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Jerome ging langsam den Korridor des Westflügels hinunter. Mit wenig Interesse schaute er nach links und nach rechts in die Schlitze der Eisentüren, die sich aneinander reihten. Eigentlich war es ein Tag, wie jeder andere auch. Doch da war dieser neue Gefangene, von dem das ganze Gefängnis sprach. Er soll 4 Menschen ohne ersichtlichen Grund getötet haben. Die Polizei, die seiner blutigen Spur durch England folgte, fand ihn schliesslich in einen Wohnhaus, wo er mit Blut befleckt vor seinem 4. Opfer kniete und die Polizisten nur angelächelt habe. Er liess sich jedoch ohne Probleme festnehmen und auch die Gerichtsverhandlung verlief ohne Probleme und er gab alles zu. Gründe nannte er jedoch nicht. Das Gericht liess ihn schliesslich als hochgefährlich einstufen und gab ihm lebenslänglich.
Auf dem Weg zur Zelle 46 versuchte Jerome sich ein Bild von diesem Mann zu machen. Er stellte sich einen riesigen, muskelbepackten Irren mit einer kalten Stimme vor, die keinen Widerstand duldete. Jerome stellte sich selbst neben diesem Mann vor… Das Ergebnis war kläglich: Jerome war nur 1.74m gross, hatte braunes Haar, dass an den Schläfen schon leicht ergraute und seine Figur war alles andere als stämmig; eher schlaksig.
Mit jedem Schritt Richtung Zelle 46 stieg sein Unwohlsein. Schliesslich stand er davor, schloss die Augen und atmete einmal kräftig aus und ein. Schliesslich schob er das Eisen vor dem Guckloch zurück und schaute in den Schlitz der Türe. Wie vom Blitz getroffen wich er zurück. Den Mann, der in dieser Zelle sass, sah alles andere als gefährlich aus. Jerome verglich noch einmal die Nummer auf seinem Notizblock und die auf der Türe. 46. Jerome blickte abermals in die kleine Zelle. Der Mann dort drin war ca. 25 Jahre alt, hatte blonde Haare, ein rundliches Gesicht, das ihn noch jünger erscheinen liess und ehrliche, blaue Augen, die die von Jerome neugierig musterten. „Hallo, ich bin Aaron“, meinte der junge Mann. Dieser Mann wirkte überhaupt nicht irr, böse und kaltblütig, wie in das Gericht beschrieben hatte. Vor Jerome stand ein junger, aufgestellter Bursche, dem es aus irgendwelchen Gründen gar nichts auszumachen schien, sein Leben in einer kalten, kleinen Zelle verbringen zu müssen. „Ich bin Jerome“, sagt Jerome leise, fast erschrocken. „Du bist der Wärter…“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Jerome beantwortete sie trotzdem: „Ja, ich bin für diesen Sektor hier zuständig…“ Aaron nickte wissend. „Tja… ehm… Ich gehe dann mal weiter…“, sagte Jerome. Der Gefangene lächelte freundlich: „Ja. Und einen schönen Tag noch!“ Jerome war verwirrt über diese Freundlichkeit und lief eilig weiter.
So einen Mann, wie Aaron einer war, hatte Jerome noch nie kennengelernt…

Als Jerome an diesem Abend nach Hause kam, war er immer noch ganz benommen. Er setzte sich in das spärlich eingerichtete Wohnzimmer und dachte an Aaron. Irgendjemandem musste Jerome von diesem Mann erzählen. Frau hatte er keine… Und wirklich enge Freunde auch nicht. Doch da dachte er an seinen Arbeitskollegen Frank. Mit ihm verstand sich Jerome ziemlich gut. Er griff zum Telefon und wählte Franks Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln nahm Frank ab. Auch er wohnte alleine. „Frank? Hier ist Jerome.“, sagte Jerome in den Hörer. „Jerome? Wie geht es dir?“ „Gut! Aber ich wollte dich etwas zu dem neuen Gefangenen fragen…“ „Du meinst Alain?“, fragte Frank. „Aaron…“, verbesserte Jerome. „Ja. Was ist mit ihm?“ „Also…“, druckste Jerome herum. „Es ist so… Als ich heute an seiner Tür vorbei ging… Ja also… Er war wirklich nett und überhaupt nicht…“ „Jerome!“, unterbrach ihn Frank. „Dieser Mann ist ein Killer! Er hat ohne mit der Wimper zu zucken, Menschen abgeschlachtet!“ „Ja...“, gab Jerome nach. „Wahrscheinlich hast du Recht…“
Die beiden verabschiedeten sich und Jerome war wieder alleine. Er beschloss am nächsten Tag, wieder zu Aaron zu gehen… Natürlich nur um zu schauen, ob dieser Mann wirklich so nett war, oder sich nur verstellte.

Als Jerome am nächsten Tag seine Runde beinahe beendet hatte, ging er schliesslich zu Zelle Nr. 46. Er schaute durch den Sehschlitz und sah Aaron, der ihn anschaute und so wirkte, als hätte er bereits auf Jerome gewartet. „Hallo Jerome!“, sagte er freundlich. „Aaron!“ Zu seiner Verwunderung war Jerome ehrlich erfreut Aaron zu sehen. „Wie geht es dir?“, fragte er zögernd. Nach einer kurzen Pause antwortete Aaron: „Eigentlich sehr gut. Aber ich vermisse das Lesen…“. Traurigkeit schwang in seinen Worten mit. „Was liest du denn so?“ Aarons Augen begannen zu strahlen: „Das mag albern klingen, aber ich liebe die Bücher von Shakespeare…“ Jerome sah in -soweit die durch einen 5cm Sehschlitz möglich ist- verwundert an. „Das ist auch mein Lieblingsautor!“ Aaron lächelte erfreut. Jerome, der sich inzwischen ziemlich sicher war, dass dieser Mann unschuldig war, kam plötzlich eine Idee. Er blickte sich schnell um und sagte dann etwas leiser: „Was haltest du davon, wenn ich dir Othello mitbringe?“ Aaron sah ihn erstaunt an. „Das würdest du tun?“, fragte er ungläubig. „Natürlich! Wenn du es niemandem erzählst.“ Aaron lächelte ihn verschmitzt an, was ihm ein kindliches Aussehen verlieh. „Würde mir nie in den Sinn kommen!“
So kam es, dass Jerome Aaron das Buch mitbrachte und sich die beiden von nun an, nach Jeromes Schicht, über das Buch unterhielten und immer bessere Freunde wurden.
Nach ca. 7 Wochen, mitten in ihrem Gespräch, wurde Aaron plötzlich ziemlich still. Als Jerome ihn fragte, was denn sei, antwortete Aaron: „Weißt du, mir gefällt es hier sehr gut… Nur… Nun, ich war Raucher, bevor ich hierher kam. Und…“ Jerome, der selbst täglich rauchte, verstand ihn sofort. „Du meinst ich soll dir eine Zigarette bringen?“ „Du musst natürlich nicht…“ Aber Jerome, war schon so weit, beinahe alles für seinen Freund zu machen. Er hatte sich schliesslich noch nie so gut mit jemandem verstanden und er merkte erst jetzt, dass ihm das schrecklich gefehlt hatte.
So brachte Jerome an seinem nächsten Arbeitstag eine Zigarette und ein Feuerzeug mit. Er zündete Aaron die Zigarette an und reichte sie ganz beiläufig und ohne in die Zelle zu schauen durch den Sehschlitz. Dann steckte er das Feuerzeug ein und lief, laut vor sich hin pfeifend den Korridor hinunter. Da roch er plötzlich Rauch. Er drehte sich erschrocken um und sah Rauch unter der Tür Aarons hervorquellen. Schnell rannte er zurück und suchte hektisch den Schlüssel für Zelle 46. Währenddessen, war bereits der Feueralarm angegangen und schrillte nun ohrenbetäubend über Jeromes Kopf. Schliesslich fand er endlich denn passenden Schlüssel und drehte ihn zweimal in der Eisentüre und schob den Sicherheitsriegel zurück. Die Hitze, die ihm entgegen schlug war beinahe unerträglich. Er sah sich in der winzigen Zelle um. Aaron hatte das Buch, das ihm Jerome geschenkt hatte zerrissen und in der ganzen Zelle verteilt. Mit der Zigarette hatte er schliesslich alles in Brand gesteckt.
Jeromes Lungen brannten. Und trotzdem machte er noch einen Schritt in dieses brennende Zimmer und rief krächzend nach Aaron. Dann spürte er stärke Hände an seinen Armen, die ihn hinaus zogen und ihm wurde schwarz vor Augen.
Als er wieder zu sich kam blickte er an eine weisse Decke. Wo ist Aaron? war die erste Frage, die ihm durch den Kopf ging. Er versuchte sie auszusprechen, doch spürte einen stechenden Schmerz in seiner Brust und musste husten. „Versuch nicht zu sprechen!“, sagte eine Stimme neben ihm. Er drehte den Kopf und erblickte Frank. Er sah in fragend an. „Alain hat Feuer gelegt.“ Jerome versuchte Frank zu korrigieren, was in einem Hustanfall endete. „Mir ist immer noch ein Rätsel, wie er das geschafft hat.“, fuhr Frank unbeirrt weiter. „Auf jeden Fall ist es ihm irgendwie gelungen… Er hat sich mit Papier zugedeckt und es angezündet. Auf dem Weg ins Krankenhaus ist er an seinen Verbrennungen gestorben. Mit einen Lächeln auf dem Gesicht!!!“ Frank schüttelte den Kopf. Jerome sah ihn ungläubig an. Aaron tot? Er konnte sich das nicht vorstellen… In diesem Moment stand Frank auf. „Ich glaube, ich lasse dich jetzt ein bisschen alleine. Du hattest es ja anstrengend genug…“ Frank verliess lautlos das Zimmer. Jerome lag da und versuchte, das soeben Gehörte zu verdauen. Plötzlich setzte er sich auf. Aaron hatte das Ganze von Anfang an geplant! Jerome beschlich ein Gefühl der Traurigkeit. Er hatte seinen wohl besten Freund verloren, den er je gehabt hatte… Und für diesen war Jerome nur ein Teil des gänzlich durchdachten Plans gewesen…

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
dem Traum meiner schlafloses Nächte ;)

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