irgendetwas falsch gemacht habe.“ Ihre Worte waren mit Bedacht gewählt, ruhig und freundlich gesprochen, aber sie schienen Feona nur noch mehr zu erzürnen. “Du fragst mich wirklich, was du getan hast, du durchtriebenes Biest? Besitzt du wirklich die Dreistigkeit, mir ins Gesicht zu sehen ohne rot zu werden und ach so unschuldig zufragen, warum ich zornig bin? Oh nein, das kann ich dir nicht abkaufen Heilerin, auf keinen Fall.“

„Wovon redet ihr eigentlich Feona? Ich kann euch wirklich nicht folgen, so leid es mir auch tut", antwortete Sollthana, die langsam auch ärgerlich wurde. “Wovon ich rede? Von Zoran rede ich natürlich, du Miststück, und davon, wie du ihn umgarnt und in dein Netz gelockt hast, so dass er alles zu vergessen scheint, was vorher war…“Feonas Stimme brach und sie fing unvermittelt an, heftig zu schluchzen. “Was meint Ihr damit? Was war vorher?“ fragte Sollthana alarmiert.“ Wir waren einander versprochen", brachte die andere Frau zwischen zwei Schluchzern hervor.

“Bevor Zoran aufbrach, an den Königshäusern des Westens Verbündete zu suchen, fragte er mich, ob ich seine Frau werden wolle. So lange Jahre hatte ich mich danach gesehnt, doch nun waren meine Gebete endlich erhört worden…Vorerst war ich wieder allein, hatte mich Zoran doch zurückgelassen, um zuerst diese wichtige Mission zu erfüllen, doch bei seiner Rückkehr sollte unsere Verbindung bekannt gegeben werden. Aber als er dann endlich wieder bei uns war, behandelte er mich, als hätte es dieses Versprechen nie gegeben. Als habe er seine Worte einfach vergessen…“fügte Feona bitter hinzu und ließ sich niedergeschlagen auf eine Holzbank sinken. Als sie zu Sollthana aufblickte, waren ihre Augen noch immer voller Tränen.

“Verstehst du jetzt, Heilerin? Er konnte nur noch an dich denken…zuerst war ich ja noch davon ausgegangen, dass die Erlebnisse und Entbehrungen seiner Reise und die Nachricht von Jalaynas Gefangennahme ihn so verändert hatten, aber dann sah ich euch zusammen…Und ich sah seinen Blick, wenn er auf dir ruhte. So hatte er mich nie angesehen…“ „Aber ich wusste nichts davon, dass Ihr ihm versprochen ward, das müsst Ihr mir glauben, bitte", flüsterte Sollthana beklommen. Es war als hätte eine eisige Hand nach ihrem Herz gegriffen und all das Glück der letzten Tage unerbittlich herausgepresst.

„Verzeiht mir, wenn es Euch so scheinen muss, dass zwischen Zoltan und mir mehr ist als Freundschaft, denn das ist es nicht.“ „Aber er liebt dich, Mädchen", antwortete Feona grimmig. “Das lässt sich nicht leugnen.“ „Aber ich liebe ihn nicht“, fauchte Sollthana. “Ich kann ihm ja nicht einmal vertrauen, ständig lügt er mich an oder verschweigt mir etwas Wichtiges. Nein, bei Charis, da ist nichts zwischen uns, Feona und ich werde das bei Zoran klarstellen und ihm auch sagen, wie verwerflich ich sein Benehmen finde. Ich bin sicher, er wird sein Verhalten noch mal überdenken und sich auf sein Versprechen besinnen. Dann sollte Eurer Vermählung bald nichts mehr im Wege stehen.“ „Danke, Sollthana…ich glaube, ich habe dir Unrecht getan. Möchtest du jetzt vielleicht dein Frühstück?“ fragte Feona schuldbewusst und wies auf die nicht angerührten Speisen auf dem Holztisch. Sollthana schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Nein, lieber nicht. Ich glaube ich muss jetzt erstmal ein bisschen spazieren gehen.“

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Sollthanas Selbstbeherrschung hielt genau so lange vor, wie sie sich noch in Sichtweite von Feona befand, doch kaum hatte sie die schwere Plane vom Eingang des Küchenzeltes hinter sich geschlossen, schossen ihr die Tränen in die Augen und sie hätte vor Wut, Enttäuschung und Frustration am liebsten laut geschrien.
Verdammt, sie hatte sich von Andraics Entschuldigungen und seinen schönen Worten einlullen lassen und hatte zugelassen, dass ihr Herz sich ihm wieder geöffnet hatte, nur um gleich wieder abgrundtief enttäuscht zu werden. Wenn sie an die letzten Nächte dachte und was zwischen ihnen passiert war, wurde ihr heiß und kalt vor Scham. Sie war so dumm, so unglaublich dumm…hatte sich von seinen süßen Worten verführen lassen und sich benommen wie ein Straßenmädchen.

Dieser verlogene Mistkerl, am liebsten hätte sie ihm auf der Stelle die Augen ausgekratzt. Aber nein, sie wollte nicht, dass er sie so sah, sich wegen ihm die Augen ausheulend, auf gar keinen Fall. Blind vor Tränen stürmte sie in ihr Zelt und warf sich auf ihr Lager Was sollte sie nur tun? Sie hatte Feona versprochen, mit Andraic zu reden, aber sie fühlte sich absolut nicht in der Lage dazu, ihm in absehbarer Zeit unter die Augen zu treten.

In diesem Moment hörte sie draußen Schritte und hörte Zoran fröhlich ihren Namen rufen: „Sollthana, bist du schon wach? Kann ich reinkommen?“ „Ah…nein. Nein, komm besser nicht rein. Mir geht es nicht so besonders, ich glaube, ich hab etwas Falsches gegessen.“ rief Sollthana zurück und gab dann noch ein würgendes Geräusch von sich, um dem ganzen Nachdruck zu verleihen. Zoran räusperte sich: „Das tut mir leid. Kann ich irgendetwas für dich tun? Dir etwas bringen?“ „Nein, schon gut. Ich ruh mich nur etwas aus, dann wird es morgen hoffentlich besser sein.“ „In Ordnung...dann Gute Besserung, Sollthana und bis bald.“ „Ja, bis bald Zoran…“ Sollthana hielt die Luft an und lauschte den sich entfernenden Schritten, bevor sie wieder in Tränen ausbrach. „Bis bald…von wegen. Auf Nimmerwiedersehen, Zoran“, flüsterte sie . So verbrachte sie den Vormittag, grübelnd, weinend, bis sie so erschöpft war, dass sie sich in ihre Felle kuschelte und die Augen schloss. Nur ein kurzes Nickerchen, dann würde es ihr bestimmt bessergehen…


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Obwohl die Kulisse diesmal eine andere war, wusste Sollthana sofort, dass sie sich wieder in Sapphars Reich befand. Wie auch in den anderen Träumen, war es Nacht, aber diesmal fand sie sich nicht in dem düsteren Turmzimmer, sondern einem hell erleuchteten Ballsaal wieder. Die Kerzen und Lichter-und es mussten tausende sein-wurden noch verdoppelt durch die mannshohen Spiegel, die in regelmäßigen Abständen die rot-goldenen Wände verzierten. Mehrere doppeltürige Terrassentüren standen weit offen und eine laue Brise bauschte die weißen, bodenlangen Vorhänge.

Sollthana stand in der Mitte des Saales, sah sich staunend um, während sie sich langsam im Kreis drehte, um jede Einzelheit ihrer Umgebung in sich aufzunehmen. Dennoch bemerkte sie Sapphar erst, als er plötzlich hinter ihr stand, als wäre er einfach aus dem Boden gewachsen. “Sollthana-gerade habe ich mir gewünscht, Euch wieder zu sehen und schon seid ihr hier bei mir…“Sollthana drehte sich langsam um und sah den jungen Adeligen an. Seine Schönheit verschlug ihr wiederum den Atem, eine ganze Weile konnte sie einfach nur dastehen und ihn anstarren, bis sie sich wieder gefasst hatte. Was passierte nur mit ihr? Warum zog dieser Mann sie so unglaublich an, obwohl sie bis eben noch geglaubt hatte, Zoran zu lieben? Sie konnte es sich einfach nicht erklären. Sollthana beschloss, in die Offensive zu gehen:

“Seid gegrüßt, Sapphar. Ich habe auch auf ein baldiges Wiedersehen gehofft, denn ich habe das Gefühl, Ihr seid mir ein paar Erklärungen schuldig. Irgendwie kann ich Euch nicht glauben, dass ihr nicht wisst, was es mit diesen Traumbegegnungen auf sich hat. Und was habt Ihr mir bei unserem letzten Treffen in den Wein getan? Wolltet Ihr mir die Zunge lockern? Ich kann mich an nichts von dem, was wir dann gesprochen haben, erinnern.“

Sollthana merkte, wie sie immer wütender wurde, aber Sapphar neigte nur den Kopf und lächelte entwaffnend. „Verzeiht mir Sollthana, es war nicht recht von mir, Euch den schweren Wein meines Heimatlandes anzubieten, ich vermute, ihr habt ihn nicht so gut vertragen….Seid ihr tatsächlich mit schwerem Kopf und mit einem Gefühl von Übelkeit erwacht, als hättet ihr wirklich und wahrhaftig dem Wein übermäßig zugesprochen?“ „Ja, wirklich und wahrhaftig...es war kein Unterschied zu merken. Sapphar, diese Träume sind mir wirklich unheimlich. Ich habe sogar ein paar Mückenstiche aus dem letzten Traum mit hinüber genommen. Aber was habe ich Euch nun erzählt? Bitte, ich muss es wissen.“

Sapphar sah sie verwundert an: „Warum macht ihr Euch solche Sorgen, Sollthana? Ich verstehe ja, dass die Situation Euch etwas seltsam vorkommen muss, aber Ihr braucht Euch nicht zu fürchten. Ihr habt mir keine dunklen Geheimnisse aus eurem Leben verraten, wenn es das ist, was Euch umtreibt. Ich weiß jetzt, dass Ihr eine Heilerin auf Wanderschaft seid und momentan irgendwo in den Wäldern Prahatiens unterwegs seid. Danach haben wir über mich geredet und ich habe Euch erzählt, wie sehr mich das Leben auf meines Vaters Burg manchmal langweilt und wie gern ich der Enge und der Eintönigkeit dieses Daseins manchmal entrinnen würde, worauf Ihr mir vorgeschlagen habt, in das Heereslager des Prinzen Lannatec zu kommen, um sich seinen Kämpfern anzuschließen.“

„Das habe ich getan?“ staunte Sollthana. „Aber warum, ich meine…“ Sapphar sah ihr tief in die Augen und die Heilerin war wie gebannt von der Intensität seines Blickes. „Sollthana, Ihr sagtet mir, dass ihr mich gerne außerhalb der Träume sehen würdet...und ich habe dem zugestimmt. Bereits morgen wollte ich aufbrechen. Ich hoffe, Ihr habt Eure Meinung inzwischen nicht geändert? Das würde mich sehr enttäuschen, denn mittlerweile kann ich an nichts Anderes mehr denken, als an Euch und wie es sein wird, Euch zu berühren…“flüsterte Sapphar, aber noch ehe Sollthana etwas erwidern konnte, schienen die Konturen seiner Gestalt sich aufzulösen und zu verschwimmen, der Raum um sie herum versank in Nebel und schließlich einer allumfassenden Dunkelheit.

Das Mädchen rief erschrocken nach Sapphar, doch es war kein Ton zu hören, die Worte schienen von der Schwärze um sie herum aufgesaugt und verschluckt zu werden und sie merkte, wie Panik und Beklemmung sich in ihre ausbreiteten, doch dann wurde es langsam wieder heller und das nächste, was sie sah, war die tröstlich bekannte Einrichtung ihres Zeltes im Rebellenlager. Sollthana lag unter ihren Fellen und war schweißgebadet, ihr Atem ging stoßweise und Tränen verschleierten ihr die Sicht. Sie befreite sich rasch von der erdrückenden Last der schweren Felle, goss sich einen Becher Wasser ein und stürzte ihn hinunter.


Kein Wunder, dass sie am helllichten Tag so seltsame Träume hatte, sie hatte sich viel zu warm zugedeckt. Dennoch...es ging ihr nicht aus dem Kopf, dass Sapphar sie in Lannatecs Lager treffen wollte, der Mann übte eine Faszination auf sie aus, die sie nicht ganz verstand, der sie aber jetzt, wo Zoran für sie verloren war, nicht ganz abgeneigt war, nachzugeben. Wieder sah sie das schöne Gesicht mit den grünen Augen vor sich, sein Lächeln…Nun, warum sollte sie es nicht wagen?

Im Lager der Rebellen hielt sie nichts mehr, wenn Lannatec ihr verzieh, dass sie ohne Abschied gegangen war, konnte sie wieder bei den Heilern Aufnahme finden und obendrein den geheimnisvollen Sapphar treffen. Dort, mitten unter den Soldaten, konnte sie sich sicher fühlen, auch wenn sich ihre Traumbekanntschaft als nicht vertrauenswürdig entpuppen sollte. Sollthana lächelte und schenkte sich einen Becher Wein ein, bevor sie sich daran machte, ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen.

Als sie ihr Bündel packte, fiel ihr Dame Elethas Buch, sorgfältig verpackt in einer Lederhülle, in die Hände und einen Augenblick überlegte sie, ob sie sich hinsetzten und ein bisschen darin lesen sollte, seit ihrer Abreise aus Aradoj hatte sie keinen Blick mehr hineingeworfen, aber dann zuckte sie doch die Schultern, verstaute es vorsichtig ganz unten in ihrem Bündel und schob dieses vorerst unter ein paar Felle. Bevor sie aufbrach, wollte sie noch zu Jalaynas und falls Jemand in ihrer Abwesenheit das Zelt betrat, sollte er nicht misstrauisch werden, wenn er sah, dass sie gepackt hatte.


Zoran fiel das zusammengerollte Pergament erst am Mittag des folgenden Tages auf. Er hatte sich gewundert, dass Sollthana auch an diesem Tag nicht zum Frühstück erschien, war aber den ganzen Vormittag damit beschäftigt gewesen, mit Mahac zu beraten, so dass er erst, nachdem er Sollthana auch zum Mittagsmahl nicht im Küchenzelt antraf, zu ihrem Zelt ging, um nach ihr zu schauen. Taevul und Melynas begleiteten ihn: „Wann hast du sie denn zuletzt gesehen, Zoran?“ erkundigte sich Melynas besorgt, nachdem er es sich auf seiner Schulter bequem gemacht hatte.

Zoran seufzte genervt. “Ich habe es euch doch schon erzählt, ich habe sie eigentlich seit 2 Tagen nicht mehr gesehen...Gestern haben wir uns nur kurz durch die Zeltwand unterhalten, weil Sollthana, jedenfalls behauptete sie das, unter Übelkeit und Unwohlsein litt und meinte, sie wolle sich ausruhen. Vielleicht hätte ich doch Feodan Bescheid sagen sollen, dass er nach ihr sieht“

In der Zwischenzeit hatten sie Sollthanas Zelt erreicht und Taevul rief laut ihren Namen, aber es kam keine Antwort. „Nun, gehen wir rein, oder?“ meinte Taevul unbehaglich, doch Zoran hatte schon die Plane beiseitegeschlagen und war eingetreten. Taevul folgte ihm rasch ins Innere des Zeltes. Als seine Augen sich etwas an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, stellte er fest, dass Sollthana, wie schon vermutet, nicht da war. Auch ihre wenigen Habseligkeiten schienen verschwunden zu sein.

Zoran kniete neben der Lagerstatt und hatte soeben ein Pergament geglättet und begann zu lesen. Taevul sah, wie der Krieger erst blass, dann rot, dann wieder blass wurde und schließlich mit einem wütenden Aufschrei das Schriftstück von sich warf. „Verdammt, verdammt, verdammt…sie ist weg. Ich fasse es einfach nicht, dieses Miststück...nein, ich meine nicht Sollthana, sondern…ach, lest es doch einfach selbst.“ Zoran griff sich einen Weinkrug, der auf einem Beistelltisch stand, setzte an und trank ihn mit einem Zug leer. Melynas sprang von seiner Schulter auf den Tisch und versuchte vergeblich, mit seinen Pfoten das Pergament wieder zu entrollen. „Los, Taevul, nun mach schon, lies vor", kommandierte er gereizt. Taevul nahm die Schriftrolle und glättete sie vorsichtig, räusperte sich umständlich und begann dann stockend zu Lesen:

„Zoran, wenn du das liest, werde ich hoffentlich schon einige Meilen zwischen dich und mich gebracht haben. Den Grund brauche ich dir wohl nicht zu erklären. Wieder und wieder hast du mein Vertrauen missbraucht, hast mich glauben lassen, dass ich Dein bin, obwohl du bereits versprochen warst.Ich denke, es ist das Beste, wenn ich meiner eigenen Wege gehe und du dich auf dein Versprechen gegenüber Feona besinnst. Jalaynas wird wieder gesund und sonst kann ich hier nichts mehr tun. Ich habe keine magischen Fähigkeiten, auch wenn Melynas das zu denken scheint und ich würde euch auch als Kämpferin nicht viel Nutzen bringen. Übermittle bitte deiner Familie meinen Dank für die Gastfreundschaft und grüße Taevul und Melynas, ich wünsche ihnen alles Gute und dass sie das erreichen, was sie ersehnen. Auch dir wünsche ich eine glückliche Zukunft, Zoran, ich werde dich nie vergessen, obgleich diese Erinnerung mich immer traurig stimmen wird. Leb wohl Sollthana“


Taevul ließ langsam die Schriftrolle sinken und wechselte einen ungläubigen Blick mit Melynas, welcher immer noch auf dem Tisch kauerte und nervös an seinen Bathaaren herumspielte. „Das ist nicht gut, das ist ganz und gar nicht gut…Zoran, bist du dir im Klaren darüber, was du durch dein Verhalten angerichtet hast? Wir brauchen Sollthana hier und du, du schaffst es doch tatsächlich, dass sie wegen eurer unvernünftigen Liebelei einfach alles stehen und liegen lässt und sich davonmacht. Was hast du getan, ihr den Kopf verdreht, obwohl da bereits Feona im Spiel war?“

Melynas schnaubte empört und trippelte über den Tisch, richtete sich zur vollen Größe auf und funkelte Zoran, der auf der Bettstatt saß, das Gesicht in den Händen vergraben, zornig an. Dieser richtete sich langsam auf und blickte die Gefährten resigniert an: „Es ist nicht so, wie es klingt, Melynas. Ich habe Feona nie eine Heirat versprochen, aber das will sie nicht wahr haben. Damals, ganz am Anfang, als wir dieses Lager hier errichtet hatten, ja, da waren wir eine Zeitlang ein Paar. Für mich war es nur eine Ablenkung, eine unbedeutende Liebelei, aber ich merkte wohl, dass sie sich mehr davon versprach. Doch ihr müsst mir glauben, ich habe ihr von Anfang an klar gemacht, dass ich keine feste Verbindung anstrebe…nun schaut mich nicht so an. Man muss nicht mehr unbedingt den Segen eines Priesters erbitten, um für eine Weile das Lager zu teilen…“ „Deshalb sehe ich dich auch nicht so kritisch an, Zoran. Ich frage mich bloß, warum es ausgerechnet Feona sein musste? Ich habe gehört, sie hat alle ihre Angehörigen verloren und fand bei Euch so etwas wie eine neue Familie. Nicht gerade ein Mädchen, das ein schnelles Abenteuer braucht in dieser Situation, oder?“

Melynas schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich denke, du hast die Lage ausgenutzt und das ist es, was mir nicht gefällt.“ „Was bildest du dir eigentlich ein, Melynas?“ brauste Zoran auf. „Du stellst mich hin wie einen absoluten Mistkerl, der die Frauen ausnutzt und fallen lässt, wie es ihm gefällt und Feona als unschuldiges Opfer, aber du vergisst, dass sie es war, die Sollthana dazu gebracht hat, einfach abzuhauen, indem sie ihr höchstwahrscheinlich irgendwelche falschen Tatsachen vorgegaukelt hat. Vielleicht sollten wir uns erstmal mit der guten Feona unterhalten.“ „Und mit Jalaynas", warf Taevul vorsichtig ein. „Das kann doch warten, Jalaynas hat in den letzten Tagen genug schlechte Nachrichten zu hören bekommen, als dass man ihm jetzt auch noch erzählen müsste, dass Sollthana weg ist.", wandte Zoran ein. Taevul kratzte sich umständlich am Kopf und meinte dann: „Ja, aber...ist euch nicht etwas aufgefallen? Sie schreibt, dass du Melynas und mich grüssen sollst...aber Jalaynas erwähnt sie nicht einmal. Findet ihr das nicht ein bisschen seltsam? Sollthana wäre nicht einfach weggegangen, so ganz ohne…“ „So ganz ohne Abschied von Jalaynas meinst du“, ergänzte Melynas aufgeregt. „Taevul, ich glaube, du hast Recht. Vielleicht weiß er sogar, wo Sollthana hinwollte. Wir müssen sofort mit ihm reden.“

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Jalaynas hatte gerade seine ersten Gehversuche hinter sich gebracht und saß schwer atmend am Rand seiner Lagerstatt, das Gesicht blass und schweißnass, als die drei Gefährten das Zelt betraten. „Ihr könnt jetzt nicht mit ihm reden“, sagte Feodan, der neben dem Jungen stand und ihn besorgt musterte. „Das Gehen hat ihn sehr angestrengt und er hat starke Schmerzen, also kommt bitte später wieder, wenn er sich etwas erholt hat.“ „Tut mir leid, aber es ist sehr wichtig und kann nicht aufgeschoben werden, dass Jalaynas uns ein paar Fragen beantwortet“, erwiderte Zoran und schob sich an dem älteren Heiler vorbei. „Sei so gut und lass uns kurz allein, Feodan.“ „Aber…“

„Schon gut, Feodan, “ mischte sich Jalaynas ein. „Es geht schon wieder, du kannst ruhig deinen anderen Verpflichtungen nachgehen, während ich mit Zoran rede. Du wolltest doch nach Naendas Tochter sehen, weißt du nicht mehr?“ „Nun gut, aber nur ein paar Minuten und regt ihn nicht wieder so auf wie beim letzten Mal, sonst verzögert sich die Genesung, “ brummelte der alte Heiler ungehalten, bevor er sich endlich anschickte das Zelt zu verlassen.

„ Jalaynas, ich mache es ganz kurz, ich möchte, dass du mir die Wahrheit sagst, hast du das verstanden?“ sagte Zoltan streng und ließ sich neben seinem Neffen auf dem Bett nieder. Der Junge sah ihn nicht an, sondern starrte niedergeschlagen zu Boden. „Ja, Zoran, ich versteh schon. Ihr kommt wegen Sollthana, nicht wahr? Ist sie weg?“ „Ja", bestätigte der Krieger „War sie gestern noch mal hier? Hat sie dir mitgeteilt, wohin sie gehen wollte? „“Nicht so richtig..aber... ja, sie war hier und sie…sie hat geweint und war ganz aufgelöst wegen irgendwas, aber sie wollte nicht sagen, was passiert ist. Irgendwann hat sie dann gemeint, dass sie das Lager verlassen muss und Jemanden treffen…“

„Jemanden treffen?“ fiel ihm Melynas, der bis dahin geschwiegen hatte, ins Wort. „Wer soll das sein, ein Freund, ein Verwandter, hat sie noch irgendetwas gesagt?“ „Nein, leider nicht, ich hab es ja auch nicht verstanden, aber sie hat mich gebeten, euch nichts zu sagen, bevor sie weg ist, das musste ich ihr versprechen. Meint ihr, sie steckt in Schwierigkeiten?“ „ Ich hoffe nicht“, murmelte Melynas düster. „Bei Charis, ich hoffe wirklich, dass es nicht irgendwas mit diesen Träumen zu tun hat und Sollthana in ihr Verderben rennt.“

In diesem Moment platzte Rowlan ins Zelt und blieb keuchend und mit hochrotem Kopf vor den Versammelten stehen: „Sie sind unterwegs…die Späher haben es eben gemeldet….Zoran, die Groaks marschieren Richtung Arkanda….morgen werden sie das Lager der Prahatier erreicht haben. Und es sind Tausende…“

Aufgeregtes Gemurmel machte sich unter den Anwesenden breit und Zoran stand auf, um sich von Rowlan Genaueres berichten zu lassen, doch Jalaynas Aufschrei ließ sie alle herumfahren. „Oh nein, nein…das kann nicht wahr sein…Sollthana…was hat sie getan…“ „Was ist mit Sollthana? Jalaynas, zum letzten Mal, sag uns endlich die Wahrheit, du weißt doch, wo sie hinwollte, oder?“ fuhr Zoran seinen jüngsten Neffen barsch an. Jalaynas sah mit Tränen in den Augen zu seinem Onkel auf: „Sie wollte zurück in Lannatecs Lager….und dort wollte sie diesen geheimnisvollen Unbekannten treffen…mehr weiß ich wirklich nicht, ich schwören es euch. Es tut mir so leid, ich musste Sollthana mein Wort geben, nichts zu verraten…“ Jalaynas schluchzte auf und fing an, immer hektischer zu atmen, plötzlich verdrehte er die Augen, bis man nur noch das Weiße sah und stürzte zu Boden. Grauenhafte Krämpfe schüttelten ihn am ganzen Körper, blutiger Schaum lief aus seinem Mund.

„Zoran, tu doch etwas, er stirbt“, schrie Rowlan entsetzt und wollte zu seinem Bruder laufen, aber Melynas kalte Stimme hielt ihn zurück. „Nein, fass ihn nicht an. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir gleich Besuch bekommen. Geht alle einen Schritt zurück, schnell.“
Zoran, Rowlan und Taevul gehorchten zögernd und traten einen Schritt von dem immer noch zuckenden Jungen zurück.

Allmählich ließen die Krämpfe nach, Jalaynas lag jetzt ganz ruhig und mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Zoran wollte gerade, entgegen Melynas Befehl, zu ihm treten, da riss der Junge plötzlich die Augen weit auf und sprang trotz seines geschienten Beines rasend schnell auf die Füße. Einen Augenblick stand er einfach nur da, den Kopf gesenkt, so dass ihm das Haar ins Gesicht fiel, die Arme schlaff neben dem Körper baumelnd. „Jalaynas? Alles in Ordnung?“ fragte Zoran vorsichtig.

In diesem Moment hob der Junge den Kopf und Zoran zog erschrocken den Atem ein, wich noch einen Schritt zurück. Die braunen Augen seines Neffen hatten einen giftig gelben Schimmer angenommen und ein hässliches Grinsen lag auf seinen Zügen: „Tut mir leid, mein Freund, jetzt habe ich hier erstmal das Sagen. Wie schön, Euch alle hier versammelt zu sehen…“ Das Wesen trat einen Schritt vor und ein übelkeiterregender Geruch nach Tod und Fäulnis breitete sich in dem kleinen Zelt aus.

Sein Blick blieb auf dem blass gewordenen Taevul hängen und er lachte laut auf: „Taevul - wer hätte das gedacht, dass du in deinem armseligen Leben noch einmal solchen Mut aufbringen würdest? Willst du deinen alten Brotgeber denn gar keinen Gruß bieten? Und Melynas, mein kleiner Rattenfreund, wirklich, zu Schade, dass du Lordan schon verlassen hast, ich dachte eigentlich, du hättest dich wohl gefühlt bei uns…und du, Zoran, wie geht es dir? Wie jammerschade, dass du die Heilerin nicht halten konntest, ich schätze, in deinem Kriegerleben hast du nicht gelernt, wie man eine Frau richtig behandelt. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde besser auf sie aufpassen…schon morgen werden wir vereint sein, für immer…“

„Neeein!“ Zorans hass -und schmerzerfüllter Schrei gellte den Anwesenden in den Ohren und der Rebellenkrieger wollte sich auf das dämonische Wesen stürzen, aber Rowlan und Taevul packten ihn an den Armen und hielten ihn mit aller Kraft zurück. Die Gestalt stieß ein schrilles, unmenschliches Lachen aus: „Schon deine Kräfte, Zoran, wir werden uns schon bald wiedersehen…und dann werdet ihr alle sterben.“
Das Lachen steigerte sich zu einem irren Kreischen, doch plötzlich war der Spuk vorbei, der Dämon verschwunden und Jalaynas Körper stürzte mit einem dumpfen Knall zu Boden, wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte.

Verwundert blickte der Junge zu Zoran auf, der seinen Kopf auf seine Knie gebettet hatte und ihm beruhigend über die Haare strich. „Was ist los? Warum liege ich denn auf dem Boden?“ fragte Jalaynas.
„Alles in Ordnung, mein Kleiner. Du warst kurz ohnmächtig, aber Taevul sucht schon nach Feodan, es wird alles wieder gut“, antwortete Zoran gepresst.
„Ich hatte komische Träume…“ „Psst, schon gut, denk jetzt nicht mehr daran.“
„Aber du weinst ja, Zoran. Mein Gesicht wird ganz nass.“ „Verrate das bloß keinem“, meinte Zoran mit einem halbherzigen Lächeln. „Ist es wegen Sollthana? Ich erinnere mich noch daran, dass Rowlan mit der Nachricht kam, dass die Groaks gegen Arkanda marschieren. Aber du brauchst keine Angst haben, ihr wird nichts passieren. Ich habe es gesehen.“ „Jalaynas, was redest du da? Hast du dir den Kopf angeschlagen?“ „Ich habe es dir doch gesagt…ich habe geträumt. Sollthana hat Bluwis gefunden, also wird sie schon bald in Arkanda sein.“ Zoran wurde blass. „Oh nein. Ich hatte gehofft, dass wir sie noch einholen können, aber wenn sie das Pferd hat…“
Endlich kehrten Taevul und Melynas mit Feodan zurück, der sich sofort daran machte, den Jungen zu untersuchen.

„Konnte er sich an irgendwas erinnern, als er wieder zu sich kam?“ fragte Melynas leise. Zoran schüttelte den Kopf. „Er weiss nicht, dass Sherlys von seinem Körper Besitz ergriffen hat und ich werde den Teufel tun und es ihm sagen. Aber er hat mir ziemlich wirres Zeugs erzählt, von Träumen, in denen Sollthana vorkam…“ Melynas seufzte schwer. „Jetzt wird mit so einiges klar. Ich habe es mir schon fast gedacht aber das war der letzte Beweis.“ „Wovon redest du, Rattenmagier? Erzähl schon,“ forderte Zoran ihn ungeduldig auf. Melynas holte tief Luft:„ Ich bin jetzt sicher, dass Jalaynas ein Medium ist.“

Zoran und Taevul wechselten verwirrte Blicke„Wie bitte? Was soll das sein?“ „Jalaynas hat die Fähigkeit, die Gedanken magischer Wesen zu empfangen in einem Ausmaß, dass diese sogar durch ihn und seinen Körper agieren können. So war es, als er die Magier in Sarkanda abwehrte und auch heute, als der Dämon von ihm Besitz ergriffen hat. Ich würde nur zu gerne wissen, welch mächtiger Magier damals in das Geschehen eingegriffen hat.“

„Und was ist mit Sollthana? Sie hatte auch immer wieder seltsame Träume.“
„Ja, das hatte sie,“antwortete Melynas düster. „Und ich befürchte, sie hat uns nicht alles erzählt, was sie dort erlebt hat. Auch die Heilerin scheint als Medium empfänglich zu sein, aber warum will Sherlys sie unbedingt in seine Gewalt bringen?“

„Der Grund ist mir egal, Rattenmagier, aber wir müssen nach Arkanda, noch in dieser Stunde. Ich kann nicht warten, bis Mahac die Rebellen mobilisiert hat, vielleicht ist es sonst zu spät und Sollthana ist für immer verloren.“rief Zoran heftig aus.

„Vielleicht musst du dich an den Gedanken gewöhnen, dass es bereits zu spät ist.,Zoran.Die Heilerin steht jetzt im Bann eines Dämonen und daraus kann nichts und niemand sie befreien.“

Düsteres Schweigen senkte sich über das Zelt. Feodan hatte Jalaynas ein Schlafmittel gegeben und war leise gegangen. Taevul setzte sich Melynas auf die Schulter und trat zu Zoran, der mit geballten Fäusten und wildem Blick in der Mitte des Zeltes stand und vor lauter Wut am liebsten alles kurz und klein geschlagen hätte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Wir gehen mit dir, Zoran. Und wir werden die Heilerin zurückholen und wenn wir dazu jeden einzelnen Groak auslöschen müssen.“
Zoran sah ihn an und grinste: „Genau das wollte ich hören. Also, worauf warten wir noch? Wir haben ein Ziel und das heisst Arkanda.“

Im Bann des Dämonen

Zoran stand auf einer kleinen Erhebung und rang keuchend nach Atem.Gierig füllten sich seine Lungen mit Sauerstoff. Er bemerkte erst, dass Taevul zu ihm getreten war, als dieser ihn an der Schulter fasste und leicht schüttelte. „Zoran, bitte…das hat doch keinen Sinn…“ „Aber ich muss…“, stieß der andere Mann immer noch atemlos hervor. „Ich muss sie finden, verstehest du das nicht? Sie muss hier irgendwo sein, wir haben doch noch gar nicht überall richtig nachgesehen. Dieser verdammte Nebel….Wir brauchen einfach etwas Licht…“ Dichter Nebel lag wie ein Leichentuch über der Ebene von Arkanda, auf der sie sich befanden, durchzogen von Schwaden dunklen Rauchs.

 “ Jetzt hör mir doch mal zu“, unterbrach ihn Taevul  und riss ihn an der Schulter herum, so dass er ihm ins Gesicht sehen konnte. „Wir alle haben hier seit den frühen Morgenstunden jeden Stein umgedreht-oder sollte ich besser sagen, jeden Toten? Und auch wenn es Tausende waren-wenn Sollthana dabei gewesen wäre, dann hätten wir sie längst gefunden. Es sind alles nur Soldaten die hier liegen...und ein paar von IHNEN.“ Taevul schauderte unwillkürlich und lockerte seinen Griff um Zorans Schultern. „Begreif es endlich, mein Freund. Sollthana ist nicht hier. Aber das bedeutet, dass sie höchstwahrscheinlich noch lebt.

Der andere Mann wandte sich ab und starrte mit brennenden Augen über die zerstörte Ebene. Gnädig verhüllte der für diese Jahreszeit ungewöhnliche Nebel  die grausig verstümmelten Opfer, welche die Schlacht zwischen den Prahatiern und den Dämonenkriegern der Smaransker gefordert hatte. Zoran hatte die wenigen gefallenen Groaks gesehen und kalte Angst hatte sich wie der klamme Nebel in ihm ausgebreitet, wenn er daran dachte, was die Zukunft ihnen noch bringen würde. Aber vor allem die Sorge um Sollthana, seine Gefährtin, schnürte ihm die Kehle zu. Und es war nur seine Schuld, dass sie sich dieser Gefahr ausgesetzt hatte.

 

Aber Taevul hatte recht, er musste sich zusammenreissen, musste aufhören wie ein Besessener über das Schlachtfeld zu rennen und Sollthanas Namen zu brüllen. Wenn er die Heilerin wiederfinden wollte, brauchte er einen kühlen Kopf.

 

 

 

 

Nach und nach kehrten auch Mahac, seine beiden Söhne, sowie die 30 Rebellenkrieger, die sie begleiteten, zu ihrem Treffpunkt zurück. Alle sahen blass und erschöpft aus, ihre Gesichter spiegelten das Grauen wieder, welches ihnen an diesem Tag begegnet war.

Nur der Rattenmagier Melynas war noch nicht wieder aufgetaucht, er hatte auf eigene Faust das Schlachtfeld erkunden wollen.

 

Zoran sah hoffnungsvoll auf, als Mahac zu ihm trat, aber der Anführer der Rebellen schüttelte nur den Kopf. „Tut mir leid, Zoran, keine Spur von der Heilerin. Wir brauchen alle eine Pause, ich schlage vor, dass wir zurück ins Zeltlager gehen und uns etwas ausruhen. Vielleicht hat sich der Nebel morgen etwas gelichtet und dann sehen wir uns noch mal genauer um.“ Zoran nickte, aber er wirkte immer noch völlig abwesend, sein Blick schweifte unruhig hin und her, als er Mahac und den Anderen folgte. Immer, wenn der Nebel wieder den Blick auf einen toten, verstümmelten Körper freigab, eine Gestalt im zertrampelten Gras der Ebene auftauchte, blieb er stehen und wenn Taevul ihn nicht sanft, aber bestimmt weitergeschoben hätte, wäre Zoran wahrscheinlich bei Einbruch der Nacht allein auf dem Feld des Todes zurückgeblieben und hätte immer weitergesucht.

 

 

 

Die Zeltstadt des Prinzen Lannatec stand noch, auch wenn ein Großteil seiner Bewohner tot auf dem Schlachtfeld lag. Die Verwundeten Soldaten wurden im Heilerzelt von den überlebenden Heilern und einigen von Mahac´s Männern versorgt. Es waren nicht sehr viele. Diejenigen, die sprechen konnten, hatten berichtet, dass beim Anblick der Groaks viele Soldaten die Flucht ergriffen hatten. Die Übrigen hatten einen heldenhaften, aber sinnlosen Kampf gegen die  Übermacht der Dämonenkrieger und Magier geführt, angeführt von ihrem Prinzen Lannatec. Bis zum Schluss hatte er Seite an Seite mit seinen Männern gekämpft und war schließlich durch einen Groak gefallen.

Nun ruhte er aufgebahrt in seinem Zelt, bewacht und betrauert von den wenigen seiner Soldaten, die nicht tot oder verwundet daniederlagen.

 

Taevul führte Zoran zu einer Feuerstelle, an der bereits einige Soldaten und Rebellenkrieger damit beschäftigt waren, eine Mahlzeit zu bereiten, auch wenn Niemand wirklich Appetit zu haben schien.

Zoran setzte sich und nahm den angebotenen Weinbecher von einem jungen Soldaten entgegen, aber er trank nicht, sondern starrte nur abwesend ins Feuer.

„Was ist los mit ihm?“ fragte der Junge an Taevul gewandt. Dieser zuckte nur mit den Achseln: „Er kann es sich nicht verzeihen, dass er Lannatec nicht retten konnte und dass die Heilerin verschwunden ist. Kannst du dich an das Mädchen erinnern? Ihr Name ist Sollthana.“

 

„Sollthana? Natürlich, jetzt weiß ich auch wer er ist. Zoran Odely, nicht wahr? Er kam zusammen mit ihr ins Lager und Lannatec ließ ihn Gefangen nehmen. Ja, die Heilerin habe ich auch kennengelernt, ich mochte sie sofort. Leider blieb sie nur 2 Tage, alle waren überzeugt davon, dass sie Zoran befreit und mit ihm geflohen war. Als sie vor Beginn der Schlacht zu uns zurückkehrte, nahm man sie dennoch wieder bei den Heilern auf, es war klar, dass wir hier bald jede helfende Hand brauchen würden“, schloss der junge Soldat traurig.

 

 „Mein Name ist übrigens Tobisalion.“ „ Freut mich, Tobisalion. Das Schicksal scheint dir wohlgesonnen zu sein, wenn du das hier überlebt hast. Kannst du mir vielleicht sagen, was mit Sollthana passiert ist?“ fragte Zoran und endlich kam wieder etwas Leben in ihn. Ein Schatten glitt über das Gesicht des jungen Mannes. „Das kann ich tatsächlich, aber ich bin mir nicht sicher,  ob dir gefallen wird, was ich zu erzählen habe.Als die Schlacht begann und klar wurde, wie übermächtig unsere Feinde wirklich waren, da forderte ich Sollthana auf zu fliehen, aber sie weigerte sich. Auch als die Groaks unter uns wüteten, die Magier unsere Welt in Nebel und Dunkelheit hüllten, sie blieb und versorgte die Verletzten, Seite an Seite mit den anderen Heilern. Doch dann…“ Tobisalion zögerte, sah den älteren Mann fast entschuldigend an. „Was ist dann passiert?“ fragte Zoran ungeduldig.

 

„Da war dieser Groak…ich kämpfte um mein Leben, hatte schon mit meinem irdischen Dasein abgeschlossen. Diese Biester sind absolut grauenerregend, man hat auch als guter Kämpfer fast keine Chance alleine gegen ihre Klauen und Zähne und schiere Körperkraft.“ Tobisalion schüttelte sich bei der Erinnerung. „Der Groak bedrängte mich immer mehr, hatte mir schon einige schmerzhafte Wunden mit seinen Klauen zugefügt, nun hatte er mir das Schwert aus der Hand geschlagen und ich stand mit bloßen Händen vor ihm. Er bleckte die Zähne und stieß ein höhnisches Lachen aus, kam langsam auf mich zu, um mir den Rest zu geben…doch da erstarrte er plötzlich mitten in der Bewegung, rollte mit den Augen und brüllte…und dann stürzte er, wie ein gefällter Baum lag er vor mir. Und da sah ich Sollthana, sie stand dort mit einem Dolch in der Hand, den sie verwundert betrachtete, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte und das Blut des Groaks klebte an der Waffe. Wir sahen uns an, über dieses tote Monster hinweg und Sollthana sah aus, als ob sie nicht wüsste, ob sie nun lachen oder weinen solle. Ich glaube, sie hat noch nie Irgendjemand getötet.

 

Ich wollte zu ihr laufen, ihr danken, dass sie mein Leben gerettet hatte und sie fragen, wie zum Henker sie es geschafft hatte, mit diesem kleinen Dolch das Ungeheuer zu erledigen. Aber noch bevor ich mich in Bewegung setzten konnte, erschien dieser Kerl auf einem schwarzen Hengst, er trug keine Uniform und schlohweißes Haar wehte hinter ihm her, keine Ahnung, zu welcher Seite er gehörte, doch Sollthana schien ihn zu kennen. Jedenfalls schien sie sehr erleichtert zu sein, ihn zu sehen, sie wechselten ein paar Worte und dann ging alles ganz schnell, er nahm sie vor sich auf sein Pferd und sie verschwanden irgendwo im Schlachtgetümmel. Und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“

 

Zoran stieß ein zorniges Knurren aus und wollte aufspringen, aber Taevul legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück.

„Lass mich los, Taevul. Dieser Dreckskerl hat sie sich geschnappt, verstehst du nicht? Ich muss los und sie suchen.“ „Heute Nacht wirst du Nirgendwo mehr hingehen und wenn wir dich festbinden müssen“, antwortete Taevul bestimmt.

„Mahac und Melynas werden mir sicher zustimmen, dass du unbedingt etwas Ruhe brauchst, du bist kurz davor, durchzudrehen. Heute Nacht wirst du endlich mal wieder schlafen und wenn ich sämtliche Schlaftränke der Heiler an dir ausprobieren muss.“

 

Der Rebellenkrieger stieß einen erstickten Laut aus und wandte sich ab, er ballte die Fäuste und schien kurz davor, auf Irgendetwas oder Irgendjemand einzuschlagen, aber dann beherrschte er sich doch und nickte zähneknirschend.

„Ich muss sie einfach wiederfinden Taevul, sonst…“  „Das schaffen wir schon, mein Freund. Das einzige, was mir bei der Sache Sorgen macht, ist die Tatsache, dass sie vielleicht gar nicht gefunden werden will? Hast du dir schon überlegt, was passiert, wenn du sie aus Sherlys Händen befreit hast und sie gar nicht mehr auf unserer Seite steht?“ Zoran schnaubte nur. „Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist. Koste es, was es wolle und wenn ich sie an den Haaren hinter mir her schleifen muss, ich werde sie zurückholen. Und dann werde ich sie nie mehr gehen lassen.“

 

 

 

 

 

Sollthana fuhr mit einem gellenden Schrei aus dem Schlaf hoch. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und ihre Kehle war völlig ausgetrocknet. Als sie feststellte, dass sie sich immer noch in dem gemütlichen Gästezimmer ihres Gastgebers befand, in dem sie sich gestern Abend zur Ruhe begeben hatte, seufzte sie erleichtert auf und ließ sich in die bequemen Kissen zurücksinken.

Nur ein Traum…und es war kein Wunder, dass es nicht gerade einer von der angenehmen Sorte gewesen war, bei dem, was sie in den letzten Tagen gesehen  und erlebt hatte.

 

Nachdem sie das Lager der Rebellen verlassen hatte und den mühevollen Abstieg von der Hochebene hinter sich gebracht hatte, war sie einige Stunden dem Flusslauf gefolgt und dann zufällig auf Bluwis, Taevuls Pferd gestoßen, welches friedlich auf einer Lichtung graste. So war sie schneller als gedacht in Lannatecs Lager eingetroffen. Dort herrschte bereits große Aufregung, eine Armee von Groaks sei im Anmarsch, hieß es. Ein Gutes hatte die drohende Gefahr für sie gehabt, keiner interessierte sich mehr dafür, warum sie bei ihrem letzten Aufenthalt das Lager bei Nacht und Nebel verlassen hatte, und so wurde sie bei den Heilern wieder aufgenommen. Von Sapphar keine Spur, aber sie wusste auch nicht, wen sie nach ihm hätte fragen können.

 

Viel Zeit war nicht geblieben, sich auf die Schlacht vorzubereiten, unvermittelt hatte sie sich wiedergefunden in einer Hölle ungeahnten Schreckens, als die Groaks über Lannatecs Soldaten hergefallen waren. Sie hatte Jalaynas Beschreibung des Halbdämon Sherlys noch gut in Erinnerung, aber Vollblut Groaks waren noch um einiges grauenerregender als sie sich jemals hätte vorstellen können. Über zwei Meter groß, mit grauer, schuppiger Haut bedeckt, gelb flackernde Augen in der scheußlichen Fratze mit den dolchartigen Zähnen…Sollthana schauderte unwillkürlich und kuschelte sich tiefer in die weiche Daunendecke.

 

Bevor sie aufgebrochen war, hatte sie noch in ihrem Bündel nach den von Eletha zusammengestellten Heilmitteln gestöbert und war dabei auf den lang vergessenen Dolch gestoßen, den ihre Lehrmeisterin ihr zum Abschied geschenkt hatte. Nicht, dass sie sich große Chancen ausgerechnet hatte, damit etwas ausrichten zu können gegen die Groaks oder auch nur einen smaranskischen Soldaten, aber sie hatte sich etwas besser gefühlt mit der Waffe an ihrem Gürtel.

 

Als die ersten Reihen der Groaks auf die Ebene strömten, hatten viele von Lannatecs Männern die Flucht ergriffen und Tobisalion, der gutmütige, junge Soldat, den sie schon bei ihrem ersten Aufenthalt im Lager kennengelernt hatte, forderte sie eindringlich auf, es ihnen gleich zu tun. Aber sie war geblieben, hatte versucht, ihre Angst auszublenden, so gut das eben ging, wenn um einen herum Tod und Zerstörung herrschte. Sie hatte die Verletzten versorgt und die geflüsterten Letzten Worte der Sterbenden vernommen, die in ihren Armen ihren letzten Atemzug taten. Sie wusste nicht, ob es Zufall oder Glück war, dass sie selbst in der stundenlangen Schlacht völlig unverletzt blieb. Normalerweise waren Heiler neutral und wurden bei Kampfhandlungen  verschont, aber die Groaks schienen von dieser Regelung noch nichts gehört zu haben. Sie sah Jassem sterben, genauso wie Karantin, den besonnenen Heiler, der sie in ihrer ersten Zeit so unterstützt hatte. Sie vernahm, dass Lannatec gefallen war und dass der Nebel, der seit Beginn der Kampfhandlungen immer dichter und dichter geworden war, von den Magiern heraufbeschworen worden war.

 

Doch Sollthana war unbeschadet zwischen den Kämpfenden hindurchgegangen, hatte weiter wie in Trance ihre traurige Pflicht erfüllt und versucht, das Erlebte nicht zu nah an sich heran zu lassen. Plötzlich sah sie Tobisalion, der von einem Groak bereits arg in Bedrängnis gebracht worden war, ohne groß darüber nachzudenken, zog sie den Dolch aus dem Gürtel, der in ihren Händen plötzlich sanft zu glühen schien und stieß ihn dem Dämon in den Rücken. Sie hatte erwartet, dass der zierliche Dolch nicht mal dazu taugen würde, die Schuppen des Ungeheuers zu durchdringen, aber sie hatte sich geirrt. Die Waffe glitt in den Leib wie Butter und der Groak fiel tot zu Boden.

Verblüfft starrte Sollthana auf die blutbesudelte Klinge in ihrer Hand, als sie Jemanden laut ihren Namen rufen hörte. Als sie aufsah, erblickte sie Sapphar, der einen riesigen, schwarzen Hengst zügelte und mit einem amüsierten Funkeln in den grünen Augen auf sie herab blickte. „Heilerin-es war gar nicht so leicht, dich zu finden. Aber wie ich sehe, weißt du dich zu beschäftigen.“

 

„Sapphar…du bist wirklich gekommen“, flüsterte Sollthana. „Natürlich, meine Schöne, hast du etwas daran gezweifelt? Ich konnte dich doch nicht alleine unter all diesen ungemütlichen Gesellen lassen. Ich würde vorschlagen, du packst jetzt dieses hübsche Messer weg und dann verschwinden wir von hier.“

„Verschwinden? Aber ich kann jetzt nicht einfach gehen, hier gibt es noch so viel zu tun…“begehrte Sollthana schwach auf, aber ein Blick in die intensiven Augen ihrer Traumbekanntschaft ließ sie verstummen. Sie fühlte sich plötzlich so willenlos und müde, sie sah, dass Tobisalion winkte und ihr irgendetwas zu rief, aber dann ergriff sie doch Sapphars ausgestreckte Hand, mit der ihr sie zu sich hochzog und vor sich aufs Pferd setzte.

 

An den langen Ritt durch die Nacht konnte sie sich nur schemenhaft erinnern, erst als Sapphar sie in dem behaglichen Gästezimmer sanft auf das Bett gleiten ließ, öffnete sie kurz die Augen, nur um gleich wieder in die wohltuende Umarmung des Schlafes zu sinken.

Erst die Albträume hatten sie geweckt.

 

Sollthana überlegte gerade, ob sie aufstehen oder sich noch einmal tiefer in die Decken kuscheln sollte, da wurde ihr die Entscheidung durch ein Klopfen an der Tür abgenommen. Ein Diener betrat den Raum, wünschte ihr ehrerbietig einen Guten Morgen und blieb vor ihrem Bett stehen.

„Willkommen auf Lordan. Ich habe Euch nebenan ein Bad bereiten lassen und frische Kleider bereitgelegt. Wenn Ihr fertig seid, erwartet Euch der Herr zum Frühstück.“

 

Der Diener verbeugte sich noch einmal, bevor er den Raum verließ und Sollthana begab sich in den angrenzenden Baderaum. Mit einem genießerischen Seufzer ließ sie sich in das heiße Wasser gleiten und schloss die Augen. Wie lange hatte sie schon kein Bad mehr genossen, das letzte Mal war an diesem Nachmittag im Gasthaus an der Karawanenstraße gewesen, als sie Zoran zum ersten Mal geküsst hatte…Sollthana schob diesen Gedanken in den Hintergrund, sie wollte jetzt nicht an ihren ehemaligen Gefährten denken. Nein, gleich würde sie Sapphar wiedersehen und ihr Herz klopfte bereits schneller, wenn sie an seine faszinierenden Augen dachte. Und sie war gespannt, die Burg, in der sie zu Gast war, kennenzulernen. Wie war noch mal der Name des Anwesens, Andwyl? Moment mal, der Diener hatte sie vorhin doch Willkommen geheißen, aber er hatte irgendeinen anderen Namen verwendet. Sollthana riss die Augen wieder auf und setzte sich mit einem Ruck in der Wanne auf, so dass das Wasser rechts und links über die Ränder schwappte. Lordan. Der Diener hatte Lordan gesagt…

 

Konnte das wirklich wahr sein? Lordan? Sollthana fror plötzlich, obwohl das Wasser immer noch heiss war, sie zitterte am ganzen Körper ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn sie sich wirklich auf Lordan befanden, dann war auch Sapphar nicht derjenige, der er zu sein vorgegeben hatte. Aber wer war er dann? Und was bezweckte er mit ihrem Aufenthalt hier?

 

Sollthana stieg hastig aus der Wanne und griff nach einem Badetuch. Der Diener hatte nicht zuviel versprochen, ein elegantes, dunkelgrünes Kleid lag für sie bereit, welches wie angegossen passte und gut mit ihrer Haarfarbe und ihren  Augen harmonierte. Rasch kleidete sie sich an und band die Haare zu einem dicken Zopf. Als sie die Badekammer verliess, wartete bereits der Diener von vorhin auf sie und bat sie, ihm zufolgen. Mit klopfendem Herzen lief Sollthana dem Mann hinterher, der sie durch düstere Gänge und lange, schmucklose Korridore führte, bis sie zu einem kleinen Salon kamen, der durch das flackernde Kaminfeuer und die bequemen Sessel durchaus gemütlich wirkte.

Auf einem Beistelltisch stand ein reichhaltiges Fühstück für sie bereit, aber Sollthana war der Appetit vergangen, sie wollte nur, dass Sapphar ihr endlich mitteilte, was hier vor sich ging.

 

Als der Diener gegangen war, marschierte sie ruhelos durch den Raum, spähte aus dem Fenster, aber durch das Buntglas konnte sie nicht viel erkennen und es liess sich nicht öffnen. Doch sie musste sich nicht lange gedulden, der Mann, den sie für Sapphar gehalten hatte, erschien bald und begrüsste sie höflich. „Sollthana, meine Liebe, du siehst ganz entzückend aus. Ich hoffe, du hast wohl geruht? Willst du denn gar nichts essen?“ „Nein, das will ich nicht“, platzte Sollthana heraus. „Ich will wissen, wer du bist und warum du mich nach Lordan gebracht hast.“ Der Mann, der sie eben noch mit so einem freundlichen, gütigen Gesichtsausdruck betrachtet hatte, blickte nun plötzlich aus harten, berechnenden Augen zu ihr hinüber. „Oh, Sollthana. Ich habe dich wirklich für etwas gewitzter gehalten. Hast du wirklich noch an diese Geschichte von dem netten Sapphar geglaubt?“ Er lachte höhnisch auf. „Vielleicht bist du wirklich naiver, als ich gedacht habe…oder du bist eine verdammt gute Schauspielerin. Willst du mir wirklich sagen, du weißt nicht, dass ich Sherlys Laslay bin?“

 

Sollthana wich vor ihm zurück, ihre Beine gaben unter ihr nach, alles drehte sich um sie. Rasendschnell kam der Fussboden auf sie zu, aber die erlösende Ohnmacht, die sie sich gewünscht hätte, blieb aus. Sie lag auf dem kalten Fussboden und versuchte die aufkommenden Tränen wegzublinzeln. Sherlys, der Schlächter, der Folterer, Sherlys, der Dämon…war sie wirklich so dumm gewesen, nicht zu erkennen, wer er war? Oder hatte sie es womöglich schon gewusst, in irgendeinem Winkel ihres Unterbewusstseins? Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken, gab sich der Hoffnung hin, dass Sherlys Manipulation ihrer Träume perfekt gewesen war und sie keine Schuld daran trug, seinem Betrug aufgesessen zu sein.

„ Nun steh schon auf, Sollthana, sei nicht so dramatisch“, drang Sherlys spöttische Stimme an ihr Ohr.

 

Mühsam rappelte sie sich hoch, kam schwankend zum Stehen. Der Versuch, dem Halbdämon einigermaßen würdevoll gegenüber zu treten, scheiterte. Tränen liefen ihr über die Wangen, nahmen ihr die Sicht, sie hatte das Gefühl, alles in ihr sei zerbrochen. Gedanken an Zoran, Jalaynas, Melynas und die Rebellen schossen ihr durch den Kopf. Was sollten sie nur von ihr denken, wenn sie erfuhren, dass sie hier bei Sherlys war? Würden sie denken, dass sie die Seiten gewechselt hatte? Wenn man von ihrem Verhalten ausging, war das gar nicht so unwahrscheinlich. Und doch hoffte sie inständig, dass ihre Freunde erkennen würden, dass Sherlys sie manipuliert, ihren Willen beeinflusst und ihre Gutgläubigkeit ausgenutzt hatte. Sie war eben doch nur ein kleines, dummes Mädchen, keine grossartige Heilerin und Heldin, dachte sie bitter.

 

Sie sah zu Sherlys auf, der sie aus lodernden Augen beobachtete und versuchte, endlich wieder ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. „Also, was willst du von mir, Sherlys? Warum das Ganze?“

 

 

 

 

Impressum

Texte: by milagro
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

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