Cover


Wie kam es nur dazu, dass ich allein auf einer Insel weit ab von meiner Heimat festsaß?
Ich glaube, alles begann mit einem Pflichtbesuch bei meiner Kinderärztin. Vermutlich saßen meine Mutter und ich mehr als eine Stunde im Wartezimmer, umgeben von keuchhustenden und holzspielzeugenden Kindern mit fiebrig glänzenden Augen und entnervten langberockten Müttern. Bestimmt sahen meine Mutter und ich nach dieser Warterei-Tortur schon ganz käsig und ungesund aus. Sie in ihrer schwarzen Lederjacke mit Dauerwelle und ich mit schwarzen Zöpfen, an denen kleine Herz-Spängchen prangten. Und wahrscheinlich schaute mir später die Ärztin mithilfe eines Holzstäbchens, das sie ekelerregenderweise sehr tief im Rachenraum auf meine Zunge drückte, in den Hals, drückte von außen wie wild an meinem Hals herum, vielleicht beguckte sie mich auch von allen Seiten während sie aussagekräftiges „Hmm, hmm“ vor sich hinbrummte, auf- und abging und eventuell sich mit dem Finger ans Kinn klopfte. Ein ängstlicher Blick zu meiner Mutter, ein eindeutiges Lippenaufeinanderpressen zur Ärztin, mehr konnte man von mir in dieser Situation nicht erwarten. Immerhin stach sie nicht mit irgendwelchen Impfungsnadeln auf mich ein. Das überraschende Ergebnis dieser äußerst professionellen Inspektion war: Das Kind muss zur Kur!

Trotz der landläufigen Meinung, dass man das Jahr 1992 schrieb, könnte ich fast schwören, dass es in etwa das Jahr 1910 gewesen sein muss. Das 5-jährige kleine Mädchen unter dem großen Pony wurde für 5 Wochen weit von der Familie entfernt gehalten. Ich wurde mit einer großen Reisetasche, meinem pinken Kindergartenrucksack und vielen Küssen verabschiedet, in einen Bus voller wildfremder, tobender Kinder gesteckt und meinem traumatischen Erlebnis überlassen. Da ich still und schüchtern neben einer Betreuerin saß, gingen alle Erwachsenen mit Sicherheit davon aus, dass ich brav und die Kinder, dass ich langweilig sei. Mein Schicksal war besiegelt.

Nach der mehrstündigen Fahrt bis auf die Nordseeinsel kam es, wie es kommen musste: Meine geschmierten Vollkornbrote waren gegessen, die Süßigkeiten tief im Bauch des Reisebusses verstaut und man erwartete die Kinderschar mit – Fisch! Bah! Das war für eine noch immer bekennende Fischhasserin wie mich kein guter Start in der Fremde. Vegetarier-Menüs auf Kinderkuren waren wohl noch nicht erfunden, von nicht tierlieben Kindern mit Höhenangst hatte man bis dato auch noch nie gehört, so war ich vielleicht eine Pionierin im Verweigern durch Weinen.

Die ganze Zeit habe ich nur geweint, auf dem in etwa 6m hohen Pferderücken, beim Essen von Spinat-Fischstäbchen-Matsche, bei meinen ersten Schwimmversuchen und dem Untergluckern im eiskalten Meer, im Stehen, im Sitzen, im Liegen. Sogar ganz Besonders im Liegen: Abends, wenn ich in der unteren Koje eines Hochbetts im 8-Bett-Zimmer lag und die anderen Kinder vor sich hin schnorchelten, wanderten meine Gedanken nach Hause. Wie schön es dort war! Wie gemütlich es sich anfühlte, neben meiner Mutter zu liegen und sich an sie heranzukuscheln. Ich machte mir Sorgen, dass meine Familie mich vergessen könnte. Ich war ja schon so lange weg und bestimmt hatten alle ganz viel Spaß ohne mich, panschten noch viel mehr morgens im Müsli herum, als wenn ich da war. Mein Papi konnte endlich seine Musik ohne meine Einwände hören und alleine in der Badewanne liegen ohne meine Planschutensilien und mich. Bestimmt machte er das sogar gleichzeitig und seufzte zufrieden. Und dann würden sie einfach vergessen, dass es mich je gab und niemand würde mich vom Busbahnhof abholen. Vielleicht müsste ich auch für immer auf der Insel bleiben, in dem Kurhaus leben, nie Freunde gewinnen und mein Leben lang auf 8m hohe Klettergerüste steigen. Das Leben war schrecklich! Ich weinte und weinte. Die Tränen flossen in unzählige Taschentücher, die ich zwischen meinen Fäusten zerdrückte und bearbeitete. Mit der Zeit stellte ich fest, dass diese zerdrückten Taschentücher in der Form, die ich ihnen vor Kummer gab, trockneten. So formte ich jeden Abend mehrere kleine Figuren aus meinen zerheulten Taschentüchern. Das Brettchen an meinem Hochbett war nach einigen Wochen übervölkert von liebreizenden, weißen Figur-Klöpsen. So hatte das Weinen wenigstens eine Funktion bekommen. Ja, auch Kinder mit fliederfarbenen Minnie-Mouse-Pullovern haben ab und zu in harten Situationen eine Portion Zynismus zu bieten.

Das Telefonieren mit meiner Mutter war Glückseligkeit und Tortur zugleich. Sie fragte mich aus, wie es mir ginge, was es zu essen gab, was ich den Tag über so tat oder welche Freunde ich hätte. Doch die Wahrheit durfte ich nicht sagen. Es gab strenge Regeln in der Kur, eine davon war, dass wir nicht alleine telefonieren durften. Immer saß ein Betreuer neben dem telefonierenden, kurz vor der Heulattacke stehenden Kind und war jederzeit bereit, einzuschreiten, das Kind vom Hörer wegzuzerren und den besorgten Eltern mitzuteilen, dass das Kind beispielsweise beim Memory spielen verloren und deshalb geweint habe. Solche Sachen, so war das. Nun, meine Mutter kannte mich aber doch so weit, dass ihr klar war, dass ich Heimweh haben müsse und dringend einer Aufmunterung bedurfte. Ich sollte zu Hause eine Überraschung bekommen! Sie hatten mich doch nicht vergessen! Und sie würden es auch nicht mehr tun! Ich würde ganz sicher nach Hause kommen und sogar noch ein Geschenk bekommen! Mein Glück war kaum zu fassen! Und so kam es dann auch bald. Nach fünf Schreckenswochen begrüßten mich meine Eltern mit Tränen und Lachen, als ich mit wackeligen Beinen aus dem Bus herausstakste. Zu Hause hatten sie für mein Heimkommen alles dekoriert, mein Zimmer mit Blumen verschönert und ein Geschenk im Flur: Mein erstes Fahrrad ohne Stützräder und in rosa! Zu Hause zu sein war großartig. Ich wurde doch vermisst und selbst meine Plastik-Planschsachen wurden bereitwilligst schon vor dem gemeinsamen Baden in der Badewanne deponiert. Es fühlte sich an wie Erdbeeren mit Schlagsahne, wie den Kopf bis zum Einschlafen gekrault bekommen, wie die schönsten Dinge der Welt.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /